Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Unsere Sommermusik

Es muß wohl keine kleine Anstrengung kosten, sich einen Winter über europäisch zu betragen. Zu dieser Ansicht werde ich gezwungen, indem ich beobachte, wie die Menschheit des Sommers mit fieberhafter Angst zu den Ziegen und Kühen flüchtet und vor jedem ganzen Überrock, vor jedem guten Buch, vor jeder edlen Musik einen nervösen Abscheu bekundet. »Um Gottes willen, nur jetzt nichts mehr davon! wir wollen uns erholen!« Ein Bedürfnis, sich von der Zivilisation zu erholen, klingt mir etwas verdächtig. Doch ich verstehe: die Ärmsten sind übersättigt. »Jawohl übersättigt! übersättigt bis zum Überdruß, bis zum Ekel!« Falls ich mir aber im Winter den bescheidenen Rat erlaube, man möge sich doch nicht so unbarmherzig übersättigen, so heiße ich ein Barbar. Demnach scheint es zur Kultur zu gehören, während der einen Hälfte des Jahres sich die Seele zu überladen, um dann während der anderen Hälfte Brechmittel dagegen zu gebrauchen, die man mit dem sentimentalen Namen »Natur« überzuckert.

Wie dem übrigens sei, die jämmerliche Frühjahrsstimmung erklärt mir die Programme unserer sommerlichen Garten-, Bade- und Promenadenkonzerte; diese sollen einen musikalischen Heringssalat bedeuten, in welchem jedes Häcksel willkommen geheißen wird, vorausgesetzt, daß es übel rieche. Und man darf in der Tat unsern Gartenmusikzetteln den Ruhm lassen, daß sie diese Aufgabe leidlich erfüllen. Sehen wir uns einmal das Rezept derselben an:

Vor allem laß eine Trompete aus Säckingen kommen, verstecke sie ungefähr fünfundzwanzig Schritt vom übrigen Orchester entfernt in ein Gebüsch und überlasse sie ihrem Schicksal, bis sie vor Heimweh erbarmungswürdig zu klagen beginnt – Daneben halte eine Flöte in Bereitschaft, um mit ihr den Himmel zu stürmen und eine Klarinette, für den Fall, daß sich Weltschmerz einstellen sollte. – Gänzlich unentbehrlich sind natürlich einige Potpourris, von welchen die wohlfeilsten sich gewöhnlich als die tauglichsten erweisen werden. – Hierauf nimm eine Handvoll musikalischer Rülpser, bei jedem Kapellmeister billig erhältlich (unter dem Namen von »Schützenmarsch«, »Sängermarsch«, »Turnermarsch«, »Festgalopp«, »Studentengalopp«, »Husarengalopp«, »Amalienpolka«, »Elisenpolka«, »Mathildenpolka« oder auch »Harlekinpolka« zu verlangen), und wirf sie in das Programm, je mehr desto besser. – Hast du das getan, so presse ein halb Dutzend geschwellte Kuhreigen, gedämpfte »Rêveries«, im Wasser abgekochte »Souvenirs de Teplitz« und eingeweichte Volkslieder, von welchen jeder stets einen großen Vorrat haben sollte, und drücke und quetsche sie so lange, bis Krokodilstränen herausfließen. Rühre dieselben tüchtig um. – Bist du damit fertig, so schneide den Teig mit dem Messer in zwei gleiche Teile und stecke in jede Hälfte eine Ouvertüre, um dem Kuchen einen Halt und ein Ansehen zu geben, und du hast ein Programm, mit welchem du dich vor keiner Gesellschaft zu fürchten brauchst.

Dagegen habe ich nur eine einzige Einwendung zu erheben. Es lassen sich immerhin Menschen denken, welche ihren Geschmack nicht aus dem Kalender beziehen, sondern im Juli eine instrumentale Beleidigung ebenso empörend finden, wie im Dezember. Ist es nun billig, diese, wie wenig zahlreich sie auch sein mögen, aus dem schönen grünen Garten hinauszuschämen? Sollte man ihnen, die doch nichts verschuldet haben, nicht gleich den anderen ihr Plätzchen im Freien gönnen? Ich hege so viel Zutrauen zu dem Wohltätigkeitssinn der Menschen, daß ich überzeugt bin, unsere Sommerkonzertdirigenten würden Programmen, welche gleichermaßen den musikalischen wie den unmusikalischen Teil der Zuhörer befriedigten, bereitwillig ihre Zustimmung gewähren, wofern man ihnen nur eine Andeutung geben könnte, wie das zu erreichen sei. – Ist das aber wirklich so schwierig? Ich glaube: nein. Es bedarf nur der Ermittelung dessen, was jede der beiden scheinbar so verschiedenartigen Gruppen des Publikums begehre und verabscheue. Der wahrhaft musikalische Mensch sucht in der Musik das Schöne, gleichviel in welcher Form oder Stilart oder Gefühlssphäre dasselbe erscheine, und welchen Namen es trage; umgekehrt verabscheut er leidenschaftlich alles Häßliche, Mittelmäßige und Platte, handle es sich nun um eine Plattheit in dur, das heißt Frechheit, oder um eine Plattheit in moll, das heißt Rührseligkeit. Der unmusikalische Mensch dagegen bewegt sich mit seiner Sympathie und Antipathie außerhalb der ästhetischen Sphäre; nicht die Begriffe »schön« und »unschön«, oder »edel« und »gemein« dienen ihm zum Urteil, sondern die unbestimmten Eindrücke des »Gefälligen« und des »Langweiligen«. Damit ihm aber ein Stück »gefalle«, muß dasselbe neben dem musikalischen Wert, den er ja nicht zu verspüren vermag, noch eine direktere Beziehung zu seiner Persönlichkeit enthalten, sonst »langweilt« es ihn. Eine solche Beziehung kann auf doppeltem Wege stattfinden. Entweder die Musik spricht ihm an das »Gemüt«, mit anderen Worten, sie führt die Gebärden einer Melodie aus, einerlei, ob einer abscheulichen oder einer wunderbaren, – oder sie packt ihn an den Nerven, das heißt sie macht ihn durch aufregende Rhythmen jucken, gleichgültig, ob himmlisches Feuer den Rhythmus beseele oder ob Pauken und Trompeten in rohester Weise den Takt verüben.

Nun liegt an und für sich weder eine rührende Melodie noch ein packender Rhythmus außerhalb dem Gebiete der Schönheit; es ließe sich daher denken, daß nach beiden Seiten hin eine Vermittlung auf die einfachste Weise, nämlich durch die bloße Auswahl der einzelnen Stücke innerhalb der Schranken des Schönen mit Leichtigkeit gefunden werden könnte. Allein in der Wirklichkeit erweist sich die Forderung »rührender« Melodien als eine höchst bedenkliche, weil sich nirgends in der Kunst die vornehme Gesinnung von der gemeinen unversöhnlicher scheidet, als in Sachen des »Gemüts«. Ein triviales, gedunsenes, zudringliches Rührstück ist jederzeit eines (aus dem Gefühl stammenden) begeisterten Beifalls der Mehrheit sicher, während die musikalische Minderheit Höllenpein dabei aussteht. Hier ist also die äußerste Vorsicht ein Gebot der Nächstenliebe.

Günstiger verhält es sich hinsichtlich des Rhythmus. Hier lassen sich ohne Mühe Hunderte von Musikstücken finden, welche nicht minder den naivsten Zuhörer, als den gebildetsten Musiker entzücken: ich meine die echten, charakteristischen Tänze und Märsche, mögen diese nun einen gesellschaftlichen oder nationalen Ursprung haben, mögen sie aus klassischen Kompositionen oder aus dem »Volk«, das heißt von unbekannten Verfassern stammen. Eine Tarantella, ein Czardas, ein Bolero, eine Guarrache, eine echte Polka oder Mazurka, ein ungarischer Marsch, eine Polonaise, ein Menuett oder eine Gavotte usw. sind von der einfältigen Unruhe im Zwei- und Dreivierteltakt, die wir mit dem Namen »Tanz« und »Marsch« beehren, wesentlich verschieden. Jene enthalten wahre Offenbarungen der Schönheit, diese – nicht. Was für herrliche Programme ließen sich ganz allein aus dem genannten Material herstellen! Über die Polka und Mazurka im besonderen sollte einmal ein eindringliches Wort gesprochen werden. Es ist ein Jammer, wie jene schwungvollen Tänze in Komposition und Spiel mißhandelt werden. Warum nimmt man nicht die klassischen Vorbilder aus dem »Leben für den Zaren« zum Muster? Warum vor allem läßt man sie nicht hören? Wir würden dadurch wahrscheinlich der Sündflut der verwässerten Polken und Mazurken ledig, und unsere Klavierspieler würden vielleicht Chopin unmittelbarer, instinktiver fassen.

Mein Vorschlag will bloß einen Versuch bedeuten. Die Dringlichkeit aber begehre ich für meinen im Namen aller musikalischen Menschen gestellten Antrag, man möge doch in den sommerlichen Gartenkonzerten dem Geschmack der Minorität einige Rücksicht tragen. Die heutige Regel lautet: viel Gemeines – für das »Volk«, dazwischen einiges Edle – für die wenigen. Diese Regel jedoch ist feig und grausam. Ich schlage eine andere vor: Lustiges, Fröhliches, Heiteres, so viel man will, aber unter keinen Umständen etwas Gemeines, sei es frech oder rührend. Wir dulden nicht, daß man die Bänke besudle; wir brauchen es auch nicht zu leiden, daß uns aus einem heimtückischen Kiosk musikalischer Unrat in die Ohren geworfen werde.


 << zurück weiter >>