Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Zur Ästhetik des Tempos

Ich mag mir noch so eifrig das Gegenteil zureden, so oft ich das Champagnerlied im Don Juan höre, drängt sich mir jedesmal das nämliche Urteil auf: das Lied fliegt nicht, sondern stürzt, es hat nicht Feuer, sondern Hast. Ähnliche Beispiele eines überhetzten Kompositionstempos, welches an dem Hörer vorüberjagt, ohne ihn mitzureißen, ließen sich in Menge finden, am häufigsten in der Coda der instrumentalen Finale, wenn der Komponist nach Erschöpfung sämtlicher Mittel behufs eines letzten durchschlagenden Effektes sein Heil im Presto sucht. Ich wage es z. B. das as-dur-Presto im Finale der Appassionata und das Schlußprestissimo im Rondo der c-dur-Sonate op. 53 hierher zu zählen, überhaupt die meisten Prestissimo, welche höchst selten erreichen, was sie erstreben, namentlich dann nicht, wenn sie einfach ein bereits gegebenes Motiv beschleunigen. Denn Beschleunigung bedeutet Eile, nicht Schnelligkeit. Wie man ein Presto zur vollen Tempowirkung bringt, das empfand jener Meister am sichersten, welchem eine kindische Sage altväterliche Behäbigkeit nachredet: Haydn. An ihm ist das Presto zu studieren.

Ich habe da eine schwierige Frage aufgeworfen und maße mir nicht an, sie einigermaßen hinreichend zu beantworten. Das Wenige jedoch, was ich gefunden oder geahnt zu haben glaube, gestatte ich mir mitzuteilen, in der bescheidenen Meinung, hiermit eine Anregung zu bieten.

Das kompositorische Feuer des Tempos setzt als erste Bedingung voraus, daß der Takt gespürt werde, innerhalb dessen sich der Rhythmus bewegt. Der Takt aber bezieht seine Wirksamkeit aus dem Pulsschlag des Menschen. Was daher den Pulsschlag und hiermit die Nerven anregt, das wirkt anfeuernd: Das Marschtempo, der Tanzrhythmus, der Galopp, der Sechsachteltakt, die punktierte Note, die Triolenfiguren, die spannende Pause, der Gegenrhythmus, die Betonung des schlechten Taktteils, die Vorschläge der Begleitung vor Beginn des Themas und ähnliches.

Zweitens setzt kompositorisches Feuer voraus, daß der Takt die gesamte Partitur mitreiße, nicht etwa bloß eine einzelne Stimme. Auch die größte Schnelligkeit einer einzelnen Stimme beschleunigt ja das Tempo nicht um den kleinsten Pulswert, wie wir aus den 64stel Passagen eines Adagio, oder aus den Bravourfiguren der Variationen entnehmen können. Ja, die rasendsten Läufer können sogar einem Ruhepunkt zufallen, und zwar ohne ihn zu beeinträchtigen; im Gegenteil sie markieren sogar die Gesamtruhe noch deutlicher. Umgekehrt kann eine getragene schwerfällige Obermelodie die Geschwindigkeit eines Sturmes erreichen, wenn die Gesamtpartitur, welche die Oberstimme trägt, leidenschaftlich aufgewühlt wird. So z. B. das Nationallied am Schluß der Jubelouvertüre.

Drittens kommt in Betracht, ob ich die Noten eines Motivs als Viertel oder Achtel oder Sechzehntel empfinde: alla breve oder alla grande. (Sagt man übrigens alla grande?) Es nützt nichts, daß der Komponist ein Presto in Vierteln schreibt, wenn der Hörer in seiner Empfindung die Viertel in Achtel halbiert; denn damit halbiert er auch sofort das Tempo, wodurch statt Spannung der Schnellkraft Gemütlichkeit entsteht.

Unter welchen Umständen aber empfindet der Hörer ein Tempo alla grande und unter welchen Umständen alla breve? Neben dem Takt der Begleitung kommt hierfür ohne Zweifel auch der Charakter des Themas in Frage. Es gibt, wie jedermann weiß, feurige und schläfrige Themen. Allein es gibt auch Themen, die feurig sein möchten, aber trotz aller Hast und Unruhe nicht zünden. Das geschieht z. B. dann, wenn das Thema sich auf den Intervallen des gebrochenen Akkordes bewegt, mit anderen Worten, wenn es sich nicht genügend diatonisch schlängelt. Variationen über den gebrochenen Akkord können unmöglich Feuer schlagen, mögen auch Komponist und Sänger oder Spieler noch so leidenschaftliche Gebärden ausführen. Das Thema des Champagnerliedes aber ist der gebrochene Akkord, darum wird es trotz allem Blasen niemals brennen.


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