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Durch meinen Freund Widmann, auf welchen Jacob Burckhardt außerordentlich viel hielt und welcher mich in seiner warmherzigen Weise eindringlich empfohlen hatte, ließ mich, den zwanzigjährigen Studenten, Jacob Burckhardt einladen, ihn jedesmal, wenn ich nach Basel käme, auf seinem Zimmer zu besuchen. Dieser Einladung folgte ich und benützte sie während vier Jahren, von Ende 1865 bis Januar 1870, da er mich immer von neuem wiederkommen hieß. Mit einem Brief dagegen hat er mich nie beehrt. Was er bei meinen Besuchen jeweilen sagte, dem hörte ich aufmerksam zu und schrieb mirs hinter die Ohren. Und jetzt, nach bald einem halben Jahrhundert, ist es von dort wieder hervorgekommen, ungerufen, sogar unerwünscht und unerlaubt, und hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich es schließlich niederschrieb. Ursprünglich bloß für mich selber, um Ruhe zu erlangen; nachträglich jedoch scheint mir, ich müsse es auch der Öffentlichkeit mitteilen; nicht als Beitrag zur Kenntnis Burckhardts, sondern als Beitrag zur Erkenntnis der Wahrheit. Denn Burckhardt bewährte sich selbst in seinen kleinsten Äußerungen als gewissenhafter Wahrheitsdenker. Gegenüber den Büchern, Kollegien und Vorträgen Burckhardts, ferner gegenüber der meisterhaften Charakteristik Burckhardts von Joel und der vortrefflichen, das Wesentliche erschöpfenden Biographie Burckhardts von Hans Trog will mein Bericht über unsere Privatgespräche bloß eine Nachlese vorstellen. Freilich, eine Nachlese bei einem Burckhardt! Da lohnt es sich schon, nachzulesen. Weil ich weder ein Tagebuch führte, noch mir Notizen niederschrieb, mithin die Gespräche nicht in zeitlicher Folge aufführen kann (denn mein Gedächtnis hat zwar scharf das Was und das Wie, nicht aber ebenso scharf das Wann aufbewahrt), sehe ich mich, will ich nicht dem Leser ein kunterbuntes Potpourri hinwerfen, gezwungen, meinen Bericht, so gut es geht, nach dem sachlichen Inhalt einzuteilen. Er bleibt auch so noch aphoristisch genug.
Daß Jacob Burckhardt Freigeist und Pessimist war, ist bekannt und ist unanzweifelhaft. Auch mir gab er von beidem die denkbar deutlichsten Proben.
Der Spruch, den ich aus seinem Munde am öftesten vernommen habe, lautet: »Es ist eine böse Welt.« Das sprach er jedesmal mit ernster, innigster Überzeugung aus, zuweilen wiederholt hintereinander, mitunter ohne jeden Anlaß, und immer wie einen Stoßseufzer. Es war der Kehrreim seiner Weltanschauung. Voltaires »Candide«, also die grimmigste Verhöhnung des Optimismus, welche die Weltliteratur kennt, war sein Leibbüchlein, ich möchte fast sagen, sein Brevier; er wies mich gleich anfangs und später noch öfters auf den Candide hin, stets mit innigem Behagen. Mit Schopenhauers Weltanschauung deckte sich die seinige fast auf der ganzen Linie.
Die Vorstellung eines persönlichen Gottes lehnte er ab. Ich hörte ihn bitter und achselzuckend ausrufen: »Die Idee Gottes?! Wenn ein Tier das andere auffrißt?!« Aber er tat es nicht leichten Herzens, sondern notgezwungen von seiner ernsten, schwermütigen Überzeugung. Kein polemischer Zug; den Gottesgläubigen verstand er sowohl mit dem Geist wie mit dem Herzen, und jeder wahrhaft religiöse Mensch hatte seine Hochachtung. Freilich, damit er einen Menschen als wahrhaft religiös anerkenne, verlangte er mehr von ihm als das, womit die Kirche sich begnügt.
Gewöhnlich, wenn einer aus der christlichen Kirche scheidet, nimmt er den Weihwedel mit, läuft, so schnell er kann, über den Platz zur Konkurrenz und knixt vor der Natur. Nicht also Burckhardt. Nein, naturfromm war der nicht. Er erzählte mir den Streit zwischen Voltaire und Rousseau über das Erdbeben von Lissabon. Voltaire hatte sich bei diesem Anlaß lästerlich über die Natur geäußert, Rousseau wollte ihm das als einen Frevel verweisen. In seiner Erzählung nahm nun Burckhardt entschieden Partei für den lästernden Voltaire. Ich denke, das beweist und das genügt. Auch könnte ja ein Naturfrommer unmöglich urteilen: »Es ist eine böse Welt.« Man stelle sich einmal diesen Spruch im Munde Häckels oder Goethes vor!
Als den einzigen wirksamen Trost in dieser ›bösen Welt‹ nannte er mir die Arbeit. »Jeden Tag arbeiten, bis man müde ist«, empfahl er mir, »das ist das einzige«, und berief sich hiefür wiederum auf Voltaire.
Vom Christentum war der Sohn des obersten Pfarrers der Stadt Basel so weit entfernt, daß er es nur historisch und anthropologisch wertete. Von diesem Standpunkt betrachtet, nimmt sich dann natürlich ein Christ um so lieblicher aus, je waschechter er ist; so, wie wir unter den Negern diejenigen am schönsten finden, welche am schwärzesten sind. Zuoberst auf der Leiter seiner Sympathie standen die Mönche und Asketen, so ziemlich die einzigen, die er als Vollblutchristen hinnahm; ganz zuunterst die Fortschrittler und Reformer. Als die ihm widerwärtigste Spezies nannte er mir die anglikanisch-methodistischen Bibelheiligen, die Apostel mit dem steifen Hemdenkragen und der Bügelfalte. Was ich ihm lebhaft nachfühlen kann.
Für das größte und zugleich reinste, achtungswürdigste Exemplar des dogmatischen Christentums galt ihm Augustin; wegen der ehrlichen, mutigen Gedankenkonsequenz seiner »Civitas Dei«. In den »Bekenntnissen« dagegen glaubte er etwelche Koketterie mit dem Sündenbewußtsein zu spüren. »Heu me miserum!« zitierte er lachend, »wenn es sich um einen harmlosen Bubenstreich handelte.«
Ein eigentümliches Urteil fällte er über den Apostel Paulus. Ich hatte ihm von dem häßlichen Ruck gesprochen, den man verspüre, wenn man aus der hohen Atmosphäre der mit Poesie und Pathos getränkten Evangelien in den sophistischen Kampf der paulinischen Briefe hinuntergerate. Er bestätigte und ergänzte: »Nach meinem einfachen, schlichten Geschmackurteil hätte der Apostel Paulus den Mund halten sollen. Zwar ist ja kein Mensch der ganzen Welt, und wäre er der geistig hochstehendste, davor sicher, daß er nicht eines Abends in den Glauben umfällt. Allein wenn ihm das passiert ist, soll er wenigstens so viel Takt haben, sich mäuschenstill zu verhalten. Die Vision auf dem Wege nach Damaskus? Das sind Orientalia. Wenn wir das annehmen müßten, was bliebe uns dann noch übrig?«
Er warnte mich davor, jemals einen gläubigen Menschen zum Unglauben bekehren zu wollen. »Das kann man nicht, das ist gänzlich verlorene Mühe. Denn das ist nicht eine Sache des Geistes, das gehört in das Gebiet der Natur. Es werden alljährlich, wie so und so viel Pflanzen, so und so viele Tausende von Menschen zum Kirchendienst und Symboldienst geboren. Denen ist nicht beizukommen. Hingegen eines sollte man können: eine reinliche, saubere, auch äußerlich erkennbare Scheidung zwischen ihnen und uns.«
Eines Tages betraute er mich mit einem in die Form der Erlaubnis verkleideten Auftrag: »Erzählen Sies unbedenklich weiter, sagen Sies nur herzhaft, sagen Sies, sagen Sies in Ihren Studentenkreisen, daß ich nichts glaube. Es ist mir keineswegs unangenehm, wenn mans erfährt; es ist mir ganz recht, wenn die Jugend es weiß.« Ich wandte ein: »Und auf dem Katheder? In Ihren Geschichtsvorträgen? Da finden Sie wahrscheinlich keine Gelegenheit, es selber zu sagen?« Geschwind antwortete er: »In der Tat finde ich dazu in meinen geschichtlichen Vorträgen keine Gelegenheit.« Trotz dieser Antwort blieb ich bei meiner Ansicht, ein Redner auf dem Katheder habe keinen Vermittler nötig, um seine Zuhörer wissen zu lassen, was er ihnen zu sagen hat. Ob er es dann einmal selber gesagt hat, ist mir nicht bekannt.
Unter einem Freigeist pflegt man sich einen skeptischen und frivolen Menschen vorzustellen. Skeptisch, ja, das war Burckhardt, wenigstens in einigen seiner Stilgebärden; sein Voltaire hatte ein wenig auf ihn abgefärbt; dagegen von frivol war er das gerade Gegenteil. Burckhardt war der ernsteste Denker, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Wer auch nur einen einzigen seiner Vorträge gehört hat, weiß, was ich meine. Ich meine den kosmischen Ernst, der seine Vorträge durchbebte und sie zu förmlichen Andachten erhob (Näheres darüber bei Trog). Und der Privatverkehr hat mir den Eindruck des Ernstes noch bedeutend verstärkt, trotz allen humoristischen Gebärden. Burckhardt offenbarte sogar einen Geisteszug, welchen man sonst nur in Verbindung mit der Religion antrifft: er war mysterisch. Ob er schon an keine Weltleitung glaubte, glaubte er doch an geheimnisvolle Zielschübe von hinten. Also an ein Kutschieren in die Räderspeichen, statt vorn auf dem Bock. Auch an Ahnungen, an Vorauswissen und dergleichen glaubte er, ähnlich wie Schopenhauer; wovon wir ja in seiner Griechischen Kulturgeschichte erstaunliche, geradezu verblüffende Andeutungen erhalten. Wie er sich dieses mysteriöse Treiben ohne das Vorhandensein eines Gottes zurechtgedacht haben mochte, das konnte natürlich außer ihm selber niemand wissen, und möglicherweise wußte er es selber auch nicht. Nur spiele man deswegen nicht etwa gegen Burckhardt den Überlegenen; denn ohne Widersprüche geht es nun einmal auf metaphysischem Gebiete nie ab. Aber wie sie den verbrannt haben würden, vor ein paar hundert Jahren, in seinem geliebten Cinquecento!
Die Gelegenheit, im Gespräch mit einem Historiker vom Rang Jacob Burckhardts meine geschichtlichen Kenntnisse zu mehren, vermochte ich nicht in dem vollen Maße auszunützen, wie es ein anderer wohl an meiner Stelle getan hätte. Ich war zu sehr in seelischen Entwicklungskrisen befangen, um die nötige Freiheit für geschichtliche Angelegenheiten übrig zu haben. Für die einzige Geschichtsperiode aber, die mir damals am Herzen lag, nämlich die vorgriechische, jene, die man heute die minoische nennt, erklärte sich Burckhardt auf mein Befragen für inkompetent. Immerhin fielen noch genug wertvolle Aufschlüsse für mich ab. Zunächst teile ich mit, was ich ihn über einzelne Perioden, Nationen, Persönlichkeiten aussagen hörte.
Die Niederwerfung Griechenlands durch die Mazedonier hieß er mich als ein Glück schätzen. »Alexander hat Griechenland wenigstens davor bewahrt, von den Persern verschluckt zu werden.« Erstaunt rief ich: »Die Perser im vierten Jahrhundert noch so stark?« Er erwiderte: »Zu einem raschen, gewalttätigen Tatzenschlag über Griechenland, unter einem körperlich gesunden Herrscherhaus, reichte Persiens Macht selbst im vierten Jahrhundert gar wohl noch aus.«
Für die Verödung Griechenlands machte er einfach den Peloponnesischen Krieg verantwortlich. »Denken Sie an das stereotype Schlußsätzlein bei Thukydides und Xenophon: ›Die Männer töteten sie, die Bäume schlugen sie um, die Felder verwüsteten sie, die Frauen und Kinder machten sie zu Sklaven‹«. Das zitierte er auf griechisch und betonte das e in ›çndrapodeúsanto‹ mit fröhlichem philologischen Humor.
Als ich mich wegwerfend über die römische Kultur äußerte, belehrte er mich eines Besseren. »Sie dürfen nicht die römische Kultur bloß als ein verschlechtertes, verwässertes Duplikat der griechischen auffassen. Die Römer sind etwas Besonderes für sich, etwas ganz Neues gegenüber den Griechen. Den Impetus der Römer zum Beispiel besaßen die Griechen nicht. Lesen Sie, was Polybius über den römischen Impetus berichtet, so werden Sie die Römer anders einschätzen.« Auch die römische Poesie achtete er nicht gering. »Dem Horaz die Dichtereigenschaft absprechen, wie das heute Mode ist! Erst gestern wieder habe ich mich mit einem Kollegen wegen Horaz herum gestritten. Horaz kein Dichter! Ja, meinen denn die Leute in allem Ernst, so viele Hunderte von Jahren hätte sich die gesamte Menschheit so gröblich über Horaz getäuscht?«
Über die Periode des Urchristentums ließ er die Ansicht durchblicken, je mehr man sich damit beschäftige, desto weniger werde man es verstehen: »Immer und ewig an diesen einzigen paar dreißig Jahren herumstudieren! Europa wird es schon einmal verstehen lernen, das Urchristentum! Nur zu gut verstehen!« (Er meinte: Dann verstehen, wenn es in Europa einmal so grauenhaft zugehen werde, wie damals in Judäa.)
Merkwürdig veränderlich lautete sein Urteil über Mohammed. Das erste Mal, als er mir von Mohammed sprach, hieß es: »Man muß nur ja nicht etwa den Fehler begehen, aus der ungeheuren Wirkung, die er hatte, auf seine Größe zurückzuschließen. Diese gewaltige Wirkung beweist keineswegs seine Größe, sondern einzig die Dummheit und Kleinheit der anderen. Ich habe mir neulich den Koran angesehen. Ein unglaublich elendes Gewäsche; der untrügliche Stempel der Mittelmäßigkeit. Und was für ein erbärmlicher Charakter! Er brach ja beständig zusammen, und seine Weiber mußten ihn wieder aufrichten. Zwar einen gewissen religiösen Raptus hat er offenbar einmal vorübergehend gehabt, das will ich nicht abstreiten.« Das nächste Mal, ein Semester später, hieß es: »Man muß nur ja nicht etwa den Fehler begehen, wegen der vielen Schwächen Mohammeds ihm die Größe absprechen zu wollen.«
Das Germanentum vor der Völkerwanderung schilderte er mir als angefault. Dessen zum Beweis zeichnete er mir eine fröhliche Charakteristik eines Suevenfürsten, der internationale Querköpfigkeiten beging, seinem Kinde einen lateinischen Namen gab, und so weiter. »Wenn das nicht ein echter Schwabenstreich ist!« schloß er lachend. Zur Illustration des geistigen Tiefstandes jener Zeit: »Was sagen Sie zu folgendem: ein Annalenschreiber, der für das Jahr der Schlacht auf den katalaunischen Feldern diese Schlacht zu notieren verschmäht und dafür gewissenhaft die Auffindung eines Heiligenknochens aufzeichnet!«
Ich fragte ihn, ob die Meinung derer etwas auf sich habe, welche der Schweiz, trotz ihrer Kleinheit, irgendeinen erzieherischen Beruf für Europa zuschreiben. Er antwortete kurz und entschieden verneinend: »Die Faktur des europäischen Geistes wird von den großen Kulturnationen bestimmt.«
Einen Spruch über den ägyptischen Tierkultus will ich doch nicht vergessen. »Sehen Sie, da habe ich wieder so ein Buch vor mir«, rief er bei meinem Eintritt ins Zimmer, »von einem Gelehrten, der sich überstudiert hat! Was der alles für Abstruses in die Hieroglyphen und den ägyptischen Tierkultus hineintiftelt! Der Tierkultus der Ägypter stammt einfach daher, daß ihnen der starre Typus des Tieres im Gegensatz zu der menschlichen Veränderlichkeit imponierte. Punktum.«
Nun einiges von allgemeinerer Tragweite: »Im großen und ganzen, diesen Trost wenigstens können wir aus der Geschichte ziehen, haben die Völker ungefähr das Schicksal, das sie verdienen.«
»Die Summe von Glück und Unglück, wenn man die Völker zusammenrechnet, bleibt jederzeit die nämliche. Während es zum Beispiel in der Völkerwanderung in Europa drunter und drüber ging, erlebten zur nämlichen Zeit die Araber ihre Blüte.«
Das heutige Europa schien er als arterienverkalkt zu diagnostizieren, mit wenig Aussicht auf Verjüngung. »Ich sehe nicht ein«, sagte er bedauernd, im Tone der Hoffnungslosigkeit, »wo in Europa in all den starren, festgefügten Staatengebilden etwas Neues entstehen könnte. Höchstens vielleicht Irland, das sich von England abtrennte.« Und sein Achselzucken fügte hinzu: »Und selbst das wäre mager.«
Ein überaus auffallendes und gewichtiges Wort, das gewiß niemand wieder vergessen kann, der es einmal vernommen, ein Wort, das für sich allein, wie ich glaube, meine Veröffentlichung rechtfertigt: »Das Gefühlsleben vergangener Zeitalter ist uns ein versiegeltes Buch. Wir können entschwundenen Geschlechtern nicht weiter zurück nachfühlen als bis in die Zeit unserer Großväter. Was diese uns erzählen, das können wir miterleben, alles was früher zurückliegt, soweit es sich um das Gefühlsleben handelt, bleibt uns ewig ein Rätsel.«
Endlich einige Äußerungen Burckhardts über Geschichtschreibung und Geschichtschreiber. Ihn selber betreffend: »Da werfen sie unsereinem (er sagte ›unsereinem‹ für ›mir‹ ) beständig Ungründlichkeit, Unwissenschaftlichkeit vor, weil ›wir‹ unser Interesse nicht auf einzelne Gebiete beschränken. Ich kann doch wenigstens von mir sagen, daß ich zu jedem Thema jedesmal sämtliche Quellen lese.«
Noch etwas ihn selber Betreffendes. Ich wagte ihm die Anregung zu unterbreiten, nach Erledigung seiner »Kultur der Renaissance« eine Kultur des alten Griechenlands zu schreiben. Das schiene mir eine noch schönere und höhere Aufgabe, die höchste von allen. Wir entbehrten ein solches Werk, und er sei der richtige Mann, es zu vollbringen. Bedenklich, mit sorgenvoller Miene antwortete er: »Sie ahnen nicht, wie schwer so etwas ist! Was für gewaltige Vorarbeiten zu so etwas gehören.« Das war im Jahr 1866 oder 1867.
»Was uns fehlt, was wir nötig hätten«, sagte er einmal zu mir, »das wäre eine rechte Kirchengeschichte; wissenschaftlich gründlich und zugleich gut geschrieben. Es braucht deswegen nicht ein boshafter Stil zu sein.« Ich meinte: »Ein boshafter Stil ist niemals ein guter Stil.« Er pfiff durch die Lippen: »Potztausend! Potztausend! Es gibt boshafte Federn, welche verwünscht gut schreiben! Glänzend sogar!« Wir waren hierüber nicht verschiedener Meinung, wir hatten uns bloß über die Tragweite der Wörter ›boshaft‹ und ›Stil‹ nicht vorher verständigt.
Ich berichtete ihm von einem grotesk großmäuligen Buche, ich weiß nicht mehr von welchem, das mit ganzen Paketen von Nationen jonglierte, als wären es Spielbälle. Er lachte belustigt: »Oh! Diese Spezies kennen wir! In diesem Genre haben wir einst noch viel schönere Proben erlebt. Und zitierte (ich glaube, er nannte den Namen Onken, Gedächtnisirrtum vorbehalten): »Der Orient ist Stickstoff, der Okzident Sauerstoff. Jetzt hast dus! Jetzt friß! Friß Stickstoff, friß Sauerstoff.«
Im höchsten Grade war er über Mommsens »Römische Geschichte« aufgebracht. »Wie einen Schulbuben, wie einen Lausbuben, wie einen Rotzbuben hat er den Cicero heruntergemacht! Cicero hatte doch wenigstens den Mut, eine vornehme, hochprotegierte, weitversippte Canaille wie den Catilina öffentlich mit eigener Lebensgefahr anzugreifen. Ich zweifle, ob Mommsen so viel Mut gehabt hätte, ich zweifle sehr. Das Verhängnis für Ciceros Charakterbild war nur der Umstand, daß das damalige Rom, ähnlich wie das heutige England, schlechterdings jeden geistig bedeutenden Menschen in die Politik und den Staatsdienst nötigte, ohne Rücksicht auf seinen Wunsch und seine Anlagen.«
Ausnehmend hoch stellte er den alttestamentlichen Archäologen Hitzig in Heidelberg: mit Recht, denn Hitzig hatte einen Zug ins Große. »Melden Sie Hitzig einen tief ergebenen, ehrerbietigen, demütigen Gruß von mir. Das ist ein Gelehrter, an dem ich bewundernd hinaufschaue.«
Auch auf Segesser in Luzern hielt er große Stücke: »Das ist ein Mensch, der denkt und der etwas weiß.«
Anläßlich des Historikers Häusser (Namensirrtum vorbehalten) entwickelte er mir seine Überzeugung, daß ein Professor der Geschichte sich nicht im Staatsleben betätigen solle. »Das kann man nicht ohne Schaden. Wissenschaft und Politik ist zweierlei. Ich habe es zwar früher auch versucht, aber es war ein Irrtum; ich bin ganz davon zurückgekommen.«
Ich sprach von Salomon Vögelin. Er trage sich mit dem Gedanken, eine Biographie Raffaels zu schreiben. »O weh, o weh!« rief Burckhardt, »da muß einer früher aufstehen, wenn er eine Biographie Raffaels schreiben will!« Auf meine Einwendung, daß Vögelin tüchtige Kunststudien gemacht habe und gediegene Kenntnisse besitze, entgegnete er: »Ja, Kenntnisse schon, aber bloß sporadische; sie vereinigen sich nicht zu einem ausgeglichenen Ganzen.«
Von dem harmlosen, braven großen und kleinen Weltgeschichte-Weber in Heidelberg redete er wie von einem gleichwertigen Kollegen: »Wie ich den beneide! Wie ich ihn beneide, wie ich ihn beneide, daß es ihm gelungen ist, sein Lebenswerk (die große und kleine Weltgeschichte) zu Ende zu bringen.« So bescheiden war Jacob Burckhardt.
Die Gegenwart übergoß Burckhardt mit unerschöpflichem Hohn. »Die Gegenwart ist unausstehlich eitel, eitler als ein Aff, eitel zum Erbrechen.« Das verstand ich damals nicht. Heute verstehe ich es. Er meinte damit die selbstgefällige Kopfhaltung, auf sämtliche frühere Jahrhunderte überlegen herabzusehen, als wäre die Gegenwart unendlich gescheiter als die gesamte Vorzeit, ferner die Voraussetzung, die Urteile der jetzigen Generation bedeuteten inappellable Schlußurteile.
»Die öffentliche Meinung hat immer unrecht; schon deshalb, weil es die öffentliche Meinung ist.« Dieser Satz sträubte mir damals die Haare empor. Jetzt bleiben meine Haare ganz glatt dabei. Im Gegenteil, ein solcher Satz tut meinem Haarboden wohl wie ein Shampoing.
Das Wort ›Fortschritt‹ war der Tambourmajorstrauß der sechziger Jahre. Alle Welt steckte den stetigen Fortschritt des menschlichen Geistes als Kokarde auf den Hut. Davon wollte Burckhardt nichts wissen. »Daß unter allen, allen Umständen, man möge tun, was man wolle, die Menschheit fortschreite, zu diesem Glauben vermag ich mich nicht aufzuschwingen.«
»Gleichstellung der Juden im Staate und Abschaffung der Todesstrafe sind die Steckenpferde unserer Zeit. Es nimmt mich wunder, was für gute Staatsbürger die Juden abgeben werden! Und punkto Abschaffung der Todesstrafe halte ich es mit Alphonse Karr: Die Herren Mörder mögen gefälligst anfangen.«
Als ein Grundübel der Zeit bezichtigte er die Passivität der Staatsbürger. »Sie sind des Teufels und werden noch viel mehr des Teufels werden, aber sie rühren sich nicht.« »Was meinen Sie mit dem Ausdruck ›des Teufels sein‹?« »Aus Ärger und Verzweiflung aus der Haut fahren wollen. Alle wollen sie aus der Haut fahren, aber einzugreifen, daran denkt keiner.« Und zitierte Voltaire: »›Was die, die nach mir kommen, alles für Scheußlichkeiten erfahren werden!‹ Gut, daß ich zu alt bin, um es zu erleben.«
Während der sechziger Jahre wütete in Europa-Philistaea eine schauerliche Begeisterungs- und Festseuche, von der sich niemand eine Vorstellung machen kann, der sie nicht miterlebt hat. »Ist denn auf der ganzen Welt niemand«, klagte Burckhardt, »der gegen diese Festseuche ein kräftiges Wort einlegt?« »Nun«, dachte ich, »sie halten es halt sämtlich wie du; sie klagen alle: ›Ist denn niemand?‹ Aber daß er selber der Jemand sein könnte, das fällt niemand ein.«
Zur Charakteristik des Philisters fand Burckhardt ergötzliche Exempel. Nachdem er gesagt hatte, daß man den Philister aufrütteln sollte, statt ihm zu schmeicheln, schloß er ab: »Es gibt einen Tiefstand des Philistertums, einen so abgründigen Tiefstand, wo der Philister sich nicht einmal mehr so weit aufzurappeln vermag, um Karten zu spielen. Was sagen Sie dazu? Nicht einmal mehr Karten spielen!« Dieses köstliche ›nicht einmal mehr‹ zur Bezeichnung eines Ultrauntergrundes, noch tiefer gelegen als der unterste Abgrund, wandte er auch sonst etwa an. So heißt es einmal bei ihm, ich weiß nicht mehr in welchem Buche oder in welchem Kolleg, von gewissen Malern: ›nicht einmal mehr lüstern‹. Also das Zynische stellte er noch tiefer als das Lüsterne.
Über den läufigen Denk- und Sprachstil: »Es gibt Wörter, gegen die man sich wehren muß. Ein Wort wie ›Mainlinie‹ zum Beispiel sollte man gar nicht aufkommen lassen. Dieses bloße Wort für sich allein verrät eine elende Geistesbeschaffenheit. Fichtelgebirge heißt es von Natur wegen, und so hat es immer geheißen, nicht Mainlinie.«
Über die Parlamente: »Napoleon (III.) hat die europäischen Regierungen durch sein Beispiel darüber aufgeklärt, daß die Parlamente nicht zu fürchten sind. Im Gegenteil, sie dienen als Sicherheitsventile für die Regierungen. Man läßt die Leute frei schwatzen, was sie wollen; dann handeln sie nicht; denn das Schwatzen genügt ihnen vollauf.« Das sind ja heutzutage Binsenwahrheiten, aber in den parlamentsüchtigen sechziger Jahren bedeutete es eine frische, kräftige Weisheit.
Vom modernen Staate urteilte er: »Der moderne Staat hat kein echtes, uneigennütziges Interesse an geistigen Dingen, Kunst und Wissenschaft und dergleichen. Diese Dinge interessieren ihn bloß als Mittel zu seinen Machtzwecken. Ein wirkliches, ungeheucheltes Interesse hat der moderne Staat einzig an den Armeen und an den Steuern.« Insbesondere der preußische Regierungsstil war ihm ungemütlich. »Wenn das so weitergeht, wird man bald in Preußen uns Professoren von einer Universität zur andern versetzen und uns hin- und herkommandieren wie Unteroffiziere.«
Als er einmal von der gefährlichen Bösartigkeit der Gegenwart redete, sagte ich, ich wüßte ein leichtes, unfehlbares Mittel, sich bei der Gegenwart beliebt zu machen, nur hielte ich mich für zu gut dazu, um das Mittel anzuwenden. »Und was wäre das für ein Mittel?« fragte er skeptisch. »Der Gegenwart mit der Faust ins Gesicht schlagen.« »Sie mögen vielleicht recht haben«, lachte er.
Wir sprachen von der Trägheit des deutschen Ruhmes, von der monströs verspäteten Anerkennung großer Leistungen, von den fünfundzwanzig öden einsamen Jahren, die ein Grillparzer und ein Schopenhauer abwartend dulden mußten, bis der Ruhm endlich zu ihnen herankroch. »Auf dieses Tempo gehe ich nicht ein«, erklärte ich, »ich will meinen Ruhm früher haben; spätestens in meinem sechsunddreißigsten Jahre.« Das verwies er mir mit den Worten: »Man muß es nicht besser haben wollen als die andern; Sie können nicht vom Schicksal einen besonderen Sperrsitz für sich verlangen.« Ich trotzte: »Nicht bloß einen besonderen Sperrsitz verlange ich für mich vom Schicksal, sondern eine Extraloge.« Auf dem Heimweg aber sprach eine Stimme zu mir: »Menschlein, Menschlein, das war ein vermessener Spruch! So einer, den die Griechen Hybris genannt hätten. Jetzt, wenn es eine Nemesis gibt, so bekommst du zur Strafe dafür deinen Ruhm noch viel später als Schopenhauer und Grillparzer, nämlich erst in deinen letzten Lebensjahren, oder gar nicht.« Diese Stimme hatte eine feine Nase.
Seine Verachtung der Gegenwart machte ihn übrigens weder blind noch ungerecht. Nachdem er wieder einmal seine Lauge über die Gegenwart ausgegossen hatte, schloß er ab: »Aber wir mögen noch so sehr über die Gegenwart schreien, es hilft uns nichts, wir bleiben trotz allem Kinder der Gegenwart.« Und ein anderes Mal: »Humaner, das ist keine Frage, das gebe ich willig zu, ist die Gegenwart als die früheren Zeitalter.«
Im Gegensatz zu seiner Verachtung der Gegenwart und der öffentlichen Meinung Europas bekundete er eine gewisse Ehrfurcht vor Stadtatmosphäre und Stadtkritik. Die Stadtkritik galt ihm beinahe wie eine Art von Gottesurteil. Hier redete er wie ein Opportunist. »Wie man sich bettet, so liegt man.« Und ähnliche Sprüche. Unkluge Handlungen oder Reden, die einen Menschen zu seinem Volk oder zu seiner Vaterstadt in Gegensatz brachten, war er geneigt, zu den Taktlosigkeiten zu zählen. Umgekehrt diente Erfolg und Ansehen in der städtischen Meinung bei ihm als Empfehlung. Weltmännisch-opportunistisch, mit fröhlicher Ironie vorgebracht, lautete folgender Rat fürs Privatleben, den er öfters zum besten gab: »Wenn die Menschen Ihnen Kenntnisse zutrauen, die Sie nicht haben, seien Sie nur ja nicht so einfältig, die Leute über den Irrtum aufzuklären.«
Unsere Unterhaltungen fielen in eine Zeit, wo es draußen jenseits der Grenzen mitunter kriegsstürmisch zuging. Es gab also reichlich Gelegenheit, auch über Politik zu sprechen.
Napoleon III. galt damals (Mitte der sechziger Jahre) der öffentlichen Meinung von Europa-Philistaea für ein abgefeimtes Genie. Ich spottete darüber. Der angebliche schlaue Fuchs scheine mir nicht halb so schlau, wie er tue und wie man meine. »Ja, ein Fuchs mit Eselsohren!« rief Jacob Burckhardt. Und nachdem er mir die völlige Unfähigkeit und Leerheit Napoleons auseinandergesetzt, wobei er sich unter anderem auf das mündliche Zeugnis des Obersten Charras berief, brauchte er ein Bild, das mir einen großen und bleibenden Eindruck hinterließ und für das ich bald darauf in meinem eigenen Entwicklungsgang Verwendung fand: »Wie ein Krokodil hat Napoleon jahraus, jahrein den Rachen gegen die europäischen Nationen aufgesperrt, schließlich hat das Krokodil den Kinnbackenkrampf bekommen, daß ihm der Rachen offen stehengeblieben ist.« Seine Abneigung gegen Napoleon war heftig, leidenschaftlich. Er sehnte sich nach einer ›gesunden‹ Revolution gegen ihn, sogar mit einer gewissen Ungeduld. Als er vernahm, daß ich gesellschaftlich mit einem nicht ganz einflußlosen französischen Republikaner zusammenkam, erkundigte er sich begierig danach, was dieser über eine zu erhoffende französische Revolution für eine Meinung hege. Ob die Revolution bald kommen werde? »In zwanzig Jahren«, lautete mein Bericht. »O je!« rief er enttäuscht, »in zwanzig Jahren tut mir kein Zahn mehr weh!«
Als es im Jahre 1866 einen Augenblick den Anschein hatte, als ob auch die Schweiz könnte in den Strudel mit hineingezogen werden, meinte er: »Nicht unmöglich, daß es dazu kommt; wir dürfen uns nicht einbilden, daß wir ewig verschont bleiben werden und daß uns das Schicksal immerfort besondere Küchlein backen wird.«
Preußisch gesinnt war er nicht, das kann man mit dem besten Willen nicht behaupten. »Wenn ich einen Basler für Preußen schwärmen höre, so gelüstet michs jedesmal, ihm den Mund unsanft mit der Hand zu schließen. Die hübsche Bescherung für Basel, wenn sie uns auf dem Isteiner Klotz eine Festung vor die Nase setzen werden!«
Während der Luxemburger Aufregung gönnte er mir eine Vorstellung seines ansehnlichen Nachahmungstalentes, indem er mir spöttisch mit norddeutschem Tonfall und nationalliberalem Phrasenpathos das neueste Berliner Telegramm vorlas: »Luxemburg darf nie und wird nie, und so weiter.« Wirklich, er konnte es überraschend gut. Es fehlte zum Siegfried einzig der Helm.
Im Jahre 1868 meinte er triumphierend: »Sie bekommen es nicht mehr« (nämlich Preußen die Südstaaten). Das klingt wie eine gründliche Täuschung. Allein er konnte ja den Deutsch-Französischen Krieg unmöglich voraussehen. Und ohne diesen Krieg hätten ›sie‹ ›es‹ allerdings schwerlich mehr ›bekommen‹.
Nachtrag: Ein einziges Mal hörte ich ihn über den (damals noch in den Windeln lauernden) Sozialismus ein Wort sagen: »Die Herren (verstehe: die Basler Millionäre) wollen nicht begreifen, daß damit, daß sie einem vorrechnen, wie viel besser der Arbeiter heutzutage wohne und esse als früher, nicht alles gesagt ist. Es gibt noch ganz andere Faktoren, die ins Spiel kommen. Und ob auf ewige Zeiten die Vererbung des Vermögens von den Eltern auf die Kinder als unantastbares Recht bestehen soll, ist mir keineswegs ausgemacht.« (Burckhardt war unverheiratet.)
Weil ich beobachtet hatte, daß Burckhardt in allem und jedem unabhängig, ernst und wahrheitsgewissenhaft dachte, suchte ich auch über Poesie und Literatur Wegleitung bei ihm. Ich hatte es nicht zu bereuen; denn ich kam vor die richtige Schmiede.
Er zuerst, und er damals unter allen Menschen allein, warnte den Dichter vor dem Drama. »Das Gelingen eines Dramas«, sagte er zu mir, »beruht nicht einzig auf den Eigenschaften des Dichters. Das Drama ist zu seinem Gedeihen von allerlei anderen, und zwar äußeren Umständen abhängig, die zusammenwirken müssen, und die nicht in der Gewalt des Dichters stehen.« »Ja, was denn sonst?« fragte ich. »Epos?« »Freie Dichtung«, antwortete er und beschrieb dazu eine rundherum erlaubende Armbewegung. Über das nämliche Thema im nämlichen Gedankengang möchte ich heute dem Ausspruch Burckhardts einen ergänzenden Satz beifügen: Die Kunstform der Tragödie wurzelt nicht wie die übrigen poetischen Kunstformen in einem Bedürfnis der Menschenseele, sondern sie ist das Kind eines historischen Zufalls (combinazione).
Ebenso entschieden warnte er mich vor der Prosa. »Wenn man ein in Prosa geschriebenes Buch nach zwanzig Jahren wieder in die Hand nimmt, was hat man dann? Ein Häuflein Asche, eine Handvoll Stroh. Wie habe ich doch einst für Immermanns »Oberhof« geschwärmt! Und jetzt? jetzt kann ichs gar nicht einmal mehr lesen.«
Vom historischen Roman urteilte er: »Poesie und Geschichte kommen bei dieser Gattung Literatur gleich schlecht weg.«
Über Volkspoesie belehrte er mich (anläßlich Ossians, über dessen Unechtheit er mich aufklärte): »Die Poesie aller Völker ohne Ausnahme ist frisch, kräftig, lebensbejahend, niemals sentimental.«
Ich gestand meine Vorliebe für das Märchen, weil hier, und zwar hier allein, völlige poetische Gerechtigkeit walte. Er lachte. »Ja, das Märchen hat es aber auch gar leicht, poetische Gerechtigkeit zu üben!«
Die Satire als selbständige Kunstform stellte er zuunterst, zählte sie überhaupt nicht zur Poesie. Den ruhmgekrönten Großkönig der Satire, Aristophanes, schätzte er als Schriftsteller gering und verachtete ihn herzlich als Menschen. Seine Satire sei wohlfeil, seine Phantasie fadenscheinig, seine Poesie so minim, daß man sie für Null zählen dürfe. »Und am Tode des Sokrates, man mag sich drehen, wie man will, ist er eben doch mitschuldig.« Es mag auffallen, daß ein Historiker nicht auch die schmähliche politische Beschränktheit des Aristophanes erwähnte. Allein wie stellte sich denn Burckhardt zum Frieden des Nikias und überhaupt zu Nikias? Das zu untersuchen, wäre der Mühe wert, doch würde uns das hier viel zu weit führen. »Wo kämen wir hin?«, pflegte in solchen Fällen Burckhardt auszurufen. Mit seinem Verdammnisurteil über Aristophanes setzte sich Burckhardt in Widerspruch mit der gesamten Welt und wußte das; aber es focht ihn nicht an. Er war eben nicht bloß ein ausnehmend gescheiter Mensch, sondern auch ein freier, mutiger Wahrheitsdenker; wie vorsichtig er schon in seinem Privatleben sein mochte. Ich sage mutiger Wahrheits denker, nicht mutiger Wahrheits bekenner.
Den größten Gedankenmut bewies er mit seinem Urteil über Molière. Obschon ich dieses Urteil nicht aus meinen Gesprächen mit ihm, sondern aus seinem Kolleg kenne, halte ich doch für richtig, es bei diesem Anlaß mitzuteilen. Er nannte Molière »leblos« und »steif«. »Aber um Gotteswillen«, fügte er scherzhaft bei, »verraten Sie mich nicht, sagen Sies nicht weiter.« (Ein Zusatz, der selbstverständlich nicht wörtlich, als ängstliche Bitte, gemeint war.) Burckhardt ist der einzige Mensch, von dem ich weiß, daß er Molières Schablonenarbeit durchschaute. Allein schon um dieser einen Einsicht willen gilt er mir seinen sämtlichen Zeitgenossen auch in poetischen Dingen als urteilsüberlegen. Hier noch ein Wort Burckhardts über den »Tartufe« (ebenfalls im Kolleg): »Beachten Sie übrigens wohl, meine Herren, Molière greift im »Tartufe« nicht etwa die Pfaffen an, sondern den dilettantischen Heuchler, der den Pfaffen unbefugte Konkurrenz macht und ihnen beim Erbschleichen ins Gehege kommt.«
Anläßlich eines Gespräches über ein ganz unverfängliches ästhetisches Thema, nämlich über das Wesen und den Wert der erfindenden Phantasie, juckte jählings wie der Teufel aus einer Schachtel Unfriede zwischen uns hervor. Wir hatten zunächst von Kaulbach gehandelt; er hatte mich über die liederliche Komposition der Kaulbachschen Werke belehrt, wie da die Gruppen aus dem Bild herausfallen (er nannte mir als Beispiel die Gruppe der Christen in der »Zerstörung Jerusalems«), und sich dabei über die Ideenmalerei überhaupt abfällig ausgesprochen. Dann verkündete er mir seinen mir bereits bekannten Satz, daß künstlerischer Phantasiereichtum sich nicht in der Erfindung möglichst vieler verschiedener Themen offenbare, sondern in der Bewältigung eines einzigen nämlichen Themas auf verschiedene Weise, so zwar, daß jede neue Bearbeitung wieder überzeugend wirke. Darauf fragte ich ihn: »Gilt dieser Satz bloß für die Kunst? oder wollen Sie ihn auch auf die Poesie anwenden?« Da sprang er wie von einer Schlange gebissen vom Sitz, rannte im Zimmer umher, mir feindselige Blicke zuschleudernd, und rief zu wiederholten Malen: »Das war eine boshafte Bemerkung! eine abgefeimt boshafte Bemerkung!« Und konnte sich gar nicht beruhigen. Schließlich, als er sich einigermaßen erholt hatte, erteilte er mir den unwilligen Bescheid: »In der Poesie verhält es sich ja durchaus anders. Da ist die freie Erfindung von immer neuen Themen ein Hauptvorzug. Das gehört zum Wesen der Poesie. Aber das war eine bösartige, raffiniert bösartige Bemerkung gewesen!« Er täuschte sich. Es war keine bösartige Bemerkung gewesen, sondern eine bescheidene ernste Erkundigung nach der Wahrheit, und zwar nach einer Wahrheit, die mich besonders nah anging. Was ihn dabei aufbrachte, war offenbar der Umstand, daß er, der sonst über alles nachdachte, zufällig dieses Verhältnis noch nicht überdacht hatte, durch meine Frage überrascht wurde und durch sie in Verlegenheit um die Antwort geriet. Übrigens bekenne ich heute die Ansicht, daß der Satz von der Phantasie, den Burckhardt für die Kunst aufstellte, freilich auch für die Poesie gilt. Ich glaube in der Tat, auch in der Poesie ist die beste Phantasieprobe die immer von neuem siegreiche Variantenarbeit über ein nämliches Thema, obgleich ich gewiß der letzte bin, den Wert der freien Erfindung in der Poesie bestreiten zu wollen. Jedenfalls ist das Herumvagieren in tausenderlei Stoffen kein Phantasiezeugnis. Sonst hätten ja die Dilettanten die reichste poetische Phantasie. Mich aber verletzte damals die Unterschiebung einer bösartigen Absicht in Verbindung mit der eindrucksvollen Inszenierung tief und nachhaltig. Diese Szene wirkte auf mich als Same der Entfremdung.
Über Lesen und Schreiben:
Ich sprach den Satz aus: Man sollte, um ein richtiges Urteil über den Wert fremdsprachiger Literaturwerke zu gewinnen, alles Fremdsprachige in Übersetzungen lesen, weil man sonst leicht das philologische Interesse, das man an der fremden Sprache nimmt, mit dem literarischen verwechselt und dadurch verführt wird, den Wert des Inhalts zu überschätzen. Er gab mir recht, immerhin mit der Einschränkung: »Eine einzige Sprache lese ich nicht in Übersetzungen: die französische.«
Ich erklärte, daß ich mich weigere, Goethes »Faust« wie eine Art Evangelium zu lesen. Lebhaft rief er: »Als Evangelium lese ich kein Buch der ganzen Welt!«
Ich bat ihn, mir zu raten, was es im Gebiet des Epos nach Ariost sonst noch Schönes für mich zu lesen gebe, ob vielleicht Milton oder die »Lusiaden«. »O nein, nicht Milton«, antwortete er »eher die ›Lusiaden‹, aber vor allem Tassos ›Befreites Jerusalem‹.« Auch in der hohen Wertschätzung des Tasso fand ich dann sein Urteil als zutreffend.
Seiner Empfehlung verdanke ich auch, daß ich die geistreichen, kunstvollen und phantasiegeschmeidigen Erzählungen Voltaires kennenlernte. Dem Antagonisten Voltaires, Rousseau, war er nicht hold. »Aber einen wundervollen Stil, eine prächtige Suada hat er.«
Wir redeten vom Stil. Burckhardt urteilte: »Die erste Hauptsache beim Stil ist, daß man etwas Sagenswertes zu sagen hat. Ich halte es mit Schopenhauer: ›Damit kommt man schon weit.‹«
Als er bemerkte, wie heftig ich zu reagieren pflegte, mich über Unstimmigkeiten ärgerte und Bücher, die mich ärgerten, wegwarf, mahnte er mich davon ab. »Sie müssen sich nie ein Werk verleiden lassen, weil es in einzelnen Teilen mißlungen ist.«
Über Goethe und Schiller: »Goethe mag der Lehrer der Deutschen sein und bleiben, dagegen als Künstler steht Schiller entschieden höher. Auf einen so nebensächlichen Umstand die Krisis zu gründen wie Goethe in seinem »Tasso«, das hätte sich Schiller niemals erlaubt.«
Über den Einfluß der deutschen Klassiker: »Die deutschen Klassiker haben heutzutage alle und jede Wirkung auf die deutsche Nation verloren. Der gegenwärtige Deutsche liest sie nicht einmal mehr. Er rühmt sie zwar; aber was er tatsächlich liest, das sind die Romane und die Zeitschriften.«
Meiner ungemeinen Hochschätzung Grillparzers, der damals fast verschollen war, stimmte er herzlich bei.
Ein Buch lag auf seinem Tisch, auf das er bei meinem Eintritt wies. »Da habe ich soeben ein reizendes neues Lustspiel gelesen. ›Nos bons villageois‹« heißt es, von einem gewissen Sardou. Das ist so fein, so geistreich geschrieben, daß ich überzeugt bin, er hat es vorher einer Freundin vorgelesen.« »Geben Sie so viel auf weibliche Kritik?« fragte ich. »Wohlbemerkt, wohlverstanden«, rief er eifrig, »nicht auf die Kritik des ersten besten weiblichen Geschöpfes, wohl aber auf die Kritik einer gescheiten, hochgebildeten, ausgezeichneten Frau. Solch ein Werk wie ›Nos bons villageois‹ ist ohne weiblichen Einfluß gar nicht denkbar.« Zu diesem Satze Burckhardts eine eigene Anmerkung: Die ganze französische Literatur steht seit Jahrhunderten beständig unter dem Einfluß geistig hochstehender Frauen. Jeder Franzose schreibt jedesmal im Hinblick auf den weiblichen Teil seiner Leser oder Hörer; er hat daher nicht unbedingt nötig, sein Werk einer einzelnen Frau zum Urteil vorzulegen. Er wittert das Urteil der Frauen.
Ich würde eine Wahrheit unterschlagen, wenn ich nicht auch meldete, daß trotz seiner überlegenen Einsicht in poetischen Dingen Burckhardts Urteil schmählich versagte, wenn es sich um lebende Dichter handelte. Zu dieser Behauptung habe ich sowohl allen Grund wie alle Ursache.
Burckhardt hatte ein geringes Klavier in seinem Zimmer stehen. Es gelang mir nie, ihn dazu zu bewegen, mir etwas vorzuspielen; er entschuldigte sich mit seiner Unzulänglichkeit. Dagegen mich nötigte er zum Spielen, meine eigenen Unzulänglichkeitsbeteuerungen steifnäckig beseitigend. Ich solle ihm vorphantasieren, begehrte er. Die Phantasie begleitete er dann jeweilen mit teilnehmenden Zwischenrufen: »Halt! jetzt genug der Überleitung, jetzt wieder das Thema« oder: »Dieser Trugschluß gefällt mir.« Und dergleichen mehr. Mitunter gab er mir auch ein von ihm erfundenes Thema zum Phantasieren auf. »Lassen Sie hören, was würden jetzt Sie aus diesem Thema machen?«
Ich bat ihn um Aufklärung, warum er im Kolleg, wo er seine Bewunderung für Haydn und Mozart ausgesprochen, den Namen Beethoven nicht mitgenannt habe. Ob ich aus dieser Unterlassung etwa schließen müsse, er verspüre für Beethoven nicht die nämliche uneingeschränkte Bewunderung? ob er etwas an Beethoven auszusetzen habe? »O nein«, verwahrte er sich eifrig, »an Beethoven etwas aussetzen, das hieße ja wahrhaftig, an der Sonne Flecken entdecken! Zwar nach meinem unmaßgeblichen Eindruck erscheint mir Beethoven mitunter zu lang; aber wie gesagt, das will kein Urteil sein; es ist nur mein privates, unmaßgebliches Empfinden.« Immerhin, ein zwar bescheiden gemeintes, aber riesengroßes Fragezeichen setzte er hinter Beethoven doch. Das verraten uns beiläufige Bemerkungen in seinen Büchern.
Gluck war sein Liebling, den er stets mit ernster, ehrfürchtiger Ergriffenheit nannte; auch sah ich etwa eine »Iphigenie« auf dem Klavier liegen.
Über Weber sprach er ein gewichtiges, nachdenkenswertes Wort: »Wer solche Allegri zu machen versteht wie Weber, der ist ein Genie allerersten Ranges.« Das Allegro als Kriterium für das Genie aufzustellen, während alle Welt um ihn herum das Adagio für das Höchste und Schwierigste ausgibt, das allein schon beweist, wie tiefinnerlich er nicht bloß die Musik, sondern auch die Kunst der Musik verstand.
Ich äußerte mein Mißfallen an der Kunstform des deutschen Singspiels, welches den Musiker nötige, mit kleinen, vereinzelten, kurzatmigen Nümmerchen zu zahlen. Die »Zauberflöte« zum Beispiel, meinte ich, bestehe aus lauter kleinen schönen Fetzen. »Ja, aber was für ›Fetzen‹!« protestierte er eifrig. »Es soll ein anderer einmal versuchen, solche Fetzen zu machen!« Und summte mir begeistert den Gesang vor, wie die beiden die Feuer- und Wasserprobe bestehen.
Ich sprach von der zauberhaften, weichen Anmut Chopins. Er stimmte mir mit den Worten bei: »Chopin ist einer der allerersten Melodienerfinder.« Die Melodie galt ihm als die Seele der Musik. »Mozart selber hat die Melodie für das Höchste in der Musik erklärt. Es ist gut, daß wir solch ein Zeugnis für die Melodie aus dem Munde eines Mozart besitzen.« Verächtlich sprach er sich über die Melodiefurcht der Modernen (1866) aus. »Jedesmal, wenn sie auf dem Wege sind, eine Melodie zu finden, verdrehen sie sie mit allerlei Kunststückchen, damit nur ja keine gesunde Melodie herauskomme.«
Meine Behauptung, nur gute, mit Herz begabte Menschen könnten wahrhaft musikalisch sein, die andern heuchelten sich Musikliebe bloß vor, billigte er. »Auch ich fühle mich angewidert, wenn ich nüchterne, trockene Philister im Konzert sitzen sehe.«
Seine stadtbekannte Liebe zur italienischen Musik gestand er gerne ein, mit dem Bewußtsein, sich ihrer nicht zu schämen zu haben. »Die Unfähigkeit des deutschen Urteils, die Schönheit der italienischen Musik zu erfassen, hat mir zuallererst die Augen über die Beschränktheit der deutschen Kritik überhaupt geöffnet.«
Unter den neuern Italienern zeichnete er vor allem Rossini aus; ihn liebte er mit dem Herzen eines gebornen Musikers, der sich an der Einzelschönheit berauscht. Er wies mich auf den echt gesangsmäßigen Charakter der Rossinischen Melodien hin, in welchen sich der tüchtige Sänger Rossini offenbare; als Beispiel sang er mir einige Noten aus der Einleitung zur Semiramis-Ouvertüre vor. Die Verleumdungsarie aus dem »Barbier« nannte er genial. Als ich gestand, in Rossinis »Stabat mater« trotz vielen Trivialitäten wunderbare musikalische Schönheiten zu kosten, stimmte er herzlich bei und verwies mich bei dieser Gelegenheit auf das damals Neueste von Rossini: seine Messe. In Baden-Baden, berichtete er mir, solle sie diesen Sommer gegeben werden. »Wenn ich es irgend möglich machen kann, so reise ich hin.«
In Bellinis »Norma« schätzte er auch den Text hoch, die dramatische Spannung. »In dieser Stunde sollst du erkennen«, sang er begeistert.
Ich hatte im Spätherbst 1865 eine doppelte musikalische Bekehrung erlebt. Ohne weder von Wagner noch von Verdi eine einzige Oper gehört zu haben, war ich Wagnerianer gewesen, weil mir sein Kunstprinzip einleuchtete. Aus dem nämlichen Grunde glaubte ich Verdi tief verachten zu sollen. Beim »Tannhäuser« erlebte ich dann eine musikalische Enttäuschung, beim »Trovatore« eine musikalische Überraschung. Über dieses seelische Vorkommnis erstattete ich Burckhardt Bericht. Es tue mir leid, erzählte ich ihm, aber ich könne nicht umhin, im »Trovatore« echte leidenschaftliche, packende Rhythmen zu erkennen. »Rhythmen«, gab er zu, »ja, Rhythmen haben sie, in dem Hexenkessel von Paris, wo immer etwas Teufels gebrodelt wird. Im übrigen ist Verdi ohne jeden Zweifel ein Wicht« (er bediente sich sogar eines stärkeren, vierfüßigen Ausdrucks). »Hören Sie doch nur zum Beispiel das:« und trällerte zum Beweis mit Ekel das As-Dur-Allegro »Ein unnennbares Sehnen« aus dem »Trovatore«. »Und nicht einmal eine anständige Ouvertüre bringt er ja zustande. Überhaupt, daß sie heutzutage alle miteinander nicht einmal mehr so viel Kunst und Kunstwillen aufzubringen vermögen, um eine Ouvertüre zu machen!« Dann spottete er über die Stiländerung im »Ernani«, indem er mir aus einem Artikel des Pariser »Figaro« das Wort zitierte: »Verdi, bleib Verdi, und wolle nicht Wagner sein.«
Über Wagner schnitt er mir kurz das Wort ab. »Über Wagner lohnt sich nicht zu reden. Der ganze Ruhm Wagners ist ein künstliches, gefälschtes Produkt fanatischer, verrückter Kapellmeister. Sobald Wagner die Augen schließt, spricht kein Mensch mehr von ihm.« Die Prophetengabe besaß Burckhardt, wie man aus diesem Beispiel sieht, nicht, wofür ich auch auf anderem Gebiete Proben liefern könnte. Aber er prophezeite tapfer drauf los, sich auf den Erfahrungssatz verlassend, daß den Propheten nur die Treffer angerechnet, die Nieten vergessen werden. Er konnte Wagner nicht leiden. Mit Behagen erzählte er mir das Urteil Rossinis über Wagner: »Schön, aber keine Musik.« Mit Wonne zeigte er mir auf der Bibliothek einen Artikel der »Neuen Freien Presse«, worin Wagner zerrissen wurde. »Jesus! Jesus!« rief er vergnügt, »wie der mit Wagner ins Zeug geht! Jesus! Jesus! Jesus!«
Folgender Spruch über Musik, den ich von Burckhardt gehört habe, verdient Beachtung: »Ich halte die beständige Verbesserung der Klavierinstrumente keineswegs für ein Glück. Allzu schöner Ton wirkt auf den Komponisten verführerisch, ähnlich wie der Goldgrund auf den Maler. Sie verlassen sich auf den Wohlklang und vernachlässigen darüber die Komposition!«
Das erste Mal, als ich Burckhardt aufsuchte, sprach ich meinen Wunsch nach einer Zentralwissenschaft aus, welche einem in der Zersplitterung der Fakultätswissenschaften als Kern diene. »Es gibt ja eine solche Zentralwissenschaft«, sagte er mit spöttischem Lächeln, »wenigstens behauptet sie, es zu sein: die Philosophie.« Burckhardt war, wie man weiß, und wie er selbst es oft genug erklärt hat, Antiphilosoph. War er Philosoph wider Wissen und Willen, wie Joçl glaubt und scharfsinnig entwickelt? Ich muß leider gestehen, nicht überzeugt worden zu sein.
Von dem Erzfeind, dem Erzphilosophen Hegel, urteilte Burckhardt so wegwerfend wie Schopenhauer, nur in anderem Stil; nicht mit Schopenhauers Grimm, sondern mit fröhlichem, souveränem Hohn. Belustigt schilderte er mir das »Fortmantschen des Begriffes« und veranschaulichte das ›Mantschen‹ mit entsprechenden Mund- und Armgebärden. »Aber einen vorzüglichen Schulsack hat er von Tübingen mitgenommen. Der kam ihm zugute.«
Ich redete von den Widersprüchen der Wissenschaft, von den Streitigkeiten und Zänkereien der Professoren. Mir scheine, nach so und so viel tausend Jahren könnte die Menschheit sich schließlich über einige Hauptsätze der Wirklichkeitswahrheit geeinigt haben, welche ein für allemal als feststehend gelten müßten, so daß hinfort niemand mehr sie anzuzweifeln wage. Er entgegnete: »Aus Ihren Worten erkenne ich, wie jung Sie sind. Sie wissen noch nicht, daß es Menschensorten gibt, die es sich zur Lebensaufgabe machen, Wust zu produzieren und das einmal Gewonnene immer wieder von neuem zu verwischen.«
Ich verhöhnte die kathederläufige Beschönigung der wissenschaftlichen Irrtümer, die Redensart: »Kollega X. hat sich zwar geirrt, aber durch seinen Irrtum hat er indirekt der Wahrheit gedient, indem er durch den Widerspruch, den er hervorrief, und so weiter.« Das wäre überaus bequem, meinte ich, da brauchte einer ja nur irgend etwas Verkehrtes zu behaupten und hätte sich dann um die Wahrheit verdient gemacht. Ob man denn etwa an eine automatisch wirkende Verbesserungskraft des Menschengeistes glaube, welche von selber Dummheiten in Gescheitheiten verwandle? Er lachte vergnügt: »So eine Art Korrekturmaschine, wo man oben eine Dummheit hineinwirft und unten kommt eine Gescheitheit heraus.«
Ich spottete über die Entschuldigung: »Es war zwar ein Irrtum, aber der Gedanke macht seinem Herzen Ehre.« Er rief: »Ich halte es mit den Gedanken, die dem Verstande Ehre machen.«
»Man zählt immer mit Stolz auf«, sagte er einmal, »wie viele Menschen in einem Volke lesen können. Es kommt nicht sowohl darauf an, ob sie lesen können, als darauf, ob sie auch wirklich lesen. Und daß sie auch über das Gelesene nachdenken.«
Proben von Burckhardts Logik:
Ich hörte ihn, ich weiß nicht mehr bei welchem Anlaß, sagen: »Ja, schon eine Wahrheit, aber eine Wahrheit auf einer andern, niedrigeren Stufe.« »Wahrheiten von verschiedener Stufe«, diese Art Logik verrät nach meiner Meinung einen ganz außerordentlichen, originellen Denker.
Der Prozeß, einen gegebenen Einzelfall in allgemeine Erfahrungssätze einzureihen, verschaffte seinem Geiste an sich Genugtuung. Ich erzählte ihm, vergangene Nacht hätte ich geglaubt, ein Knistern zu hören, als ob die Wand neben meinem Bette brenne, es hätte mich aber nicht weiter interessiert, ob sie brenne oder nicht. Er zitierte einfach einen lateinischen Spruch: »Wenn der nächste Balken brennt.« Ich erzählte ihm, wie ich meinen Freund Widmann zu einem Besuche bei meiner Tante mitnahm und wie daraus ein Verlöbnis zwischen den beiden entstand. Er klassifizierte, indem er im Tone der Weisheit aussprach: »Ja, ja, so etwas geschieht manchmal.« Der Satz für sich wäre ja so trivial als möglich, aber der Ton der Weisheit und das Einrangieren in die Allgemein-Erfahrung, an Stelle irgendeiner auf den Einzelfall eingehenden Bemerkung, fiel mir als bezeichnend auf.
Als Humanist und als Denker hielt natürlich Burckhardt (ähnlich wie Schopenhauer) sehr viel vom Wissen, von den erlernbaren Kenntnissen. Der Geographie schrieb er hohen Wert zu, und mit Recht; der Wert der geographischen Anschauung für den Menschengeist wird gemeiniglich, wie schon Herbart ausgeführt hat, weit unterschätzt. Eine besondere Hochachtung, ja Vorliebe, bekundete er für die Philologie, namentlich die klassische Philologie. Überschätzte er nicht ihren Wert? Theoretisch zwar nicht; man kennt Aussprüche von ihm, welche beweisen, daß er die Philologie prinzipiell bloß als Mittel, nicht als Selbstzweck auffaßte. Allein in praxi hat er nach meinen Erfahrungen (und ich habe es hier bloß mit meinen Erfahrungen zu tun) sowohl das erlernbare Wissen selbst wie den normalen Weg zum Wissen, also das Lernen und den Fleiß, ganz gewaltig überschätzt, im besondern den Fleiß in der Schule. Der ›Schulsack‹ galt ihm für etwas Unersetzliches, ja fast als etwas Heiliges. Von einem Nachholen der Kenntnisse nach der Schule schien er nichts zu wissen oder nichts zu halten. Die Tatsache, daß die berühmtesten, strahlendsten Leuchten der Menschheit die schlechtesten Schüler gewesen zu sein pflegten, schien er nicht zu kennen, von den fürchterlichen Gemütskrämpfen, welche oft gerade die Begabtesten im Schulalter heimsuchen und welche ihnen schlechterdings nicht erlauben, sich um lateinische Vokabeln zu kümmern, nichts zu ahnen. Er taxierte seine Schüler einzig nach ihren Kenntnissen und ihrem Lerneifer, liebte den Primus und verachtete die zuunterst Sitzenden. Dementsprechend fiel auch sein Geschichtsunterricht im Gymnasium aus, in den Jahren, da ich diesen erfuhr, 1861 bis 1863. Sein Schulunterricht war ganz auf das harmlose Jahresexämenchen zugeschnitten, das er wahrhaftig blutig ernst nahm! Diktierte ein paar Sätzlein, erläuterte diese kühl und sachlich und diktierte sofort weiter. Hernach ließ er sich die Niederschrift zeigen, ob sie auch schön genug geschrieben sei, um beim Examen eine gute Figur zu machen. Kein Wunder, daß er mir nachher gestand, er wisse wohl, daß ihm das Talent abgehe, die Schuljugend zu erwärmen. Freilich, »gut präpariert« kam er immer auch in die Schule, wie er sich mir gegenüber rühmte. So war es damals in meiner Klasse; wie es in einer anderen Klasse oder später sein mochte, geht mich hier nichts an.
Zur Illustrierung des Gesagten zwei Anekdötchen. Er hatte den hübschen Einfall, sich nach den Sommerferien bei den Schülern freundschaftlich zu erkundigen, was sie in den Ferien etwa gelesen hätten, und knüpfte aufmunternde Bemerkungen an die Geständnisse. Beim Primus fing er an und fragte geduldig immer weiter; aber vor den zwei Letzten machte er Halt; die zu fragen, lohnte sich nicht, das war für ihn Kehricht. Ich war der eine der beiden Letzten. Nun die andere Anekdote: Zu dem damaligen Basler Maturitätsschein-Examen, bei welchem einzig das Verhalten während der drei letzten abgelaufenen Schuljahre, nicht etwa die Arbeitchen und Antwörtlein des Exämenchens die Note bestimmte, kam für einige von uns als Nachschlag noch ein wirkliches Examen in Liestal dazu, wo es ziemlich scharf zuging. In diesem scharfen Examen erhielt ich eine gute Nummer. »Wart, Burckhardt, der du mich so verachtest«, sprach ich zu mir, »diese gute Nummer mußt du mir wissen.« Und meldete ihm meine gute Note. »So?« entgegnete er mit verächtlichem Naserümpfen, in beleidigendem Ton, »hat man gemogelt? hat man Ihnen aus persönlicher Vergünstigung, weil Sie ein Liestaler sind, eine gute Note untergeschoben?« Lieber verdächtigte er ein ganzes Examenkollegium, als daß er seine Meinung von einem Unfleißigen korrigiert hätte. Das also steht fest: den Wert des Fleißes in der Schule hat er unendlich überschätzt.
Später, in meiner Studienzeit, in unseren Gesprächen auf seinem Zimmer, habe ich dann nicht bloß wiederholt, sondern regelmäßig bei ihm in Wort und Ton eine solche tiefe, vorsintflutliche Ehrerbietung vor dem Wissen, namentlich vor dem philologischen Wissen, beobachtet, daß ich mich immer von neuem fragen mußte: Liegt in dieser merkwürdigen Zärtlichkeit für das Ochsen und die Ochsen nicht eine Schwäche vor? Wie verdrehte er zum Beispiel andächtig die Augen, als ob er die heilige Monstranz erblickte, wenn er mir mitteilte: »Die Sachsen sind vorzügliche Lateiner!« Wie ehrfürchtig sprach er den Namen des geringsten Philologen aus! Und wie stolz war er auf seine eigenen (nicht unbedeutenden) philologischen Kenntnisse! Wie schwelgte er in lateinischen und griechischen Ausdrücken! Einmal wollte ich über ein Werk Lukians mit ihm reden. Kaum hatte ich den Titel dieses Werkes genannt, so rief er begeistert: »Haben Sies gemerkt? Haben Sies gemerkt?« »Was gemerkt?« »Also haben Sies wirklich nicht gemerkt?« »Was nicht gemerkt?« »Daß es ein Akephalon ist.« »Daß es was ist?« »Ein Akephalon.« »Was ist das, ein Akephalon?« »Ein Buch, von welchem uns der Anfang, der Kopf, verlorengegangen ist«, antwortete er ernst und wichtig. »Ach so, nur das!« Über dieses Akephalon war er dermaßen in wonniger philologischer Aufregung, daß er für den Inhalt keinen Atem mehr übrig hatte. Wie ein Knabe einen Holzsäbel, so stolz schwenkte er sein Akephalon.
Der unselige heilige ›Schulsack‹ verschuldete schließlich sogar das Ende unserer Beziehungen. Ich glaube diese Tatsache hier erwähnen, nicht aber berichten zu sollen.
Etwas wird mir mitgeteilt, was zu glauben mir Mühe kostet, weil ich es als eine Ungeheuerlichkeit empfinde. Ich hatte bisher als selbstverständlich angenommen, daß Burckhardts Vorträge, sowohl die öffentlichen wie die Universitätsvorträge, sämtlich nach dem Stenogramm gedruckt der Welt vorlägen. Das scheint nicht der Fall zu sein. Wenn das wirklich nicht der Fall ist, dann erlaube ich mir, daran zu erinnern, daß es sich bei Burckhardts Vorträgen nicht bloß um die Wissenschaft der Geschichte handelt, sondern um viel mehr und namentlich um etwas ganz anderes, viel Höheres, ganz Unvergleichliches. Um was, das zu erklären oder auch nur ahnen zu lassen, dazu wäre eine ganze Abhandlung nötig. Ich muß mich hier mit dem Bekenntnis begnügen, daß ich den Verlust der kleinsten beiläufigen Seitenbemerkung Burckhardts als einen unersetzlichen verspüre.