Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

26.

Spiegelglatt lag die herrliche Bai, vom goldenen Sonnenlicht überglitzert. Noch war es nicht zu warm, die Kühle der Nacht war vom Gluthauch der Sonne noch nicht ganz aufgesogen. Über dem Land lag noch jener leichte Dunst, der einen herrlichen Tag verheißt.

Von Bombay her rasselte ein Motorboot auf Elephanta zu. Drei Männer, von einem Diener begleitet, stiegen ans Land und gingen geradenwegs auf die Hütte des alten Guraja Siwa zu. Erschrocken trat das Weib des Bootführers vor die Türe.

»Bist du das Weib des Guraja Siwa?« herrschte einer der Männer sie an.

»Ja, Sahib«, antwortete sie zitternd, denn sie erkannte, daß sie es mit einem Mächtigen zu tun hatte.

»Dann rufe ihn!«

»Sahib, ich kann ihn nicht rufen. Er ist fort.«

»Fort? Wohin? Sag die Wahrheit, Weib, oder du kommst in Ketten!«

»Sahib, ich darf es nicht sagen. Guraja schlägt mich tot!« bebte das Weib und zitterte so heftig, daß ihre Zähne klapperten.

Schweigend gab der Fremde seinem Diener einen Wink. Dieser trat auf das Weib zu, ergriff sie bei den Handgelenken und zog eine dünne Kette hervor.

»Gnade, Sahib, ich will es sagen«, heulte die Geängstete und fiel auf die Knie. »Guraja ist mit einem fremden Brahmanen fort, der ein paar Tage hier gewohnt hat. Heute früh sind sie fortgeritten.«

»Wohin? Aber sage die Wahrheit, Weib! Sonst –«

»Ich sage die reine Wahrheit, Sahib! Nach Murmagao.«

»Ist das wahr?« fragte der Fremde und bohrte seinen Blick mit vernichtender Strenge in die vor Angst flackernden Augen der Frau hinein.

»Ich schwöre bei den Göttern, Sahib. Guraja hat gestern bei meinem Bruder, dem Hirten Tawan, der an der Straße nach Kaljan wohnt, Pferde gekauft.«

»Wir werden erfahren, ob du die Wahrheit gesprochen oder gelogen hast, Weib!« drohte der Fremde. »Hast du gelogen, dann ist es dein Tod.«

»Die Götter werden mir gnädig sein«, murmelte die Frau, »denn ich sprach die Wahrheit.«

Da kehrte die Gesellschaft zu ihrem Fahrzeug zurück und das Boot ratterte in schnellster Fahrt davon.

*

Einige Stunden später hielt eine Reitergruppe vor der Hütte des Hirten Tawan. Höchst erschrocken von der Strenge, mit der die fremden Sahibs mit ihm sprachen, bestätigte er alles, was bereits das Weib des Guraja gesagt hatte. Auch ihm wurde mit dem Tode gedroht, wenn sich seine Angaben nicht bewahrheiten sollten, und ehe er sich von seinem Schrecken ganz erholt hatte, war der Reitertrupp, drei Sahibs und drei Diener, wie ein Spuk in der Ferne verschwunden.

*

Ponks wunderte sich über sich selbst. Er, der sonst den Dingen mit eiserner Kaltblütigkeit ins Auge geblickt, und auch in der größten Gefahr nie die Selbstbeherrschung verloren hatte, fühlte sich auf einmal unsicher. Vor allen Dingen hatte er keinen klaren Blick mehr für die Zweckmäßigkeit seiner eigenen Maßnahmen. Seine Flucht kam ihm auf einmal unüberlegt, überstürzt vor. Die seltsamen Erscheinungen auf der Insel Elephanta gingen ihm nicht aus dem Kopf. Immer wieder versuchte er sich selbst einzureden, daß das alles nur Zufall gewesen sei. Bettelnde Fakire waren in Bombay wie in ganz Indien eine so alltägliche Erscheinung wie Handwerksburschen in Deutschland, Zigeuner in Böhmen und bettelnde Indianer in den Grenzstädten der Kultur in Amerika. Und täglich kamen Fremde nach Elephanta, um die Grottentempel zu besichtigen. Was also war daran ungewöhnlich?

So suchte er sich selbst von allerlei Besorgnissen loszusprechen. Aber es gelang ihm nicht. Es war bei dem allen so ein gewisses Unerklärliches, ein unsagbares Etwas, das ihm, dem Gewitzigten, dem hellhörigen und feinfühligen Spitzbuben, seltsam und verdächtig vorkam und das ihm gar zu deutlich sagte, es sei Gefahr im Verzug. War aber sein Verdacht begründet, dann war diese Flucht zu Lande eine Torheit. Nichts leichter, als seine Spur zu verfolgen.

Er änderte also seinen Plan und forderte Guraja auf, einen Paß durch die West-Ghats einzuschlagen, um jenseits des langgestreckten Hügelrückens die Flucht südwärts fortzusetzen.

Guraja Siwa war durchaus kein dummer Teufel. Er hatte längst herausgefunden, daß dieser Reisende, der eine so auffällig offene Hand hatte, nicht zu seinem Vergnügen reiste, sondern eine Macht fürchtete, die ihm auf den Fersen war. Das konnte ihm natürlich gleichgültig sein. Aber verdienen wollte er an diesem fremden Sahib, der mit den englischen Pfunden umherwarf wie in Bombay die Leute, die er hin und wieder zu fahren hatte, mit den Kupferstücken. Ohne die geringste Widerrede suchte er einen Gebirgspaß auf. Und nun ritten die beiden auf einem schmalen gewundenen Pfad, erst durch Ackerland, dann durch Wald und Dschungel, dann über kahles Felsgestein allmählich aufwärts.

Nach vier Tagen sahen sie von der Höhe aus die Stadt Puna tief zu ihren Füßen in einer Hochebene liegen. Ponks, der sich nun sicherer fühlte, glaubte es wagen zu dürfen, die Stadt zu betreten, dort seine etwas mangelhafte Ausrüstung zu vervollständigen und wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen zu können. Guraja Siwa riet erst ab. Als aber der Sahib auf seinem Willen bestand und ärgerlich wurde, zuckte er ergeben die Achseln. Sie ritten nach Puna.

Die klare Gebirgsluft aber hatte die beiden Reisenden über die Entfernung getäuscht. Erst am nächsten Tage erreichten sie die alte, schlecht gebaute, in einer weiten kahlen Ebene liegende Stadt. Guraja Siwa hatte Ponks von der Lebendigkeit und Betriebsamkeit der Stadt mit ihren fünfzigtausend Einwohnern manches erzählt. Als sie aber ankamen, da fanden sie alles anders. Die Stadt lag still und ausgestorben. Das englische Militär hatte Lager weit außerhalb der Stadt bezogen. In den Straßen herrschte Totenstille. Die wenigen Menschen, die sich sehen ließen, schlichen scheu und schüchtern einher. Jeder schien Mißtrauen vor jedem zu haben.

Bald hatten die beiden Reisenden des Rätsels Lösung entdeckt. Hier und da und dort sahen sie neben den Haustüren den verhängnisvollen roten Ring. Und fast in jeder Minute begegneten ihnen Träger, die eilfertig und mit Hast Tote aus der Stadt hinaustrugen.

Dem alten Guraja lief ein Schauder nach dem anderen über den Rücken.

»Sahib, laß uns fliehen«, raunte er ängstlich seinem Herrn zu. »Hier wohnt der schwarze Tod.«

»Wenn du dich fürchtest, so geh deiner Wege«, brummte Ponks und trat, ohne sich um seinen Führer zu kümmern, in ein Gasthaus, das von außen einen einigermaßen vertrauenerweckenden Eindruck machte. Eine alte Frau, die, wie man auf den ersten Blick erkannte, keine Eingeborene des Landes war, kam ihnen entgegen und fragte erst auf portugiesisch, dann auf englisch nach seinen Wünschen. Sie erstarrte fast vor Erstaunen, als sie hörte, daß der Fremde Essen, Trinken und Unterkunft für die Nacht begehrte. Als aber Ponks grob wurde und fragte, ob denn dieses Haus kein Gasthaus sei, wo man derartige Dinge beanspruchen könne, lächelte sie auf herzzerreißende Weise, nickte schweigend und ging hinaus.

Ponks ließ sich darauf als einziger Gast an einem wackeligen Tisch unter der blakenden Öllampe nieder und aß, was die alte Frau ihm nach einiger Zeit herausbrachte. Dazu trank er eine Flasche spanischen Wein. Dann ließ er sich sein Zimmer zeigen und warf sich todmüde auf sein Lager.

Er schlief fest und ruhig bis zum anderen Morgen. Darauf frühstückte er und zahlte seine Schuldigkeit. Nun erst fiel ihm ein, sich um seinen Führer zu kümmern. Er fand Guraja auf der ausgetretenen Steintreppe vor dem Hause. Dort hockte er, den Kopf zwischen den Fäusten, als schliefe er. So hatte der arme Teufel die ganze Nacht zugebracht, ohne zu essen und zu trinken. Auch jetzt lehnte er jede Speise mit einem matten Kopfschütteln ab, schleppte sich zu seinem Pferde und kletterte mühsam hinauf.

Als die beiden hinter der nächsten Straßenecke verschwunden waren, trat die alte Frau vor das Haus und malte mit zitternder Hand auf den Türbalken einen roten Ring. –

*

Ponks und sein Führer ritten weiter gen Süden, erst durch kahles Gelände, dann durch Sumpf und Dschungel. Um der Pestgefahr zu entgehen, nahmen sie ihren Weg wieder bergaufwärts. Gegen Mittag lagerten sie in einem dichten Gebüsch neben einer klaren Quelle. Guraja trank einen Schluck Wasser, lehnte aber auch jetzt jede Speise ab. Er war den Morgen hindurch schweigsam gewesen, was Ponks, der mit seinen eigenen Gedanken genugsam beschäftigt war, kaum beachtet hatte. Während Ponks aß und dann mit Behagen rauchte, warf er hin und wieder einen ärgerlichen Seitenblick auf seinen Führer, der zusammengekauert im Grase lag und trotz der Wärme vor innerem Frost zitterte. Er war wütend auf den alten Mann, der es wagte, auf diesem Ritt krank zu werden, wo doch alles von größter Eile abhing. Er war aber weit entfernt, zu ahnen, was dem alten Guraja fehlte. Er hielt sein Unwohlsein für eines jener leichten Fieber, die dortzulande nicht selten sind. Mit denen man sich am Abend zu Bett legt, um am anderen Morgen frisch und gesund wieder aufzustehen. Guraja aber hatte eine ganz andere Krankheit im Blut.

Nachdem die größte Sonnenhitze vorüber war, stieß Ponks den Führer mit dem Fuße an und befahl den Aufbruch. Guraja warf seinem Herrn einen herzzerreißenden Blick zu, sagte aber nichts und stieg zu Pferde.

Ponks ritt vorauf, ohne sich um seinen kranken Gefährten zu kümmern. So ritten sie wohl eine Stunde durch lichten Wald dahin, als Ponks plötzlich sein Pferd anhielt. Er hatte hinter sich ein dumpfes Stöhnen vernommen. In dem Augenblick, da er sich nach Guraja umwandte, sank dieser kraftlos vom Pferde. Ponks runzelte die Stirne.

»Was gibt's denn, Alter? Was ist dir?«

»Der schwarze Tod, Sahib!« stöhnte Guraja. »Hilf mir! Verlaß mich nicht.«

Dem Abenteurer kroch ein eisiges Gefühl durchs Gebein.

»Was sagst du – der schwarze Tod? – Die Pest hast du?« stieß er hervor.

»Der schwarze Tod hat mich ergriffen, Sahib. Hilf mir, ich muß sterben!«

»Wozu soll ich helfen! Du wirst ohne meine Hilfe sterben können.«

»Du bist ein großer Sahib«, barmte der Alte. »Über dich hat der schwarze Tod keine Macht. Du mußt mir helfen, daß ich nicht fern von den Meinen umkommen muß!«

»Daß ich ein Narr wäre!« brummte Ponks. »Steig auf und versuche, ob du noch ein Stück weiter kommst, wo wir rasten können. Im Gebirge wird dir besser.«

»Ja, Sahib, ich will es versuchen«, murmelte Guraja. »Du mußt mir aber helfen, allein kann ich mich nicht aufrichten.«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich ein solcher Dummkopf wäre!« rief Ponks mit einem rohen Gelächter und wich ein paar Schritte zurück. »Denkst du, ich wollte mich durch die Berührung mit dir anstecken?«

Der Alte raffte sich mit großer Mühe auf. Doch kaum stand er, als er wie vom Blitz getroffen wieder zu Boden stürzte.

»Die Welt dreht sich um mich! Ich bin verloren!« heulte er auf. »Hilf mir, Sahib! Nimm mich zu dir aufs Pferd! Nimm mich mit auf den Berg, dort werde ich geheilt!«

»O nein, mein Freund, das kannst du von mir nicht verlangen!« rief Ponks mit einem Gelächter. »Damit ich mir selbst die Seuche an den Hals hole!«

»Laß mich nicht allein, Sahib!« flehte der Kranke. »Ich kann hier in der Wildnis nicht sterben.«

»Um so besser für dich. Du wirst dann die Krankheit überwinden und am Leben bleiben.«

»Vergiß nicht, Sahib, daß ich dein Führer bin und daß du dich ohne mich verirren würdest.«

»Hab keine Angst um mich. Ich werde mich schon zurechtfinden.«

»Glaube mir, Sahib, du wirst Murmagao nicht allein erreichen!«

»Glaube mir, guter Alter, daß ich allein sicherer hingelange, als wenn ich mich mit dir herumschleppen würde. Hier hast du deinen Lohn.«

Er warf ihm ein paar Geldstücke zu.

»Und hier ist ein Stück Brot, damit du nicht verhungerst, und eine Handvoll Feigen. Wasser hast du in der Nähe, denn du hörst den Bach rauschen. Gehab dich wohl, die Götter mögen dich gesund werden lassen.«

Guraja stieß ein Mark und Bein erschütterndes Geschrei aus.

»Du wirst mich doch hier nicht liegen lassen, guter, edler Sahib! Denk daran, daß die wilden Tiere mich fressen würden! Und wer soll an meiner Seite die Sterbegebete sprechen!«

»Ja sieh, das könnte ich ja doch nicht, da ich eure Sprache nicht spreche und eure Gebete nicht kenne. Wenn du aber tot bist, kann es dir gleich sein, ob dein Körper an der Luft, in der Erde oder im Bauch eines Tieres verfault. Noch einmal, lebe wohl, guter Guraja Siwa!«

Ohne sich um das Wehegeschrei des alten Mannes zu kümmern, spornte er sein Pferd und ritt davon. Guraja wand sich vor Verzweiflung am Boden wie ein getretener Wurm. So lange er noch hoffen durfte, bettelte und flehte er um Mitleid. Plötzlich aber schrie er mit seiner letzten Lungenkraft:

»Mögen die Götter dich verderben, Elender! Der schwarze Tod komme über dich!«

Ponks antwortete nur durch ein schallendes Gelächter, dann trabte er schneller davon. Der Hufschlag seines Pferdes vermochte das entsetzliche Jammergeschrei und die Flüche des Verlassenen nicht ganz zu übertönen. Ein teuflisches Lächeln verzerrte die Züge des Abenteurers. Wer aber in seine Seele hätte hineinschauen können, der wäre erstaunt gewesen, zu sehen, wie sehr die Unruhe in seinem Innern dieses entsetzlich übermütige Lächeln Lügen strafte.

Lange noch scholl das verzweiflungsvolle Hilfe- und Schmerzensgeheul des armen Guraja Siwa durch die menschenleere Wildnis. Doch niemand hörte ihn – niemand kam ihm zu Hilfe. Und langsam wurde er still. –

Am nächsten Morgen fand ihn eine Reitergruppe. Drei Herren, in kurzem Abstand von ihnen drei eingeborene Diener. Sie fanden einen von Krämpfen krummgezogenen, schwarzblau gefärbten, von Tieren angenagten Leichnam. Sein Gesicht zeigte noch die Verzweiflung und das Grausen seiner letzten Lebensstunde.

»Können Sie, Herr Doktor Schreyer, in dem Toten den Bootsführer Guraja Siwa wiedererkennen?« fragte einer der Reiter.

»Unmöglich, Hoheit!« antwortete Doktor Schreyer kopfschüttelnd. »Das Gesicht des Menschen hat keinen Zug aus seinem Leben mehr. Ich hörte aber, einer der Diener habe Guraja Siwa gekannt.«

Der Prinz winkte die Diener heran. Mit ängstlicher Scheu betrachteten sie den Toten. Deutlich genug erkannten sie an ihm die Merkmale der fürchterlichen Seuche.

»Es ist Guraja Siwa«, erklärte endlich einer. »Ich erkenne ihn daran, daß er an der linken Hand nur vier Finger hat.«

»Also sind wir auf dem richtigen Wege«, sagte der Prinz zu seinen Begleitern. Und zu den Dienern gewandt, befahl er: »Verbrennt den Toten und folgt uns dann!« –

*

Ein Tag und eine Nacht waren verstrichen, seit Ponks sich von seinem Führer getrennt hatte. Es waren für ihn schlimme Stunden gewesen. Obwohl er über Gurajas letzte Worte gelacht hatte, konnte er sie dennoch nicht vergessen. Schauerlich genug klangen sie in seinen Ohren wider – »Der schwarze Tod komme über dich!« Er wütete über sich selbst, daß er die dumme Drohung immer noch in den Ohren hatte. Um zu vergessen, vertiefte er sich mit vollster Energie in seine Zukunftspläne. Das Zunächstliegende für ihn war, sich den Spähern des Prinzen zu entziehen. Doch seit er allein war, lastete das Gefühl zunehmender Unsicherheit auf ihm. Hinter jedem Baumstamm und Felsblock vermutete er einen verborgenen Gegner. Er knirschte mit den Zähnen wider sich selbst und schalt sich einen verfluchten Feigling – doch von seiner Angst konnte er sich nicht befreien. Ebensowenig wie von den Schatten des toten Führers, der ihn mit seinen Flüchen verfolgte.

Ponks hatte die letzte Nacht in einer Felsenhöhle zugebracht, in die er einen Haufen dürres Gras und Blätter hineingetragen hatte. Doch kaum getraute er sich zu schlafen. Jeder Windstoß, der durch die Bäume fuhr, jeder brechende Ast hatte ihn aufgeschreckt und ihm die Schritte seiner Verfolger vorgetäuscht.

Seine Stimmung war so schlimm wie möglich. Er sah Gespenster. Wenn er aber der Ursache seiner Mißstimmung und seelischen Gedrücktheit auf den Grund ging, dann schauderte ihn. Denn dann konnte er sich selbst nicht mehr einreden, daß er sich körperlich wohlfühlte. In der letzten Nacht war es gekommen. Ein allgemeines Unbehagen. Ein Kältegefühl, das, wie er meinte, aus seinen Knochen hervorkröche. Er versuchte sich selbst zu betrügen und einzureden, es sei die kalte Gebirgsluft, die ihn so innerlich frieren machte.

Es wurde Tag, die Sonne stieg, die Hitze kam – doch die Kälte in seinem Innern wich nicht. Nun wußte er: es war eine Kälte, die aus dem Blut kam. Auch verspürte er eine Mattigkeit, die er sonst nicht kannte. In seinen Füßen hatte er ein merkwürdiges Gefühl der Unsicherheit. Wenn er ging, so meinte er, auf einem zähen Schlamm zu schreiten, der unter seinen Füßen wich und zu gleiten begann. Dann mußte er mit den Händen ausgreifen, um nicht zu fallen. Und er wußte doch, daß er sich auf festem, hartem Felsboden befand.

Kalter Schweiß brach ihm aus.

»Der schwarze Tod komme über dich!« so gellte es ihm furchtbar in den Ohren.

Hatte der schwarze Tod ihn ergriffen? Sollte ihm dasselbe schreckliche Ende in der Einsamkeit beschieden sein, wie dem alten Guraja Siwa, den er feig im Stich gelassen hatte?

Ponks wollte es nicht glauben. Er tat, als glaubte er überhaupt nicht an den schwarzen Tod. Doch es kam der Augenblick, da er an ihn glauben mußte. Da begann er mit ihm zu ringen. Er rang mit eiserner Erbitterung. Er wollte nicht unterliegen. Er, der Herr eines fürstlichen Vermögens, sollte die Beute dieses scheußlichen indischen Gespenstes werden? Ach was, der schwarze Tod holt keine Europäer!

Dennoch wußte er, daß der finstere Geselle seit dem frühen Morgen hinter ihm herritt. Sehen wollte er ihn nicht. Doch als der Mittag kam, da ritt der schwarze Tod nicht mehr hinter ihm, sondern an seiner Seite. Mit fletschenden Zähnen grinste er Ponks ins Gesicht und lachte auf schauerliche Art, wenn dem bebenden Mann, der sich nur noch mit äußerster Mühe im Sattel zu halten vermochte, die Zähne klapperten vor Grauen und Frost.

Mit zitternden Händen tastete Ponks nach seinem Reichtum. Er war noch vorhanden. Gerne hätte er ihn dem bösen Gespenst übergeben, damit es seinen klapperdürren Gaul wende und ihn in Frieden ziehen lasse. Doch der böse Feind hatte für die Kassenscheine des Herrn Ponks nicht das geringste Interesse. Ihn selbst wollte er haben. Und er rückte ihm immer näher. Mit ungeheurem Ekel verspürte der Kranke den widerlichen Atem des schwarzen Gesellen. Oder war es sein eigener?

Doch immer weiter! Weiter hinauf ins Gebirge! Der alte Guraja hatte ja, um wieder gesund zu werden, hinauf verlangt zu den Höhen, wo reine Luft weht und wo der schwarze Tod nicht atmen kann. Also hinauf – hinauf ins Gebirge!

Eine ermattende tropische Hitze. Aus der Sumpfniederung stieg steil der Bergwald empor. Das Land war wild und malerisch. Aus schroffen Felsklüften sproßte in brodelnder Üppigkeit tausendfaches Pflanzenleben. Der Weg war schlecht. Von einem eigentlichen Weg war überhaupt keine Spur vorhanden. An vielen Stellen war der Boden zerrissen und tiefe Spalten zwangen den Reiter zu großen Umwegen. Ponks starrte mit Augen voll Wut und Verzweiflung vor sich auf den Hals des Pferdes. Der Schweiß rann ihm in Bächen von der Stirn – und trotzdem hatte er im Innern einen Frost, daß er glaubte, die Knochen müßten ihm zerkrachen.

Immer dichter ward das Buschwerk, immer zerklüfteter die Pfade. Unsichtbare Wasser rauschten zornig, verborgen unter verworrenem Rankenwerk. Wasserfälle zischten von steilen Felswänden herab und versanken in schwarzen, geheimnisvollen Tümpeln.

*

Totenstille rings im Gebirge. Selten, daß ein Waldvogel aufschrie oder das Gekreisch eines Affen hörbar ward.

Ponks hing mit vornüber geneigtem Kopf auf seinem Pferd. Matt zum Sterben, gleichgültig gegen alles, was ihn umgab, ließ er sein Tier sich selbst den Weg suchen. Eine ungeheure glühende Kurbel drehte sich mit rasender Geschwindigkeit in seinem Gehirn. Er fürchtete nun keine Verfolger mehr und dachte nicht an die Gefahren des Urwaldes. Etwas weit Gräßlicheres beschäftigte ihn. Seit Stunden kroch der alte Guraja Siwa hinter ihm her. In den schrecklichsten Zuckungen wand sich sein Körper, schlangenartig, und doch blieb er seinem Opfer immer dicht auf den Fersen. Und wenn auch das Pferd in einem weiten Satz einen breiten Spalt übersprang, der den Weg zerriß, so zog sich doch der Leib des schaurigen Verfolgers hinterher und überwand jedes Hindernis. Und er schrie mit entsetzlicher Stimme jammervolle Bitten und wilde Drohungen.

»Hilf mir, Sahib! Laß mich nicht sterben in der Einsamkeit! – Der Fluch der Götter über dich! Möge der schwarze Tod über dich kommen!«

*

Plötzlich stieß Ponks, aus seiner halben Betäubung erwachend, einen Schrei der Freude aus. Das Pferd, sich selbst überlassen, hatte ihn zu einer Lichtung getragen, von der eine Felswand jäh aufsprang, turmhoch. Dort aber, an die Steinmauer gelehnt, stand ein Haus, roh aus Baumstämmen gefügt. Eine menschliche Ansiedlung.

»Dort finde ich Hilfe, Rettung!« jubelte Ponks, ließ sich vom Pferd hinabgleiten und schleppte sich zur Hütte. Klopfte an. Niemand rief um Eintritt. Da stieß er die Türe ein. Sie war nur angelehnt. Einen einzigen Raum hatte die Hütte, ärmlich eingerichtet. Und dort saß auch ihr Bewohner. Ein Mensch – ein Büßer, der Gott weiß wie lange in dieser Einsamkeit leben mochte, in seine frommen Betrachtungen vertieft. Er saß mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Der Kopf hing ihm auf die Brust herab und der Turban war ihm über das Gesicht herabgerutscht. So saß er regungslos – schlafend – einer Mumie gleich.

»Heda – Freund!« rief Ponks mit erlöschender Stimme. »Helft mir, ich bin krank – sehr krank.«

Doch der Mann rührte sich nicht. Ponks trat noch einen Schritt näher. Da sah er etwas Entsetzliches. Aus den Kleidern des Menschen sprangen mit scharfem Pfeifen ein paar große Ratten und schlüpften in die Winkel des Raumes.

»Tot!« heulte der Entsetzte auf. »Ein Sterbender kommt zu einem Leichnam!«

Schwer schlug er zu Boden und erfüllte die grausige Stille, die er mit einem halbverwesten, teils von Ratten zerfressenen Leichnam teilte, mit seinem Schmerzensgeheul.

*

Er erwachte aus seinen Fieberdelirien, als die Abendsonne durch die Fensterhöhle in den Raum schien. Ganz in seiner Nähe hockte der Tote in unveränderter Stellung. Wer weiß, wie lange er schon so saß. Die Ratten waren wiedergekommen. Sie fürchteten sich jetzt nicht mehr vor dem Lebenden. Ihr Instinkt mochte ihnen sagen, daß sie sich beeilen müßten mit ihrem Fraße, da ihnen sehr bald ein zweiter zuteil werden würde.

Von tiefstem Grauen erfüllt, versank der Sterbende abermals in den Nebeln der Bewußtlosigkeit.

*

Und abermals wurde er wach. Diesmal aber war er überzeugt, zu träumen. Draußen war finstere Nacht, doch die Hütte war von mehreren Fackeln erhellt, die von drei Männern gehalten wurden. Es waren eingeborene Diener. Sie standen an den Wänden, und das Flackerlicht beleuchtete grell ihre braunen Gesichter. In Ponks' umnebeltem Geiste dämmerte eine Erkenntnis, daß er einen von ihnen kannte. Wer war es doch? – Richtig – Nadir war's, des Prinzen treuer Kammerdiener.

Aber alles war ja nur ein wilder Traum. Wie sollte Nadir –

»Pest – in höchstem Grade – ein hoffnungsloser Fall«, ertönte eine Stimme dicht neben ihm. Sein Kopf fuhr herum. Seine blutunterlaufenen Augen glotzten auf die drei Gestalten, die an seiner andern Seite standen. Die Stimme – die kannte er doch – und die beiden Europäer, den jungen Menschen und den alten Herrn mit dem weißen Bart –

Da tönte die Stimme wieder – eine weiche Stimme – und jetzt doch so hart und unbarmherzig:

»Sein Schicksal ist ihm bestimmt. Er ist der irdischen Gerechtigkeit entflohen.«

Ah – es war also doch kein Traum – und der diese Worte gesprochen hatte, das war der Prinz Rami. Ein gräßliches Gelächter tönte durch den Raum.

»Ah, Sie sind da, Hoheit! Suchen Sie mich oder Ihr Geld? Oder beides? Ziehen Sie mir die Kleider aus, dann finden Sie das Geld. Eine ganze Million Pfund. Doch nehmen Sie sich in acht. Der schwarze Tod sitzt dabei und hält das Geld fest. Und er fragt nicht nach Rang und Stand, der Halunke. Es könnte Ihnen so ergehen wie mir.«

Abermals stieß er ein irrsinniges Gelächter hervor. Doch das Lachen ging in ein schreckliches Schmerzensgewimmer über. Das klang so erschütternd, daß Elisabeth unwillkürlich zurückwich und sich abwandte. Der Sterbende litt fürchterlich. Der Prinz stand unbeweglich und blickte auf ihn hernieder. Sein Gesicht hatte einen ernsten, strengen Ausdruck. Kein Zug von Milde oder Erbarmen war darin wahrzunehmen.

Ponks jammerte entsetzlich. Wie aus weiter Ferne klang die Stimme des Prinzen zu seinem Ohre:

»Er wird nicht mehr lange zu leiden haben. Die Krankheit hat ihren Höhepunkt erreicht.«

»Vielleicht hat er das Bedürfnis, sein Gewissen zu erleichtern«, sagte Elisabeth leise zu Doktor Schreyer.

Bei dem Klang dieser Stimme wandte Ponks plötzlich den Kopf.

»Wer spricht da?« heulte er. »Die Stimme kenne ich! Elisabeth Darlington? Was willst du hier?«

Sein Blick ging von einem zum anderen. Doch er sah nicht die Frau, die er suchte – nur drei Männer.

»Hoheit, Sie waren einst mein Freund und Gönner – sagen Sie mir, wer eben hier sprach. Ich hörte die Stimme einer Frau – einer Frau, die ich liebte und die mich haßte. Wo ist sie? Sie sprach von meinem Gewissen. Ich habe kein Gewissen, will kein Gewissen haben. Meine Mutter hat schon gesagt, ich hätte kein Gewissen. Habt ihr meine Mutter gekannt? Denkt nicht, sie sei eine Verbrecherin gewesen! – Meine Mutter war gut und edel. – Ha, meine Mutter – hahaha, ich habe ja zwei Mütter gehabt – jawohl, eine, die mich geboren hat, und eine, die mich erzog. Und zwei Väter habe ich gehabt. Der eine hat den anderen umgebracht – dafür wurde er hingerichtet. – Wißt Ihr nicht, ob meine Mutter noch lebt? Geht nach Deutschland – sucht die edelste Frau Deutschlands – und sagt ihr, ihr Sohn Walter sei ein Verbrecher, ein Lump, ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder geworden. Vier Morde ausgeführt – und zwei geplant – ja, ja, Prinz Rami, Sie waren auch dabei. Oh, wenn das die Hofrätin v. Ringstedt wüßte!«

Ein furchtbarer Aufschrei gellte durch den Raum. Erstaunt richtete der Prinz seinen Blick auf Elisabeth – erschüttert stand Dr. Schreyer. Der Todesgefahr nicht achtend, stürzte Elisabeth vorwärts, fiel dicht neben dem Sterbenden auf die Knie und bohrte ihren Blick in seine entstellten Züge hinein.

»Wer seid Ihr?« schrie sie außer sich. »Ist es wahr – seid Ihr der Sohn des Hofrats v. Ringstedt und seiner Gattin Helena?«

Ponks richtete seinen brechenden Blick auf das Gesicht des jungen Menschen.

»Die Stimme – wie klingt sie – so bekannt – so – aus ferner Zeit. Ich hatte eine Schwester – die hieß Elisabeth – und ich liebte eine Frau – die hieß auch Elisabeth – und beide – beide haben die gleiche Stimme …«

Der Sterbende brach in ein schauerliches Gelächter aus.

»Ha – jetzt weiß ich's – Elisabeth Darlington ist – Elisabeth v. Ringstedt – und ich – ich wollte – meine eigene Schwester heiraten – hahahahahaha –«

Elisabeth barg verzweifelt ihr Gesicht in den Händen.

»O du mein Gott – das ist das Furchtbarste, das ein Mensch sich auszudenken vermag. Er, den ich verfolge auf Leben und Tod – der Verbrecher – der fluchbeladene Mörder – mein eigener Bruder!«

Sie fühlte sich plötzlich von vier starken Armen ergriffen und aus der Nähe des Sterbenden gerissen.

»Hüten Sie sich, Gnädigste. Diese Krankheit ist sehr ansteckend!« murmelte der Prinz mit furchtbarem Ernst.

»Laßt mich!« rief Elisabeth verzweifelt und drängte sich noch einmal in die Nähe von Ponks. »Ich muß das wissen! Sprecht, Mann, um Gottes Barmherzigkeit willen – ist der Name Ponks nicht Euer richtiger Name?«

Ponks starrte die Fragerin mit halbverglasten Augen an.

»Ponks – ja – so heiße ich – schon lange. Aber früher – als ich noch in Deutschland war – da hieß ich Walter v. Ringstedt. Und die Hofrätin Frau v. Ringstedt war meine Mutter – meine Pflegemutter. Und Elisabeth – das war meine einzige Schwester. Und ich – ich ging heimlich in die Welt – und wurde ein Lump – mit meinem Freunde Lüders – der jetzt Sanders heißt – und der auch ein Lump geworden ist. Und als ich – Hilfe – Barmherzigkeit! Tötet mich – ich verbrenne! Weg von mir – wer erwürgt mich – Hilfe!«

Sein Körper wand sich auf dem Boden wie ein zertretener Wurm. Es war für die Zeugen dieses schrecklichen Endes ein furchtbarer Anblick. Ganz plötzlich aber kam Ruhe in den gequälten Leib. Ein paarmal ging ein scharfes Zucken durch den ganzen Körper bis zu den Füßen – dann streckte er sich – die Zähne bissen so fest aufeinander, daß sie hörbar knirschten – ein paar tiefe röchelnde Atemzüge.

Der Verbrecher Ponks hatte sein von Unheil und allem Bösen begleitetes Leben ausgehaucht. Stumm standen die Zeugen dieses schrecklichen Todes eine Weile neben der Leiche. Dann flüsterte der Prinz dem Doktor einige leise Worte zu. Dieser nickte, legte seine Arme um Elisabeth und führte die ganz Gebrochene aus der Hütte hinaus.

Dann befahl der Prinz den Dienern, einen großen Haufen Reisig und dürres Holz in die Hütte zu tragen und anzuzünden. Bald loderte die unheimliche Fackel durch das nächtliche Dunkel und verzehrte mit lautem Knistern und Prasseln die Überreste eines Menschen, der unbeschreiblich viel Unheil in der Welt verbreitet hatte, und eines anderen Menschen, den niemand kannte und dessen Name in keinem Totenregister geführt werden konnte.

Die Reisenden blieben in der Nähe, bis alles heruntergebrannt und verkohlt war. Unter den rauchenden Trümmern lag außer den verkohlten Resten der beiden Leichen auch die Asche von einer Million englischen Pfund. Der Prinz wollte nicht, daß das Geld seinen Weg über die Welt gehen und entsetzliches Elend unter den Lebenden anrichten könne. So verbrannte mit Ponks die ungeheure Summe, die er mit teuflischen Ränken an sich gebracht hatte und die ihm zum Verderben geworden war.

*


 << zurück