Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Vom sittlichen Standpunkt in der Kritik

Das ist nun wieder einmal ein liebliches Schauspiel: Ein Teil der Schriftsteller den andern als Schweine exkommunizierend, und der zweite Teil den ersten als lüsterne, verbuhlte Greise den Damen empfehlend. Nachher verlangt man Achtung vor dem Schriftstellerstand.

Ich weiß nicht, wer angefangen, aber ich erkundige mich angelegentlich danach, wer endlich den guten Geschmack haben werde aufzuhören. Wenn ich indessen nicht falsch benachrichtigt bin, soll im Gegenteil der Spektakel erst recht beginnen, da, wie es scheint, wohltätige Vereine sich im Namen der empörten Sittlichkeit der Literatur annehmen wollen, in Form eines Kreuzzuges gegen eine Gruppe der modernen Schriftsteller.

Das Opfer ist diesmal zufällig eine Fraktion, welche weder durch Beliebtheit, noch durch Ruhm und Ansehen geschützt ist, eine Fraktion, welche überdies ihre etwas grünen Talente hauptsächlich dazu verwertet, ihren Kollegen das Leben sauer zu machen. Es liegt also für die übrigen Schriftsteller die Versuchung nahe, sich vergnügt die Hände zu reiben und der sittlichen Koalition Gruß, Segen und Waffen zu spenden. Um so mehr erachte ich den Anlaß für gegeben, ein ernstes Wort der Warnung auszusprechen, und da ich mich von jeher als einen ästhetischen Gegner der in Frage kommenden Gruppe bekannt habe, darf ich hoffen, daß meine Warnung gehört werde.

Ich halte die Politik, sich eines literarischen Gegners, sei er wer er wolle, mittels des Pfarrers oder des Staatsanwaltes oder des öffentlichen Instinktes zu erwehren, für eine leichtfertige. Thebaner und Athener mögen einander bekämpfen, nur sollen sie nie und nimmer Philipp von Mazedonien zu Hilfe rufen. Philipp von Mazedonien aber bedeutet für den Schriftsteller jede Macht, welche literarische Werke von einem andern Standpunkt beurteilt, als dem literarischen, trage sie auch den allerehrwürdigsten Namen. Solch ein Übergriff geht auf Umwegen jeden einzelnen von uns an, und die erbittertsten Feinde müssen sich zusammenschließen, um dagegen im Namen der Literatur und der Standesrechte einstimmig Verwahrung einzulegen.

Das möchte man nun freilich nicht zugeben; man wähnt durch die Einmischung einer so erlauchten Person, wie die Sittlichkeit, die »wahre« Freiheit nicht gefährdet; man fühlt sich im Bewußtsein seines eigenen Anstandes davor sicher, daß man etwa auch einmal an die Reihe komme. Ich aber behaupte, es ist kein Schriftsteller, der es ernst und gewissenhaft mit der Kunst meint, und wäre er von mädchenhafter Schamhaftigkeit, davor sicher, eines Tages plötzlich auf Grund eines seiner Werke in sittlichen Verruf erklärt zu werden; keiner, auch der größte nicht; auch nicht ein solcher, den man dereinst der Nation als sittlichen Erzieher predigen wird. Wenn ich daran erinnere, daß sogar Gottfried Keller mit Sittlichkeit begeifert wurde, und zwar wegen seines seelenvollsten Werkes (Romeo und Julia), brauche ich wohl keine andern Beispiele anzuführen. Und falls sogar einer es absichtlich darauf anlegte, nur ja keinen Anstoß zu geben, falls er sein Lebtag für zwölfjährige Mädchen schriebe, so würde es ihm doch nichts helfen. Denn in diesem Falle könnte man ihm ohne große Mühe »schlau verhüllte Lüsternheit« nachweisen.

Die Erscheinung hat nicht nur ihre Ursache, sondern ihren guten literarischen Grund; und zwar einen doppelten.

So lange die Welt steht, so lange wird, wer sich zu realistischen Stoffen und realistischer Darstellungsweise bekennt, wer den Humor, wer die Satire pflegt, den Zynismus schwerlich entbehren können. Der Zynismus kann auf diesem Gebiete nur mit Schaden an Leib und Seele vermieden werden, wie denn ein zimperlich prüdes Hosenzeitalter das Gedeihen von Meisterwerken dieses Stils geradezu vereitelt. Wer also in literarischen Werken Zynismen bringt, ist deswegen noch kein Schwein, sonst wäre Shakespeare ein Schwein, und Goethe ein Schwein, und Schiller ein Schwein, und überhaupt die Literatur ein Schweinestall. Das ist jedoch noch nicht alles. Bekanntlich hat der moderne Realismus die Wahrheit in mannigfacherem Sinne sich zum Gesetz gemacht, als das jemals früher der Fall war, indem er die Wahrheit nicht bloß als Mittel, sondern als oberstes Ziel hinstellt. Ob das richtig oder ob es falsch sei, kommt hier nicht in Betracht; das ist eine rein literarische Angelegenheit, welche mit der Moral nichts zu tun hat. Ist aber einmal buchstäbliche Wahrheit als Kunstziel angenommen, dann steht es dem einzelnen Verfasser, der sich zu diesem Glauben bekennt, nicht frei, wichtige Hauptabschnitte der Wahrheit um äußerer Rücksichten willen zu überspringen; der Kritik wiederum steht es nicht zu, ihn deswegen zu tadeln, weil er tut, was ihn seine literarische Überzeugung tun heißt. Ein solcher Hauptabschnitt nun ist das Geschlechtsleben mit seiner seelischen Projektion, dessen Wichtigkeit zu leugnen bloß die Einfalt oder die Heuchelei vermag. Handelt es sich freilich um einen realistischen Freskostil, dann kann wohl dieses Thema vermieden werden, wie z. B. im Drama. Hat man es dagegen mit zergliedernden Seelenschilderungen zu tun, wie im Roman, so sehe ich das Mittel nicht ein, wirklichkeitsgetreu darzustellen, ohne jungen Mädchen Anstoß zu geben. Mit ebensoviel Recht wie von dem realistischen Roman könnte man von einem physiologischen oder pathologischen Lehrbuch fordern, daß es nichts »Unanständiges« enthalte. Warum soll ich meine Überzeugung nicht rückhaltlos aussprechen? Ich rechne es einem naturalistischen Romane zum Fehler an, wenn er um des lieben Anstandes willen der Wahrheit ein Feigenblatt umbindet. Man schreibt zwar in der Literatur nicht allein für Männer, aber ebensowenig allein für Weiber. Man schreibt für die Nation und womöglich für die Welt. Eine Nation aber ist die Summe des Geistes sämtlicher ausgezeichneter Männer und Weiber. Wer will sich nun vermessen, diesen Geist polizeilich-pädagogisch zu bevormunden? Und wer in aller Welt soll denn die ungeschminkte nackte Wahrheit erfahren, wenn nicht er? Soll eine ganze Nation mit einem Scheuleder von der Wiege zum Grabe pilgern wie ein Mädchenpensionat hinter einer Gouvernante? Jeder kann lesen oder lassen, was er will; aber ein Künstler kann nicht schreiben, was man will, sondern was er muß. Falls daher ein Schriftsteller im Namen der Wahrheit etwas Anstößiges schreibt, so lautet die Frage billiger- und einfacherweise: ist das Anstößige wahr oder nicht; oder, vom Schweinestandpunkte betrachtet: ist die Wahrheit ein Schwein oder nicht? Wenn ja, dann möge man sich über die Wahrheit beklagen, nicht über ihren Berichterstatter. Dies schreibt jemand, welcher persönlich an einer wahren Idiosynkrasie gegen jede Zote leidet; welcher Rabelais nicht zu lesen vermag, weil ihn das koprologische Bombardement anekelt. Solch einen klassischen Stinkkäfer verschluckt jedoch die Kritik wie Konfiture, mit ehrerbietigen Bücklingen; dagegen die Modernen, welche sich zu Rabelais verhalten wie weiße Firmelkinder zu einem alten Fechtmeister, verhetzt man wegen einiger Unziemlichkeiten. Man nennt dergleichen Literaturgeschichte; ich nenne es Mückenseigen und Elefantenverschlucken; daß die Opfer es Heuchelei nennen, kann ich tadeln, aber nicht schelten.

Das ist eine Seite. Nun die andere.

Ebenso scharf wie boshaft haben die Naturalisten aus ihrem Verrufswinkel die sittliche Blöße des Gegners ausgespäht. »Schlauverhüllte, versteckte Lüsternheit,« lautet von dieser Seite der Vorwurf. Versteckte Lüsternheit in Heyse, in Baumbach, in Julius Wolff, in Marlitt, versteckte Lüsternheit in dem züchtigsten Familienroman. Ich bestreite das nicht, ich ergänze bloß: versteckte oder auch nicht versteckte Lüsternheit in Homer, in Herodot, in Horaz, in Ovid, in Ariost, in Tizian, in Correggio, in Rubens. Man befindet sich da jedenfalls in beneidenswerter Gesellschaft. Ich fahre fort: versteckte und offene Lüsternheit in der ganzen französischen Kultur, versteckte und offene Lüsternheit ganz besonders in der gesamten griechischen Welt. Ich schließe: unverhüllte Lüsternheit von Lessing in nüchterner Abhandlung befürwortet. Die erlauchten Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren; doch ich denke, das genügt. Wäre ich ein Philosoph, so wollte ich mich anheischig machen, den Beweis zu führen, daß die »versteckte Lüsternheit«, das will sagen: die Formsinnlichkeit oder Feinsinnlichkeit oder Schönsinnlichkeit einer der edelsten und heiligsten Hebel erstens der Kunst, zweitens der Kultur, drittens der kosmischen Fortentwicklung bedeutet, daß Phantasie und Ideal mit der Formsinnlichkeit zusammenhängen, wenn sie nicht gar in ihr wurzeln, daß wir uns ohne die Beimischung dieses nervös-sensitiven Elementes noch heutzutage statt der Serviette oder des Tintenwischers unseres eigenen Affenringelschwanzes bedienen würden. Da ich jedoch kein Philosoph bin, halte ich mich an die Beobachtung. Ich habe aber beobachtet, daß die höchsten Geisteskulturen der europäischen Nationen ausnahmslos einen starken sinnlichen Zug aufweisen, daß sogenannte Künstlernaturen eminent sinnliche Naturen zu sein pflegen, daß Idealisten vermöge ihrer Religion der formalen Schönheit sich von der Schönheit weiblicher Formen leichter die Phantasie betören lassen als andere, namentlich als solche, welche überhaupt keine Phantasie haben. Und die Naturalisten, die mit ihren Destillierapparaten so eisengrimmig auf jeden Schatten eines Funkens von versteckter Lüsternheit Jagd machen, sind sie denn selber in ihren Schriften von Lüsternheit frei? Nicht, daß ich wüßte. Ich habe bloß bemerkt, daß sie im Namen der Kraft und der Wahrheit die Sinnlichkeit mit Gestank parfümieren, was die Sache vielleicht besser, aber nicht anders macht.

Die Doppelgleichung lautet mithin: Im Heerlager der Wahrheit werden wir selten die Unanständigkeit, im Lager der Schönheit selten die »schlau verhüllte, versteckte Lüsternheit« abwesend finden. Es tut mir aufrichtig leid, daß es so ist, aber es ist so.

Was nun?

Nun, ich will einfach eine bescheidene Tatsache mitteilen. Seit ich Kritik übe – und ich übe sie öfter als zu meinem Privatwohlbefinden nötig wäre – habe ich mir zum Gesetz gemacht, niemals, unter keinen Umständen, ein Buch als unsittlich zu denunzieren. Dieses Gesetz habe ich bis jetzt gehalten und ich bin wohl damit gefahren.

»Aber um Gottes willen, man kann doch wahrhaftig nicht –!«

Ich bitte um Verzeihung, man kann.

»Ja, aber um Himmels willen, was fangen Sie denn an, wenn Sie ein Buch zugeschickt bekommen, das von Unsittlichkeiten strotzt?«

Ich beurteile es nach seinen literarischen Eigenschaften.

»Ohne auf den Skandal hinzuweisen?«

Ohne nach Philipp von Mazedonien zu rufen.

»Sie ignorieren also vollständig –«

Verzeihen Sie, ich ignoriere nicht, ich richte sogar; nur leihe ich, wenn ich meinen Spruch petschiere, nicht den Siegellack vom Pfarrer oder von der Polizei. Das Geheimnis beruht einfach in folgendem: Besteht ein Buch aus lauter Lüsternheiten oder Unflätereien, so ist es auch ein ästhetischer Schund; bringt ein Verfasser unnützerweise etwas Anstößiges, so ist das zugleich ein stilistischer Fehler und so weiter. Wollen Sie Beispiele? Nehmen Sie Wieland. Wieland ist lüstern und – langweilig. Ich könnte Ihnen statt Wielands auch allerlei Beispiele aus der neuesten Literatur vorführen und jedesmal würden Sie finden, daß Gratiszugaben von Unflätereien oder Buhlereien stets gleichzeitig ein Werk literarisch beeinträchtigen.

»Und Sie glauben wirklich, es wäre genug, den Fehler als einen literarischen bloßzulegen?«

Ich glaube sogar, es sei mehr, als was man durch jede andere kritische Methode erzielt.

»Fürchten Sie nicht, ein bißchen – frivol zu sein?«

Ich fürchte niemals frivol zu sein, indem ich der Kunst diene; denn die Kunst ist mir heilig.

Wie gesagt, das ist eine einfache, bescheidene Tatsache, die ich meinen werten Kollegen in der Kritik zur Prüfung unterbreite. Was mich betrifft, so bin ich in meinem Grundsatze durch die Beobachtung, wohin die übrigen Wege führen, je länger desto mehr bestärkt worden. Sie führen nämlich dorthin:

Im besondern:

Daß es sich komisch ausnimmt, wenn der sittliche Schweinehändler eines Morgens selber als Schwein verkauft wird, was ihm unversehens widerfahren kann und was ich ihm von Herzen wünsche.

Im allgemeinen:

Erstens, daß man die literarische Freiheit unkünstlerischen Mächten gebunden ausliefert, von deren Gewalttätigkeit man sich das Schlimmste zu versehen hat, da sie einst sogar einen Phidias und Euripides, einen Lessing, Schiller und Goethe im Namen der gefährdeten Sittlichkeit und Religion angefochten haben. Zweitens, daß man sich vor der Nachwelt unsterblich lächerlich macht, falls einem das Unglück begegnet, einen Sünder unter die Hände zu bekommen, der später als Meister erkannt werden wird.


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