Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Der degradierte Schiller

1903

»Goethe der Dichterkönig.« »Goethe der Dichterfürst.« »Goethe, der größte Dichter der Deutschen.« »Goethe unstreitig der erste deutsche Dichter.«

Wenn ich das lese, und ich lese es täglich wenigstens dreimal. so muß ich mich staunend fragen: Woher wissen das die Leute? Wer hat ihnen das gesagt?

Jedenfalls keiner von denen, die zum Urteil berufen sind, ich meine, keiner, der selber etwas Rechtes kann.

Einst galten Goethe und Schiller für ebenbürtig.

Auch habe ich persönlich während meines Lebens nicht einen einzigen bedeutenden Mann gekannt, der anders geurteilt hätte.

Ich kann Ihnen sogar Leute von gutem Namen nennen, die Schiller entschieden für größer hielten als Goethe:

Z. B. Gottfried Keller und Jacob Burckhardt.

Mögen nun auch Millionen von Unberufenen täglich und stündlich den Dichterkönig ausschreien im Reklamestil, nach dem Rezepte: »Odol unstreitig das beste Zahnwasser«; so bedeutet das kein Urteil, sondern bloß eine Anmaßung. Lassen Sie sich von den kleinen Kingsmakern nicht beirren. Wenn alle gegenwärtigen Dichter aller Nationen zusammenständen, so brächten sie alle miteinander nicht eine einzige Strophe zustande von dem Werte, wie eine Schillersche Strophe wert ist, und keine sieben Jambenverse von der Stilgröße wie Schillersche Jambenverse tönen.

An dem Grade der Bewunderung, mit welcher einer Schillers Namen nennt, können Sie schließen, ob er selber etwas kann oder nicht.

Wer Schillers Namen anders als mit der größten Ehrfurcht und Bewunderung nennt, kann selber nichts. Darauf können Sie sich verlassen.

Für Deutschland aber ist es unrühmlich, daß es sich, ohne zu mucksen, seinen Schiller hat in den zweiten Rang hinunterdrücken lassen.


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