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Elisabeth saß in ihrem Arbeitszimmer im Landhaus zu Middlesex und schrieb Briefe. Da trat Dr. Schreyer zu ihr herein. Sie legte die Feder hin und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Du kommst von der Kriminalpolizei?« fragte sie.
»Ja. Und wieder nichts. Ponks ist anscheinend bis jetzt nicht nach Neuyork zurückgekehrt. Wenigstens hat man in seiner Wohnung so wenig wie in seinem Büro etwas von ihm gesehen und gehört. Entweder ist ihm auf der Flucht ein Unheil zugestoßen oder er hat sich nach einer anderen Gegend gewendet.«
»Weder das eine noch das andere«, sprach Elisabeth so ruhig und bestimmt, daß Schreyer erstaunt aufblickte.
»Du sagst das in einem Tone, als wüßtest du etwas Neues.«
»Lies diesen Brief. Er wurde vor einer Stunde von der Post gebracht. Durch einen Eilboten, wie du siehst.«
Der Doktor griff nach dem Briefblatt. Es war ein Zettel, aus einem Notizbuch herausgerissen, die Worte sichtlich in fliegender Hast mit einem Bleistift hingekritzelt. Der Briefumschlag trug den Stempel der Neuyorker Stadtpost. Der Inhalt lautete:
»An Herrn Dr. Schreyer, Rechtsanwalt, und Frau Darlington!
Sie suchen einen Mann namens Walter Ponks. Er ist in Neuyork. Er hat in der letzten Nacht in seinem Büro, das der Polizei bekannt ist, einen unter dem Namen Rollin bekannten Ingenieur vergiftet und ihm sämtliche Papiere aus der Tasche genommen und vernichtet. Der wahre Name des Ermordeten ist James O'Connor, er stammt aus Dublin in Irland. Man gehe in das Büro von Ponks und wird dort die Leiche finden. Ponks ist im Begriff, nach Bombay abzureisen. Ich kann Ihnen meinen Namen nicht nennen, schwöre Ihnen aber vor Gott und bei meiner Seligkeit, die Wahrheit zu sagen. Ich habe Ponks den Tod geschworen. Lieber aber wäre mir, wenn er von der Justiz gehangen würde. Darum bin ich bereit, ihn an Sie auszuliefern. Ich weiß, daß Sie Ponks verfolgen. Wenn es Ihnen Ernst damit ist, dann reisen Sie nach Bombay. Gehen Sie ins Taj Mahal Palace-Hotel, dann werden Sie von mir hören.«
Schreyer las die paar Zeilen wiederholt durch, dann legte er das Blatt auf den Tisch und blickte Elisabeth fragend an.
»Was hältst du davon? Sollte das nicht eine Falle sein, die der Schurke uns stellt?«
»Das war auch mein erster Gedanke«, nickte Elisabeth. »Doch ich grüble schon seit einiger Zeit über diesen Brief nach – und bin anderer Ansicht.«
»Darf ich fragen, welche Gründe dich dazu bewogen haben?« fragte er lächelnd.
»Dieser Brief wurde in großer Erregung und Hast von einer Frau geschrieben.«
»Das erstere gebe ich zu. Doch von einer Frau – hm.«
Er las den Brief noch einmal durch – dann nickte er. »Du kannst recht haben. Ein Mann würde nicht so schreiben. Auch kann ich mir nicht gut vorstellen, daß ein Mann eine so sehr gehaßte Person der Rache eines Fremden anheimgibt. Aber alles das, auch die Erregung und Hast, die in dem Brief zum Ausdruck kommt, kann von einem geriebenen Spitzbuben – und mit einem solchen haben wir es zu tun – vorgetäuscht werden. Stammt der Brief wirklich von einer Frau – das Schriftbild ist nicht weiblich –, dann kann diese Frau ein Mitschuldiger von Ponks sein.«
»Das alles habe auch ich schon bedacht und gebe es ohne weiteres zu. Das ändert aber natürlich nicht das geringste an der Tatsache, daß wir dieser Spur mit aller Entschiedenheit folgen müssen.«
»Das ist ganz selbstverständlich. Das nächste wird sein, daß ich mich mit der Kriminalpolizei in Verbindung setze, um festzustellen, ob sich in der Tat im Zimmer von Ponks eine Leiche befindet.«
»Ganz recht. Und während du diese Feststellungen machst, werde ich alle Vorbereitungen für unsere Reise treffen.«
»Für unsere Reise?« fragte der Doktor erstaunt. »Du denkst doch nicht daran, nach Indien zu reisen?«
»Ich bin fest entschlossen, das zu tun. Ich sagte dir neulich, daß ich Ponks um den Erdball herum verfolgen würde. Glaubst du, das sei nur eine leere Redensart gewesen?«
»Durchaus nicht. Ich zweifle nicht an deinem Mut – aber – eine Reise ins Innere Indiens ist keine Kleinigkeit. Sie ist nicht ganz gefahrlos und besonders für eine Frau mit vielen Beschwerden und Unbequemlichkeiten verbunden.«
»Das mag sein. Aber ich reise nicht als Frau.«
Schreyer blickte seine Braut mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Nicht als Frau? Ich habe wohl nicht recht verstanden?«
»Doch, mein Freund, du hörtest richtig. Ich schneide mein Haar ab und reise als Mann – sagen wir, als dein Neffe. Du wirst dich durch entsprechende Verkleidung um zwanzig Jahre älter machen müssen.«
»Hör mal, meine liebe Elisabeth, das alles klingt reichlich phantastisch«, sprach der Doktor kopfschüttelnd.
»Ich habe bis jetzt nicht gewußt, daß du eine besondere Abneigung gegen phantastische Dinge hast.«
»Habe ich auch nicht. Aber ein bißchen Vernunft muß damit verbunden sein.«
»Du verlangst zu viel, mein Freund«, bemerkte Elisabeth lächelnd. »Vernunft und Phantasie vertragen sich wie Feuer und Wasser. Trotzdem bin ich entschlossen, meinen ›phantastischen‹ Plan zur Ausführung zu bringen.«
»Demnach sind alle Einwendungen, die ich zu machen hätte, zwecklos?«
»Vollkommen zwecklos. Es ist besser, du machst sie gar nicht. Vergiß nicht, daß die Verwandlungen, die wir mit unserem Äußeren vornehmen, unter anderem den Zweck haben, daß Ponks uns nicht erkennt.«
»Schade um dein schönes Haar«, bemerkte Schreyer mit schlauer Berechnung auf die Eitelkeit seiner Verlobten. Doch der Schachzug erwies sich als falsch.
»Wenn ich mein Haar ohne Seufzer hergebe, dann brauchst du über dieses Unglück nicht zu jammern.«
»Da du aber ohne Zweifel eines Tages meine Frau sein wirst und ich demnach ein gewisses Mitbestimmungsrecht über diese Dinge habe –« wandte er ein, aber nicht mit viel Hoffnung auf Erfolg.
»Dieses Mitbestimmungsrecht«, antwortete sie mit schalkhaftem Lächeln, dem aber eine innere Wärme nicht fehlte, »liegt vorläufig noch in weitem Felde. Ehe dieses Recht in Kraft tritt, wird mein Haar wieder seine alte Länge erreicht haben.«
»Nun – meinetwegen denn«, seufzte der Doktor ergeben. »Es ist nun einmal der Männer Los, den kürzeren zu ziehen, wenn sie versuchen, eine Frau vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was sie sich in den Kopf gesetzt hat.«
»Dann ist es erstaunlich, daß die Männer immer wieder solche fruchtlosen Versuche machen. Doch nun Scherz beiseite. Meinst du nicht, daß es geraten wäre, noch heute diese Sache klarzustellen? Dem Brief zufolge ist Ponks heute abend von Neuyork abgereist. Wenn die Polizei sofort telegrafisch eine Durchsuchung aller abgegangenen Schiffe anordnet, könnte man den Mörder vielleicht noch fassen.«
»Ich hoffe, diesen Schritt durchsetzen zu können, wenn sich tatsächlich im Büro von Ponks eine Leiche findet«, sprach Schreyer und griff zu Hut und Stock. »Dieses festzustellen, muß das erste sein. Ich fahre sofort nach Manhattan zurück. Lebe wohl, Elisabeth! Ich werde dir bestimmt noch heute telefonisch alles Wichtige mitteilen.«
Eine Viertelstunde später saß er bereits im Zug, der ihn in schneller Fahrt nach Neuyork zurückbrachte.
Ein glücklicher Zufall wollte es, daß er den Direktor Webster, mit dem er den ganzen Fall Ponks und die Vorgänge auf Golden Hill eingehend durchgesprochen hatte, und der auch die Beobachtung des Ponksschen Hauses angeordnet hatte, noch auf seinem Büro antraf. Der Beamte war erstaunt, den deutschen Rechtsanwalt so bald schon wiederzusehen und empfing ihn ein wenig verdrießlich, da er gerade im Begriffe war, nach Hause zu fahren.
Schweigend las er den Brief, den Schreyer ihm vorlegte, dann zuckte er geringschätzig die Achseln und lächelte spöttisch.
»Natürlich ist das nichts anderes, als eine ganz plumpe Finte.«
»Das ist nicht unmöglich. Doch auch das Gegenteil ist denkbar.«
»Vergessen Sie nicht, daß das Haus seit einer Woche bewacht wird und daß der Eingang zur Wohnung von Ponks versiegelt ist.«
»Ich habe das keineswegs vergessen, Herr Direktor, und bin selbst auf die Lösung dieses Rätsels außerordentlich gespannt.«
»Nun gut, ich werde überlegen, ob ich morgen die Türe gewaltsam öffnen lasse.«
»Morgen?« fragte der Rechtsanwalt mit emporgezogenen Brauen. »Morgen ist der Mörder, falls er sich in der Tat heute eingeschifft hat, nicht mehr erreichbar.«
»Ja, mein sehr verehrter Herr Doktor, Sie dürfen nicht vergessen, daß wir außer dem Falle Ponks noch einige andere Sachen zu bearbeiten haben!« rief Webster unwirsch.
»Ich zweifle durchaus nicht an Ihrer amtlichen Überlastung«, entgegnete Schreyer sehr höflich. »Immerhin werden Sie nicht vergessen, daß es sich hier um einen Mord handelt, verübt von einem Verbrecher, dem mindestens der Mord an dem Inspektor direkt nachgewiesen werden kann. Angenommen, die Leiche würde morgen tatsächlich gefunden werden, würden Sie dann nicht von der Verantwortung schwer bedrückt werden, wenn der Mörder durch die Verzögerung entkommen wäre?«
Webster knurrte einen Fluch. Dann lachte er.
»Man merkt, daß Sie Deutscher sind. Aber Sie sollen mir nicht nachsagen dürfen, ich hätte weniger Pflichtbewußtsein als Sie.«
Er drückte auf eine Klingel. Ein Beamter erschien.
»Ein Auto. So schnell wie möglich!«
Zehn Minuten später hielt das Auto mit Webster und Doktor Schreyer vor dem Hause Ponks. Die beiden Herren stiegen aus. Die Dämmerung war schon eingetreten. Plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, standen zwei Männer neben dem Wagen – ein Maurer in arg beschmutzter Handwerkskleidung und ein Dienstmann, der einen kleinen Koffer trug. Beide erkannten zugleich den Chef der Kriminalpolizei und zogen sich schleunigst zurück.
»Sie sehen«, schmunzelte Webster, »der Fuchsbau ist von Treibern umstellt.«
Beide gingen ins Haus, stiegen die Treppe empor bis ins zweite Stockwerk und standen vor der Türe, die das Messingschild mit dem Namen Ponks trug. Mit großer Sorgfalt prüfte Webster die drei Siegel der Kriminalpolizei.
»Die Siegel sind sämtlich unverletzt«, stellte er befriedigt fest.
»Ist nicht eine Nachahmung der Siegel möglich?«
»Vollkommen ausgeschlossen, da nur die Kommissare im Besitze der Stempel sind. Die Herren sind ohne Ausnahme zuverlässig. Da die Wohnung nur diesen Eingang hat, dürfte es zwecklos sein, die Türe zu öffnen.«
Schreyer war innerlich nun auch halb und halb überzeugt, daß der Brief eine Irreführung war, deren Absicht ihm allerdings nicht einleuchtete. Dennoch bat er den Beamten, die Türe zu öffnen. Er hatte das Gefühl, vor Überraschungen zu stehen.
»Gut, wenn Sie darauf bestehen«, brummte der Direktor. Er zog einige Instrumente aus der Tasche, versuchte sie und nach einer Minute ging die Türe auf. Beide traten in das Vorzimmer und Webster schaltete das Licht ein. Nicht das geringste Auffällige war zu sehen. Dann öffnete Webster auch die Verbindungstür, die in das Privatzimmer führte. Dieses war vollkommen finster. Webster tastete nach dem Schaltknopf – fand ihn – schaltete das Licht ein – und stieß einen Schrei aus.
Auf dem Stuhl am Schreibtisch hockte eine menschliche Gestalt, stark nach vorn übergeneigt. Das Gesicht lag auf der Schreibtischplatte, die Arme baumelten schlaff zur Erde herab.
Nachdem Webster sämtliche Lichter im Zimmer zum Aufflammen gebracht hatte, betrachteten die beiden Männer aufmerksam den Toten. Dann richteten sie den Körper auf, doch dieser war bereits soweit in Erstarrung übergegangen, daß alle Glieder in der Haltung blieben, die sie im Augenblick des eingetretenen Todes hatten. Der Leichnam bot, wie er nun in dem Stuhle zurücklag, mit seinen ausgestreckten, in die Luft greifenden Armen und den stark an den Leib herangezogenen Knien, den weit aufgerissenen verglasten Augen, in denen noch eine Spur ihres letzten, teils drohenden, teils grauenerfüllten Ausdrucks stand, einen überaus schauerlichen Anblick.
»Sie waren ja früher Arzt, wie Sie mir erzählten – können Sie die Ursache und die ungefähre Zeit des eingetretenen Todes feststellen?« fragte Webster.
»Es liegt ganz zweifellos eine Vergiftung vor. Welch eine Art Gift verwendet wurde, kann erst bei der Leichenöffnung festgestellt werden. Was die Zeit des Todes betrifft, so kann man annehmen, daß die briefliche Mitteilung die Wahrheit sagt.«
Der Beamte öffnete ein Fenster und ließ einen Pfiff ertönen. Wenige Sekunden später trat einer der Kriminalbeamten, die unten auf Wache standen, herein.
»Fahren Sie sofort zur Wache und holen Sie Herrn Inspektor Armstrong und den Gerichtsarzt Doktor Gould. Ihr Kollege soll unten auf meine weiteren Befehle warten. Das erste leere Auto, das Ihnen begegnet, schicken Sie hierher.«
Der Mann eilte fort. Webster begann nun, das Zimmer zu durchsuchen.
»Mir ist noch immer unerklärlich, wie der Mörder und sein Opfer in die Wohnung kommen konnten, ohne daß die Siegel verletzt wurden. Die Wohnung muß also einen zweiten Eingang haben. Und wenn ich mich nicht irre, dann ist er hier.«
Er schob einen schweren Samtvorhang zur Seite, der anscheinend eine Kleiderablage verdeckte. Da fand er die Türe, die in die Nachbarwohnung führte. Eine Minute später lag das ganze Geheimnis offen vor den beiden Männern.
Webster kaute mißmutig auf seiner Unterlippe.
»Da habe ich also eine Wohnung versiegeln und außerdem noch bewachen lassen, die trotz meiner Vorsichtsmaßregel dem Verbrecher zugänglich war. Ich fürchte, Herr Doktor, Sie bekommen einen nicht sehr günstigen Eindruck von der Neuyorker Kriminalpolizei.«
»Wichtiger als das erscheint mir zunächst die Frage, was jetzt geschehen soll. Halten Sie es nicht für geboten, die heute abgehenden Dampfer untersuchen zu lassen? Vielleicht wird der Mörder noch gefaßt.«
»Ich werde das natürlich sofort veranlassen, wenn das Auto mit den beiden Beamten angekommen ist. Doch halt – vielleicht gibt es noch einen besseren Ausweg. Würden Sie wohl die Güte haben, Herr Doktor, die Benachrichtigung der Hafenpolizei zu übernehmen – da ich jedenfalls noch für längere Zeit hier festgehalten werde.«
»Sehr gerne – und ich glaube, da kommt schon das Auto, das Sie bestellten. Wenn ich Ihren Wagen benutzen dürfte –«
Webster nickte, während er schon am Schreibtisch saß und ein Formular ausfüllte. Schreyer konnte, während er wartend neben dem Schreibtisch stand, seinen Blick nicht von dem Toten abwenden, der in seiner entsetzlich unnatürlichen Haltung in dem Stuhle lag und mit seinen gebrochenen Augen gegen die Decke stierte. Der Doktor fühlte, wie ein Schauer über seinen Rücken kroch und er war froh, als er den unheimlichen Raum verlassen konnte. Auf der Treppe begegneten ihm der Polizeiarzt und der Kriminalinspektor.
Eine Stunde später begann der Telegraf zu spielen. Unsichtbare Wege bauten sich vom Lande bis zu jedem im Hafen liegenden Schiff, von Schiff zu Schiff, ja sogar bis zu den Dampfern hinaus, die vor einer Stunde und mehr den Hafen verlassen hatten. Die kleinen flinken Motorboote der Hafenpolizei schossen blitzschnell durch die Gewässer. Ein deutscher, ein norwegischer, ein portugiesischer und ein südamerikanischer Dampfer, die im Begriffe waren, ihre Anker zu lichten, mußten ihre Abfahrt aufschieben, bis Schiffspapiere, Passagiere und selbst Mannschaften einer peinlich genauen Untersuchung unterzogen waren.
An die kleine Lustjacht des indischen Radschahsohnes dachte niemand.
Die Nachforschungen, so genau und sorgfältig sie auch betrieben wurden, verliefen ergebnislos. Ponks schien von der Erde oder vom Meere verschlungen zu sein.