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Der Grundzug des schweizerischen Schriftstellers ist das Schamgefühl. Zunächst seelisches Schamgefühl, so daß es den einzelnen große Überwindung kostet, sein Inneres der Öffentlichkeit bloßzulegen, daß hie und da das Pseudonym als schützender Schleier vorgelegt wird, daß die intimsten Erlebnisse, namentlich Herzensangelegenheiten, unbenützt, die leidenschaftlichsten, lebensblutigsten Werke ungeschrieben bleiben. Aber auch bürgerliches Schamgefühl. Ich sage etwas Gewagtes, aber wage etwas Gewagtes zu sagen. Wir schämen uns alle im Grunde unseres Dichternamens, wohlverstanden nicht etwa der Dichtertätigkeit, oder gar der Dichtkunst, wohl aber der landläufigen Vorstellung, die an dem Dichternamen haftet. Dieser Vorstellung nicht zu entsprechen, ihr vielmehr zu widersprechen, einen kräftigeren, männlicheren und von dem übrigen arbeitsamen Volke weniger verschiedenen Typus darzustellen, ist unser aller eifrige, ja ängstliche Sorge. Keine willkommenere Schmeichelei, als wenn man uns versichert, daß man uns den Dichter nicht ansehe, noch anmerke.
Durch den Abscheu vor dem Dichternamen, durch das Bemühen, Entschuldigung dafür zu gewinnen, und durch die Überzeugung, daß es keine andere triftige Entschuldigung hierfür gibt, als die Rechtfertigung, Rechtfertigung durch solche Werke, mit welchen man Ehre einlegt, wird nun jeder einzelne zu hohen Ansprüchen an sich selbst gezwungen; nicht in der Richtung des Ehrgeizes und der hochfliegenden Hoffnung, sondern im Sinne der Redlichkeit, also der Echtheit des Strebens, des Willens, des Fleißes. Man will sich nicht vor der Nation, vor seinen Kollegen, vor sich selber schämen müssen.
Da wir nun nach unseren Rechnungsgewohnheiten nicht glauben, daß mehrere Nullen, die sich zusammentun, eine Summe ergeben, da wir ferner talentvollen Versprechungen keinen Kredit gewähren, da wir endlich Meisterschaft als eine individuelle und daher als eine nur auf eigenen Wegen zu erringende Eigenschaft betrachten, fallen bei uns für den angehenden Dichter die Bündnisse weg; er vermeidet auch sorgfältig, die Kokarde aufzustecken. In dem hintersten Winkel der Einsamkeit versteckt sich der angehende Schriftsteller und mausert dort wie ein krankes Huhn, bis er mit seiner Kunst, seinem Stil, seinem Stoffgebiet im reinen ist, und tritt erst dann hervor, wenn er überzeugt sein darf, etwas leisten zu können, was ihn nicht verunehre.
Mit Schamhaftigkeit ist Sprödigkeit verbunden. Dahin gehört die Abneigung, über das zu sprechen, was einem das Heiligste ist, über das eigene Werk, über die Überzeugungen der Poesie, über Kunst und Ästhetik, das Unbehagen gegenüber mündlichen Lobsprüchen (während für gedruckte große Empfänglichkeit herrscht), der Haß gegen die Reklame, die Verachtung derer, die sich ihrer bedienen, endlich, wenn es die Individualität erlaubt und die Stimmung erfordert, die Grobheit, als die einfachste und nationalste Abwehr gegen Eindringlichkeiten.
Wo jeder das Dichten als eine Ausnahmetätigkeit inmitten der nationalen Arbeit und sich selbst wieder als eine Ausnahme unter den Dichtern empfindet, kann von einem Schriftsteller stande oder gar von einem Standes gefühl keine Rede sein. In unserem vereinsseligen Volke, wo kaum einer ist, der nicht Präsident oder Aktuar von etwas wäre, wo der Hirt auf den Alpen die Statuten eines Turnvereins zu Hause hängen hat, weiß ich zwar von einem Journalistenverein, nicht aber von einem Schriftstellerverein. Niemand verspürt eben das Bedürfnis danach, teils weil uns nun einmal die Vereinzelung im Blute liegt, wir sind geborene Dachse, teils weil wir uns von Zusammenkünften keine geistige Förderung versprechen, materielle Förderung aber anderswie zu finden oder zu vermitteln nicht verzweifeln, hauptsächlich wohl, weil wir die Vorstellung nicht ertragen, Dichter zu Dutzenden in einem Saale beisammen zu sehen. Davor schaudert der Gedanke.
Wenn wir nicht verbunden sind, sind wir wenigstens befreundet? Da ist zu unterscheiden: literarisch befreundet im Sinne eines Dioskurentums, so daß gemeinsamer Fortschritt, gegenseitige Förderung durch Ideenaustausch einträte, kaum, es wäre denn vorübergehend und in nebensächlichen Einzelheiten. Persönliche Freundschaften aber, warum sollten sie hier nicht ebenso gedeihen wie in anderen Berufskreisen? Indessen verbindet uns alle fester als Genossenschaft, haltbarer als selbst die Freundschaft, etwas anderes: die Hochachtung. Wir verlangen sie für uns und gewähren sie den anderen. Der bescheidenste Anfänger, wofern er nur selbstvergessenes ehrliches Streben im Dienste der Kunst bekundet, weiß, daß er diese Hochachtung genießt; persönliche Abneigungen oder private Streitigkeiten vermögen dieses Gefühl nicht anzutasten. Und die Hochachtung betätigt sich auch. Versuche einmal einer einen geachteten Schweizer Schriftsteller zu beleidigen! Wie da alle die einsamen Dachse aus ihren Höhlen hervorjucken, schäumend vor Zorn.
Ich glaube mich nicht zu täuschen, daß die Hochachtung, namentlich die Hochachtung von seiten der Kollegen, für den Schweizer Dichter das höchste Gut bedeutet, höher selbst als Ruhm, Ehre und Popularität. Wenn dem aber so ist, und ich bin überzeugt, daß es so ist, so erklärt sich die Überzeugungstreue, die Festigkeit gegen Versuchungen, die ich wohl als eine unserer Eigentümlichkeiten glaube beanspruchen zu dürfen. Tagesruhm, Reichtum und Ehren zu gewinnen, aber dabei von seinesgleichen als Verräter an der Kunst angesehen zu werden, dieser Tausch hat hier nichts Verlockendes.
Woran erkennt man sofort den Dilettanten? Nicht wie er meint, an Sprachfehlern, sondern an Geschmacksfehlern.
Dem Dilettanten, weil er nur ausnahmsweise schreibt, ist es ein Ereignis, wenn er zwanzig Zeilen in eine Zeitung setzt. Er meint demgemäß, etwas Außerordentliches leisten zu müssen, und indem er zu diesem Zwecke seinen Geist aufhetzt, hat er schon einen Hauptfehler begangen, nämlich Einfachheit, Natürlichkeit und Sachlichkeit verloren.
Der Schriftsteller von Beruf oder Erfahrung und ebenso jeder bedeutende Mann eines jeden anderen Berufes sagt, was er zu sagen hat, deutlich und bündig, und damit fertig. Das scheint selbstverständlich und leicht. Und doch ist das so selten, daß, wenn ich irgendwo eine gesunde, gerade Abhandlung über irgendein Thema, und wäre es das trockenste, zu Gesicht bekomme, ich mich erkundige, was für ein bedeutender Mensch das geschrieben habe. Nämlich der Dilettant mutzt alles auf. Sehen wir, mit was für Mätzchen. Zunächst rundet er seinen Bericht zu einem Aufsätzchen ab. Das Ende stimmt lieblich mit dem Anfange überein, oder es klingt patriotisch aus, oder stimmt heimatlich, oder läuft in ein Zitat und Ähnliches. Solche Abrundungen, überhaupt den Aufsatzstil verabscheut ein Schriftsteller.
Im einzelnen verziert der Dilettant seinen Stil mit Schnörkeln. Unter diesen Schnörkeln sind die beliebtesten folgende.
Die geistreichen Schnörkel, also allerhand harmlose Witzchen und Späßchen. Namentlich die »Korrespondenzen vom Lande« pflegen derart mit Witzchen umwunden zu sein, daß man ob dem verdrehten Getu oft gar nicht mehr zu verstehen vermag, was der Schreiber eigentlich mitteilt. Regel: Man sei nur dann geistreich, wenn man schlechterdings mit dem besten Willen nicht anders kann.
Ferner, die poetischen Blümchen, besonders bei Damen beliebt. Poetische Blümchen im Prosastil, also z. B. im Feuilleton und im Brief, sind immer Unkraut und riechen am ersten Tage schon altmodisch. Regel: Man werde niemals »poetisch«.
Ferner anmutige, zierliche Wendungen. Harmonische Gedänklein, ebenfalls meist weiblichen Geschlechtes.
Ferner der Bilderschmuck, mehr noch im politischen, als im belletristischen Dilettantenstil wütend. Wo dann die buntscheckigen Dinger gar widerwärtig mit der abstrakten Vorstellung in Krieg geraten, selbst dann, wenn das Bild an sich nicht unrichtig durchgeführt wird, z. B. »das Schifflein der Eisenbahnpolitik in das richtige Fahrwasser lenken.« Was ist das für eine äquatische Brühe auf eine Eisenbahn! Da entgleist ja die Lokomotive der Vernunft vor der Überschwemmung der Gedankenschienen! Regel: Wenn man von abstrakten Dingen handelt, so rede man ehrlich abstrakt! Solche Dinge mit leckern Bildern aufmuntern zu wollen, das ist, als ob man das schweizerische Obligationenrecht mit farbigen Illustrationen herausgäbe.
Ferner der Schwulst. Man nennt uns wohl »nüchterne Schweizer«. Wenn wir aber schreiben, sind wir eher »bombastische Schweizer«. Wir werfen uns in die Festrednerbrust. Da aber der Dilettant in demselben Augenblicke, da er sich patriotisch oder moralisch aufschwellt, sich gleichzeitig seiner stilistischen Unbeholfenheit bewußt ist, so bedient er sich, um uns pompös zu kommen, altbewährter, niemals versagender Mittel, mit anderen Worten, der Gemeinplätze. Consules videant! – Sapienti sat!
Überhaupt Gemeinplätze! Das »nasse Element« (statt Wasser), oder »der unheimliche Gast« (für den Blitz), oder der »Jupiter Pluvius«, der »hoffentlich ein Einsehen haben wird«, oder Limmatathen, oder gar Luzern die »Leuchtestadt«. Hochgeehrter Leser, wollen wir miteinander einen feierlichen Schwur leisten, daß keiner von uns beiden sich jemals des Wortes »Leuchtestadt« schuldig mache.
Zu warnen bleibt endlich vor zwecklosen, um der Sonorität oder Bequemlichkeit wegen gebrauchten Fremdwörtern.
Und namentlich vor Fremdgedanken, den Zitaten. Ich sage wie der Zahnarzt von den Zähnen: der schlechteste eigne Gedanke ist besser als der beste fremde. Ich wenigstens habe mir zum Gesetz gemacht, niemals zu zitieren. Und habe mich wohl und gesund dabei befunden.
Also ich fasse zusammen: Keine Schnörkel, keine graziösen Gebärden, keine poetischen Blümchen, keine Schnödigkeiten, kein Bilderschmuck, keine geistreichen Witzchen, keine Zitate, keine ausgetretenen Geleise, keine landläufigen Redensarten, keine heimeligen oder patriotischen oder pompösen Akzentuationen und vor allem, bleiben Sie standhaft, niemals »Leuchtestadt«!