Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Maße und Schranken der Phantasie

Jedermann kennt das naive Erstaunen des Landvolkes darüber, daß der erwartete König, wenn er endlich erscheint, nicht »größer« ist, als andere Menschen. Das belächeln wir, indessen tun wir ganz dasselbe an einem anderen Orte, nämlich im Theater, wo wir einen kleinen Schock verspüren, wenn Lear oder Hamlet zum ersten Male auftreten. Auch wir hatten uns Lear in der Phantasie im Verhältnis zur Umgebung unwillkürlich größer gedacht. Da kommen wir einem Naturgesetz der Phantasie auf die Spur. Verfolgen wir die Spur. Beim Lesen eines Epos ist es rein unmöglich, sich die Landschaft zu den handelnden Personen in den richtigen Größenverhältnissen vorzustellen. Die Mauern, die Städte, die Berge, die Wälder, alles duckt sich nieder, der Mensch dagegen wächst empor. Versuche man nur einmal, Achilles mit der Phantasie durch eine Haustür zu befördern. Es geht einfach nicht, entweder ist es nicht mehr Achilles, sondern ein griechischer Soldat, oder die Haustür verduftet, oder Achilles bleibt davor stehen.

Und so weiter in tausend Beispielen. Auch der nüchternste Mensch kann keine Raum- und Zeitabschnitte in der Erinnerung fassen. Der bloße seelische Eindruck für sich allein, ohne Nachhilfe, vermag nicht von gestern auf heute zu entscheiden, welcher Tunnel der längere, welcher Kirchturm, welcher Berg der höhere war. Ferner: Keine Phantasie, keine Erinnerung vermag stetig fortzuschreiten, sie bewegt sich in Sprüngen, von Bild zu Bild, und jedes Bild hat einen festen Augenpunkt. Ferner: Ein Vortragender, ein Dichter schildert uns mit genauen Maßen und Linien eine Landschaft, ein Gesicht. Ganz umsonst, die Phantasie kann das niemals halten, geschweige denn summieren. Dantes Hölle ist geometrisch so genau gezeichnet, daß man topographische Karten davon angefertigt hat; aber wer kann Dantes Hölle in der Phantasie bildklar nachschauen? Schließlich noch ein Beispiel, welches beweist, daß die Phantasie sich weigert, durch eine andere Tür einzutreten als durch die Herzkammertür. Wer kennt nicht Rom und Montecitorio, mit dem Parlamentsgebäude? Wer kann sich das nicht leicht in der Erinnerung vorstellen? Gut. Aber wenn wir nun in der Zeitung unter den Depeschen lesen: »Rom 20. Dezember: Im Parlamente brachte heute der Ackerbauminister eine Vorlage ein usw.« – – – – wer von den Lesern sieht bei diesen Zeilen Rom wirklich vor Augen, das steinerne Rom mit Farbe, Licht und Schatten? Niemand. Hier begnügen wir uns mit dem geographischen Begriff Rom, dem Landkartenrom; das leibhaftige Rom erscheint vor der Erinnerung bloß, wenn eine Gemütsschwingung das Bild ehrerbietig einlädt.

Genug. Aus allen Erforschungen erhellt, daß Phantasie und Erinnerung die natürlichen wirklichen Größenverhältnisse bestreiten. Statt der Raummaße gelten hier Wert- und Wichtigkeitsmaße; hinter einen ins Heroische vergrößerten Menschenleib wird die gesamte Welt in den Hintergrund gedrückt und dort verkürzt, verwischt und verschrumpft. Das heilt kein Doktor.


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