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Über Neuyork rieselte ein endloser trübseliger Regen hernieder. Der Asphalt in den Straßen glitzerte vor Nässe. Der Auto- und Wagenverkehr war noch stärker als sonst. Tausende von aufgespannten Regenschirmen hüpften über die Straßen. Ein Nebel von Hitze und Wasserdampf wob zwischen den Häusern.
Draußen aber, wo das hübsche Landhaus der Signora Luzatti stand, herrschte Einsamkeit und Stille. Wohl standen wegen der drückenden Hitze alle Fenster auf und aus vielen Häusern klang Musik und Gesang, Stimmen und fröhlicher Kinderlärm hervor. Die Straßen aber waren fast menschenleer.
Ein Auto kam leise, fast unhörbar herangeflitzt. Ohne die Hupe zu benutzen, hielt es plötzlich vor dem Hause der Signora und wurde, noch ehe es ganz stand, von innen aufgerissen. Mit auffallender Hast stiegen zwei Männer aus, eilten durch den Vorgarten zum Hause, zogen aber nicht an der Haupttüre die Klingel, sondern gingen um das Haus herum. Sie mochten sich wohl nicht gerne sehen lassen, denn ihr Aussehen war keineswegs gesellschaftsfähig. Ihr Jagdanzug war selbst für Urwaldjäger zu abgerissen. Ihre Gesichter waren mit zollangen Bartstoppeln bedeckt. Alles in allem schienen die beiden Männer eine wilde Fahrt hinter sich zu haben. Doch wie gesagt, ehe ein neugieriger Nachbar oder vorübergehender Passant das alles deutlich erkannt haben würde, waren die beiden Männer schon hinter dem Hause verschwunden.
Signora Luzatti, die mit einem Erbauungsbuch unter der gedeckten Veranda hinter dem Hause saß, stieß einen Schreckensschrei aus, als sie so ganz plötzlich die beiden wenig vertrauenerweckenden Gestalten vor sich auftauchen sah. Sie sprang auf und machte eben Miene, einen neuen Schrei auszustoßen.
»Schweigen Sie! Was schreien Sie denn wie eine Gans!« herrschte einer der beiden Männer sie barsch an – da klärte ihre Miene sich plötzlich auf.
»Guter Gott, Sie sind es, Herr Ponks! Und Sie, Herr Lüders! Nein, wer hätte das gedacht! Und Sie waren mit Herrn Ponks! Darum haben Sie sich bei mir schon so lange nicht mehr sehen lassen. Aber meine Herren, wie Sie aussehen!«
»Ist jemand im Hause?« schnitt Ponks die Gesprächigkeit der Dame kurz ab.
»Niemand, als die Köchin.«
»Das ist sehr gut. Bereiten Sie schleunigst Bäder für uns. Tun Sie es selbst. Auch die Köchin braucht von unserem jetzigen Aussehen nichts zu wissen.«
»Ja, Herr Ponks, sofort. Du guter Gott, was müssen Sie alles erlebt haben!«
Ponks achtete nicht auf das Geschwätz der guten Dame, sondern verschwand mit Sanders im Innern des Hauses.
*
Zwei Stunden später erschienen beide, gebadet, frisch rasiert, in frischer Wäsche, tadellos gekleidet, im Speisezimmer. Niemand hätte ahnen können, daß es die gleichen Männer waren, die vorhin im Auto angekommen waren. Beide waren von der Sonne gebräunt, sahen im ganzen sehr frisch aus, wenn sie auch in den Augen, zumal Ponks, einen seltsamen Ausdruck von Abgehetztheit trugen. Im Augenblick aber waren beide in unverkennbar fröhlicher Stimmung. Woraus hervorgeht, daß sie der Verfolgung entronnen waren und sich vorläufig in Sicherheit wußten.
»Ich nehme an, Frau Luzatti, daß Sie für ein gutes Mittagessen gesorgt haben«, sagte Ponks mit einem Anflug von Humor.
»Aber gewiß, Herr Ponks, sogar für ein außergewöhnlich gutes. Schildkrötensuppe, Puterbraten mit –«
»Bitte zählen Sie nicht auf, sondern tragen Sie auf«, befahl Ponks, in die Hände klatschend. »Ihre appetitanregenden Aufzählungen sind überflüssig.«
Die Signora, die erkannte, daß ihr Meister in guter Stimmung war, strahlte vor Vergnügen und lief, so schnell ihre nicht unbedeutende Beleibtheit es ihr gestattete. Im Nu war der Tisch gedeckt und alle die guten Sachen, die die würdige Hausfrau im Begriffe gewesen war, aufzuzählen, marschierten nacheinander auf. Als Herrin des Hauses nahm sie an diesem Essen, das fast den Charakter eines Festmahls bekam, teil. Auf Befehl von Ponks wurde reichlich Sekt aufgefahren und alle drei waren in gehobener Stimmung. Die Signora wurde nicht müde, sich über das gute Aussehen ihrer Gäste zu wundern.
»Du guter Gott, wenn ich Sie noch vor mir sehe, Herr Lüders, wie Sie aussahen, als Sie damals zu mir kamen –«
»Einen Augenblick, Frau Luzatti«, unterbrach Ponks ihren Redefluß. »Wollen Sie gefälligst Kenntnis davon nehmen, daß dieser Herr nicht Lüders, sondern Sanders heißt.«
»Oh – warum denn das?« fragte die Signora naiv.
»Warum? Wissen Sie vielleicht zufällig, warum die Hühner in die Luft schauen, wenn sie trinken?«
»Nein, wahrhaftig, das weiß ich nicht, warum tun denn die Hühner das?«
»Meine liebe Frau Luzatti, das weiß ich auch nicht. Weil ich mir nun sage, daß diese Sache mich durchaus gar nichts angeht, kümmere ich mich nicht darum. Nun sehen Sie: ebensowenig geht es Sie etwas an, warum dieser Herr nicht Lüders, sondern Sanders heißt.«
»Ach so«, meinte die Signora gemütlich und nicht im mindesten gekränkt. »Sanders ist ja so leicht ausgesprochen wie Lüders und klingt noch besser.«
»Nicht wahr? Das ist auch der Hauptgrund der Veränderung. Nun etwas anderes. Wo befindet sich Rollin?«
»Augenblicklich wird er wohl in seiner Wohnung sein.«
»In seiner Wohnung?« fragte Ponks und zog vor Erstaunen die Brauen hoch.
»Ja, Herr Rollin hat eine Wohnung gemietet. Das heißt, eigentlich ist es nur ein Dachzimmerchen. Dort hält er sich viel auf.«
»Aber ich verstehe nicht – zu was ist das? Und wo ist das Zimmer?«
»Das Zimmer –? Nun, es ist in dem Hause – wo Sie – Sie verstehen?«
»Im Gegenteil, ich bin sehr weit entfernt, zu verstehen«, murrte er mit erwachender Ungeduld und blickte die Signora ungnädig an. Diese warf einen unsicheren Blick auf Sanders – da verstand er.
»Ach so, Sie sind vorsichtig. Das ist sehr gut. Aber in Gegenwart meines Freundes Sanders dürfen Sie ruhig reden. Er ist mein Vertrauter und gehört dem engeren Bund an.«
»Oh, dann ist es gut«, seufzte die Signora erleichtert. »Es handelt sich also darum, daß Ihr Haus ständig bewacht wird.«
»Aha, das habe ich mir halb und halb gedacht. Nur glaubte ich, man sei noch nicht so weit.«
Er wandte sich zu Sanders und sprach mit gedämpfter Stimme: »Man hat also Gelegenheit gefunden, schneller zu reisen als wir oder wenigstens Nachricht nach hier zu geben. Du erkennst daran, wie notwendig meine Vorsicht war, den großen Umweg durch das Indianerterritorium zu wählen. Daran hat niemand gedacht, wie es scheint.«
»Nein, denn hätte man uns auf diesem Wege verfolgt, dann wären wir wohl kaum entkommen.«
Ponks zuckte die Achseln und versank dann in tiefes Nachdenken.
»Haben Sie etwas vom Prinzen Rami gehört?« fragte er plötzlich.
»Nicht das geringste. Ich wollte in der Sache auch nicht gern etwas unternehmen, bevor ich Ihre genauen Absichten kannte.«
»Das war weise gehandelt. Und Rollin?«
»Er hat, wie schon gesagt, in dem Hause, wo sich Ihr Büro befindet, ein Zimmer gemietet – und zwar auf meinen Rat hin, von wo er nun alle Vorgänge im Hause beobachten kann.«
»Sehr gut. Und was hat er beobachtet?«
»Daß die Polizei Ihre Rückkehr erwartet. Tag und Nacht treibt sich eine Wache in der Nähe des Hauses umher, die jeden Menschen, der das Haus betritt oder verläßt, scharf ins Auge faßt. Natürlich sind die Posten verkleidet. Sie erscheinen als Polizisten, Dienstmänner, Schornsteinfeger, Hausierer, Chauffeure und so weiter –«
»Die alten Tricks, hilflos und ohne jede Phantasie«, lachte Ponks verächtlich. »Wann begann diese Bewachung?«
»Ganz genau kann man das nicht sagen. Vor sieben Tagen ist es Ria Pombal, die sich viel in der Nähe des Hauses aufhielt, zuerst aufgefallen.«
»Dieser Doktor Schreyer ist ein Satan!« zischte Ponks. »In ihm haben wir einen verdammt ernst zu nehmenden Gegner. Bis jetzt ist er nur mein persönlicher Feind, weil er von unserem Bunde keine Ahnung hat. Wenn sich seine Verfolgung aber hier fortsetzen sollte, so wäre es unausbleiblich, daß er unserem Geheimnis bald auf die Spur käme. Aber er soll sich an mir die Zähne ausbeißen.«
»Hast du die Absicht, zu deinem Büro zu gehen?« fragte Sanders.
»Das weiß ich noch nicht. Hast du, als du damals hier im Hause warst, Frau Pombal näher kennen gelernt?«
»Leider nur von Ansehen. Ich kann unserer liebenswürdigen Wirtin den Vorwurf nicht ersparen, daß sie eine nähere Bekanntschaft mit Fleiß und Absicht hintertrieben hat, obwohl ich sie wiederholt ausdrücklich darum bat, mich mit der höchst interessanten Dame in Verbindung zu bringen.«
Er sprach die Worte mit einem beißenden, schadenfrohen Lächeln, denn er glaubte mit einem Gefühl innerlichen Triumphes, sich jetzt an Frau Luzatti rächen und ihr eins auswischen zu können, aus Rache dafür, daß sie ihm damals ein nettes Liebesabenteuer zunichte gemacht hatte. Doch er täuschte sich.
»Das war von Frau Luzatti ganz richtig gehandelt und entsprach durchaus meinen Anordnungen. Es fehlte noch, daß unsere Vertrauensleute die ruhigen Tage zu Flirt und Liebesgetändel benutzten! Schöne Verhältnisse würden sich bald daraus entwickeln … Ich spreche Ihnen also ein ganz besonderes Lob aus, Frau Luzatti, daß Sie auf die Liebesglut dieses Herrn das nötige Wasser schütteten.«
Jetzt war es an der Signora, ihren Spott an Sanders zu kühlen. Das tat sie aber mitnichten. Diese gute Seele hatte nur ein nachsichtiges, gutmütiges Lächeln für Sanders.
»Ich hatte gar nicht die Absicht, mich in Frau Pombal zu verlieben«, brummte Sanders. »Aber hier war es so verdammt langweilig, daß mir eine Unterhaltung mit einem einigermaßen gescheiten Frauenzimmer ein Labsal gewesen wäre.«
Das war eine faustdicke Grobheit für die Signora. Sie war aber augenscheinlich gar nicht empfindlich. Ja, sie schien die Bosheit, die in den Worten lag, nicht einmal recht begriffen zu haben, denn sie sagte mit einem ganz freundlichen Lächeln: »Aber wir haben doch so manche Stunde gemütlich miteinander verplaudert.«
»Ja, ja, das haben wir«, grinste Sanders höhnisch. Und mit einem beißenden Lächeln fuhr er fort: »Und zudem verstand diese von ihrem heißgeliebten Gatten getrennte und darum alle anderen Männer hassende Portugiesin kein einziges Wort Englisch.«
Ponks lachte laut auf.
»Haben Sie Herrn Sanders dieses reizende Märchen aufgebunden, Signora?«
Sie lächelte erst Ponks, dann Sanders in engelhafter Unschuld an – und nickte.
»Das haben Sie großartig gemacht!« ergötzte sich Ponks. »Aber tröste dich, mein Junge. Du wirst auf der Seereise reichlich Gelegenheit haben, dich mit Ria Pombal zu unterhalten. Sie stammt nämlich aus London.«
»Verdammt, das ist zu blöde!« rief Sanders mit dummem Gesicht. »Und ihr Mann, der verfolgte Anarchist?«
»Der wandelt noch auf den unerforschten Wegen der Vorsehung dem Tage entgegen, wo er zum erstenmal den Lebensweg der Dame kreuzt«, lachte Ponks. »Sie war zwar schon mehrere Male in Verhältnisse verstrickt, die aber bis jetzt zu Standesamt und Altar nie ausreichten.«
»So, so«, sagte Sanders. »Na, sehr verehrte Signora, Sie werden mir ja wohl noch einmal Räubergeschichten aufzubinden versuchen, dann werden Sie aber bei mir keinen Glauben mehr finden.«
»Oh, Sie dürfen mir ruhig glauben, denn hin und wieder sage ich die Wahrheit«, versicherte die gute Dame mit einem engelhaften Augenaufschlag.
»So, nun genug davon«, sprach Ponks, plötzlich sachlich werdend. »Bereiten Sie sich darauf vor, Signora, daß wir in drei Tagen reisen werden.«
»Ich auch?« fragte die Dame erschrocken.
»Nein, Sie natürlich nicht. Sie haben während unserer Abwesenheit hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Es handelt sich für uns um eine weite Reise, nämlich nach Indien. Unsere Abwesenheit wird lange dauern – wie lange, vermag heute noch niemand zu sagen.«
»Darf ich fragen, wie Sie sich die Reise denken und wer daran teilnimmt?« fragte Frau Luzatti. »Es ist wegen der nötigen Vorbereitungen.«
»Sehr wohl, vorsorgliche Dame. Wir reisen mit der Jacht des Prinzen Rami Kalisadu. Ich werde es so einzurichten wissen, daß das Fahrzeug uns hier an der eigenen Anlegestelle abholt. Dadurch geht unsere Abreise ganz unbemerkt von statten. Es reisen: ich, Herr Sanders, Prinz Rami, Frau Pombal –«
»Und Herr Rollin?« fragte die Signora.
In den Zügen Ponks ging auf einmal eine seltsame Veränderung vor.
»Ja, Herr Rollin – das weiß ich heute noch nicht. Nehmen Sie vorläufig einmal an, Herr Rollin bleibt hier. Jeder soll mitnehmen, was er für nötig hält, dabei aber nicht vergessen, daß wir in Bombay alles, was zu des Lebens Notwendigkeit oder Bequemlichkeit gehört, ebenso billig haben können wie hier.«
»Hast du deine Absicht, nach der Ostküste Indiens zu segeln und den Weg zu Schiff den Godawari hinauf zu nehmen, endgültig aufgegeben?« fragte Sanders.
»Ja. Die Gründe, warum ich diesen Plan wieder fallen ließ, werde ich dir gelegentlich mitteilen. Ursprünglich habe ich ja über die ganze Expedition nach Indien ganz andere Absichten und Pläne gehabt. Durch die Ereignisse der letzten Wochen mußte ich sie umstoßen.«
»Muß ich für Lebensmittel sorgen?« fragte die Signora.
»Nein, das besorgt alles unser indischer Freund. Sorgen sie aber für einen reichlichen Vorrat Wein und Liköre. Tabak und Zigarren nimmt ein jeder nach Belieben und Bedürfnis selbst mit. Wann kommt Herr Rollin in der Regel hierher?«
»Das ist unbestimmt. Ich vermute aber, daß er heute in der Abenddämmerung kommen wird.«
»Und Frau Pombal?«
»Sie macht nur einen Spaziergang und kann jede Minute kommen.«
»Also hören Sie, Frau Luzatti: Sobald beide kommen, benachrichtigen Sie mich. Ich habe mit beiden wichtige Dinge zu besprechen.«