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Vortrag 1901
Vergangene Woche, war es am Montag oder am Dienstag? nein, es war doch am Montag – erhielt ich unbekannten Besuch: »Professor Glauberecht Goethefest Dünkel von Weisenstein, Geheimerat«. Ich nannte auch meinen Namen »Thomas Denkselber«. »Sehr erfreut.« »Ganz auf meiner Seite.«
»Den Zweck meines Besuches,« begann der Herr Geheimerat, »werden Sie erraten. Sie haben es gewiß wie wir alle schon längst als eine unerträgliche Schmach für sämtliche deutschsprechenden Lande empfunden, daß jene, auf welchen der verklärende Strahl des höchsten Dichtergenius gefallen ist, sie, welche im Herzen der deutschen Nation in ewiger Jugend unvergänglich fortleben wird, noch immer eines würdigen Denkmals entbehrt – Sie wissen, wen ich meine: Friederike, die unsterbliche Friederike von Sesenheim.«
»Friederike von Sesenheim? Warten Sie einmal, den Namen glaube ich in der Tat schon irgendwo gelesen zu haben. Aber daß sie Gedichte gemacht hat, ist mir neu.«
Der Herr Geheimerat zog ein Gesicht, als ob mir eine schauerliche Unziemlichkeit entschlüpft wäre und sah verlegen beiseite. Plötzlich: »Was haben Sie denn da für einen interessanten alten Schmöker liegen? – Boileau? was wollen Sie mit dem bornierten ledernen Pedanten?«
»Lesen, nicht singen.«
»Der ist ja in Frankreich selber längst veraltet und all der pseudo-klassische Plunder seiner Zeit.«
»Meinen Sie? Darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Übrigens gehört es zu den Lieblingsbeschäftigungen der Weltgeschichte, sich mit veraltetem Plunder zu befassen.«
»Ach so, das ist etwas anderes: wenn Sie Geschichte treiben! Übrigens könnten Sie sich auch mit einem lohnenderen Thema abgeben. Die Franzosen haben eben leider überhaupt keine Poesie im eigentlichen Sinne des Wortes, vielleicht ein paar Lyriker ausgenommen, deren Wert sie selber nicht –«
»Pumps! weg mit den Franzosen! raten Sie mir eher zu den Italienern?«
»Italiener? Na! – Italiener? nun ja, meinetwegen. Die Italiener haben ihren Dante und einige Neuere. Aber die italienische Nation als solche möchte ich doch nicht als eine eigentlich poetische hinstellen.«
»Ariost? Tasso?«
»Ariost? Den jedenfalls nicht. Ariost mußte mit seinem ›Rasenden Roland‹ scheitern, weil eben ein Epos, das nicht durch die Begeisterung eines ganzen Volkes getragen wird, also das sogenannte Kunstepos, an sich ein Unding ist. Was dann Tasso betrifft, so beruht seine Hauptbedeutung in der Literaturgeschichte doch wesentlich darauf, daß er den Anlaß zu Goethes unsterblicher gleichnamiger Dichtung gegeben hat.«
»Also: Hauptbedeutung Tassos: prädestinierter Modellsteher für Goethe. Unbewußt? oder meinen Sie, daß er eine Ahnung dieses erlauchten Berufes gehabt hat? Kurz, die italienische Nation als solche, wie Sie sagen, gehört nicht zu den eigentlich poetischen. Pumps! weg mit den Italienern. Dann werde ich mich lieber mit den alten Römern befassen.«
»Die können Sie ruhig aus dem Spiel lassen! Denn die Römer waren im Grunde eine kreuzprosaische Nation. Hohle Rhetorik, phantasielose Nachahmung, nüchterne Verständigkeit. Eine einzige Strophe von Heine ist mir lieber, ich meine, enthält mehr echtes poetisches Gold als die gesamte vereinigte Poesie der Römer und ihrer Nachtreter, der Franzosen«
»Das nenne ich eine Weltliteratur in der Westentasche! Heine, den ich meine. – Ovid? Virgil? Horaz? das sagt Ihnen also nichts?«
»Jedenfalls nicht der öde Versfex Horaz! Virgil? Nun ja, seine Aenëis ist ja in ihrer Art soweit eine recht achtbare Leistung, eine nicht ungeschickte, wiewohl unendlich minderwertige Nachahmung Homers, aber als Ganzes durchaus verfehlt. In seinen kleineren Sachen dagegen ist Virgil manches gelungen; hier liegt seine Bedeutung. Eher noch Ovid. Obschon diese frivolen, geistreichen Spielereien schließlich doch eher alles andre heißen können als Poesie.«
»Daß Virgil anderthalbtausend Jahre lang der ganzen Menschheit für den größten Dichter der Weltliteratur galt, neben Homer oder sogar über Homer, stört Sie nicht in Ihrem abschätzigen Urteil?«
»Ja, aber ich bitte Sie, was für eine Menschheit? Römer! Mittelalter! Pfaffen! Scholastiker! Humanisten!, die selber keinen Begriff von wahrer Poesie hatten!«
»Die Ärmsten! Darunter aber Dante, der vielleicht einen Begriff von wahrer Poesie hatte.«
»Dante hat bekanntlich Virgil unendlich überschätzt. Das können wir ihm ja nicht übel nehmen, er kannte eben Homer nicht.«
»Bitte, nehmen Sie es ihm nicht übel. Tun Sie es mir zu Gefallen, wenn nicht ihm. Es wäre zu fürchterlich. Dante, der nicht kannte. Dante, der den Virgil bekanntlich überschätzte. Und Schiller, der ihn bekanntlich übersetzte. Hatte der vielleicht auch keinen Begriff von wahrer Poesie?«
»Na, überhaupt Schiller!!«
»Na, überhaupt Schiller. Unter diesen Umständen müssen Sie jedenfalls ein unbändiges Herzvergnügen an Catull und Tibull haben.«
Der Professor schaute sich erstaunt nach mir um. »Wie können Sie das zum voraus wissen?«
»Nun wie die Herren Glauberecht über Weltliteratur urteilen, kann man immer zum voraus wissen. Es steht ja bei jedem Namen ein Wegweiser. Entweder ein weißer, z. B. bei Äschylus, Sophokles, Pindar, Theokrit, dann wird angebetet, oder ein schwarzer, z. B. bei Euripides, Apollonios, Seneca, dann wird geschulmeistert. Kurz, wir sagen also: Pumps mit den Römern. Franzosen pumps, Italiener pumps, Römer pumps. Den Griechen wenigstens, hoffe ich, werden Sie die Poesie nicht absprechen.«
»Ah, das ist jetzt etwas anderes! Die Griechen! die Griechen! Das war eine poetische Nation von Gottes Gnaden! Das heißt, wohlverstanden, nicht etwa die Spätgriechen! Die Alexandriner nehme ich selbstverständlich aus, wie überhaupt außer etwa Theokrit alles, was nach der Blütezeit Athens fällt, also nach 400 vor Christus, um eine runde Zahl zu nennen.«
»Also die Spätgriechen vom Jahre 400 an hatten auch keine Poesie! Pumps mit den Spätgriechen! Ein Glück, daß Sie wenigstens den Frühgriechen Poesie zuerkennen, sonst wüßte ich wahrlich nicht mehr, was übrig bliebe. Also ist vielleicht Euripides Ihr Mann?«
Da zog der Herr Professor ein Gesicht, als ob er auf eine Wanze gebissen hätte. »Euripides? Euripides ist überhaupt gar kein Grieche.«
»Was denn?«
»Euripides ist ein Moderner, der sich aus Versehen ins fünfte Jahrhundert vor Christus verirrt hat.«
»Vielleicht aber war ihm dort wohler als bei unsern Modernen. Ich bin fest überzeugt, er hat's absichtlich getan.«
»Euripides bedeutet den tiefsten Zerfall der griechischen Poesie.«
»Die Griechen selber, wie Sie wissen, urteilten anders: nicht den tiefsten Zerfall, sondern den höchsten Gipfel der Poesie bedeutete ihnen Euripides.«
»Ja das war ja eben der verhängnisvolle, unbegreifliche Grundirrtum der damaligen Griechen, daß sie Euripides über Sophokles und Äschylus stellten. Sie verstanden eben leider das innerste Wesen der Tragödie nicht.«
»Jetzt verstehen wieder die Griechen das innerste Wesen der griechischen Tragödie nicht und die Zeitgenossen des Perikles steckten in einem verhängnisvollen Grundirrtum über den Wert ihrer eigenen Dichter. Lassen Sie uns doch rekapitulieren. Die Franzosen verstehen die Römer nicht, die Römer verstehen die Griechen nicht, die Griechen verstehen die Griechen auch nicht. Aber die Herren von Weisenstein verstehen natürlich alles. – Sagen Sie mir, Herr Geheimerat, wie steht es denn eigentlich mit Ihrer epochemachenden Arbeit über Goethes Fifi oder Mimi oder Lili oder wie sie heißt? rückt sie vor?«
»Wer hat Ihnen das verraten? – Wissen sie aber auch, daß ich zu einem durchaus entgegengesetzten Ergebnis über Lilis Charakter gekommen bin als die bisherige Literaturgeschichte?«
»Nicht möglich! ich staune, ich zittere! Das wirft ja alle unsere Begriffe von Poesie um! Das Werk müssen Sie unbedingt vollenden! Das dürfen Sie der Welt nicht vorenthalten! Sie hat ein Recht darauf!«
Wir schieden als die besten Freunde »Habe die Ehre!« »Auf das Vergnügen.« Auf der Treppe holte ich ihn zurück. »Daß ich die Hauptsache nicht vergesse: war Er kurzsichtig? trug Er Brillen? wie stellen Sie sich zu dieser Frage?«
Der Herr Geheimerat stieg mit triumphierendem Lächeln herbei: »Er war nicht kurzsichtig, Er trug keine Brille. Ich habe darüber sogar eine besondere kleine Abhandlung geschrieben; wenn es Sie interessiert, wenn Sie erlauben, so schicke ich's Ihnen gelegentlich zu.«
»Ich bitte dringend darum, ich zähle darauf. Lassen Sie mich ja nicht im Stich.«
Wie der Völker und Jahrtausende zusammensäbelt! als wären' s Disteln! – Eines steht mir fest: Wäre der weise Herr zufällig zwei Jahrhunderte früher auf die Welt gekommen, was wollen wir wetten?, der hätte eine lateinische Lobrede auf Horaz in Hexametern zusammengeschustert! – Recht hat er ja in manchem, der hochgebildete Unhold. Oder vielmehr nicht er, sondern die großen deutschen Denker des 18. Jahrhunderts, deren Erkenntnisse er gedankenlos nachplappert, die anstudierten Wahrheiten durch dogmatische Engherzigkeit verkrüppelnd, daß aus der Wahrheit Ungerechtigkeit und dünkelhafte Albernheit wird. Und vorausgesetzt sogar, er habe recht, – er hat aber nicht recht, sondern recht und unrecht in einem einzigen schauerlichen Gemüse – vorausgesetzt also, er hätte recht, darf man denn Jahrtausenden gegenüber, den größten Dichtern und Denkern der Jahrtausende gegenüber in diesem wegwerfenden suffisanten Stil recht haben? Mir kommt vor, nach meinem Geschmack, wenn einer das Mißgeschick hat, einem Dante über Poesie, einem Euripides über das Drama, einem Virgil über das Epos widersprechen zu müssen, so sollte er es bescheidentlich, mit dem Hut in der Hand tun. Und vor allem erst zwanzigmal nachdenken, ehe er widerspricht. Und wahrlich, zum Nachdenken ist hier Anlaß. Ist es denn wahrscheinlich, ist es überhaupt möglich, daß ganzen Nationen, daß vollen Jahrtausenden eine immanente Eigenschaft der Menschennatur, nämlich die Poesie, einfach gefehlt hätte? Verhält es sich nicht vielleicht vielmehr so, daß jene eine andere Auffassung von Poesie hatten, mithin einem andern poetischen Ziele nachstrebten? Und ist denn so felsenfest gewiß, daß unsere Auffassung die einzig wahre, die in allen Punkten wahre, die absolut richtige ist? Könnte nicht etwa die antike, also die griechisch-römische Anschauung in diesem oder jenem Punkte uns gegenüber recht behalten? Wird nicht vielleicht eine künftige Literaturgeschichte, also z. B. ein Herr Professor Dünkel vom Jahre 3000, unsere Anschauungen als einseitig hinstellen? manches, das wir für überwunden ausgeben, wieder ins Recht setzend?
Und vor allem: Muß man denn nicht versuchen zu verstehen oder wenigstens ahnend nachzufühlen, wieso ehedem Hunderte von bedeutenden Dichtern und Denkern, die uns an Talent und Geist himmelweit überlegen sind, zu einer solchen Auffassung der Poesie gerieten, die von der unsrigen radikal verschieden ist? Ach, wenn ich nur ein bißchen Fachkenntnisse hätte! wenn ich nur mit der Logik auf besserem Fuße stände! darüber möchte ich einmal etwas schreiben!
Oder noch besser: Wenn einer aus dem Altertum auferstehen könnte, ein römischer Redner oder griechischer Sophist oder ein griechisch-römischer Grammatiker aus Alexandria, so ein Euagoras oder Xenagoras oder Protagoras oder was für ein Agoras, der einem persönlich erklärte, wie sie damals die Poesie auffaßten, was sie sollte und wollte, und wie und warum sie sie auf so durchaus anderen Wegen suchten als wir.
Während ich so seufzte, begann mein Schreibtisch sich unheimlich zu bewegen, mit unverkennbar spiritistischen Gebärden. Hurtig nahm ich Feder und Papier und notierte, was mir der Geist aus dem Jenseits vorsprach. Ich übersetze – ich denke, Sie sind damit einverstanden – aus dem Griechischen ins Deutsche und aus dem Stil des Jenseits in den diesseitigen.
Also folgendes diktierte mir mein spiritistischer Schreibtisch:
Ixagoras von Alexandrien, der Grammatiker, Rhetor und Sophist, geboren im vierten Jahre des Kaisers Nero in Kyrene, gestorben im ersten Jahre des Kaisers Hadrian in Rom, derzeit in der Ewigkeit sich befindend, an seinen Kollegen Thomas Denkselber in Elegantopolis.
Gruß zuvor!
Es geschieht nur alle hundert Jahre einmal, daß einer von Euch den edlen Namen Euripides ausspricht, ohne dem liebenswürdigsten gemütreichsten Dichter des Altertums eins anzuhängen. Zum Dank dafür will ich Ihren Seufzer erhören und Ihnen erklären, wieso wir Alten zu einer ganz anderen Auffassung der Poesie kamen als Ihr.
Empfangen Sie zunächst mein offenes Zugeständnis, daß unsere gelehrte klassische Kunstpoetik auf falscher, die Eurige auf richtiger Grundlage ruht. O triumphieren Sie nicht zu früh! es kann einer aus der besten Wahrheit den greulichsten Unsinn stiften, wie z. B. unser geehrter Kollege Dünkel von Weisenstein, der aus der gesamten Weltliteratur nur die lyrischen Rosinchen herauszuklauben versteht, alle bewußte Kunstpoesie verwirft und die großen Dichter mit seinem kleinen Schulkatechismus mißt. Umgekehrt kann ein anderer aus Grundirrtümern die schönsten Dinge holen, wie z. B. Virgil, Corneille, Gluck, Goethe, Thorwaldsen, die sich über das Wesen des alten Griechentums gründlich täuschten, und dennoch Meisterwerke aus diesem Irrtum hervorbrachten. – Also Euere Grundanschauung der Poesie ist richtig. Worin besteht sie? In der Erkenntnis, daß die Poesie nicht mit den übrigen Geistesfunktionen übereinklingt, sondern etwas ganz Besonderes, ja sogar in der Hauptsache, im Kern etwas Gegensätzliches ist. Woher habt Ihr diese Erkenntnis bezogen? Aus der Vergleichung der Poesie aller Völker. Eure Erkenntnis ist international. Diese Vergleichung aber war uns unmöglich, weil zu unserer Zeit das Tatsachenmaterial nicht vorlag. Wir wußten nur von einer Kunstpoesie, von einer Dichtkunst und zwar bloß innerhalb unseres eigenen Volksstammes, des hellenisch-römischen. Erraten aber konnten wir's nicht, daß die Poesie den anderen heilsamen Genien der Menschheit zuwiderwachse, da doch die Annahme, daß alle guten Geister einander verwandt wären, an sich wahrscheinlicher ist als die Annahme des Gegenteils. Aus dieser einen Grunderkenntnis nun, die Ihr besitzt und die uns entging, mußten mit Notwendigkeit die erstaunlichsten Differenzen entstehen, je länger desto größere. Ich will Ihnen die wichtigsten davon zeigen.
I. Differenz. Ihr begehrt eine unabhängige Poesie, rücksichtslos die erlauchtesten Herrschaften aus der Dichtkunst verbannend; Religion, Moral, Weisheit und wie sie alle heißen. Das zu tun hatten wir von unserm Standpunkt nicht den mindesten Grund. Wir meinten, alle Musen wirkten am besten vereint und glaubten der Poesie nicht im mindesten zu nahe zu treten, indem wir sie im Dienst der Religion und der Moral zur Veredlung und Erziehung des Menschengeschlechtes mitwirken hießen.
II. Differenz. Weil Ihr die Poesie als etwas Gesondertes erkanntet, habt Ihr auch ihr unterscheidendes Merkmal, ihr innerstes Wesen aufgespürt und erkannt. Worin besteht das? Im Unbewußten, im Anonymen der Seele. Um Poesie zu finden, steigt Ihr aus Eurer Bewußtseinshöhe in die dunkelsten Gründe der Seele, dorthin, wo die Phantasie träumt. Um Poesie zu erforschen, überspringt Ihr die glorreichste Kultur eines Volkes und begebt Euch in seine barbarischen, vorhistorischen Anfänge, in Sagen, Traditionen, alten vergessenen Heldenliedern und Volksliedern stöbernd. Um Poesie zu genießen, legt Ihr Euer waches Bildungs- und Kulturbewußtsein, allen Euren Geist weg und lauscht als naives unwissendes Kind, so naiv als es Euch gelingt. Kurz, Eure Poetik ist – verzeihen Sie einem Grammatiker die Fremdwörter: primitivistisch, nativistisch, archaistisch und atavistisch, oder wenn Sie es in einem Wort haben wollen, kindlich. Wir aber mußten die Poesie dort suchen, wo wir auch die übrigen Schätze gefunden hatten, am entgegengesetzten Ende; nicht im geheimnisvollen Dunkel des Unbewußten, sondern auf der hellen Höhe des Geistes, nicht an der Wiege der Völker, sondern auf dem Gipfel ihrer Kultur. Mit einem Wort: im Reiche der Vernunft. Nur was zugleich denkenswürdig erschien, konnte uns dichtenswert erscheinen. Darum kommt Euch unsere Poesie nüchtern vor; uns wäre die Eurige töricht und trivial vorgekommen. Im klaren Reiche der Vernunft aber war natürlich für die mysteriöse Tochter des Unbewußten, die Phantasie, kein Ehrenplatz vorhanden. Reine Phantasieerfindungen, nur um ihrer selbst willen geschaffen, mußten uns kindisch erscheinen, weil sie dem ernsten Gedanken nichts bieten. Wenn wir dann einem durch den Ruhm geheiligten Phantasiewerk der Vorzeit begegneten, also z. B. den Fabeln der Mythologie oder den epischen Dichtungen Homers, so wußten wir aufgeklärten Spätgriechen und Römer nicht mehr recht, was damit anfangen. Daß nämlich der größte Dichter der Urzeit, der göttliche Homer, an solchen Schnurrpfeifereien sollte Vergnügen gefunden haben, wie die Reiseabenteuer des Odysseus, das konnten wir unmöglich glauben. Das macht zwar den Kindern Vergnügen, aber Homer war doch kein Kinderschriftsteller, sonst hätten nicht zehn Jahrhunderte mit den glorreichsten Denkern an der Spitze so viel Aufhebens von ihm gemacht. Was blieb also übrig? Wir mußten einen zweiten Sinn, einen Gedankensinn natürlich, unter seinen Erzählungen voraussetzen, genau so wie Eure gescheiten Männer, wenn man ihnen neue Mythen oder Epen bietet, an denen ihr Verstand nicht auf die Kosten kommt, sich mürrisch fragen: »Ja, was soll denn das bedeuten?« Deshalb mußten wir Homer, da wir ihn nicht ablehnen konnten noch wollten, notwendig allegorisch erklären. Und wie mit Homer ging es mit dem alten Testament und später mit Virgil. Ihr habt ja ein allbekanntes Beispiel dieser Sinnesart in Euren Evangelien. Wenn Jesus ein Gleichnis gesagt hat, so setzt der Evangelist hinzu: die Gleichnisform wählte Jesus für das ungebildete Volk, um ihm die Wahrheit mundgerecht zu machen. Also auch hier beim Evangelisten wie uns allen der Grundirrtum, daß die logisch vernünftige, abstrakte Darlegung etwas Höheres bedeute, die Phantasieerzählung dagegen bloß eine unwürdige Ergötzlichkeit, gut genug für das gemeine Volk und die Kinder. – Das alles war eine grundverkehrte Ansicht, und die Allegorisierung von Homer, Bibel und Virgil eine erbarmungswürdige Lächerlichkeit, zugegeben. Aber wir vermochten eben jenseits der Denkbarkeit überhaupt keine Poesie mehr zu erkennen, genau so, wie Ihr jetzt keine Poesie mehr jenseits der Charakteristik, was ebenso lächerlich ist.
III. Differenz. Ihr begehrt, Eurer atavistischen Auffassung der Poesie zufolge, für die Dichtkunst eine naive, volkstümliche, kindliche Sprache, mithin einen farbigen, bilderschweren Ausdruck. Für das Widerspiel aller Poesie gilt Euch das abstrakte Wort, der »blasse« Begriff. Wir hingegen, da wir ja die Poesie auf der Höhe der Kultur und der Vernunft einlogiert hatten, mußten, wofern wir nicht einfach die Sprache der geheiligten Vorbilder blindlings nachahmten, die abstrakte Ideensprache für die poesiewürdigere halten. Deshalb, weil ja alles Denken auf der Abstraktionsfähigkeit beruht. Vermehrung der Abstraktionsfähigkeit bedeutet Vermehrung des Geistes, Fortschritt der Kultur. Es hatte eine Riesenarbeit von Jahrtausenden gebraucht, ehe wir Völker des Altertums zum ersten Male in abstrakten Begriffen denken und sprechen konnten. Was einer aber mit unendlicher Mühe und Not errungen hat, das schätzt er auch. Mit dem abstrakten Begriff zog dann unvermeidlich auch die Allegorie in unsere Poesie, da ja Allegorie nichts anderes ist, als die Personifizierung abstrakter Begriffe.
IV. Differenz. Indem Ihr das Wesen der Poesie als ein mysteriöses auffaßt, ist es Euch möglich geworden, eine strenge Trennung zwischen Poesie und Prosa zu vollziehen, ich meine eine innere Trennung, unabhängig von der Form. Ihr kennt eine Poesie in prosaischer Hülle und eine Prosa unter poetischer Maske. Uns aber, nachdem wir einmal die Vernünftigkeit des abstrakten Gedankens auf den Thron erhoben und die Phantasie ausgeschaltet hatten, besaßen kein deutlich unterschiedliches inneres Merkmal der Poesie mehr. Denn Gefühl, Begeisterung, Gedankenschwung, ja sogar Inspiration und rhythmischer Tonfall ist ja auch der Redekunst eigen.
Nur eine Äußerlichkeit blieb uns noch zur Unterscheidung von Poesie und Prosa: das Metrum. Die Dichtkunst wurde hiermit eins mit der Verskunst. Die Verskunst gehört aber in die nämliche Reihe wie Grammatik, Stilistik und Rhetorik. Zu oberst allerdings, als eine Art Rhetorik mit Schikanen. Das mußte natürlich damit enden, daß wir schließlich die Rhetorik ohne Schikanen vorzogen, da sie ja im Grunde denselben Dienst tat. Allmähliche Aufzehrung der Dichtkunst durch die Sprachkünste, so läuft die literarische Entwicklung des griechisch-römischen Altertums. Wie der Wolf Eures Baron von Münchhausen, der sich allmählich von hinten in die Pferdehaut hineinfrißt. Und er begann schon früh an der Poesie zu nagen, der klassische Sprachwolf, schon in der Glanzzeit Athens und keineswegs bloß bei Euripides. Das bedarf, ich gestehe es, der Entschuldigung. Aber wir haben sie, die Entschuldigung, eine glänzende sogar. Bedenkt doch, daß die Verwechslung von Dichtkunst und Sprachkunst eine ewige Gefahr für die Menschheit bildet, weil ja leider die Poesie kein eigentümliches Ausdrucksmittel besitzt wie die Musik und die Plastik, sondern sich ihr Mundwerkzeug von der Alltagssprache borgt. Die Poesie wohnt im Hause der Prosa und guckt aus den Fenstern der Grammatik heraus. Für Völker mit stümperhaftem Sprachbewußtsein oder unentwickeltem Sprachkultus ist freilich die Gefahr gering. Ihr Deutschen z. B. werdet kaum jemals Dichtkunst mit Sprachkunst verwechseln, eher Dichtkunst mit Sudelei. Dagegen wir Hellenen und Römer – ich will mich nicht selber rühmen, aber ich denke, Sie wissens, was wir auf sprachlichem Gebiet geleistet haben! – Ich errate, was Ihr einwenden wollt. Ihr würdet eher noch die Vertauschung der Poesie gegen die nackte, nüchterne Prosa verzeihen – Ihr habt auch alle Ursache, das zu verzeihen! – als die Vertauschung der Poesie gegen die Rhetorik. Nicht wahr, hier sitzt der Stachel? Unsere Rhetorik könnt Ihr weder begreifen, noch entschuldigen, noch verwinden. Ihr vergeßt halt, daß die Poesie in einem Punkte, der uns sehr wichtig war, gegenüber der Rhetorik im Nachteil ist: Die Poesie, da sie auf die Mittätigkeit der Phantasie des Hörers rechnet, verschweigt ja das Beste oder deutet es bloß an, während im Gegenteil die Rhetorik, weil sie eine expansive Sprache spricht, alle Gedanken und Gefühle bis zum letzten Rest (manchmal noch über den letzten Rest hinaus) volltönend zum ohrenschmeichelnden Ausdruck bringt. Darum werden gefühlskeusche, zurückhaltende Völker die Poesie lieben und die Rhetorik verschmähen, verabscheuen, hassen, wir Griechen und Römer aber und unsere Nachkommen, die Romanen, könnten eher der Poesie entraten als der Rhetorik, deshalb, weil wir mit expansivem Temperament veranlagt waren.
Zu ferneren Diensten gern bereit.
Ixagoras.
Etwas schwierig, o Ixagoras! Von alledem tut mir der Kopf weh. Und das nennt der eine Erklärung! Und nicht alles ganz unanfechtbar. Aber mit dem möchte ich doch einmal ein Stündchen zusammen disputieren. Jedenfalls lieber als mit – Halt! ein diabolischer Gedanke! Wenn wir Kollega Ixagoras mit Kollega Dünkel von Weisenstein zusammenbringen könnten! Das möchte eine ergötzliche Disputation absetzen! Zum Glück besitze ich ein metaphysisches Telephon. Ting, ting. Hallo! Anschluß mit Metaphysien. Der Herr Sophist Ixagoras aus Alexandrien möchte doch so gut sein und einen Augenblick ans Telephon kommen. Wie? Ich verstehe nicht. Lauter. Wer ist am Telephon? Aha, Sie sind's Herr Ixagoras. Besten Dank für Ihre gütigen Mitteilungen. Sagen Sie, wären Sie vielleicht so liebenswürdig, nächsten Freitag abend zu einer einfachen Tasse Tee zu mir zu kommen? Sie werden wahrscheinlich Kollega Weisenstein bei mir treffen. Wie? – Ach so – Ja – Ja – Ja – Um Mitternacht. Also bleibt's dabei. Danke. Schluß. Ting, ting. – Hernach verlangte ich Anschluß mit Byzanz, wo unser Geheimer wohnt und am Freitag abend um Mitternacht saßen wir richtig alle drei zusammen bei einer gemütlichen Tasse Tee, Kollega Ixagoras, Kollega Weisenstein und ich. Ich hatte eigentlich noch eine Dame dazu eingeladen, eine Freundin des Geheimerats, Frau Schnadra Confusowna Bilderling-Schwatzimmerich, allein sie war leider verreist.
Kaum waren die Höflichkeitshindernisse überwunden, so hatte auch schon der Herr Professor den Sophisten angehackt, in aller Artigkeit natürlich.
»Sie sehen in mir,« hub er an, »mein verehrter Herr Ixagoras, einen begeisterten Bewunderer des alexandrinischen Zeitalters – ich sage das ganz ohne jede Schmeichelei – das heißt natürlich Eurer gelehrten und wissenschaftlichen Kultur. Denn was Eure Poesie betrifft, so werden Sie mir selber zugeben, daß sie hauptsächlich Stubenpoesie war.«
Der Sophist schaute verwundert auf: »Ja hätten wir denn auf dem Fischmarkt dichten sollen? Tut Ihr das? Und wenn's regnet, dichtet Ihr dann unter dem Regenschirm?«
»Nein, nein!« rief der Professor, »so meine ich es ja doch nicht. Ich meine die Buchpoesie. Poesie sollte eigentlich überhaupt nicht geschrieben und gelesen, sondern persönlich von Mund zu Mund weitergegeben werden, durch Rhapsoden und blinde Sänger, wie in der Blütezeit Griechenlands.«
»Ja sind denn Eure Verleger blind? und studieren sie auf dem Konservatorium, daß sie so gut singen können?«
»Ach nein, das ist ja ein ganz andres Zeitalter, in welchem wir leben. Sie aber als Griechen waren verpflichtet –«
»Wir waren verpflichtet, meinen Sie, uns den kindischen Anschauungen anzubequemen, welche man zweitausend Jahre später über unser Zeitalter auf dem Katheder konstruieren würde? Auch eine Verpflichtung! Genau wie Ihr mit Euripides verfahrt. Erst tüftelt Ihr heraus, Skepsis, Leidenschaft und Gemüt sei ungriechisch und dann mutet Ihr allen Ernstes dem Euripides zu, er hätte sich sagen sollen: Halt! Dieses Gefühl ist ungriechisch, das darf ich nicht aussprechen; das wird zweitausend Jahre später ein Shakespeare oder ein Beethoven tun.«
Aber mit Euripides kam Ixagoras bei dem Professor schlecht an, der nun mit gereizter Stimme dem Euripides seinen »zersetzenden« Unglauben gegenüber den Göttern, den Wundern, den Orakeln vorwarf.
Ixagoras erwiderte: »Glauben Sie, Herr Professor, an Orakel? an heilige Aasvögel? halten Sie es für wahr, daß griechische Könige Göttinnen zu Großmüttern hatten? Beten Sie zu Poseidon?«
»Ja aber Ihr Griechen mußtet daran glauben, weil Aufklärung das Drama zerstört. –«
»Ach so. Wir hätten also dem Drama zuliebe uns eine Religiosität anheucheln sollen, deren Falschheit wir einsahen? Was meinen Sie dazu, Kollega Denkselber.«
»Ich meine, daß erlogene oder anerlogene Gefühle den Dichter schlimmer schädigen als die hellste Aufklärung.«
Dann, von den Chören des Euripides rückwärts mit der Begeisterung wandernd, pries Kollege Weisenstein in enthusiastischer Rede die alten dramatischen Chöre und die religiösen Hymnen der Urzeit als Poesie ersten Ranges. Freilich, setzte er hinzu, dürfe man, um sie in ihrer vollen Schönheit zu begreifen, nie vergessen, daß mit dem Text, den wir besitzen, einst Gottesdienst mit Musik und Tanz verbunden gewesen sei.
»Tanzen Sie mir doch einmal einen Apollohymnus, Herr Professor,« bat der Alexandriner. »Nicht? dann vielleicht eine Dionysospolka? Warum nicht? wir sind ja unter uns.« Und als der Herr Professor ihn darüber belehrte, daß er leider keine Ahnung habe, wie Musik und Tanz damals lauteten: »Und da machen Sie solch ein verzücktes Getu um den kleinasiatischen Hokuspokus, den Sie gar nicht kennen?«
»Direkt kennen wir leider allerdings die Musik- und Tanzbegleitung zu den Hymnen und Chören nicht, allein wir wissen aus mancherlei Stellen, daß es auf die damaligen Griechen einen gewaltigen Eindruck gemacht hat.«
»Ich begreife, Sie saugen mit Entzücken an einem Birnenstiel, von welchem die Sage behauptet, die Birne, die einst daran hing, habe vormals anderen geschmeckt.«
Da gab es eine kleine Verlegenheitspause. Ich hatte das Gefühl, die Herren verständen einander nicht. »Noch ein Täßchen Tee, Herr Professor? Etwas Zucker vielleicht, Herr Ixagoras? Sie scheinen mir etwas aufgeregt.«
Hernach ging der Disput wieder an.
»Das müssen Sie mir aber doch zugeben, Herr Ixagoras,« sprach der Professor, »Eure sogenannte Allegorie war doch ein schauderhaft ledernes Ding. ›Jung‹ Hauptwort ›Jugend‹. Man sagt nicht der Jugend oder das Jugend, sondern die Jugend. Die Jugend ist also weiblich; folglich: lange Haare, langes Kleid, zwei Flügel daran und die Göttin Jugend ist fertig. Diese Sorte von Poesie hat jedenfalls niemanden durch Gehirnüberanstrengung in eine Nervenheilanstalt gebracht.«
»Nun,« entgegnete der Alexandriner, »es vergnügt sich jeder, womit er kann. Wir hatten die allegorischen Gedankenspäßlein, die Japanesen haben das Zwergbäumleinzüchten, die Engländer ihre Fußbälle und Grashüpfereien, die Deutschen ihre Hamletklaubereien.«
»Zugegeben, nur beweist das nichts gegen die Abscheulichkeit der Allegorie.«
»Abscheulichkeit? habt Ihr denn Abscheu vor der Allegorie?«
»Na und ob! diese Vogelscheuche gehört Gott sei Dank bei uns der vorsintflutlichen Vergangenheit an.«
»Euer Abscheu ist jedenfalls kein unüberwindlicher. Ich habe wenigstens, wenn ich aus dem Jenseits herabblickte, niemals bemerkt, daß einer von Euch vor dem Gambrinus umkehrte, weil Gambrinus eine Allegorie ist, oder daß jemand ein Zwanzigfrankenstück zurückgewiesen hätte, weil ein geflügelter Genius darauf gestempelt ist.«
»Nun, das sind natürlich Ausnahmen.«
»Ausnahmen? Ihr könnt ja ohne Allegorie keinen Brunnen, keinen Grabstein, kein Staatsgebäude erstellen, nicht einen Prospekt, nicht einen Festzettel, nicht eine Reklame, nicht eine Banknote herausgeben. Wir haben doch wenigstens unsere Allegorien nicht angesungen.«
»Angesungen? Allegorien ansingen? wer tut denn das?«
Da tat der Sophist seinen Mund auf und sang mit lauter Stimme: »Heil dir, Helvetia.«
»Und stellvertretende Trankopfer,« fuhr er fort, »haben wir ihnen auch nicht dargebracht.«
»Stellvertretende Trankopfer? den Allegorien?«
Und abermals tat Ixagoras den Mund auf und rief: »Ich lade Sie ein, dieses Glas auf das Wohl der Allemannia zu leeren.«
»Bravo, Herr Ixagoras,« belobte ich, »Sie haben sich tapfer herausgebissen. – Nehmen die Herren vielleicht einen Sandwich? oder lieber etwas Süßes?«
Aber der Herr Geheimerat hatte noch allerlei auf dem Herzen. Man findet doch nicht alle Tage Gelegenheit, mit einem authentischen griechischen Sophisten zu disputieren; nicht wahr? Die Gelegenheit muß man doch benützen. Also fing er nach einiger Zeit die Angelei wieder an, diesmal von einer anderen Seite:
»Aber der fromme Äneas, in Eurem langweiligen Virgil, das ist doch ein unleidlicher Gesell! Überhaupt: Tugendhelden!«
»Immerhin, so jämmerliche Wichte waren sie doch nicht, wie Euere psychologischen Romanschufte, die Ihr Helden nennt.«
»Ja, aber wozu denn um's Himmels willen überhaupt Tugend und Moral in der Poesie? Die Poesie ist doch wahrlich viel zu gut dazu, um der spießbürgerlichen Philistermoral zu dienen!«
»Sagen Sie mir doch, Herr Geheimerat,« fragte Ixagoras, »sind Sie schon einmal wegen unsittlicher Handlungen im Zuchthaus gesessen?« Und da der Geheimerat entrüstet hochaufsprang, »verzeihen Sie, ich dachte nämlich, Unsittlichkeit gelte bei Ihnen für eine Ehre, da Ihr die Sittlichkeit für eine Schande haltet.«
»Wer hat denn jemals gesagt, daß wir Sittlichkeit für eine Schande halten? Wo nehmen Sie den kuriosen Einfall her?«
»Nun, von Ihnen. Sie haben da oben von der ›spießbürgerlichen Philistermoral‹ mit einer so verächtlichen Betonung gesprochen und so überlegen die Achsel dabei gezuckt, daß ich dachte, Sie hielten sie für etwas Verächtliches.«
»Aber so begreifen Sie doch,« fiel ich begütigend ein, »im Leben natürlich huldigen wir alle der Moral, der Herr Professor auch, kein Mensch prahlt damit, daß er im Zuchthaus gesessen sei, oder daß er jemand umgebracht habe, auch kann ich Ihnen persönlich für die Harmlosigkeit und moralische Unbescholtenheit von Kollega Dünkel garantieren, nur in der Poesie können wir selbstverständlich nicht die spießbürgerliche Moral dulden.«
»Ach so,« bemerkte der Sophist, »jetzt versteh' ich. Ihr verachtet in der Poesie, was Ihr im Leben als Gesetz achtet. Während Ihr dichtet, tut Ihr unmoralisch, und wenn Ihr das Manuskript dem Verleger übergeben habt, tut Ihr wieder moralisch. Dann müßt Ihr aber gewissermaßen Euer Ich in zwei Hälften spalten, in eine poetische übermoralische und antimoralische und in eine spießbürgerliche philistermoralfromme.«
»In gewissem Sinne, wenn Sie so wollen, ja.«
»Ist das nicht schwer? Tut das nicht weh?«
»O nein, nicht im mindesten. Wir sind nämlich auf Halbheiten eingerichtet; es ist so eine Art Naht in unserer Seele.«
»Aber was für Sicherheitsvorrichtungen habt Ihr dagegen, daß nicht etwa ein Gedanke aus dem einen Seelencoupé sich in das andere verirrt und dort Konfusion stiftet?«
»Die Gedankenlosigkeit.«
»Und Euer Wille, mit welcher von beiden Hälften hält der's? mit der poetischen oder mit der spießbürgerlichen?«
»Nun, einen sogenannten Willen in dem strengen Sinn, wie Ihr Griechen und Römer ihn verstandet, so eine Art Spannfeder, wo der Gedanke darauf wirkt und die dann auf den Entschluß losschnappt, so daß dem Gedanken entsprechende Handlungen entstehen, das haben wir heutzutage kaum mehr und brauchen es auch nicht.«
»Ich danke für die interessante Belehrung. Allein ich kann mir's noch immer nicht klar vorstellen: ein und derselbe Mensch in zwei Hälften gespalten, wovon die eine Hälfte anders urteilt als die andere. Dürfte ich vielleicht um Beispiele bitten?«
»Von Herzen gern. Also z. B. die poetische Hälfte räuchert dem großen Heiden Goethe und die andere pilgert mit dem Gesangbuch in die Kirche. Oder: die poetische Hälfte schreibt einen Roman, worin die urwüchsige noch von keiner sogenannten Bildung verfälschte gesunde Kraft des Bauernstandes gepriesen wird, die andere Hälfte läßt sich in die Volksschulkommission wählen. Oder: die poetische Hälfte begeistert sich über die herrliche unnachahmliche Linienführung des Busens der Venus von Medici, die andere Hälfte nennt die herrliche unnachahmliche Linienführung des Busens der schönen Madame Decoltitzki einen Skandal. – Ich kann Ihnen noch mehr Beispiele geben, wenn Sie wünschen.«
»Bemühen Sie sich nicht weiter. Das genügt. Aber wissen Sie, was ich möchte, da Sie beide sich doch so für antike Musik und Tänze interessieren? Einen Satyrtanz zum besten geben. Freilich, Ihre prosaische Hälfte wurde ihn, ich fürchte, ein wenig – wie soll ich sagen – derb finden.«
»Dann lassen Sie's lieber, Herr Ixagoras.«
Inzwischen hatte sich Herr von Weisenstein erholt und trat neugestärkt in den Kampf.
»Das Unbegreiflichste von allem,« meinte er, »ist mir immer Eure Rhetorik gewesen. Rhetorik in die Poesie hineinmischen! oder gar sie der Poesie vorziehen! Was in aller Welt hatten Sie denn überhaupt an der faulen Rhetorik? Wem sollte denn dieser hohle, pompöse, gemütlose Zauber Freude machen? Ich mag mich erkundigen wie ich will, ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Menschen gekannt, der in der Rhetorik irgend etwas Genießbares gefunden hätte, wenigstens unter uns Deutschen gibt es keinen, das kann ich Ihnen getrost versichern.«
Da zog Ixagoras ein feines Gesicht: »Sie haben eine Tochter, Herr Geheimerat? nicht wahr? Heißt sie nicht Berta?«
»Allerdings. Doch verzeihen Sie, das gehört nicht hierher.«
»Bitte gehorsamst, das gehört außerordentlich hierher. Setzen Sie Ihre Berta auf ein Sofa, und führen Sie ihr zwei Anbeter vor (einen nach dem andern natürlich), zuerst einen poetischen Friedrich, also einen, der ihr seine Liebe mit dem naiven Ausdruck des Gefühls erklärt, also einsilbig und stammelnd, das Beste verschweigend, und hernach einen rhetorischen Pomponio, der ihr Ohr mit einem Schwall von wohlstudierten volltönenden Phrasen überschwemmt, was wollen wir wetten, Herr Professor, Ihre Berta läßt den armen Poesiefriedrich schmählich abziehen und erhört den hochfaselnden Pomponio?«
»Kollega Ixagoras,« unterbrach ich, »Sie werden immer persönlich. Das sind wir bei uns zulande nicht gewohnt. Sagen Sie mir lieber etwas anderes. Wie konntet Ihr auf den sonderbaren Einfall kommen, Euch die Poesie von Grammatikern, Schullehrern, Sophisten, Rhetoren servieren zu lassen? Stilkunst und Rhetorik gehören doch nicht in eine Kategorie mit der Dichtkunst! das sind ja himmelweit verschiedene Dinge!«
Der Alexandriner drehte sich um und langte ein Büchlein aus meiner Bibliothek. Darauf buchstabierte er mit Stentorstimme den Titel. »Handbuch der Stilistik, Rhetorik und Poetik, herausgegeben in Berlin 1901. –«
Eben wollte ich mich ein wenig schämen, da schlug es ein Uhr, und ritsch! verrasselten meine beiden Gäste plötzlich durch den Kamin, der Alexandriner und der Deutsche. So daß ich fast vermutete, es möchten allegorische Kollegen gewesen sein.
Und doch wieder nicht! Denn wissen Sie, was ich soeben vor einer Stunde erhielt? Einen äußerst liebenswürdigen Brief von Kollega Goethefest, worin er mir seinen Dank für den interessanten, genußreichen Abend aussprach. Wenn man auch nicht in allen Punkten übereinstimmt, so rege doch gerade der Widerspruch zum Nachdenken an, so daß selbst der Irrtum auf Umwegen die Wahrheit fördere usw. usw. Dem Brief war eine kleine Broschüre beigelegt, von der ich leider in der Eile nur schnell den Titel habe lesen können: »Waren die Postpferde, mit denen Er von Eger nach Karlsbad fuhr, Braune oder Schecken? Preisgekrönte Abhandlung von Herrn Prof. Dr. Goethefest von Weisenstein, herausgegeben von der allgemeinen epigonischen Gesellschaft zur Förderung literarischer Petrefaktur und byzantinischen Geisteslebens.«
Sie begreifen, meine Herren und Damen, meine Ungeduld, über die Frage der Postpferde, die von jeher meine Gedanken beschäftigte, endlich ins reine zu kommen, und so bitte ich um Ihre Erlaubnis, hiermit Abschied von Ihnen zu nehmen.