Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(Anläßlich Kennans »Sibirien«)
In der Familie der Wohltätigkeitsliteratur gibt es eine untergeordnete, aber überaus effektvolle, populäre und dankbare Spezies, welche namentlich von den ebenso praktischen wie auf den moralischen Schein bedachten Angelsachsen diesseits und jenseits des Ozeans und ihrem kontinentalen Tugendschweife eifrig gepflegt wird: die Entrüstungsliteratur. Sie verhält sich zu den großen humanen, auf dauernde Verbesserung des Loses unglücklicher Menschenklassen hinzielenden Schriftwerken wie das Rührstück oder der Sensationsroman zum klassischen Gedicht. Ohne daß notwendigerweise die entwickelte Humanität unrein zu sein braucht, arbeitet doch die Entrüstungsliteratur über den angeblichen humanen Zweck weit hinaus auf den Lärmeffekt, in einer Reihe von Reden und Meetings Trost selbst dann gewinnend, wenn die denunzierten Übelstände tatsächlich so ziemlich beim alten geblieben sind, so daß es oft danach aussieht, als wären dem modernen Angelsachsen Entrüstungsmeetings überhaupt Bedürfnis und bis zu einem Grade Selbstzweck.
Solch eine Entrüstung kommt wie eine Windsbraut und verrauscht wie eine Mode, unabhängig von dem praktischen Ergebnis. In der Wahl der Mittel, um den Denunzianten vor der öffentlichen Meinung schwarz zu färben, ist die Entrüstungsliteratur nicht eben peinlich. Übertreibungen gehören noch zu den gelindesten Kunstgriffen; der Pflicht, die Dinge von allen Seiten zu betrachten, überhaupt der Gerechtigkeitspflicht hält man sich in diesem Falle für überhoben; man huldigt allen Ernstes dem Grundsatz, den ich privatim oft habe aussprechen hören, es könne gar nichts schaden, wenn man, um den Zweck zu erreichen, den Zustand schwärzer male als er in der Tat sei; gut wäre er jedenfalls nicht. Also nicht Aufklärung, sondern grelle Fackelbeleuchtung mit möglichst dunklen Schlagschatten zeigen solche Gemälde. Dieselbe »Wahrheit« zu nennen, ist jedoch angenommene Regel.
Charakteristisch für die Entrüstungsliteratur ist ihre Willkürlichkeit, Launenhaftigkeit und Zufälligkeit in Hinsicht auf den Gegenstand der Entrüstung. Man geht nicht etwa darauf aus, das menschliche Unglück planmäßig zu erforschen und die Nachforschungen über sämtliche Länder der Erde gleichmäßig auszudehnen, damit das Unerträglichste gebessert werde. Nein: die himmelschreiendsten Verhältnisse können jahrzehntelang ungestört fortbestehen; plötzlich zündet jedoch irgend ein Angelsachse, dem es gerade beliebt, in irgend einen Winkel, der vielleicht keineswegs der schlimmste ist, und nun soll die ganze Welt gerade darüber und einzig darüber auf sein Kommando in Aufregung geraten. Es handelt sich, wie mir scheint, hauptsächlich darum, daß von Zeit zu Zeit etwas an der großen Glocke hange, wogegen ich nichts einzuwenden habe, wenn nur der Gehängte der richtige ist, wenn die Glocke den reinen Ton und der Pendelschwinger jedesmal den einem Übelstande angemessenen Schwung bewahrt. Oft hängt indessen eine Mücke am Schwengel, während unten ein paar Elefanten behaglich grasen. Manchmal tönt auch die Glocke bedenklich wie eine große Trommel, und der Glockenzieher sieht mitunter einem Marktschreier verwünscht ähnlich.
In dieser Willkürlichkeit und Zufälligkeit lassen sich gleichwohl gewisse leitende Grundgesetze erkennen: heimische, also englische oder amerikanische Zustände eignen sich nicht für eine Entrüstung; wer sich hier im Stoff vergreift, dem wird auf die Finger geklopft. Dagegen bietet der Orient immer eine unerschöpfliche Fülle von dankbaren Motiven. Ferner: gegenüber kleinen oder finanziell oder militärisch schwachen Ländern gedeiht ein Entrüstungsfeldzug ungleich besser als gegenüber einem Großstaate. Über Zustände politisch befreundeter Großstaaten entrüstet man sich nicht. Entrüstungskampagnen haben stets einen politischen Hintergrund, so diejenigen des türkenfeindlichen Gladstone über Bulgarien, auch jetzt wieder, diejenige des radikaldemokratischen Kennan über Sibirien. Eine mit politischen Hintergedanken gespickte Humanität aber ist weder eine reine noch eine ganze Humanität. Sie hört nur mit dem linken Ohr, auf dem rechten ist sie stocktaub. Mit dem linken Ohr aber hört sie, was ihr in den politischen Kram paßt, schon zum voraus.
Noch ein anderes Merkmal, welches, wie ich hoffe, denjenigen, der um des sogenannten edlen Zweckes willen alle entstellenden Fehler der Entrüstungsliteratur entschuldigen möchte, zu einigem Nachdenken veranlassen wird: der Entrüstungsmacher selber teilt selten die optimistischen und etwas naiven Hoffnungen seines Publikums hinsichtlich der Wirksamkeit seiner Enthüllungen, also des Druckes, den eine aufgeregte öffentliche Meinung auf die Zustände eines fremden Landes ausüben könne und werde. Nehmen wir Herrn Kennan. Ein Schriftsteller, der selbst dem Leser meldet, der Grund alles Übels in den sibirischen Gefängnissen sei der, daß die Gelder, welche die Regierung zur Erstellung neuer Gefängnisse schicke, von dem Beamtenheer gestohlen werden, der ferner das ganze russische Regierungssystem, das heißt den Absolutismus, anklagt, der endlich in nackten Worten als einziges wirksames Korrektiv eine freie parlamentarische Verfassung in Rußland hinstellt, kann doch unmöglich hoffen, mit einem Buch, ein paar Entrüstungsmeetings und einem Haufen Zeitungsartikeln etwas Praktisches zu wirken. Oder meint vielleicht Herr Kennan, da die Sache so pressiert, bis zur russischen Verfassung den Zaren provisorisch durch eine anglo-amerikanische Humanitäts-Aktienkompagnie zu dirigieren? Oder etwa durch eine Konsularpfuscherei, wie ein geduldiges Balkanstädtchen? Also, deutlich, ernsthaft und scharf gefragt: hegt Herr Kennan die leiseste Hoffnung, daß Rußland in allernächster Zeit eine freie parlamentarische Regierung erhalte?
Die Antwort lautet: Nein. Dann ist aber auch Kennans Buch kein ernstgemeinter Versuch, die Lage der russischen Gefangenen tatsächlich zu verbessern und mit dem Wohltätigkeitscharakter des Werkes und des Verfassers ist es vorbei.
»Es ist doch immerhin sehr schön, wenn es auch gänzlich unpraktisch sein mag,« wird vielleicht ein Leser ausrufen. Ich antworte: es ist leider sehr praktisch und gar nicht schön. Etwas sehr Schönes, das gänzlich unpraktisch ist, bestrebt sich nicht mit dieser Hast, »die öffentliche Meinung der ganzen gebildeten Welt aufzurütteln« und möglichst »schnell« den ersten Band »vermöge eines geringen Preises dem großen Publikum zugänglich zu machen«, wenn zum voraus feststeht, daß die Aufrüttelung umsonst ist. Etwas sehr Schönes, gänzlich Unpraktisches jagt auch nicht, nachdem die erste Entrüstung den Herrn Verleger genötigt hat »in Zeit von vier Monaten vier Auflagen drucken zu lassen«, eine »neue Folge« von Entrüstung nach, als handle es sich um ein zweites Heft ungarischer Tänze. Diese Hast hat vielmehr eine verwünschte Ähnlichkeit mit dem äußerst praktischen Eifer, den eine Bandfabrik entwickelt, wenn ein Artikel einen Winter lang in der Mode ist.
Jedem Dinge dient seine Entstehungsursache als die beste Erklärung. Ich will dem Leser einfach melden, in wessen Dienst und Auftrag Herr Kennan seine Instruktionsreise nach Sibirien angetreten hat: Er ist von einem amerikanischen Zeitungsverleger als Reporter auf Zeitungskosten nach Sibirien spediert worden. Ich weiß nicht, ob das sehr schön ist, praktisch ist es ohne Zweifel. Geniale Erfindungsgabe kann man der amerikanischen Presse nicht absprechen. Nachdem sie uns einen Entdecker geschenkt, beschert sie uns jetzt einen Enthüller. Um aber der Gefahr vorzubeugen, daß wir nächstens einen Heiland auf Zeitungskosten über den Ozean spediert erhalten, will ich mich die Mühe nicht verdrießen lassen, ausführlich nachzuweisen, daß die philanthropische Reporterstimme des Herrn Kennan im Grunde nichts anderes singt, als den trauten, allbekannten, ewig von neuem das Herz erfrischenden Yankee-Doodle.