Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Altersjubiläen

Ich bin nicht der einzige, der den Jubel nicht nachzufühlen vermag, welcher eine Nation in dem Augenblicke heimsucht, da ein verdienter Mann sechzig oder siebenzig oder achtzig Jahr alt wird. Vielmehr befinde ich mich in vorzüglicher Gesellschaft, nämlich in der Gesellschaft der Gefeierten selber. Denn wer an einem Jubiläum am allerwenigsten zum Jubeln aufgelegt ist, das ist allemal der Jubilar. Dem ist ganz besonders zumute, wehmütig und bitter. Die Geduldigen halten ergeben still, die Trotzigen retten sich vor der zugedachten Operation durch schleunige Flucht ins Gebirge, falls sie nicht gar Feuer und Schwefel herunterknurren wie Grillparzer.

»Es tut ihnen aber im Grunde doch wohl; trotz aller Wehmut.« Gewiß, Wehmut tut wohl, wie jedes erweichte Leid. Und sie zu erweichen, sie zu rühren, vielleicht bis zu Tränen zu rühren, das mag euch mit euren massenhaften Liebes-, Dankes- und Bewunderungsbeteuerungen unschwer gelingen. Da schwindet mancher unbewußte Groll, da lösen sich allerlei böse Spannungen. »Es hat mir doch wohl getan.« Wenn das euch genügt, vortrefflich. Nur erinnert mich dieses »Dochwohltun« fatalerweise an einen Fall, der nicht eben nach Jubel schmeckt, nämlich an einen Trauerfall. Dort tut es den Beteiligten auch doch wohl, wenn man sie durch Teilnahme zu Tränen rührt. Eure Jubiläen sind demnach Kondolenzjubiläen. Kurz, im Munde des Gefeierten – und der Gefeierte an einer Feier zählt doch auch ein wenig mit – schmeckt das Jubiläum wie eine sauersüße Pastete, angefeuchtet mit Bitterwasser.

Glückwünschen kommt ihr dem Herrn? Glückwünschen wozu? wenn es erlaubt ist. Man wünscht einem Menschen Glück, wenn er soeben etwas Erwünschtes erreicht hat. Also wenn er Major geworden ist, oder Regierungsrat, oder wenn er das große Los gewonnen hat oder eine reizende Braut oder einen gesunden kräftigen Buben (Mutter und Kind befinden sich den Umständen angemessen wohl). Aber ein Jubilar, was hat denn der heute Jubelnswertes erreicht? Das siebenzigste Altersjahr. Ein verwünschter Gewinn! Das heißt einen Erlaubnisschein auf Magenkrebs oder Gehirnerweichung.

Gewiß, ein schöner Gedanke, eine Nationalfeier der Bewunderung einem Lebenden geboten! – wenn sie rechtzeitig käme, wenn sie spontan gediehe, aus naiver überquellender Begeisterung. Dagegen eine Bewunderung, die aus dem Kalender stammt, die pedantisch ein Datum abwartet und zwar ein möglichst spätes Datum, um ja nicht zu früh, das heißt rechtzeitig zu kommen, die nach dem Taktstock der Kapellmeister schaut, um den richtigen Einsatz nicht zu verfehlen, eine Bewunderung, die da organisiert wird wie ein Kupfertrust, solch eine gnädige Bewunderung von oben herab, wo das hohe Alter dem Verdienst als mildernder Umstand angerechnet wird, das ist eine ranzige Nationalfeier. Meint ihr denn wirklich, er sähe sie nicht, euer Jubilar, die Schnürchen, welche das Jubiläum ziehen? er mustere und wäge sie nicht, die Impresario, welche die nationale Begeisterung pachteten? die Totengräber, welche ihm die Hand drücken, während ihnen der druckfertige Nekrolog aus der Tasche guckt? Es ist erhebend, König zu sein. Aber ein King aus Gunsten von Kingsmakern! Und von was für Kingsmakern! Sagen wir's doch klipp und klar: eure angeblichen Dichterjubiläen sind Buchhändlerjubiläen. In zweiter Linie Bio- und Monographenjubiläen. Mit siebenzig Jahren wird ein Dichter nachlaßfähig. Da liegt der Honig.

Wissen Sie, für wen ursprünglich die Altersjubiläen erfunden wurden? wen sie erquicken? wem sie wohltun? ganz und gar wohltun, nicht »doch« wohltun? Jenem, der kein anderes Verdienst besitzt als sein hohes Alter, jenem, der zeitlebens keinen anderen Anlaß bot ihn zu feiern, als seinen Geburtstag. Ein kleiner Kassier, ein untergeordneter Beamter, ein dunkler Schullehrer in einem finstern Städtchen, welche fünfundzwanzig oder fünfzig Jahre treu und bescheiden im Dienst standen, wenn man solchen ein Altersjubiläum oder, was auf dasselbe hinausläuft, ein Dienstjubiläum stiftet, denen tut das in der Seele wohl. Deshalb, weil sie sich hiermit zum erstenmal ihres Lebens in den Vordergrund des Interesses gerückt fühlen, weil sie nun wenigstens einmal in ihrem Dasein ihr Ehrgeizchen befriedigt spüren, weil sie hinfort die süße Illusion neben sich aufs Krankenbett legen dürfen, etwas auf Erden gewirkt, etwas gegolten, etwas erreicht zu haben. Wer mithin einen großen Dichter an seinem 70. Geburtstag feiert, erhebt ihn in die schwindelhafte Höhe eines Buchhalters von Brandts Schweizerpillen.

Eines ist sicher: vor dem 70. Geburtstag hatte der Gefeierte einen sechzigsten, vor dem sechzigsten einen fünfzigsten, vor dem fünfzigsten einen fünfundvierzigsten und dreiundvierzigsten Geburtstag. Warum wurde damals nicht gejauchzt, nicht geredet, nicht gedruckt und nicht gebechert? Ich verstehe, der Ruhm hat keine Jubelouverturen, sondern bloß Jubelzapfenstreiche. Immerhin eine dreißigjährige Generalpause vor Beginn des ersten Akkordes ist etwas lang und ein plötzliches Fortissimo mit dem vollen Orchester nach den Sordinen ist etwas plump. So instrumentiert der wahre Ruhm nicht. Der liebt das sempre crescendo. Aber freilich, von einem Jubel, der das Tempo verfehlte, darf man auch keinen Takt erwarten.

Ohne Scherz: der Gegensatz zwischen dem Schweigen während langer Jahrzehnte und dem plötzlichen Tutti mit Pauken am Ende des Lebens ist eine so auffallende Erscheinung, daß sie zum Nachdenken auffordert, daß sie eine Erklärung erheischt. Da habe ich mich nun öfters gefragt, ob nicht am Ende doch der blaßgelbe Neid ein klein klein bißchen mit im Spiele wäre. So habe ich mich gefragt und ich habe mir geantwortet: ja, und antworte mir noch so.

Der Hauptgrund jedoch ist mir zufällig zum Bewußtsein gekommen, damals als Deutschland das Jubiläum Paul Heyses beging. (Ich sage ein Jubiläum »begehen« wie man sagt eine Geschmacklosigkeit begehen.) Dazumal erschien nämlich in einer der ersten Zeitungen Deutschlands ein Breve, das sich feierlich dagegen verwahrte, es möchte etwa Brauch werden, Dichter so unheimlich früh, nämlich in ihrem sechzigsten Jahre schon, zu feiern. Da steht's ausdrücklich, offen und ehrlich. Greifen wir's, halten wir's fest und lassen wir's nicht mehr entschlüpfen. Ein sechzigjähriger Dichter zu jung, um gefeiert zu werden. Mithin ist es eingestandenermaßen die Rüstigkeit, die Vollkraft des Schaffens, was die Generalpause des Ruhmes verschuldete und nicht etwa irgendein anderer Umstand. Ehe der Dichter mit wenigstens einem Fuß im Grabe steht, gebührt ihm keine Feier. Wie gesagt, solch einen goldenen Spruch darf man nicht mehr aus dem Schatze der Menschheit schwinden lassen; er gehört auf ewige Zeiten ins Gedächtnis der Nachwelt, neben den Sprüchen der sieben Weisen.

Indessen das ist nun nicht mehr der Neid, der so spricht. Denn so deutlich drückt sich der Neid nicht aus, der munkelt. Nein, es ist vielmehr die liebliche Voraussetzung, als ob die Bedeutung eines Dichters erst dann anfange, wenn er ein »abgeschlossenes fertiges Ganzes« bildet, wenn man seine »gesamte Tätigkeit« »überschauen«, wenn man ein »Lebensbild« von ihm »entwerfen« kann, mit anderen Worten: wenn man ihn abhandeln, erklären, herausgeben, kommentieren und emendieren, wenn man ihn, kurz gesprochen, in den literarhistorischen Mörser stampfen kann.

Das ist's; das ist das »Sesam, tue dich auf«. Nicht die Werke – Gott bewahre, die sind Nebensache – sondern das »Dichterbild«, der Platz, die Nummer, die dem Manne in der Literaturgeschichte gebühren, das ist das Wichtige. Wenn wir's sonst nicht wüßten, so wüßten wir's jetzt: Das gegenwärtige Deutschland, trotz allem Getue und Gerede über Poesie und Goethe ist mit nichten literarisch, sondern literarhistorisch veranlagt. Nicht um das Genießen der Dichter, sondern um das Dozieren derselben ist es ihm zu tun.

Auf dasjenige Jubiläum aber, auf welches ich mich freue, an welchem ich teilnehmen möchte, werde ich wohl noch lange warten müssen: auf das Jubiläum zu Ehren eines großen Werkes, das soeben frisch erschien.


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