Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Das Kriterium der epischen Veranlagung

Als Kennzeichen der epischen Veranlagung gelten mir: die Herzenslust an der Fülle des Geschehens, seien es nun Taten oder Ereignisse, die Freude am farbigen Reichtum der Welt, und zwar, wohlbemerkt, Reichtum der äußeren Erscheinungen, die Sehnsucht nach fernen Horizonten, das durstige Bedürfnis nach Höhenluft, weit über den Alltagsboden, ja über die Wirklichkeitsgrenzen und Vernunftschranken.

Wer dergleichen nicht ersehnt, wer nicht mit jungem Morgenmut auf Flügeln der Phantasie in die Welt hinaussprengt, neugierig, was ihm Frau Aventiure über den Weg jagen werde, der ist kein geborener Epiker.

Zur Kontrolle von der Gegenseite her, dient mir als sicheres Kennzeichen des Nichtepikers: die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse (also an psychologischen Problemen), an der Entwicklungsgeschichte des Helden, an der wohlmotivierten logisch-vernünftigen Erzählung. Der Epiker kann zwar charakterisieren, wenn er will, aber er kann es nicht auf die Dauer wollen, weil er auf andere Ziele, die ihm wichtiger scheinen, seinen Blick gerichtet hat. Er wird zwar gewiß nicht Andromache wüten lassen wie Ajax, aber er ist imstande, eine Hauptfigur durchaus in nebelhafter, schwankender Persönlichkeit zu liefern, ohne nur einen Versuch zur Charakteristik. So hat z. B. Homer mit der Helena getan, von der er selber nicht weiß, noch zu wissen begehrt, was er von ihr hält oder wie er sie auffaßt. Unbewußt und ungewollt charakterisiert wohl mitunter auch der Epiker, mit derselben Notwendigkeit wie ein Harmoniker, wenn er einen Choral komponiert, eine Melodie durch die Stimmenführung erzeugt, ob er will oder nicht will; aber die Charakteristik ist ihm niemals Hauptsache, ja nicht einmal eine wichtige Sache.

Gegen Psychologik verspürt der Epiker mehr als Gleichgültigkeit, nämlich Widerwillen; weil es ja das oberste Gesetz epischer Kunst ist, Seelenzustände in Erscheinung umzusetzen. Umständliche seelische Motivierung von innen heraus geschildert, würde also jedesmal in einem epischen Gedichte einen Fehler bedeuten. Dagegen solche äußere Erscheinungen zu erfinden, welche die seelischen Voraussetzungen im kürzesten und Allgemeinverständlichsten Bilde rückwärts erraten lassen, das ist der Triumph der Kunst in der Epik. Zwei Beispiele: Odysseus, wenn er beschimpft wird, macht nicht Seelenkämpfe vor den Augen des Lesers durch, sondern er schüttelt einfach das Haupt. Das zweite Beispiel möchte ich geradezu als Paradigma epischer Kunst hinstellen: Bei den italienischen Rolandepen kommt es einmal vor, daß, ich weiß nicht mehr welcher Held, ich glaube Rinaldo, nachdem er jahrelang sich um die Liebe einer Dame umsonst bemüht, sie nicht mehr liebt und nun von ihr, die er nicht mehr liebt, geliebt wird. Ein Nichtepiker, also z. B. ein Romanerzähler, würde sich gezwungen glauben, diese Tatsache möglichst glaubhaft seelisch zu begründen, und diese Begründung würde ein Hauptstück seiner Erzählung ausmachen; sie würde auch einen großen Raum beanspruchen, da er ja das erste Auftauchen der veränderten Gesinnung vermerken müßte, hierauf die Zweifel und Selbstkämpfe schildern, bis er endlich den gewünschten Abscheu statt der früheren Liebe gewonnen hat. Da es sich ferner um ein Umkehrungsphänomen bei zwei Menschen handelt, so müßte obendrein die ganze Operation mit 2 multipliziert werden. – Was gäbe das für eine umständliche ausführliche Bourgetiererei! Und nun sehen Sie, wie der Epiker die Aufgabe löst: Er erdichtet eine Wunderquelle, welche den daraus Trinkenden zur Liebe, und eine zweite, welche den daraus Trinkenden zum Abscheu nötigt. Also statt der Psychologik das denkbar schroffste Gegenteil davon, die äußerlichste, unwahrscheinlichste, unvernünftigste aller Motivierungen: ein Trunk Wasser. Aber gerade das ist im epischen Gedicht der Triumph der Kunst und der goldenste Strahl dichterischer Schönheit. Wer so etwas erfinden kann, der ist ein epischer Meister.

Und nun vergleiche man damit die Aufgaben und Maßregeln des Romanerzählers! Das ist ja nicht etwas Ähnliches auf anderer Stufe, nein, es ist das schnurgerade Gegenteil in allem und jedem. Ein solches Gegenteil, daß schon die bloße Tatsache, daß einer Romane zu schreiben pflegt, mich vermuten läßt, er sei kein Epiker. Was bleibt denn schließlich Gemeinsames? Die Fortbewegung der Geschichte auf dem Wege der Erzählung. Ja, das ist eine Ähnlichkeit wie zwischen einer Schnecke und einem Husaren. Sie mögen sich allerdings beide auf demselben Wege bewegen, allein, deswegen die Schnecke einen Reiter zu nennen, würde doch wohl nicht richtig sein. Vielmehr wird richtig sein, aus der Tatsache, daß einer mit Behagen auf dem Bauche kriecht, zu schließen, daß er kein geborener Reiter ist. Und darum wiederhole ich: der Romanerzähler ist kein Epiker, sondern das Gegenteil davon.


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