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Zehn Jahre später. Prachtvolle warme Septembertage. Die Sonne warf die letzten Goldschätze, die sie für dieses Jahr noch zu vergeben hatte, mit vollen Armen über die Welt. Feine weiße Fäden flogen durch die Luft. –
»Altweibersommer«, murmelte die Hofrätin lächelnd und haschte nach einem jener Fädchen, die leise, wie Gedanken an Tod und Vergehen, sich auf den Menschen niedersenken. »Schau, Elisabeth, wie wunderzart solch ein Gewebe ist!«
Das schlanke junge Mädchen mit den ersten Anzeichen erblühender Jungfräulichkeit, das Arm in Arm mit der alten Dame langsam durch den in buntestem Herbstschmuck prangenden Park dahinschritt, nickte und lächelte. Doch dieses Lächeln hatte etwas Erzwungenes. Sogleich legte sich wieder die finstere Falte über ihre Stirne, die dieses reine, schöne Jungmädchengesicht, das alle Süßigkeit goldenster Jugendtage enthielt, so ernst und streng machte. Frau v. Ringstedt sah es und strich ihr lächelnd über die Stirn.
»Nicht so finster sein, mein Lieschen! An einem solch glückseligen Tage! Heute darfst du mir mal keine Gespenster sehen.«
»Ich sehe keine Gespenster, liebste Mutter«, sprach Elisabeth kummervoll. »Du weißt, daß ich selbst beide Augen zudrücken möchte, um das nicht zu sehen, was ich fürchte. Auch weiß ich, wie sehr du unter den Dingen leidest, die Walter dir zufügt – dir, der besten Mutter auf Erden.«
»Sein Gemüt ist nun einmal hart und trotzig – er kann selbst nicht dafür«, tröstete die Hofrätin, aber mit einem Seufzer. »Wir müssen Geduld mit ihm haben.«
»Sag, Mutter, von wem mag wohl Walter diese Herzenshärte geerbt haben?« fragte Elisabeth nachdenklich. »Du bist doch die Güte und Weichheit selbst. Hat er diesen Zug vom Vater bekommen?«
»Der Vater war einer der besten und gütigsten Menschen, die je auf Erden gelebt haben«, antwortete die Hofrätin mit einer gewissen Befangenheit. Sie ging Gesprächen dieser Art möglichst aus dem Wege, denn Elisabeth ahnte nicht, welch düsteres Geheimnis ihre Geburt umschleierte. Die Seele des Kindes für alle Zeit vor der Enthüllung dieses Geheimnisses zu bewahren, war ihr höchster Wunsch und ihr schönstes Ziel. Sie hatte sich von Walter das heilige Versprechen ablegen lassen, nie seiner Schwester etwas von den vergangenen Dingen zu sagen. Bis jetzt hatte er dieses Versprechen gehalten, doch war Frau v. Ringstedt durchaus nicht fest überzeugt davon, daß er auch in Zukunft sein Wort halten werde.
»Walter muß doch den Vater noch gekannt haben«, sprach Elisabeth nach einer kleinen Pause. »Wie seltsam, daß er nie zu mir von ihm spricht. Er geht sogar jedem Gespräch über ihn aus dem Wege. Hat Walter unseren Vater nicht geliebt?«
»Jedes Kind liebt seinen Vater«, antwortete die Hofrätin ausweichend.
Eine ganze Minute lang schritten Mutter und Tochter schweigend Arm in Arm durch den Park dahin. Plötzlich blieb Elisabeth stehen. Die Hofrätin merkte ihr an, daß sie mit einem schweren Entschluß gerungen hatte, denn mit einem tiefen Aufatmen begann Elisabeth:
»Ich weiß, liebe Mutter, wie schwer du darunter leidest, wenn du etwas Schlechtes von Walter hören mußt. Und doch – ich muß es dir sagen – Walter verläßt in der Nacht das Haus.«
Mehr erstaunt als erschrocken blieb die Hofrätin stehen.
»Aber Kind, was sagst du da? Ich verstehe wirklich nicht, wie du das meinst.«
»Nun denn, in manchen Nächten, wenn im Hause alles schläft, geht Walter fort und kehrt erst in den Morgenstunden heim.«
Nun prägte sich in den Zügen der alten Dame ein starkes Erschrecken aus.
»Elisabeth! – Aber Kind – hast du das nicht geträumt?«
»Höre mich ruhig an, Mutter«, sprach das junge Mädchen und zog die Hofrätin zu einer nahen Ruhebank. »Vor einigen Wochen machte ich diese Beobachtung zum erstenmal. Ich war noch spät auf. Gegen Mitternacht hörte ich draußen einen Pfiff. Da ich in mein Buch vertieft war, achtete ich nicht darauf. Erst als ich ein paar Sekunden später Walters Stimme von seinem Fenster aus antworten hörte, wurde ich aufmerksam. Ich knipste das Licht in meinem Zimmer aus und trat auf den Balkon. Da sah ich draußen vor dem Gartentor Lüders stehen. Er war es, der gepfiffen hatte. Ungeduldig ging er auf und ab. Nach einer Weile ging leise die Haustüre auf, Walter trat heraus, schloß vorsichtig wieder ab, eilte auf den Fußspitzen über den Kiespfad durch den Garten und stieg über den Zaun. Dann gingen beide eilig fort.«
»Nicht möglich!« murmelte die Greisin.
»Höre weiter, Mutter! Am nächsten Morgen ging Walter nicht zur Universität, da er angeblich Kopfweh habe. Ich sah ihn erst mittags. Mir fiel auf, wie schlecht und angegriffen er aussah. Ich zog ihn abseits und stellte ihn zur Rede. Erst wollte er leugnen, als ich ihm aber alle Einzelheiten dessen schilderte, was ich nachts beobachtet hatte, gab er alles zu. Und denk dir, Mutter, wo die beiden gewesen waren! In einer Gesellschaft, wo das Glücksspiel betrieben wird! Und Walter hatte in dieser Nacht viel verloren, weit mehr, als er besaß. Nun war er verzweifelt und wußte nicht, woher er das Geld nehmen sollte. Ich habe ihm alles gegeben, was ich mir erspart hatte, und zwar gegen sein ehrenwörtliches Versprechen, nie wieder zu spielen, noch auch zur Nachtzeit das Haus zu verlassen. Er versprach alles, und auf seine inständigsten Bitten habe ich die Sache vor dir geheimgehalten. Ich habe aber die Augen offen gehalten – und zu meinem unbeschreiblichen Schrecken mußte ich feststellen, daß Walter in der letzten Nacht abermals außerhalb des Hauses war. Als ich ihm heute morgen deshalb Vorwürfe machte, lachte er und warf das Geld, das ich ihm kürzlich gegeben hatte, vor mir auf den Tisch. Er hatte gewonnen. Als ich ihm erklärte, ich würde dir alles mitteilen, drohte er mir mit den Worten: dann würde er etwas tun, was wir beide nie vergessen würden. Das ist der Grund, Mutter, warum ich so lange mit mir selbst gekämpft habe, bevor ich dir von diesen Dingen Mitteilung machte.«
Die Hofrätin nickte schwer.
»Du tatest recht daran, mein Kind. – O Gott, sollte es denn doch wahr sein, daß die Sünden der Väter – daß ein vergiftetes Blut –«
Sie brach ab, denn sie merkte, daß Elisabeth ihren halblaut gemurmelten Worten angstvoll lauschte.
»Um Gott, Mutter, was sprichst du? Was sagtest du von den Sünden der Väter? Ist unser Vater –«
»Ruhig, nicht weiter!« gebot Frau v. Ringstedt mit einer hastigen Handbewegung. »Ich sprach gedankenlose Worte. Und nun – führe mich ins Haus. Ich bin auf einmal so müde geworden.«
Besorgt legte Elisabeth ihren Arm um die Schultern der alten Dame und geleitete sie ins Haus. Dort sank die Hofrätin in einen bequemen Stuhl.
»Ich danke dir, Kind«, sprach sie mit einem erzwungenen Lächeln. »Laß mich nun allein. Und – wenn du Walter siehst, dann sag ihm, er solle sofort zu mir kommen.«
»Willst du nicht lieber warten bis morgen, Mutter?« fragte Elisabeth besorgt. »Ich fürchte, du wirst dich aufregen.«
»Tu, was ich dir sagte«, sprach die Hofrätin sanft, aber bestimmt. »Ich kenne meine Pflicht und bin entschlossen, sie restlos zu erfüllen.«
Als Elisabeth gegangen war, saß die alte Dame lange Zeit sinnend und in sich gekehrt, fast regungslos, in tiefer Niedergeschlagenheit. Endlich richtete sie sich auf, ging zu ihrem Schreibtisch und klingelte ihren alten Freund und Sachwalter, den Rechtsanwalt Dr. Wallershaus, an. Er war selbst anwesend und Frau v. Ringstedt bat ihn, sobald wie möglich zu ihr herauszukommen.
Kaum hatte sie den Hörer wieder auf die Gabel gelegt, da trat Walter herein. Er war ein hochgewachsener junger Mann, dessen frisches, energisches Gesicht überall hätte einen guten Eindruck machen müssen, wenn nicht in den ruhelosen Augen ein Zug von Herzenshärte und kalter Rücksichtslosigkeit gestanden hätte. Sein Körperbau war schlank, doch überaus sehnig und von einer Geschmeidigkeit in allen Bewegungen, die den geübten Sportsmann verriet.
Als er zu der Hofrätin hereintrat, suchte er sein schlechtes Gewissen hinter einer Harmlosigkeit zu verbergen, die viel zu gemacht war, als daß sie das Auge der alten Dame hätte täuschen können.
»Guten Tag, Mama! Wie geht es dir? Elisabeth sagte mir eben, du wünschest mit mir zu sprechen.«
»Ja, Walter, ich habe etwas mit dir zu besprechen. Setz dich.«
Eine gewisse kühle Zurückhaltung in Miene und Stimme der Hofrätin sagte dem Besucher, daß er sich auf eine sehr ernste Unterhaltung gefaßt machen könne. Ein leiser Zug von Trotz legte sich um die feingeschnittenen Lippen des jungen Mannes.
»Darf ich eine Zigarette rauchen, Mutter?«
»Wenn es dir nicht möglich ist, einige Worte mit deiner Mutter zu reden, ohne dabei zu rauchen, dann bitte.«
Betroffen von dem fast scharfen Ton dieser Worte zog Walter seine Hand wieder aus der Tasche.
»Aber nein, Mutter, ich muß durchaus nicht rauchen, wenn du es nicht wünschest.«
»Wo warst du diese Nacht, Walter?«
»Diese Nacht?«
Dunkel, wie eine plötzlich auflodernde Hassesflamme, glomm es in den Augen des jungen Menschen auf. Um seine Lippen zuckte es. Doch er zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich merke schon, mein liebes Schwesterchen hat geplaudert. Auch die sanftesten Frauen scheinen die Krallen aus den Samtpfötchen hervorzustrecken, wenn einmal etwas gegen ihren Willen geht.«
»Bitte, spare deine gestachelten Weisheiten, denn sie sind nicht am Platz. Elisabeth hat geglaubt, ihre Pflicht als Schwester zu erfüllen, wenn sie mir dein Treiben offen enthüllte. Und sie hat in der Tat damit ihre Pflicht erfüllt.«
»Mein Treiben?« bemerkte Walter mit einem hochmütigen Lächeln und hob ein wenig die Schultern. »Ist es für einen jungen Mann so etwas Schreckliches, wenn er mal einen nächtlichen Bummel macht?«
»Ich weiß, daß du spielst.«
»Hm – nun ja, ich habe mit meinen Freunden hin und wieder ein Spielchen gemacht. Aber das tun alle jungen Männer meines Standes – sofern ich –« er schoß einen Seitenblick, der nicht frei von Hohn war, nach der alten Dame hinüber – »sofern ich überhaupt das Recht habe, mich zu den jungen Leuten von Stand zählen zu dürfen.«
»Du weißt, daß du das darfst.«
»Wenigstens habe ich es bis jetzt geglaubt. Ich erinnere mich, daß du wiederholt den Wunsch äußertest, ich solle mich unter meinen Kameraden und Freunden so flott und vornehm geben, wie es meine – Verzeihung, deine Verhältnisse gestatten. Das habe ich getan.«
»Dagegen habe ich nicht das geringste, im Gegenteil, es macht mir Freude. Aber warum tust du das geheim, hinter meinem Rücken?«
»Liebe Mutter, gewisse Dinge tun alle jungen Leute hinter dem Rücken ihrer Eltern. Glaubst du, mein Freund Lüders würde zu Hause erzählen, daß er spielt?«
»Das wundert mich einigermaßen, denn dein Freund Lüders ist in häuslichen Verhältnissen aufgewachsen, die kaum geeignet sind, einen tadellosen charaktervollen Ehrenmann aus sich hervorgehen zu lassen.«
»Ah, Mutter, das sind ganz neue Töne aus deinem Munde«, sagte Walter halblaut, den Blick mit stechendem Ausdruck auf die Hofrätin gerichtet. »Ich erinnere mich so mancher vertraulichen Unterredung zwischen uns, in der du stets eifrig die Ansicht gewisser Gelehrten bekämpftest, daß die Kinder in jedem Fall das geistig-moralische Spiegelbild ihrer Eltern seien.«
»Das habe ich auch jetzt nicht gesagt!« rief die Hofrätin, sich ereifernd. »Vererbung einerseits und Erziehung durch tägliches Beispiel anderseits sind zwei ganz verschiedene Dinge. Lüders hat seit seiner Kindheit ein zerrüttetes Familienleben vor Augen gehabt. Das ist natürlich für die Entwicklung eines Menschen von höchst verderblicher Wirkung. Das andere aber –«
»Dieses andere, teuerste Mutter«, unterbrach Walter leise, aber mit scharfer Betonung, »ist etwas, über das wir beide sehr verschieden denken.«
»Wie – was soll das heißen! Was willst du damit sagen?«
»Nun, den Grundsatz von der Vererbung, von der Vergiftung des Blutes schon vor der Geburt – den Grundsatz, den du äußerlich so eifrig bekämpft, ob innerlich auch so vollkommen überzeugt, weiß ich nicht – diesen Grundsatz muß ich anerkennen.«
Frau v. Ringstedt blickte ihren Sohn erschrocken mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich verstehe dich nicht, Walter! Erkläre dich bitte deutlicher!«
»Wenn das wirklich nötig ist, gerne. Schau, des Menschen höchste Pflicht ist, sich selbst kennen zu lernen, Klarheit über sein eigenes Wesen zu erlangen. Ich habe mich von jeher nach Kräften bemüht, diese Pflicht zu erfüllen und glaube, es ist mir gelungen. Ich kenne mich bis in die geheimsten Abwege meines Seelenlebens hinein. Und das, was ich bei den verschiedensten Gelegenheiten in meinem Inneren sah, das – nun, das läßt sich aufs trefflichste mit meinen Erinnerungen aus der ersten Zeit meines Lebens vereinigen – Erinnerungen, Mutter, die noch heute mit schärfster Klarheit vor meiner Seele stehen.«
»Oh, das ist entsetzlich!« murmelte die Hofrätin.
»Entsetzlich – ja, vielleicht – für dich«, versetzte der junge Mann mit kaltem Gleichmut. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß es für dich eine bittere Enttäuschung sein muß, zu sehen, daß die Frucht zehnjähriger Liebe und Aufopferung faul und wurmstichig bis ins Innerste ist. Und wenn du nach einer Erklärung dieser betrüblichen Erscheinung suchst, so will ich dir auch diese geben: An Bemühungen, mich von den Dämonen loszuringen, die von Anbeginn meines Lebens in mir wohnen, hat es nicht gefehlt. Aber sie konnten natürlich nichts fruchten – schon deshalb nicht, weil das entsetzliche Ende meines Vaters fortwährend wie ein drohendes Gespenst vor mir gestanden hat. Sieh, Mutter – das Bewußtsein, eines Verbrechers, eines Raubmörders Sohn zu sein, hat von jeher mit so zermalmender Wucht auf meiner Seele gelegen, daß unter diesem Bleigewicht alle Keime des Guten, sogar der Mut und der Wille zum Guten, erstickt sind. Wenn ich dir mit diesen Worten wehe tu, dann vergib mir. Doch eines Tages mußte ich dir – gerade dir – dieses Geständnis ja doch machen.«
Die Hofrätin erhob sich mit einer schweren Bewegung. Doch mußte sie sich an der Kante des Tisches festhalten, um nicht umzusinken.
»Walter, ich muß annehmen, daß das alles nur ein Scherz ist, allerdings ein furchtbarer, ein roher und rücksichtsloser Scherz.«
»Nein, Mutter, so roh und rücksichtslos scherze nicht einmal ich. Was ich dir eben sagte, das hätte ich dir schon vor einem Jahre, vielleicht gar schon früher sagen können. Denn seit der Zeit, da ich mich selbst beobachte wie ein Detektiv einen Verbrecher, seit der Zeit sehe ich, wie die Keime, die schon in mir lagen, ehe du mich kanntest, wachsen und in die Höhe schießen; wie sie alles andere überwuchern, ersticken. Du wunderst dich vielleicht, daß ich das alles so ruhig, scheinbar gleichgültig sagen kann. Du kannst daran erkennen, daß es sich für mich nicht um neue Dinge handelt. Du weißt, daß das Sondergebiet meines Studiums Philosophie und Mathematik ist. Nun, mit der Ruhe und dem Gleichmut des Philosophen und der Denkschärfe des Mathematikers verfolge ich die Linie meines Lebens bis zu ihrem Ende – vorahnend, wenn du willst – vorwissend, wie ich sage. Und ich sehe deutlich, wie dieses Ende – darf ich es sagen, Mutter?«
»Nein, nein – um Gottes willen, schweig!« rief die Hofrätin und streckte abwehrend beide Arme gegen Walter aus.
»Nun gut, ich sehe, du weißt schon, was ich sagen wollte. Es braucht also zwischen uns nicht ausgesprochen zu werden.«
»Aber, mein Gott – Junge, mein lieber Junge, wenn du so klar und deutlich dein Schicksal vor Augen siehst, dann lenke es doch auf eine andere Bahn!«
»Das kann ich nicht, Mutter.«
»Man kann alles, was man nur ernstlich will.«
Walter blickte die Hofrätin ein paar Sekunden lang schweigend an. Um seine Lippen zuckte es.
»Und das sagst du – die Gattin des berühmten Hofrats v. Ringstedt – die Gefährtin und Schülerin des besten Seelenkenners seiner Zeit? Nein, Mutter, das, was du da eben behauptetest, das ist nicht richtig. Der Mensch kann nicht, wie er will. Des Menschen Seele ist ein Strom, der seinen Weg zieht, unbeeinflußt von Erkenntnis und Erziehung.«
»Entsetzliche Worte!« rief die Hofrätin empört. »Wie kannst du es wagen, solche Behauptungen aufzustellen!«
»Ich denke, wir sprechen sachlich über ein wissenschaftliches Thema«, versetzte der junge Mann kalt. »Wenn du willst, schweige ich.«
»Das Entsetzlichste für mich liegt darin, daß ein junger Mensch, der noch am Anfang des Lebenskampfes steht, eine solch ungeheuerliche Hoffnungslosigkeit und Lebensverneinung zum Ausdruck bringt. Das ist entweder Feigheit – oder – Schlimmeres.«
»Bitte, Mutter, willst du dieses Schlimmere nicht aussprechen?«
»Nun denn – Lust am Bösen«, brachte die alte Dame mit Überwindung hervor.
»Lust am Bösen«, wiederholte Walter langsam. Seine Stirne furchte sich. Seine Lippen preßten sich zusammen. Und nach einer Weile sagte er leise: »Ich glaube – Mutter – man würde richtiger sagen: Zwang zum Bösen.«
Er erhob sich mit einer plötzlichen harten Bewegung.
»Mutter, es hat keinen Zweck, daß wir beide, zwei grundverschiedene Menschen, noch länger um die Sache herumreden. Wir wollen zur Klarheit kommen. Du bist eine Heilige – ich der Sohn eines unterm Fallbeil geendigten Raubmörders. Unsere Sphären stoßen sich ab, müssen sich ewig abstoßen. Du warst gut zu mir. Die beste Frau der Welt hätte, wenn sie selbst mich geboren, nicht gütiger, lieber, herzlicher zu mir sein können, als du es warst. Dafür bin ich dir so dankbar, wie es ein Mensch mit meinem harten und kalten Herzen nur sein kann. Du erkennst aber, daß trotz all deiner Liebe und Sorge dein Werk umsonst war. In meinem Blute rollt das Gift meines Vaters. Ein Gift, das von Tag zu Tag schärfer hervortritt. Ich sehe das deutlich. Und ich erkenne auch die Pflicht, die sich daraus für mich ergibt. Mutter, sage dich los von mir! Ich will unter anderem Namen in die Welt hinausgehen – will mein Glück versuchen – oder unerkannt untergehen. Ich will, um dir und Elisabeth keine Schande zu machen, alle Fäden zwischen euch und mir zerschneiden. Gib mir so viel Geld, wie ich hier in einem Jahre verbrauche. Und dann reiße alle Erinnerungen an mich aus deinem Herzen – an den Menschen, der einer anderen Welt angehört als du.«
Die Hofrätin starrte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf den in der Erregung des Augenblicks totenbleichen jungen Mann, der ihr gegenüberstand und eine so ungeheuerliche Forderung an sie stellte. Erst nach Sekunden fand sie Worte.
»Walter, das wagst du mir vorzuschlagen?« rief sie mit zitternder Stimme, »mir, die ich so viel für dich getan habe? Das also ist dein Dank? O mein Gott, wer hätte das erwartet!«
Sie preßte unter krampfhaften Atemzügen ihre Hände vor die Augen. Mehrere Sekunden war es still zwischen ihnen.
»Mein Dank – ja, Mutter, wenn du es so nennen willst. Glaube mir, ich kann in meinem ganzen Leben nicht mehr und nichts Größeres für dich tun, als daß ich von dir gehe. Es mag in deinen Augen ein Verbrechen sein. Das aber sage ich dir, Mutter: wenn ich bliebe, dann wäre das ein viel größeres Verbrechen an euch beiden.«
»Sage, was du willst«, rief die Hofrätin aufspringend, »auf deinen wahnwitzigen Vorschlag antworte ich mit einem entschiedenen Nein! Du bleibst hier. Noch bist du nicht großjährig und kraft des Gesetzes unterstehst du meinem Willen.«
»Ich kenne dieses Gesetz, Mutter. Und darum habe ich dich gebeten, mich ziehen zu lassen.«
»Ich versage dir diese Bitte«, versetzte die alte Dame mit Härte. »Ich müßte so wahnsinnig sein wie du, wenn ich meinen Segen zu deinem Plan gäbe. – Und übrigens«, fuhr sie nach einem tiefen Aufatmen fort, »glaube ich überzeugt sein zu dürfen, daß du morgen nicht mehr weißt, was du in dieser Stunde gesagt hast, körperlich und seelisch zermürbt durch eine ruhelos verlebte Nacht.«
»Glaubst du, Mutter? Scheine ich dir seelisch so zermürbt? Nun, du hast ein entschiedenes Nein gesprochen – ich habe das meinige getan, indem ich dich bat – und jetzt –«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern zuckte nur mit den Achseln. Dann sagte er in verändertem, fast leichtem Plauderton: »Hättest du mir sonst noch etwas zu sagen, Mutter?«
Die Hofrätin winkte matt mit beiden Händen ab.
»Nein, nein – du kannst jetzt gehen.«
Walter verbeugte sich leicht und verließ, ohne sich noch einmal nach der zusammengebrochenen Frau umzusehen, das Gemach. –
*
Mit Hast und in gedrückter Stimmung speisten die beiden Geschwister zu Mittag. Frau v. Ringstedt hatte Kopfweh und war auf ihrem Zimmer geblieben. Gleich nach der Mittagstafel ging Walter fort. Eine Stunde später ließ sich der Rechtsanwalt Dr. Wallershaus bei der Hofrätin melden und wurde sogleich empfangen. Der alte Sachwalter war erschrocken, als er die Freundin in einer ungewöhnlichen Erregung vorfand.
»Gut, daß Sie kommen, lieber Doktor«, begrüßte ihn die Hofrätin und reichte ihm die Hand. »Als ich Sie heute morgen bat, herauszukommen, kannte ich die ganze Größe des Schlages noch nicht, der mich betroffen hat.«
Und sie erzählte dem Sachwalter den Inhalt des zwischen ihr und Walter stattgefundenen Gesprächs. Dr. Wallershaus lauschte aufmerksam und sein kluges Gesicht wurde immer ernster. Hin und wieder nickte er vor sich hin, verstehend und gleichsam seine eigenen Gedanken bestätigend.
»Es ist also genau so gekommen, wie ich vor zehn Jahren befürchtet hatte«, sprach er am Schlusse ihres Berichts.
»Bitte, Doktor, machen Sie mir keine Vorwürfe, daß ich damals nicht auf Ihre Warnungen hörte«, klagte die Hofrätin. »Ich habe das Beste gewollt.«
»Das weiß Gott!« bestätigte der Anwalt mit Wärme. »Fern sei es von mir, Ihnen Vorwürfe zu machen. Nur – dieses Ereignis bestätigt wieder einmal recht treffend so manche Erfahrungen, die von ernsthaften Forschern auf dem wirren Gebiete der Menschenseele gemacht worden sind.«
»Sagen Sie das nicht, lieber Freund«, widersprach die Hofrätin. »Diese Erfahrungen müßten sich dann ja auch auf Elisabeth erstrecken. Doch sie ist das liebste und sanfteste Kind, an der je eine Mutter Freude gehabt hat.«
»Elisabeth ist erst fünfzehn Jahre alt«, bemerkte der Rechtsanwalt.
»Ja, doch ihre Seele wird täglich größer, tiefer und schlackenfreier.«
»Dennoch kann ich mich erinnern, daß Sie mir manchmal von einer plötzlich auflodernden Leidenschaft bei der kleinen Elisabeth berichtet haben – und nicht immer ohne gewisse Sorgen.«
»Ja, das ist wahr – sie kann heftig, leidenschaftlich, jähzornig werden, wenn sie schlechte Dinge sieht oder von ihnen hört. Unrecht einem Wehrlosen gegenüber, Mißhandlung eines Tieres und dergleichen Vergehen könnten sie zu Tätlichkeiten gegen den Schuldigen hinreißen. Das Kind hat einen geradezu leidenschaftlichen Widerwillen gegen alles, was unsauber, häßlich, schlecht und unmoralisch ist. Solchen Dingen gegenüber kann sie in einen Zorn geraten, der – ich gebe es zu – mich manchmal erschreckt hat.«
Der Anwalt nickte langsam vor sich hin.
»Ich hoffe von Herzen, daß Sie Ihre Meinung über dieses liebe Kind nie zu ändern gezwungen sind. Doch was geschieht nun mit Walter?«
»Ja, was geschieht mit ihm!« rief die alte Dame ratlos. »Sie denken doch auch nicht, daß ich ihn ziehen lassen sollte?«
»Nein – obwohl ich nach diesem heutigen Gespräch nur noch wenig Hoffnung habe, daß etwas Gutes aus ihm wird. Wer in so jungen Jahren in der Lage ist, sein Inneres so philosophisch kühl zu zergliedern, sozusagen seine Seele zu zerlegen und so entsetzliche Lebensschlüsse zu ziehen – der wird, wenn ein Wunder geschieht, ein hervorragender Geist oder, im anderen Falle, ein ebenso großer Bösewicht. Walter selbst scheint an ein solches Wunder nicht zu glauben, und darum ist seine Absicht, sich von Mutter und Schwester zu trennen, an sich ganz folgerichtig. Dennoch befürworte ich eine solche Scheidung nicht, denn es wäre dasselbe, als wenn man einem Schwerkranken, auf dessen Genesung die Ärzte nicht mehr viele Hoffnung setzen, Blausäure eingäbe.«
»Ja, dieses Gefühl habe ich auch. Ich bin aber der Meinung, daß man keinen Menschen aufgeben soll, so lange er lebt.«
»Das ist wohl wahr – nur fürchte ich, daß Sie mit diesem jungen Mann noch sehr viel Schweres durchmachen müssen, bis seine Lebenslinie die entscheidende Wendung nach dem Guten oder Bösen hin gemacht hat. Mir bangt Ihretwegen vor der Zukunft.«
Dr. Wallershaus ahnte nicht, daß in dieser Stunde die Zukunft Walters bereits entschieden war.
*
Frau v. Ringstedt ließ, nachdem der Rechtsanwalt gegangen war, Bescheid sagen, daß sie noch heute mit Walter zu sprechen wünsche. Doch Stunde um Stunde verging – Walter kehrte nicht zurück. Auch die Zeit des Abendessens verstrich, ohne daß der Erwartete heimkehrte. Die Hofrätin geriet in eine mehr und mehr zunehmende Erregung. Sie war empört über die Rücksichtslosigkeit des jungen Mannes. Im stillen hatte sie gehofft, daß Walter in sich gehen und bereuen würde, ihr gegenüber so harte Worte gesprochen zu haben. War nun nicht sein auffälliges Ausbleiben sogar eine geflissentliche Unterstreichung seiner Worte?
Um zehn Uhr war das ganze Haus dunkel und still. Doch weder die Hofrätin noch Elisabeth konnten schlafen. Beide lauschten auf die Schritte des Heimkehrenden. Doch sie lauschten vergebens. Bei Elisabeth machte schließlich die Jugend ihr Recht geltend – sie fiel in einen tiefen Schlaf. Frau v. Ringstedt aber hörte von dem nicht weit entfernten Kirchturm Stunde um Stunde schlagen. Das Geräusch der Schritte, auf das sie sehnsüchtiger wartete, als sie es sich selbst eingestehen wollte, vernahm sie nicht. Schließlich redete sie sich ein, Walter wäre, um niemand zu stören, so leise gekommen, daß sie ihn nicht gehört hatte. Gegen acht Uhr erhob sie sich, kleidete sich an und begab sich zum Zimmer Walters. Sie klopfte mehrmals, und als drinnen alles still blieb, ging sie hinein. Das Zimmer war leer, das Bett unberührt. An auffälliger Stelle auf dem Tische aber lag ein Zettel. Mit zitternder Hand nahm Frau v. Ringstedt das Papier und las folgende Worte:
»Liebe Mutter! Obwohl ich Dir sagte, daß es meine Pflicht sei, mich von Dir und Elisabeth zu trennen, hast Du mir Deine Erlaubnis dazu verweigert. Darum bin ich gezwungen, ohne Deine Erlaubnis zu gehen. Sei mir nicht böse, es muß sein. Ich will versuchen, mein Glück zu machen und ein Mensch nach Deinem Sinne zu werden. Gelingt es mir, dann wirst Du von mir hören. Im anderen Falle lege mich zu den Toten. Ich danke Dir noch einmal für das unendlich viele Gute, das Du mir erwiesen hast, und bedaure, daß ich es Dir nicht so erwidern kann, wie Du es wünschest. Lebe wohl. Dir und Elisabeth wünsche ich alles Gute. Walter.«
Wie betäubt sank die alte Dame in einen Stuhl. Wohl eine Stunde lang saß sie so, die brennenden, trockenen Augen starr auf das Papier geheftet, das das Todesurteil ihrer Erziehung enthielt.
So fand sie Elisabeth, die die Mutter im ganzen Hause gesucht und sich bereits Sorge um sie gemacht hatte. Stumm reichte die Hofrätin ihr das Papier. Elisabeth las die Worte. Ihre Lippen begannen zu beben. Eine tiefe Falte legte sich quer über ihre Stirn. Dann küßte sie schweigend die Hand der Greisin. Und als diese sie nun mit einem krampfhaften Aufschluchzen in ihre Arme schloß, da löste sich der Gefühlssturm in der Seele des jungen Mädchens in einen Strom von Tränen auf.
Die Hofrätin rief Dr. Wallershaus an. Er versprach, sofort zu kommen. Zwischen den beiden fand eine lange, ernste Unterredung statt. Sie beschlossen, daß nichts geschehen sollte, um den Flüchtling durch den Zwang des Gesetzes in das Haus zurückzubringen. Unter der Hand aber wollte der Anwalt Erkundigungen nach Walters Verbleib einziehen und, soweit wie möglich, seinen weiteren Lebensweg im Auge behalten, um ihm im Augenblicke höchster Not helfend beispringen zu können.
Eines verschwieg Frau v. Ringstedt dem vertrauten Freunde: daß sie in ihrem Arbeitszimmer einen Schrank erbrochen vorgefunden hatte und daß ein erheblicher Geldbetrag verschwunden war. So grauenhaft ihr auch der Gedanke war, so konnte sie doch nicht daran zweifeln, daß niemand anders als Walter der Dieb war. Das also war der Anfang seiner selbständigen Laufbahn, daß er seine Mutter und Wohltäterin in gemeinster Weise bestahl.
Übrigens wurde noch im Laufe des Tages bekannt, daß mit Walter auch dessen vertrauter Freund Lüders verschwunden war.