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Der Brauch, bei Herausgabe lyrischer Gedichte möglichst Vielfaches und Verschiedenes zusammenzustellen, Lieder, Balladen, Sprüche, Erzählungen, Rätsel, Formübungen, Festgedichte usw. in einem nämlichen gemeinsamen Band, hat gewiß seine trefflichen Gründe, unter anderen den, daß meistens nicht allzu viel Brauchbares vorhanden sein wird, daß folglich aus allen Schubfächern die Reserven herbeirücken müssen, um einen ansehnlichen Band vorzustellen. Lyrik geht eng zusammen, wenigstens gute Lyrik. Meist muß toter Ballast nachgeladen werden, um dem Verleger das nötige Gewicht zu liefern. Daher die unvermeidlichen Übersetzungen und Reiseverse. Beiläufig gesagt: jeder Dichter sollte einen fürchterlichen Schwur leisten, erstens niemals eine Stadt oder Gegend anzudichten, selbst nicht Venedig oder Capri, zweitens niemals eine Übersetzung in seine Sammlung aufzunehmen. Der Umstand, daß gerade die Gedichte dieser Art von der Kritik als »unvergängliche Perlen der Literatur« gerühmt zu werden pflegen, beweist ihm schon, daß er hier auf Abwegen wandelt.
Also praktisch ist der Brauch. Immerhin: eine Sammlung von Verschiedenem ist keine Vereinigung. Das Buch hat unter solchen Umständen kein anderes Band als den Einband. Nimm den Deckel oder den Titel weg, sofort fallen die Gedichte auseinander und kriechen wieder in ihre Schubladen. Aber auch solange Deckel und Titel haften, solange der Einband hält, die Vorstellung des Lesers kann's nicht zusammendenken, nicht in ein einziges großes Erinnerungsbild fassen. Denn ein Sammelbuch ist nicht organisch gegliedert, nicht übersichtlich proportioniert, hat keinen Mittelpunkt und keinen Gesamtbeobachtungspunkt. Man orientiert sich anfangs schwer, man erinnert sich nachträglich nur mit Mühe der Stellen; man ist gezwungen, mit Bleistiftstrichen im Register sich notdürftig einen Weg zu merken, wie ein Verschönerungsverein an den Buchen, um sich später in dem Gehölz wieder zurechtzufinden.
Das ist übrigens Nebensache. Hauptsache ist: Zwanzig verschiedenartige Gedichte sind zwanzigmal ein einzelnes Gedicht, nicht aber zwanzig Gedichte. Es summiert sich eben nicht. Das Gefühl kann ein Rätsel, eine Ballade und eine Ghasele so wenig zusammenzählen, als der Verstand Kleider, Gemüse und Haustiere. Es gehört zwar demselben Eigentümer, auch soll es ihm ehrlich zum Vermögen gerechnet werden, doch nebeneinander wirkt es als Hausrat oder Gerümpel. Verschiedenes wird mehr, wenn man's sondert, weniger, wenn man's zusammentut.
Demgegenüber erachte ich die Zusammenstellung möglichst gleichartiger Erzeugnisse, also die Kette, den Kranz, den Zyklus oder wie wir's sonst nennen wollen, für ein höheres Sammelprinzip. Durch Zyklen, also durch die Nebeneinanderstellung des Gleichartigen, entsteht nämlich eine Vereinigung, eine Verbindung, ein Gesamtding, das über den Einzelwert des besonderen Stückes hinaus noch einen neuen Wert schafft, einen Kollektivwert, der seinerseits nicht bloß Buchwert, sondern auch Kunstwert enthält.
Das geht so zu: Jedes gute Gedicht oder Musikstück erschließt eine ganze Welt von verwandten Schönheitsmöglichkeiten, die in der nämlichen Richtung liegen und deren unbestimmte Umrisse ein befugter, mit Phantasie begabter Leser oder Hörer ahnt und sehnsüchtig begehrt. Werden nun die geahnten begehrten Umrisse vom Dichter verwirklicht, werden mit anderen Worten dem einzelnen Kunstwerkchen die verwandten hinzugefügt, so entsteht eine ausnehmende Befriedigung. Zunächst die Erfüllung des Wunsches. Dann Ruhe, indem der Leser nun nicht gezwungen wird, erst den Standpunkt zu wechseln um das Folgende zu genießen. Ferner eine Art Wohnlichkeits- und Heimatsgefühl, da uns wiederholt die nämliche Welt mit denselben Kunstmitteln vorgeführt wird. Endlich der Eindruck des Reichtums, weil Gleichartiges sich summiert und sich einheitlich verbunden der Erinnerung vorstellt. Hier verhält es sich mithin gerade umgekehrt als bei der kunterbunten Sammlung. Zwanzig Balladen sind mehr als zwanzig Balladen, nämlich eine Welt voll Balladen.
Hierbei wird es ein weiterer Vorzug sein, wenn sich die Gemeinsamkeit auch auf die äußere Form erstreckt. Das Streben des Dichters, sich in den verschiedensten Versmaßen zu betätigen, ist ja erklärlich, in bestimmten Fällen sogar löblich; doch diesem Streben entspricht keineswegs ein Bedürfnis des Lesers. Einerlei oder ähnliche Form erlaubt uns die Aufmerksamkeit auf den Inhalt zu konzentrieren, und leistet dem obenerwähnten Heimatsgefühl Vorschub; allzu häufiger Wechsel oder allzu exzentrische Verschiedenheit der Form wirkt als Unstetheit. Wer daher das Anschmiegen des Verses an den Inhalt übertreibt, indem er auf Schritt und Tritt mit der Form dem Inhalt nachjagt, wird unruhig werden. So wie das Epos den einmal gewählten Vers festhält, so wie die poetische Erzählung sich mit Vorteil in eiserne Strophen zwängt, so wird auch die zyklische Einheit sich mit Vorteil gemeinsamer oder wenigstens verwandter Formen für jedes einzelne Stück bedienen.
Kleinere und kleinste Stücke verlangen geradezu mit Notwendigkeit den Zyklus, bei Strafe, durch eine Spalte des Gedächtnisses in die ewige Vergessenheit zu sinken. Es gibt Dinge, die man einzeln, andere, die man nur in der Vielzahl serviert. Man darf eine Melone, ein Drama anbieten, aber nicht eine Kirsche oder ein Lied. Eine Kirsche ist eine Beleidigung, ein Lied ein Armutszeugnis. Hier ist einmal sogar weniger als keinmal. Daß das blinde Huhn ein Körnchen gefunden hat, dieses erstaunliche Ereignis behält man klugerweise für sich. In vollem Ernst: ich bin der Ansicht, wer nur zwei Balladen oder nur sechs Lieder hat, soll diesen Bettelschatz für sich behalten, selbst dann, wenn die zwei Balladen und sechs Lieder im höchsten Grade vollkommen sind.
Deshalb, weil Lieder und Balladen in einem guten Garten traubenförmig wachsen, zwanzig an einem Stengel. Einzelne abgeklaubte Beeren, das ist zu mager, zu geizig.
Was wir hier mit Denken gefunden haben, das soll uns die Erfahrung bestätigen.
Welcherlei Gedicht und Musiksammlungen sind denn die beglückendsten, die berühmtesten, die beliebtesten? die verschiedenartigen oder die gleichartigen? Immer die gleichartigen. Die Schillerschen Balladen, die Schubertschen Lieder, die Bachschen Präludien und Fugen, die Beethovenschen Sonaten, die Mendelssohnschen Lieder ohne Worte, die Chopinschen Nokturnen und Mazurken usw. Nehmen wir an, Beethoven hätte bloß die vier ersten seiner Sonaten, Bach bloß die vier ersten seiner Präludien geschrieben, würden diese vier ohne ihre Nachfolger denselben Wert für die Welt besitzen, wie jetzt die nämlichen vier innerhalb des Zyklus? Nein, denn einmal würden sie in der Phantasie der Menschheit überhaupt nicht haften, sie würden ferner der Verbindungslinien verlustig gehen, die jetzt von ihnen zu ihren Schwestern hinüberleiten. Die Vielzahl hat eben im Zyklus nicht bloß Summenwert, sondern Vereinigungswert.
Zum Überfluß noch die Probe auf das Exempel. Haben »Klavierstücke« irgendeines Meisters, haben »ausgewählte Kompositionen« jemals eine ähnliche Bedeutung zu erlangen vermocht, wie die Zyklen der Sonaten? Warum behaupten Webers glänzende Klavierkompositionen so wenig Raum im Bewußtsein der Nation? Weil sie vereinzelt auftreten, von jeder Gattung spärliche Proben. Warum sind Kompositionen allerersten Ranges wie die Mozartschen Klavierphantasien nahezu unbekannt? Weil ihrer zu wenig sind. Wären es zwanzig statt vier, alle Welt möchte sie spielen.