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Das Wintersemester rückt heran. Die verschiedenen Fakultäten der Universität werden in Bälde ihre Kurse wieder eröffnen, welche, zusammengerechnet, das gesamte Wissen der Gegenwart bedeuten. Ein reichhaltiges und verschiedenartiges Programm, in welchem die einzelnen Disziplinen himmelweit voneinander entfernt scheinen.
Wenn jedoch einer in den ersten Wochen des Semesters an einem und demselben Tage sämtliche Hörsäle absuchte, so würde er zu seinem Erstaunen überall die nämliche Tätigkeit, ja so ziemlich denselben Vortrag finden, nur mit anderen Eigennamen: Definitionen und logische Spitzfindigkeiten über den Titel der angekündigten Vorlesung, weitausholende Rückblicke über die Leistungen früherer Jahrhunderte auf dem angegebenen Gebiete, minutiöse Register der einschlägigen Bücher und Abhandlungen, verblümt mit kritischen Auseinandersetzungen und Zänkereien gegenüber den Vertretern anderer Professorenschulen. Das Thema, der Gegenstand der Vorlesung, kommt erst in der dritten oder vierten Woche an die Reihe, wenn es gut geht.
Die Erklärung dieser Erscheinung liegt auf der Hand. Der moderne Professor ist in erster Linie Gelehrter und erst in zweiter Linie Lehrer, häufig sogar erst in letzter Linie, und manchmal in gar keiner Linie.
Dementsprechend arbeitet er unter dem Namen »Vorlesung« sein Manuskript nicht aus der Perspektive des Studenten, also nicht so, wie es die Psychologie gegenüber dem eifrigen Neuling verlangte, auch nicht, wie es das Examen später verlangen wird (und daß das letztere nicht geschieht, halte ich für ein Glück), sondern er schreibt ein wissenschaftliches Werk, ein Buch mit einem Wort, und liest das Buch, ehe er es veröffentlicht, einstweilen auf dem Katheder in Bruchstücken den Studenten vor.
Ein solches Buch muß nun natürlich, um dem wissenschaftlichen Namen des Verfassers Ehre einzutragen, mit allen Erfordernissen der Gelehrsamkeit, also auch mit dem Kleinkram der Auseinandersetzungen hinsichtlich der einschlägigen Literatur ausgerüstet sein, da doch ein Buch Stellung nehmen und seine Existenzberechtigung innerhalb der Menge des bereits vorhandenen reichlichen Materials beweisen muß. Auch gehören Prinzipienbekenntnisse, Stellungnahme und einleitende Auseinandersetzungen mit bereits Vorhandenem selbstverständlich in einem gelehrten Buch an den Anfang. Darüber herrscht kein Zweifel.
Die Erklärung ist also leicht und plausibel. Nichtsdestoweniger zögere ich nicht, solange die Universität noch die Fiktion einer Hochschulanstalt für die Jugend aufrechterhält, und sich nicht dazu bekennt, lediglich neue Professoren heranziehen zu wollen, jenen Brauch als einen Mißbrauch zu bezeichnen. Denn er ist so unpädagogisch wie möglich. Man denke sich einen zum Mittagessen Eingeladenen, welcher sich mit großem Appetit und Durst an die Tafel setzt und dem, bevor man die Suppe aufträgt, erst stundenlange Definitionen über Begriff und Umfang der Suppe geboten würden, nebst einer Geschichte des Mittagessens von Sardanapal bis Gargantua, und kritischen Auseinandersetzungen über die Zubereitung der Saucen.
Wenn man mir aber einwendet, das Gleichnis treffe nicht zu, wenn man meint, der Gemütszustand eines Studierenden lasse sich demjenigen eines Hungrigen nicht an die Seite setzen, so erlaube ich mir zu entgegnen, daß man hiermit die Jugend ganz bedeutend unterschätzt. Es gibt einen Wissensdurst und einen Wissenshunger; ja diese sind sogar bei einem normalen jungen Mann die Regel. Nichts aber wirkt niederschlagender, als wenn der Wissenshungrige, der nach Wissen und nicht nach dem Wissen vom Nichtwissen des Wissens verlangt, zunächst mit öden scholastischen Auseinandersetzungen und gelehrten Zänkereien abgespeist wird. Wenn ich Horaz oder Dogmatik belege, so will ich nicht erfahren, was Griffonius im Gegensatz zu Scribonius über Horaz geschrieben hat, was Minutius Rabulista im zwölften Jahrhundert unter dem Worte Dogmatik verstanden, sondern ich will meinen Horaz haben und ich will wissen, ob ich dereinst in der Hölle gebraten oder geröstet werde. Das liegt mir nahe, das geht mir an die Haut, das brennt mich.
Mir schiene es deshalb richtiger, daß die Vorlesungen anders eingeleitet würden. Denn ohne jegliche Einleitung wird es schwerlich abgehen, wenn man nicht mit der Türe ins Haus fallen will. Ich gestatte mir folgenden Vorschlag: eine lebendige, geisterweckende Ansprache, die den Geist des zu behandelnden Wissensstoffes zum Gegenstand und die Seelenverfassung des wissensdurstigen Neulings zum Visier hätte. Das wäre freilich keine leichte, aber eine würdige und segensreiche Aufgabe, zugleich eine solche, wie man sie meines Erachtens einem Lehrer der staatlichen Hochschule zweimal im Jahr gar wohl zumuten dürfte.
Steigen wir von den Hochschulen zu den Mittelschulen hinab. Unter den vielen, allzu vielen Lehrfächern unserer Schulen findet sich eines, dessen Name »Botanik« lautet. Botanik heißt, buchstäblich übersetzt: Wissenschaft von den Kräutern, welche die Kuh frißt. In dieser engen Beschränkung ist die Botanik zwar selbstverständlich in den Schulen nie gelehrt worden, da die Sennen solche Weisheit nicht nötig haben und die Schulbuben sie nicht brauchen. Die Botanik ist vielmehr in etwas anderer Form und zwar als Apothekerweisheit in die Pädagogik eingetreten; sie wollte ursprünglich die Kenntnis der heilsamen Kräutlein dem Volke und der Jugend vermitteln, zu Nutz und Frommen. Davon geben die vielen Beinamen »officinalis« in unsern lateinischen Pflanzenbestimmungen Kunde; es sind fossile Überreste aus der naiven Apothekerbotanik. Die Abstraktion von der Nützlichkeit zu einer objektiven Systematik, welche jeder Pflanze ohne Unterschied und ohne Rücksicht auf ihre Nützlichkeit oder Schädlichkeit ein Recht auf unser Interesse zuspricht, war ein weiterer Fortschritt, der um so leichter gegenüber dem alten Apothekerstandpunkt Recht behielt, als die moderne Medizin nicht mehr mit Pflanzengiften, sondern mit Mineralgiften wirtschaftet. Als endlich an die Stelle der trockenen Schematisierung noch die Pflanzenphysiologie trat, welche die Pflanze als lebendes Wesen versteht und erklärt, glaubte und glaubt man das Richtige gefunden zu haben.
Doch wenn wir nun den Erfolg der Schulbotanik auf unsre Jugend prüfen, so finden wir, daß er den Erwartungen durchaus nicht entspricht, denn das Interesse an der Pflanzenkunde hält nach beendigtem Schulunterricht nicht vor, ja gehört sogar während des Unterrichts zu den Ausnahmen. Wenn wir aber die gegenwärtig beliebten Handbücher konsultieren, so läßt sich der Mißerfolg gar wohl begreifen.
Aus der primitiven Nützlichkeitsbotanik hat die moderne Schulbotanik noch die Bevorzugung der Feld- und Wiesenkräuter herübergeschleppt, aus der scholastischen klassifizierenden Gelehrtenbotanik die gleichmäßige Verteilung des Interesses auf jede Pflanze, so daß dem Farnkraut so viel oder so wenig Aufmerksamkeit gegönnt wird wie der Palme. Dabei konnte es aber nicht einmal bleiben. Die Bevorzugung der heimischen Feldpflanzen, mit anderen Worten der Offizinalkräuter, brachte unvermutet eine Zurücksetzung, ja meistens geradezu eine Ausstoßung der Edelpflanzen aus dem Unterricht mit sich (wie denn tatsächlich die prachtvollen erotischen Blumen und Sträucher im botanischen Schulunterricht sehr stiefmütterlich behandelt werden). Die gleichmäßige Verteilung des Interesses auf das Interessante wie auf das Uninteressante führte ihrerseits unmerklicher aber notwendigerweise dazu, daß der Hauptton auf das Unscheinbarste, auf die Varietäten, auf verachtete, auf seltene Spezies der Pflanzen gelegt wurde und gelegt wird. Natürlich! Denn Pflanzensystematik ruft der Pflanzensammlung, und jeder Sammler strebt nicht nach Wichtigkeiten, sondern nach Seltenheiten.
So hat es sich allmählich gemacht, daß Botanik selbstverständlich als die Wissenschaft der wildwachsenden Feld-, Wiesen- und Wegpflanzen gilt, mit Ausschluß oder Vernachlässigung nicht bloß der exotischen Gewächse, sondern auch der importierten Edelpflanzen.
Für selbstverständlich gilt das, weil wir mit der Tatsache als einer Gewohnheit vertraut sind; vor dem Verstande und vor der Pädagogik dagegen erweist sich das Selbstverständliche als eine Ungeheuerlichkeit.
Wo in aller Welt folgten wir denn bei andern Schulfächern dem Grundsatz, daß nur die wild oder roh vorgefundenen Gegenstände Interesse beanspruchen dürften? daß ein Objekt mit dem Augenblick, da es veredelt wurde, seinen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit verliert? Was würden wir dazu sagen, wenn in der Zoologie Löwe und Tiger übersprungen oder nebenbei abgetan würden, um unsern einheimischen Raubtieren, also etwa dem Floh, um so gespanntere Aufmerksamkeit zu schenken? So aber handelt unsere Botanik, wenn sie die heimischen Unkräuter den edlen exotischen Riesengewächsen voranstellt. Oder wenn dieselbe Zoologie über Pferd und Hund verächtlich mit zwei Worten hinwegginge, mit der Begründung, daß Pferd und Hund gekünstelte Zuchtprodukte und keine Naturwüchslinge wären? So handelt aber unsere Botanik, indem sie unsere herrlichen Gartenblumen einfach ignoriert.
Oder die Mineralogie? soll man da vielleicht auch den Diamanten, das Gold und das Silber beiläufig abtun, weil sie nicht auf dem Ütliberg gefunden werden? Aber die Franken nimmt jeder gern, nicht wahr? trotzdem sie Kunstprodukte sind und das Rohmaterial aus Amerika stammt.
Der Garten als Unnatur aus der Botanik verwiesen! Damit spricht sich meines Erachtens die gegenwärtige Schulbotanik das Urteil. Unnatur gegen Unnatur: Darf ich sagen, was ich für Unnatur halte? Dem Unkraut den Vorzug vor dem Kraut, dem Gemüse vor der Blume, dem Wegerich vor der Rose, der Zichorie vor dem Kaffee geben, das halte ich für Unnatur. Für Unnatur halte ich es ferner, wenn einer auf den Albis nach Disteln steigt und den Gärten, die er unterwegs antrifft, keinen Blick schenkt, oder wenn er Lattich preßt, aber die Azaleen nicht einmal dem Namen nach kennt, oder wenn er auf der Furka nach einem von Gott vergessenen Schimmelpilz sucht und an den Blumenmagazinen der Bahnhofstraße achtlos vorbeigeht, das halte ich für Unnatur.
»Natur.« Ich habe bisher nicht gewußt, daß die Schule Naturzustände erstrebt. Ist denn die Schule, ist die Botanik Natur?
Der Garten gehört in den botanischen Unterricht, das ist meine Überzeugung; und zwar obenan. Mit all seinen Blumen, und zwar namentlich mit seinen Blumen, Kamelien, Teerosen und Hyazinthen usw. Und warum sollte ich meine Meinung nur halb sagen: ich glaube, daß zu den Lehrmitteln des botanischen Schulunterrichts unbedingt der Katalog einer Handelsgärtnerei gehören, ferner, daß man die Schulkinder in die botanischen Gärten, in Privatgärten, in Handelsgärtnereien und Blumenmagazine führen soll, und behaupte, daß damit das Interesse der Gesamtheit der Schüler für die Botanik gewonnen würde, während es jetzt mittels unserer Sumpf- und Unkrautbotanik künstlich lahmgelegt wird. Den Schüler wollte ich sehen, dem nicht beim Anblick einer weißen Kamelie oder eines Gartenrhododendron das Herz aufginge; dagegen die Staufäden eines Huflattichs zu zählen, ist nicht jedermanns Geschmack und soll nicht jedermanns Geschmack sein.
Wenn wir übrigens beobachten, wie geflissentlich von der Schulbotanik der Duft, die Farbe und die Pracht der Blume als Nebensache behandelt werden, während doch dem natürlichen Menschen gerade dies die Hauptsache ist, dann kommen wir noch einem andern tiefen Übelstande auf die Spur. Die Schule der Neuzeit (ich meine die auf dem Boden des Mittelalters gewachsene, mit Humanistik überzuckerte Gelehrsamkeitsanstalt im Unterschied zu der hellenisch-römischen Erziehungsschule) hat gemäß ihrem scholastisch-doktrinären Ursprung von jeher Mühe gehabt, den Erziehungswert des Schönen anzuerkennen; wie lange wurde nicht der Zeichnungsunterricht als müßiges Allotrium behandelt! Und auf der Hochschule sind Ästhetik und Kunstgeschichte jüngsten Datums.
Nun hat sich das ja theoretisch gebessert; man weiß heutzutage, und die Pädagogik gibt es zu, daß der Erziehungswert der Schönheit unschätzbar und unersetzlich ist; daß die Freude am Schönen das Gemüt nicht nur erheitert, sondern auch reinigt, daß der Schönheitssinn den Menschen gut macht, um es mit einem Wort zu sagen. Allein die Praxis hinkt langsam und spät hinter der Einsicht drein; und was die Einsicht zugibt, das ist deshalb noch nicht ins Gefühl, in Fleisch und Blut übergegangen. Noch krankt unsere Pädagogik, allen prinzipiellen Zugeständnissen zum Trotz, an der Annahme, Schönheit wäre erziehungswidrig. Und je tiefer wir in die Primarschulen hinabsteigen, desto zahlreichere und deutlichere Exempel von schönheitsfeindlichen Pädagogen können wir treffen. Die Volksschule kennt nur den Nützlichkeitsstandpunkt. Schönheit aber nützt bekanntlich nichts; wenigstens läßt sich ihre Nützlichkeit nicht demonstrieren wie die Nützlichkeit der Kuh und des Schafes.
Da liegt der Kern. Weil die Blume schön ist, weil der Garten ein Museum der schönsten Pflanzen darstellt, gerade deshalb geht die hochmütige Scholastenbotanik naserümpfend daran vorüber. »Die Natur kennt nichts Unbedeutendes und es ist gut, daß der Schüler sich gewöhne, dem unscheinbarsten Schierling das nämliche Interesse abzugewinnen wie der prächtigsten Magnolie.« Ich bitte um Verzeihung. Für die wissenschaftliche Botanik gilt dieser Satz in vollem Umfang; nicht jedoch für die Pädagogik, folglich nicht für die Schule. Es herrscht doch nicht die Absicht, die Schüler zu Doktoren der Botanik auszubilden! Wenn wir wenigstens nur einmal so weit wären, daß der Grundsatz anerkannt würde: Schulmethode und wissenschaftliche Methode sind zweierlei, und letztere kann nicht einfach die erstere ersetzen. Aber gegen diesen Grundsatz sündigt die Praxis unserer Schulen noch auf Schritt und Tritt. Der Lateinlehrer übt Textkritik, als hätte er lauter angehende Philologen vor sich, und ähnlich verfährt jeder in seinem Fach.
Ich meine also, um meine Ansicht kurz zusammenzufassen, daß der botanische Schulunterricht noch einen großen Fortschritt zu machen hat: den Schritt zur ästhetischen Botanik, in welcher die Schönheit, die Farbe und der Wohlgeruch der Blumen nicht als Allotrium, sondern als Hauptsache behandelt wird. Und ich hoffe es noch zu erleben, daß die Botanik auf ihrem Weg vom Rinderstall durch die Apothekerküche schließlich beim Garten anlangt, wo sie Ersprießlicheres zu sehen und zu lehren findet. Dann zumal aber werden die Schüler, die aus der Schule ein lebhaftes Interesse für Pflanzenkunde mit ins Leben hinübernehmen, nicht mehr die Ausnahme bilden, wie heute, sondern die Regel.
Machen wir nun aus der Schule einen Abstecher in den Privatunterricht, und zwar in den musikalischen, speziell in den Klavierunterricht.
Manche Klavierlehrer glauben den Kindern sogenannte gefällige Melodien und kindliche leicht verständliche Musikstücke anbieten zu sollen, unter denen dann noch diejenigen mit Vorliebe gewählt werden, welche für den Vortrag kleine unmerkliche Mucken haben, damit das Kind unbewußt lerne. Deshalb die Beliebtheit der magern Sonatinen, spindeldürren Rondo, der Regimentstochter, des Ständchens aus Don Juan und ähnlicher Gesätzlein im Klavierunterricht.
Ich halte das für einen Fehlgriff. Zunächst sind die technischen Häkchen in solchen Stücklein oft sehr boshaft und stehen in keinem vernünftigen Verhältnis weder zum musikalischen Wert des Gebotenen noch zum primitiven Können des Kindes. Ja, wenn wir genauer zusehen, so setzen die meisten der vermeintlichen Kindergesätzlein nichts weniger als Virtuosität des Spielers voraus. Ein Rondo z. B. ohne raffinierte Kunst des Anschlags, ein Scherzo ohne Leichtigkeit, ein Finale ohne Feuer des Vortrags sind geradezu unerträglich. Und zwar je »kindlicher«, d. h. je bärmlicher das Stück komponiert ist, um so mehr Vortragskunst ist vonnöten, um etwas daraus zu machen. Sonst bleibt nichts als eine öde, mörderliche Langeweile.
Ferner wirkt es entmutigend, wenn einer das nicht kann, was sich dem Ohr als leicht einschmeichelt. Alle solchen heimtückischen Stücke, und hiermit beispielsweise auch die beiden Beethovenschen Sonaten Opus 49 würde ich aus dem genannten Grunde aus dem Klavierunterricht verweisen. Ebenso aus demselben Grunde, also aus dem Grunde, weil sie täuschen und entmutigen, alle solchen Stücke, welche der Autor selber mit der Überschrift »leicht« oder »für die Anfänger« bedacht hat. Wenn diese einem Kinde schwer vorkommen, dann gibt es die Hoffnung auf. Jene Stücke sind aber gar nicht technisch leicht; sie sind bloß dünn komponiert, indem sie mit verhältnismäßig spärlichen Mitteln operieren. Bach überschreibt eine Fuge mit »leicht«, wenn sie nur zwei Stimmen hat, Mozart eine Sonate mit »leicht«, wenn sie auf harmonische und kontrapunktische Pracht verzichtet. Darum können die betreffenden Stücke doch sehr große Fingerfertigkeit voraussetzen und setzen sie auch tatsächlich voraus. Also! die Bezeichnungen »Anfänger«, »leicht«, »kindlich« im Munde eines klassischen Autors sollen uns nicht irreführen. Der Autor sagt »leicht« und meint damit »einfach« und »anspruchslos«. Die einfachen und anspruchslosen Kompositionen gehören aber zu allerletzt in den Klavierunterricht.
Und hiermit kommen wir zur Hauptsache: Das Kind der Legende und das wirkliche Kind sind zweierlei. Das wirkliche Kind verabscheut im Unterricht nichts mehr als das »Kindliche« (verstehe das Tändelnde), und versteht in der Kunst nichts so schwer wie das Anmutige. Das Kind will ernst genommen werden, es will wachsen, das heißt sich erhöhen, vergrößern, es will sich nähren, begehrt also in der Wissenschaft Tatsachenstoff, in der Kunst Fülle und Reichtum. Was ihm selber kindlich oder spielend oder leicht oder überwunden vorkommt, das ist ihm im Unterricht ein Gegenstand der Verachtung. Es gehört eine sehr große, nämlich eine reflektierende Bildung dazu, um unter der Kindlichkeit eines Themas die verborgene Kunst herauszufühlen. Den Wert einer Regimentstochtermelodie oder eines Sonatinchens trotz der gassenhauerschen Ohrenfälligkeit zu ermessen ist Sache der Erwachsenen, nicht der Jugend. Darum gehört auch meiner Meinung nach Clementi nicht in den Klavierunterricht der Jugend, weil er nicht stofflich reich genug ist, weil er dem Kinde in den Themen zu kindlich und in der Ausführung zu dürftig scheint. Man frage doch nach: alle Kinder hassen den Knochenmann Clementi. Deshalb wohl nennt man ihn den Klassiker der Jugend. Und mit Mozart verhält es sich unter andern Größenverhältnissen ähnlich. Die Jugend findet sich von Mozartschen Sonaten enttäuscht, warum? weil sie zu ansprechend, zu gefällig und damit zu unbedeutend scheinen. Die Jugend will eben nicht das Gefällige, sondern das Ernste. Das Allerbeste, das Allerhöchste ist eben auch in der Musik für die Jugend gerade das Richtige. Ich würde jedem Schüler den musikalischen Klassiker gewähren, der sein Herz beglückt; punktum. Denn ein Kunstwerk, das einen beglückt, versteht einer auch.
Zum tröstlichen Schluß und abschreckenden Exempel noch eine abenteuerliche aber wahrhaftige Anekdote aus dem literarischen Schulunterricht, für deren Genauigkeit ich bürge. Steht da in einem Schulbuch, das vor sechs Jahren in Kurs war, und es wahrscheinlich noch ist, eine erbauliche Geschichte, betitelt: »Der Kirschbaum«. In dieser Geschichte wird einem weisen Manne der prächtige Kirschgarten eines Bauern gezeigt. Statt nun aber in freudige Bewunderung zu geraten, beginnt der weise Mann zu heulen: »mir wird angst«. Und als man ihn fragt, wovor ihm angst werde, erklärt er feierlich: vor dem entsetzlichen Unglück, das den Eigentümer treffen müsse, weil seine Kirschen so lästerlich gut gediehen.
Wie gefällt Ihnen diese Geschichte, mit bitterem Ernst vorgeführt, in der Meinung ein löbliches Exempel zu bringen, in einem Schulbuche?
Ein reizendes Schauspiel, wenn diese erbauliche Gesinnung um sich griffe! Du wirst zu Herrn Rothschild zum Mittagessen eingeladen; sobald die goldenen Kaffeelöffel aufmarschieren, fängst du an zu wimmern, weil dir vor dem gräßlichen Schicksale graust, das den Gastgeber erwartet, der goldenen Kaffeelöffel wegen. Im Ballsaal greine deine Tänzerin an, weil sie Brillanten trägt. Oder eine dörfliche Schulklasse, die auf der Ferienreise beim Anblick städtischer Herrlichkeit in Angstgeschrei ausbricht? Es wäre jedenfalls gut zu erfahren, bei welchem Aktivkonto und vor welchen Stoffen sich der Neid der Götter einstellt, damit wir uns dagegen versichern und rückversichern können. Die Damen werden neidsichere Packtuchüberzüge über den seidenen Kleidern tragen, und man wird sich hüten, allzuviel Geld an derselben Örtlichkeit aufzuspeichern. Mich wundert bloß, daß die Bank von England bis jetzt vom Neid der Götter verschont blieb. Nach der Theorie müßte ja dort der Blitz alle Viertelstunden einschlagen. Und bei prosperierenden Aktiengesellschaften? Verteilt sich da der Neid der Götter auf die Aktionäre?
Mir scheint, wir haben am Neid der Menschen und der Progressivsteuer reichlich genug. Ich verstehe ja die löbliche Absicht. Der Verfasser jenes kuriosen Histörchens hat seinen Ring des Polykrates, seine Iphigenie und weiß Gott was alles noch gelesen und glaubte gebildet zu verfahren, indem er die vermeintliche Weltanschauung unserer Klassiker der Schuljugend zu Gemüte führte.
Darüber aber, nämlich über den Lehrgehalt der Dichter, und die Ermittelung dieses Lehrgehaltes sei bei diesem absonderlich naiven Anlaß noch ein Wörtchen gesagt. Dichterwahrheit ist nicht Lehrwahrheit. Sie darf nicht einfach buchstäblich als Verstandeswahrheit aufgefaßt und befolgt werden. Der Dichter kennt und übt die verschiedensten Arten von Wahrheit, z. B. die Kostümewahrheit, die aus den Anschauungen eines bestimmten Zeitalters orakelt, die Charakterwahrheit, die aus der Individualität einer gegebenen Persönlichkeit tönt, die Bombenwahrheit, die sich an dem prächtigen Knall eines Reims oder eines Gleichnisses oder einer Satzwendung oder einer Sentenz ergötzt.
Im Ring des Polykrates nun erhalten wir die Kostümewahrheit mit der Bombenwahrheit vereinigt. Selbstverständlich fiel es ja Schiller nicht ein, persönlich an den Neid der Götter zu glauben; sondern er versetzte sich künstlich in die antike Weltanschauung und schrieb aus derselben mit Wohlgefallen an den daraus zu gewinnenden dichterischen und oratorischen Wirkungen seine schwungvolle Ballade. Uns das Dogma vom Neid der Götter nach zweitausend Jahren wieder einimpfen zu wollen, das war wahrlich nicht Schillers Meinung. Das Verständnis jener Ballade beruht mithin darin, daß wir einerseits die dichterischen Schönheiten der Erzählung erkennen und andererseits ja nicht versäumen, den ägyptischen Gastfreund einen albernen Heulmeier zu nennen.