Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Die Balletpantomime

Wer sich einmal gewöhnt hat, die menschlichen Einrichtungen in Kunst und Leben nach ihrer Zweckmäßigkeit und ihrem Eigenwert zu beurteilen, wird überall Seltsamkeiten und Widersprüchen begegnen, weil zufällige Ursachen und gläubige Befolgung eines einmal gegebenen Beispiels bestimmenden Einfluß bis in ferne Zeiten auszuüben pflegen. Der philosophische Denker spürt solche Ungereimtheiten hauptsächlich in den höchsten Gebieten des Menschengeistes; ich will jedoch an einem Beispiele zeigen, daß die Heiligung der Schablone durch Überlieferung sich selbst in den untergeordnetsten Gebieten geltend macht, daß wir merkwürdigerweise sogar solche Dinge, die niemand ernst nimmt, als unantastbar behandeln.

Ein hauptstädtisches Theater kündigt eine Balletvorstellung an. Was werden wir da erhalten? Wir wissen es im wesentlichen zum voraus: Ein Gymnasium von Trikots und kurzen Röcklein, farbenfunkelnde Aufmärsche, magische Verwandlungen, kaleidoskopische Szenenbilder, choreographische Evolutionen, geschniegelte Tänzer, welche als Korkzieher schraubenförmig in die Luft schnellen und mehr oder weniger schöne Damen, welche die Arme, mitunter auch die Beine über den Kopf erheben. Das alles verständigt sich untereinander mit Zeichen, in einer Geheimsprache der quergestreiften Muskeln, die wir nicht kennen, da sie leider nicht zu den Unterrichtsgegenständen der Schule gehört. Darunter aber braust ein volles Orchester, das alle Effekte der neuesten Instrumentation gewissenhaft ausbeutet.

Dazu erlaube ich mir eine Frage: Sind alle die Herren und Damen auf der Bühne taubstumm? Nein? Warum sprechen sie denn kein einziges Wort? Weil es nicht erlaubt ist. Wer hat es ihnen aber verboten? und was für eine entsetzliche Strafe erwartet die Übertretung des Verbotes, daß dieses so ängstlich beobachtet wird? Darauf wird wohl die Antwort schweigen müssen. Und jetzt gestatte ich mir eine zweite Frage: Gibt es ein possierlicheres Schauspiel in der Welt, als ein Publikum, das mit feierlichem Ernst eine Taubstummenoper anhört, wo aus einem Grunde, den keiner von ihnen kennt, statt des natürlichen Mittels der Sprache die Handlung durch Symptome des Blödsinns erklärt werden soll? Bedarf man etwa zur Erholung vom Konversationsstück die unumstößliche Gewißheit, daß heute ja kein Wort verlaute? Gut. Ist es jedoch zugleich nötig, den Eindruck zu erhalten, als wäre sämtlichen Personen die Zunge abgeschnitten worden? Diesen Eindruck aber zwingt uns eine sentimentale Intrige auf, bei welcher die Liebenden einander verzweifelt angestikulieren, auf Mund und Herz und Handsohlen zeigend und nach dem Himmel weisend.

Zwei verschiedene Dinge sind zu unterscheiden: der Tanz und die Handlung. Der Tanz bedarf natürlich keiner Worte, und will man das Ballet in unzusammenhängende Einzeltänze auflösen, so bin ich herzlich damit einverstanden. Dagegen widerspricht der Einfall, über einem Symphonieorchester eine Intrige mehrere Akte hindurch pantomimisch statt rezitierend verlaufen zu lassen, nicht allein der Vernunft, sondern auch, was wichtiger ist, der Musik. Dadurch wird nämlich der Komponist genötigt, sich zu einer himmelschreienden Gefühlsekstase für die nichtigsten Anlässe zu versteigen, damit er die szenischen Vorgänge annähernd verdeutliche, und die Balletmusik geht dabei ihres schönsten Vorrechtes, der frischen, mutigen Fröhlichkeit verlustig. Freilich hat Auber eine Stumme von Portici und Mozart einen Papageno mit dem Schloß vor dem Munde gestikulieren lassen, allein eine Liebschaft zwischen Papageno und Fenella, nebst einem obligaten Chor von aufgeregten Paralytikern durch mehrere Akte hindurch in Partitur zu setzen, dessen hätten sie sich wohl beide nicht unterfangen. Wahrlich, ich wundere mich nicht mehr über die Schwierigkeit, mit einem schöpferischen Gedanken in wichtigen Kunstangelegenheiten durchzuringen, wenn die Menschheit nicht einmal den Mut aufzubringen vermag, den heiligen traditionellen Unsinn einer Balletpantomime zu korrigieren. Die Balletpantomime mit samt ihrem manierierten Idealbeinstil ist ein Anachronismus; sie stellt ein Überbleibsel aus jenem steifen, petrifizierten Renaissanceklassizismus der Franzosen dar, den wir anderswo so scharf, ja allzu scharf verdammen. Wir haben den Tänzerinnen die altehrwürdigen Reifröcke gestutzt und nicht wenig: ich schlage noch einen kräftigen Schnitt in den Zopf vor.


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