Carl Spitteler
Lachende Wahrheiten
Carl Spitteler

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Naivität

Naivität ist vielleicht das, was unserer zeitgenössischen Literatur am meisten gebricht. Ich meine Naivität des Schaffens. Naiv schafft, wer unbekümmert um alles andere, um Vorbilder, ästhetische Gebote und Verbote, um Weisheit und Urteil der Zeitgenossen, einfach sein Ziel auf geradem Wege verfolgend, die Aufgaben, die ihm Inspiration und Thema gesetzt haben, zu lösen sucht. Ob nun seine Unbekümmertheit aus Unkenntnis oder absichtlicher Nichtbeobachtung stammen, ist gleichgültig. Es kann einer die höchste Bildung, die umfassendsten Kenntnisse besitzen, ja sogar raffinierte sophistische Geistesbeschaffenheit aufweisen, und doch naiv schaffen. Entscheidend ist, daß keine anderen Rücksichten, keine anderen Gesetze gekannt oder anerkannt werden, als Zweck und zweckdienliche Mittel. Epigonische Mutlosigkeit, Überdruß, Überlesenheit, der zaghafte Gedanke an unerreichbare Vorbilder und dergleichen mehr hemmen, hindern, stören die anderen, lähmen ihren Willen, verleiten sie zu Umwegen auf Seitenpfaden, um den ausgetretenen Geleisen zu entweichen. Der Naive sagt sich: was geht mich das an? Er tut unbefangen, was zu tun ist, geht die tausendmal begangenen Wege zum tausendhundersten Male, schreibt eine Ilias nach Homer, wofern ihn das Herz dazu zwingt, oder, wenn das Beispiel besser mundet, eine Romeo und Julie (»auf dem Lande«) nach Shakespeare, reimt Herz auf Schmerz, und Sonne auf Wonne, wofern es der Sinn verlangt – und siehe da, die abgedroschensten Garben geben ihm neue Weizenkörner, und die Kreuzwege blühen unter seinen Schritten, als ob gerade hier der Frühling seinen Lieblingssitz aufgeschlagen hätte. Doziere, beweise, warum dies und das geradezu unmöglich sei, der Naive tut's und siehe da: es war möglich und leicht.

Voraussetzung der Naivität des Schaffens ist Reichtum der Begabung. Die volle Unbedenklichkeit gegenüber Hemmungsgründen (wie Schwierigkeit des Themas, Gefahren des Irrtums usw.) läßt sich nämlich nicht durch Kenntnislosigkeit oder absichtliche Ignorierung gewinnen, weil in jedem Stoffe Nester von Schwierigkeiten stecken, die dem Schaffenden unversehens in den Weg fallen, so daß er sie wohl oder übel gewahren muß. Deshalb teile ich denn auch keineswegs die Meinung, als böte sich Naivität in gewissen Naturepochen von selber dar. Nein, sondern einzig dann gerät Naivität, wenn die poetischen Bilder so reich und leuchtend den Geist des Schaffenden erfüllen, daß sie unbedingte Alleinherrschaft erringen. Dann, aber nur dann, schweigen alle Bedenken, fliegen alle Drachen und springen alle Tore. Aberwitz und Alltagsstaub gab es zu allen Zeiten, im sogenannten Kindesalter der Menschheit nicht minder wie heute, aber eine gute Blume wächst einfach hindurch und blüht.


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