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Es ist richtig, daß Geist nicht Poesie ist, noch Poesie verbürgt, noch Poesie ersetzt. Es ist gleichfalls richtig, daß man sich eine Poesie, die des Geistes und des Gedankens entbehrt, vorstellen kann, also z. B. Gefühls- und Stimmungspoesie. Es ist wiederum richtig, daß oberflächlich spielender, also frivoler Geist dem Dichter und seinem Werk nicht wohl bekommt, worin es z. B. Wieland übel versah. Es ist endlich mehr als richtig, es ist eine tiefe Wahrheit, daß scheinbare Torheit, dem naiven kindlichen Gemüt entsprießend, eine der köstlichsten Erscheinungsformen der heiligen Seele sind. Der reine Tor, der träumerisch durch die fremde Welt ins Glück tappende jüngste Sohn des deutschen Märchens, gehören zu den tiefsinnigsten Erfindungen der Dichtung, die für sich allein schon die erstaunliche poetische Begabung der Germanen beweisen würden.
Dagegen ist nicht minder wahr, daß die obersten größten Formen der Kunstpoesie Geist nicht bloß dulden, sondern strengstens erfordern, und zwar Geist in der höchsten Vollendung. Nur ein Geist ersten Ranges kann ein Dichter ersten Ranges sein; wie denn zu allen Zeiten die großen Dichter zugleich die großen Denker waren.
Ferner: ob auch die kleinen Formen, also etwa die liedmäßige Lyrik, theoretisch der Beihilfe von Geist und Gedanken nicht bedürfen, so gelingen selbst diese erfahrungsgemäß nur dem geistig Hochstehenden. Es braucht einen Goethe oder Heine oder Uhland, um die einfache, bescheidene Liedform sicher zu beherrschen, obwohl das Lied scheinbar mit dem Gedanken nichts zu tun hat. Es ist schwer zu sagen, warum es so ist; aber es ist so.
Aus Versehen freilich kann in einer schwachen Stunde wohl auch einem mittelmäßigen Geist, selbst einem Dilettanten, ein einzelnes, leidliches Lied gelingen, doch während seines ganzen Lebens keine zwei oder mehr. Solche aus Versehn gelungene Einmalkleinigkeiten mittelmäßiger Geister und schwacher Künstler nennt die Literatur Volkslieder.
Warum fallen denn neun Zehntel all der vielen Hunderte von glänzenden Talenten, die alljährlich (namentlich um Weihnachten herum) der Nation entdeckt werden, später in die Vergessenheit zurück?
Warum halten die vielversprechendsten, begabtesten Jünglinge als Männer so wenig?
Weil es ihnen entweder an Charakter oder an Geist fehlt, oder an beidem zugleich.
Was sodann unsern Widerwillen gegen Gedankenpoesie und die logisch geschärfte Diktion betrifft, so liegt hier ein nationaler Geschmacksbildungsfehler vor, der korrigiert sein will. Er beruht auf unvollkommener Entwicklung des Sprachgefühls und ausgeglichener Übung der Denktätigkeit. Die übrigen Nationen schätzen den Gedanken innerhalb der Poesie höher, schleifen demgemäß die poetische Diktion logisch schärfer. Denken Sie z. B. an die sophistische Dialektik der athenischen, die Antithesen der französischen Tragödie oder, wenn Ihnen das näher liegt, an die Spitzfindigkeiten Shakespeares.
Nunmehr der Geistesübermut und -überfluß oder, wie man sich wohl verächtlich ausdrückt, die Geistreichheit. Ja, geistreichsein ist nicht so wohlfeil, wie man sich's etwa vorstellt. Das ist weder eine angeborne Gabe der Natur, noch ein lernbares Gedanken-Taschenspielerkunststückchen. Nein, es ist die redlich erworbene Frucht lebenslänglichen ehrlichen Denkens. Erste Voraussetzung, um geistreich zu sein, ist, daß einer jeweilen die Zustimmung der ernsten Wahrheit habe. Hat er die nicht, so kann er zwar ein Witzbold, nimmermehr jedoch geistreich sein. Warum aber – möchte man vielleicht fragen – gibt einer nicht lieber die ernste Wahrheit einfach und ernst, als spielend? Nun, aus demselben Grunde, warum der Dichter nicht einfach seine Sätze in ernster, nüchterner Prosa ausspricht, sondern in klingenden Rhythmen und spielenden Reimen; mit einem Wort: aus Stilgefühl. Nicht um die Leser zu unterhalten, spricht ja der Dichter in Versen, sondern weil er seinetwegen nicht anders kann und darf; nicht, um jemand zu belustigen, wendet der Geistreiche die Wahrheit, die er bietet, auf die glänzende Seite, sondern weil er sich's selber schuldig ist.
Es ist wie die natürliche, schöne Bewegung einer feinen, seelischen Hand. Man könnte ja gewiß den nämlichen Gegenstand plumps mit grober Faust hinwerfen, die Gabe bliebe die nämliche. Die feine Hand jedoch kann nicht anders, als sie anmutig überreichen.
Schließlich will ich Ihnen zeigen, daß höchster Geist mit der größten Torheit (Torheit im poetisch-pathetischen Sinne) gar wohl in dem nämlichen Menschen vereint sein kann.
Es braucht nur einer seinen Zeitgenossen geistig überlegen zu sein, so ist er schon der reifste Tor.