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»Angeklagter, erheben Sie sich!«
Totenstille herrschte in dem Gerichtssaal, obwohl eine gespannt lauschende Menge, fieberhaft erregt von dem fürchterlichen Spiel um Leben oder Tod, sich Kopf an Kopf drängte. Nur ein leises Zittern der Luft glaubte man zu vernehmen, jenes verhaltene Atmen aus gepreßter Brust. Eine Luftwelle der Erregung, die wie eine gewitterschwüle Wolke über allen Häuptern schwebte.
»Angeklagter, erheben Sie sich!«
Scharf, mit zermalmendem Ernst, tönte durch die lautlose Stille die Stimme des Vorsitzenden. Der Mann mit dem wirren, von verzweifelten Händen wieder und wieder durchwühlten Haar, der gebrochen in dem Gehäuse des verschlossenen und von Polizisten bewachten Anklagestuhles saß, mit der Stirn auf der Schranke – dieser unselige Mensch richtete sich langsam auf. Sein Gesicht war fahl und von Grauen zerfurcht. Seine Augen irrten wie die eines gehetzten Tieres durch den Saal. Sie glitten über viele neugierige, lüsterne, erbarmungslose Gesichter – und hafteten endlich auf den Mienen eines Weibes, das auf der ersten Zeugenbank saß. Mit dem rechten Arm drückte diese Frau ein kleines Mädchen, etwa dreijährig, an sich, das mitten in all der wabernden Erregung fest und sanft schlief, das Gesichtchen von blondem Ringelhaar überflossen. Mit dem rechten Arm umspannte sie schützend einen zehnjährigen Knaben, dessen Augen furchtsam, das Schreckliche der Stunde erahnend, durch den Raum gingen. Des Weibes Gesicht war ebenso fahl wie das des Angeklagten, über dessen Haupt drohend das Schwert der Gerechtigkeit hing. Ihre weitaufgerissenen Augen starrten in fassungslosem Entsetzen in das Gesicht des Mannes, der der Vater ihrer Kinder war und der – sie fühlte es – abschiednehmend vor der Pforte der Ewigkeit stand. Als des Angeklagten Augen diesem Blick begegneten, ging ein starkes Zittern durch seinen vorgeneigten schweren Körper und ein krampfhaftes Aufschluchzen stieg aus seiner Brust hervor. Er sank auf die Bank zurück, doch die Stimme des Vorsitzenden riß ihn wieder in die Höhe.
»Der Spruch der Geschworenen hat Sie, Domenico Orland, einstimmig für schuldig erklärt, in der Nacht vom neunzehnten zum zwanzigsten März dieses Jahres den Leiter des städtischen Krankenhauses, den Geheimen Hofrat Professor Dr. v. Ringstedt, vorsätzlich und mit Überlegung ermordet und beraubt zu haben. Mildernde Umstände, die Ihre Tat weniger entsetzlich und abscheuerregend erscheinen lassen könnten, kommen nicht in Frage. Das Gericht hat darum beschlossen, dem Antrage der Staatsanwaltschaft stattzugeben und gegen Sie die Todesstrafe auszusprechen. Gleichzeitig werden Ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit aberkannt.«
Während der Richter diese Worte sprach, war die Totenstille im Raum nicht durch einen Atemhauch unterbrochen worden. Als nun die metallharte Stimme schwieg, dauerte die Stille noch einige Sekunden an. Alles starrte auf den Mann, auf dessen schuldiges Haupt diese keulenschlagartigen Worte niedergesaust waren. Noch immer stand er, mit beiden Fäusten schwer auf die Schranken gestützt, etwas nach vorn geneigt, mit hängendem Kopf. Ganz plötzlich aber, wie vom Blitz getroffen, brach er zusammen. Nun rauschte die mühsam gedämpfte Erregung in einer gewaltigen Welle empor. Fiebererhitzte Blutströme zischten ihre Spannungen in den Raum hinein. Über dieses Geräusch hinaus aber gellte plötzlich ein schriller Schrei aus Frauenmund. Das Weib auf der ersten Zeugenbank hatte ihn ausgestoßen. Mit beiden Händen griff die Frau in ihr Haar, riß darin und stieß wilde Schreie aus. Das Mädchen an ihrer Seite erwachte und brach in ein herzzerreißendes Weinen aus. Der Knabe starrte mit wilden, gehetzten, von Grauen erfüllten Augen umher. Seinen fest aufeinandergepreßten Lippen aber entrang sich kein Ton.
Der Vorsitzende gab einigen Gerichtsdienern einen Wink. Diese traten zu der Unglücklichen, um sie hinauszuführen. Sie sträubte sich, schlug um sich. Die Männer aber, an Vorgänge ähnlicher Art gewöhnt, erfaßten sie und hatten sie im Nu durch eine Seitentür hinausgebracht. Lauter noch schrie das Kind, das sich nun in dieser Umgebung allein sah. Noch erschütternder aber wirkte auf jene Zuschauer, die ein fühlendes Herz in der Brust hatten, der Anblick des blassen, an allen Gliedern zitternden Knaben. Schon wollte der Vorsitzende den Befehl geben, auch die Kinder hinauszubringen, als eine schwarzgekleidete Dame, die abseits von den andern ebenfalls auf der Zeugenbank saß, sich erhob und zu den Kindern trat. Sie legte ihre Arme um sie und sprach einige leise Worte zu ihnen. Der Eindruck, den die Frau auf die Kinder machte, war seltsam. Das Mädchen, das sich erst heftig von der Fremden abwandte, dann aber nach einem scheuen Blick in das über sie geneigte gütige, von weißem Haar umrahmte Gesicht sich willig von dem mütterlichen Arm umschlingen ließ, hörte sogleich zu weinen auf. Der Knabe richtete seine dunklen Augen starr auf das fremde Gesicht – und brach dann in ein leises, tränenloses Schluchzen aus. Die Dame lächelte, richtete sich auf und wandte sich an den Vorsitzenden, der, von den Richtern umgeben, am Gerichtstisch stand und mit ernstem, unbeweglichem Gesicht dem Vorgang zuschaute.
»Ich möchte diese armen, verlassenen Kinder mit in mein Haus nehmen.«
Der Richter neigte ein wenig den Kopf.
»Sie tun damit ein Werk der Barmherzigkeit, gnädige Frau. Doppelt edel, weil es die Kinder des Mannes sind, der Sie zur Witwe gemacht hat.«
»An der Schuld des Vaters sind diese Kleinen nicht beteiligt«, versetzte Frau v. Ringstedt. »Ich werde ihnen die Mutter ersetzen, bis ihre wirkliche Mutter sich wieder ihrer annehmen kann.«
Sie nahm die Kinder bei der Hand und führte sie hinaus, verfolgt von den Augen der vielen, die Zeuge des Geschehnisses waren und es – je nach ihrer Art – aufnahmen: verständnislos oder mit Bewegung, spöttisch oder mit Erstaunen.
Der Verurteilte, der auf die Frage des Vorsitzenden, ob er zu seinem Urteil etwas zu sagen habe, in halber Betäubung den Kopf schüttelte, wurde hinausgeführt. Damit war das schauerliche Schauspiel vorläufig zu Ende. Die Zuschauer verließen den Saal – in erschüttertem Schweigen die einen, mit erregtem, hastigem Geschwätz die anderen.
*
Sechs Wochen später, an einem trüben, nebeligen Herbstmorgen, spielte sich ein kurzer, doch noch schauerlicherer Schlußakt ab: im Hof des Gefängnisses wurde ein vor Angst und Grauen schon halbtoter Mensch unter das Fallbeil geschleppt. Einige Tage vorher war sein Weib ihm in den Tod voraufgegangen. Seit jener fürchterlichen Stunde im Gerichtssaal war sie nicht wieder zu einer völligen geistigen Klarheit gelangt. Allmählich war sie hinübergedämmert, bis der Tod sie erlöste.
Nun bewies die Hofrätin v. Ringstedt nicht nur die ganze Größe ihres Herzens, sondern auch die sieghafte Kraft der menschenbeglückenden Ideen, deren berühmter Träger ihr verstorbener Gatte gewesen war. Eines Tages ließ sie ihren Rechtsbeistand kommen und teilte ihm ihren Entschluß mit, die Kinder des Ehepaares Orland, die sich seit dem Tage der Verhandlung in ihrem Hause befanden, ganz an Kindesstatt anzunehmen.
Der vorsichtige, menschenkundige Sachwalter wiegte bedenklich den Kopf und stellte die Frage, ob die gnädige Frau schon daran gedacht habe, daß das Blut dieser Kinder vielleicht, wenn nicht sogar wahrscheinlich, etwas von dem Gift enthielte, das des Vaters Blut verdorben hatte.
»Ich weiß, daß diese Lehre viele Bekenner findet«, sprach die Hofrätin nachdenklich. »Auch mein verstorbener Gatte war davon überzeugt. Ich aber bin es nicht. Und wenn es hier der Fall sein sollte, dann will ich das Blut dieser Kinder durchdringen mit den Keimen echter Sittlichkeit, bis all das Böse überwunden ist.«
Der Rechtsanwalt nickte vor sich hin, voller Vorbehalte und Einwände. Da er aber die Hofrätin kannte, verzichtete er darauf, alle seine Bedenken vorzubringen. Er überließ vielmehr das Weitere der Zukunft, hoffend und wünschend, daß alles gut gehen möge. Die Hofrätin dankte ihm für seine Wünsche, darauf wurde die gesetzliche Form der Kindesannahme vollzogen. Auf Wunsch der Frau v. Ringstedt erhielten die beiden Kinder sogar andere Vornamen, damit nichts sie an die Vergangenheit erinnere. Sie hießen nun Walter und Elisabeth v. Ringstedt.
Die Hofrätin, die durch den tragischen Tod ihres Gatten für kurze Zeit aus der Bahn ihrer ganz dem Dienste der Menschheit gewidmeten Tätigkeit geworfen worden war, hatte nun wieder eine große Aufgabe, der sie sich mit dem größten Eifer hingab. Bald schon erkannte sie die ungeheuren Schwierigkeiten, die sie auf sich genommen hatte. Elisabeth war ein blondes, stilles, anschmiegsames Kind, meist geduldig und von sanftem Wesen. Je nach den Umständen aber konnte sie in eine plötzliche Erregung geraten, die ihr liebes Kindergesichtchen in erschreckender Weise veränderte. Dann wurden ihre Augen groß und flackernd, Lippen und Nasenflügel bebten, und ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten. In der Regel aber löste sich diese Erregung in einen Strom von Tränen auf. Ganz anders war das Wesen des Knaben. Mit Schrecken bemerkte die Hofrätin, wie sehr die Seele dieses Kindes bereits unter dem Einfluß der schrecklichen Dinge stand, die es vermutlich im Elternhause erlebt hatte. Mit aller Vorsicht versuchte Frau v. Ringstedt, sich aus Äußerungen Walters ein Bild dieses zerrütteten Familienlebens zu machen. Das gelang ihr aber nur zum Teil. Schon am Anfang ihrer Liebestätigkeit merkte sie, wie schwer es sein würde, den überaus helläugigen, intelligenten Knaben seine Vergangenheit vergessen zu machen. Manchmal, in den fröhlichsten Spielen, konnte sein Lachen kurz und hart abbrechen; sein Blick wurde starr und seine Augen füllten sich mit Grauen und Entsetzen. Und wie von einer unsichtbaren Geißel geschlagen, schlich er abseits in die Einsamkeit. Alle Liebe und Gefühlszartheit, mit der die Hofrätin ihn behandelte, konnte diese Erscheinungen nicht beseitigen. Natürlich war es unter diesen Umständen überaus schwierig, ihn über den ersten Abschnitt seiner Jugend auszuforschen. Dennoch versuchte es die Hofrätin, und zwar in solchen Stunden, da er ohnehin unter dem Einfluß jener düsteren Geschehnisse litt. Als sie aber sah, wie sehr sie den Knaben damit quälte, stellte sie alle Versuche dieser Art ein und setzte nunmehr all ihre Hoffnungen auf den heilenden Einfluß der Zeit und ihrer Liebe.
Vielleicht wäre das Werk gelungen, wenn allein ihr Einfluß den Lebensweg Walters bis zu seinem Mannesalter begleitet hätte. Aber da war eine andere Macht im Spiel, die stärker und in ihrer Wirkung gewaltiger war als die Kraft und Überredung ihrer veredelnden Lehren und die werbende Wärme ihrer Liebe. Es war das, was in seinem Blut lebte und stündlich neu durch seinen Körper getragen wurde – was sein Herz erfüllte und sein Hirn nährte.
Das unselige Erbteil des väterlichen Blutes.