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Im Anfang ist der Schlaf, lehrt tausendjährige Beobachtung. Im Anfang war der Traum, ergänzt meine Erinnerung. Und kein Traum war jemals der erste, selbst der älteste besann sich auf einen Vorgänger.
Ich spreche vom Traum im Schlafe, von der nämlichen Erscheinung, die auch dem Erwachsenen geschieht: Stilles Erwachen der scheuen Seele, wenn die Aufpasser: der Geist, der Wille, die Sinne ermüdet ruhen, spielerische, launenhafte Verarbeitung der Themen, die das Auge bei Tage aus der Wirklichkeit geschöpft, freies Erschaffen und Erdichten von leuchtenden Bildern und Gemälden, unbefugtes Auftauchen unterdrückter Sehnsuchtswünsche unter falschem Antlitz und Namen.
Der letztere, der verräterische Sehnsuchts- und Wehmuttraum, ist ein Vorrecht des Erwachsenen. Die thematische Verarbeitung dagegen und das Dichten versteht der Traum des Kindes besser. Tausend kleine Dinge und Vorkommnisse des wachen Lebens, die den abgestumpften Erwachsenen gänzlich kalt lassen, die er nicht einmal mehr sieht und, wenn er sie sieht, nicht bemerkt, rühren dem Kinde, weil es noch frisch fühlt und weil ihm die Erdendinge neu sind, bis in die Seele und erzeugen Traumspiegelungen im Schlafe. Ich kann aus meiner Erfahrung berichten, daß mir ein Eisengitter um ein Haus, ein flüchtiger Blick in ein Kellergeschoß in der darauffolgenden Nacht ernste, tiefsinnige Träume verursachten, daß auf größere Neuigkeiten, zum Beispiel auf den erstmaligen Anblick strömenden Wassers, ein wahrer Traumsturm folgte. Und wie golden schon die Landschaftsbilder in den Träumen des Erwachsenen leuchten mögen, die Landschaften, die der Traum des Kindes malt, sind noch viel seliger und süßer. Die Träume meiner zwei ersten Lebensjahre sind meine schönste Bildersammlung und mein liebstes Poesiebuch. Niemand wird mir zumuten, daß ich sie erzähle; denn Träume lassen sich ja überhaupt nicht erzählen; sie zerrinnen, wenn der nüchterne Verstand sie mit Worten anfaßt.
Von den Sehnsuchtsträumen kennt das Kind wenigstens den Liebestraum, jenen Traum, der über eine herzinnige Gegend den Seelenodem eines geliebten Menschen wie einen Schmelz hinhaucht, während vielleicht die Gestalt des Geliebten in dem Gemälde gar nicht sichtbar wird. So erging es mir als Kind mit meiner Großmutter. Welche Märchenlandschaften immer der Traum mir vorzaubern mochte, unfehlbar schwebte der Geist meines Großmütterchens darüber.
Die Traumwelt ist ein Reich für sich, mit besonderer Landeshoheit und eigenem Verkehrswesen. Drahtlose Phantasie entführt auf geheimen Wegen den Träumenden blitzschnell an die entlegensten Stellen, zum Beispiel in die früheste Kindheit zurück, und läßt ihn dort wieder genau so schauen und fühlen, wie er einst geschaut und gefühlt hatte. Wenn ich aber im Traum die nämlichen Gefühle und Gesichte erlebe, ob ich zweijährig oder zwanzigjährig oder sechzigjährig bin, wenn ich darauf beim Erwachen es als eine Überraschung empfinde, daß ich das eine Mal mich als gesund, ein anderes Mal als krank verspüre, heute vor der Welt einen Buben vorstelle, den man maßregelt, morgen einen bärtigen Mann, vor welchem man den Hut zieht, so gelingt es mir nicht, nichts dabei zu denken. Folgendes muß ich denken: Inwendig im Menschen gibt es etwas, nenne man es Seele oder Ich oder wie man will, meinetwegen X, das von den Wandlungen des Leibes unabhängig ist, das sich nicht um den Zustand des Gehirns und um die Fassungskraft des Geistes kümmert, das nicht wächst und sich entwickelt, weil es von Anbeginn fertig da war, etwas, das schon im Säugling wohnt und sich zeitlebens gleich bleibt. Sogar sprechen kann das X, ob auch nur leise. Es sagt, wenn ich seinen fremdländischen Dialekt recht verstehe: »Wir kommen von weitem her.«
Nicht die Bühne, der Zuschauer ist es, der in dem Theater, das ich meine, Andacht verdient. Zwar ein sonderbarer, kümmerlich gestalteter Zuschauer: ein hilfloses, zwerghaftes Geschöpf ohne Sprache, ohne Zähne, mit lächerlich kleinen Gliedern und einem unmäßig großen Kopf; aber aus dem Kopfe blicken zwei klare, kluge Augen, die, ob noch unerfahren, nicht wissend, was sie sehen, Nähe und Ferne nicht schlichtend, eifrig schauen, saugen und schöpfen; und hinter den Augen lauscht das Edelste, wovon wir Kunde haben: die lebendige Seele.
Sie ist noch fremd hiezulande – halt! wart! zeig! du hast ja ein Johanniswürmchen auf dem Ärmel! wo bist du denn gewesen? – und die Neuigkeiten der Erde, die ihr die Augen melden, erfüllen sie mit Staunen. »Was ist das für ein seltsamer harter Traum dort draußen, der sich nicht verflüchtigt, dessen Bilder bestehen, am hellen Tage, bei wachen Sinnen? Und ein strenger, feindlicher Ernst weht mir aus diesem Traum entgegen, wie von etwas, das anders ist als gut.«
Das ist nun lange her. Aus dem Zuschauer ist inzwischen ein Mitspieler geworden, ungefragt, ohne seine Einwilligung; und eine mühsame Rolle gab es zu lernen, ohne Hilfe eines Buches oder Lehrers, im harten Traum, an welchem man sich stößt und der einen grausam büßt, wenn man seine Rolle nicht weiß. Darüber hat die Seele das Staunen verlernt – es gab Dringlicheres zu tun –, und der Staub der Jahre hat die Urzeit in Vergessenheit begraben. Nur wie etwa aus Trümmerschutt Bruchstücke altehrwürdiger geheimnisvoller Schriftdenkmäler, so leuchten noch vereinzelte Erinnerungsbilder an die Stunden nach, wo die Seele, noch Neuling auf Erden, als vermeintlich unbeteiligter Zuschauer in den Weltraum staunte. So entsinne ich mich, ergriffen wie vor einem ernsten, erhabenen Kunstwerk, wie und wo – ich könnte die Stellen zeigen – ich zum ersten Male meines Lebens einen Wald schaute, einen Regen im Freien erlebte, einen Fluß strömen sah, und ähnliches.
Kleinigkeiten, nicht wahr? So scheint es. Und doch für mich das Teuerste in meinem ganzen geistigen Besitztum. Was gelten mir zum Beispiel alle Reisen meines Lebens zusammengerechnet im Vergleich zu dem kurzen Viertelstündchen Weg, da ich eines Abends aus dem Acker des Großvaters dem Langen Hag entlang nach dem Steinenbrücklein getragen wurde? Der schwächste Schimmer eines Gedächtnisbildes aus der sprachlosen Zuschauerzeit ist mir wichtig und heilig wie dem Frommen die Bibel.
Warum so wichtig und heilig? Ich vermute, wegen des Johanniswürmchens auf dem Ärmel.
Tag und Nacht, immer von neuem Tag und Nacht – wozu? Auf allen Seiten ungeheuerlich viele Dinge, die einen nichts angehen – wofür? Doch aus dem wüsten Wirrsal taucht zu Zeiten ein holdes Gesicht, und so oft das Gesicht nahe kommt, wird einem wohl. Jetzt braucht man nicht mehr zu wissen, warum, fragt überhaupt nicht mehr nach etwas anderm. Dieses Gesicht wurde mir lieb, und mit der Zeit, als ich anfing, Worte zu verstehen und nachzulallen, lehrte man mich seinen Namen: »Großmutter«.
Man kann heißer und leidenschaftlicher, aber nicht inniger und seliger lieben, als ich in meinem ersten Lebensjahre meine Großmutter liebte. Eine ruhige, stetige Liebe ohne Trübung, glücklachend, herzjauchzend, mit selbstverständlicher Gewißheit der Gegenliebe, eine Liebe, frei von Wünschen und Seufzern, von Werbung, Versteckspiel und Verschweigen. Lauter Gewinn: Trost, Labsal und Erquickung.
War die Großmutter leiblich zugegen, so liebkoste ich sie. Doch nicht etwa mit Küssen – pfui! was haben nur die Großen ewig mit ihrem dummen Küssen! –, sondern mit zärtlichen Händen das traute Gesicht betastet, einerlei wohin, auf den Mund, auf Stirn und Augen, auf die unvergleichlichen runzligen Backen. Es kam vor, daß sie mürrisch dreinschauen, schmälen, schelten wollte. Warum nicht gar! Strenge aus diesem Munde? Das nahm ich gar nicht ernst, das lachte ich einfach weg.
Vielleicht noch glückstiftender wirkte die abwesende Großmutter. Ihr Name, der alles Gute enthielt, vergoldete meine Träume, versüßte mir Feld und Flur. Fremd und kalt glotzte mich die Umwelt an; ein Aufleuchten der Vorstellung von der Nähe der Großmutter, so war das Gelände entsühnt, gesegnet, verwandt.
Es war eine treue Liebe; zehn Jahre hat sie ungemindert vorgehalten, allmählich durch Hinzukunft der Sehnsucht sich sogar noch steigernd, und als sie später nachließ, lag die Ursache nicht an mir. Die größte Bedeutung aber hatte sie für mich am Lebensanfang. Denn in meinem ersten Jahre bedeutete mir die Großmutter mein Glück, meine Poesie, mein verklärtes Ich.
Wenn ich gegen Ende meines ersten Lebensjahres, also etwa nach meinem erstmaligen Ausflug nach dem Steinenbrücklein auf dem Arm der Großmutter, gestorben wäre, so würde ich dort, von wo ich herkam, während man in Liestal ein kleines Kind mehr begrub, den Mund zum Erzählen weit aufgemacht und nach einem langen tiefen Atemzug Unerschöpfliches davon zu berichten gewußt haben, was ich alles auf der Erde Erstaunliches gesehen und erlebt. Und hätte man mich dann geheißen, den Inhalt meiner irdischen Erlebnisse zusammenzufassen, so würde ich gesagt haben: »Viel Gras und Liebe«.
Ich zweifle, ob ich in meinem ganzen späteren Leben wesentlich Neues dazu erlebt habe.
Wenn mich aber jemand fragte: »Wann in deinem Leben warst du am meisten Ich? welches deiner Ich in den verschiedenen Lebensstufen geht dich am nächsten an? welches davon würdest du bekennen, falls du wählen müßtest?« – so würde ich antworten: »Das meiner frühesten Kindheit«.
Während ich in der Regel, um Luft zu schöpfen, nach des Großvaters Acker auf dem Hügel hinter dem Hause gebracht wurde, trug mich das Dienstmädchen einige Male in der Richtung nach dem Städtchen (Liestal), sei es vorn aus dem Hause auf der Landstraße bis zum Stadttor und hinten herum zurück oder in umgekehrter Folge: hinten hinaus und auf der Landstraße heim. An diese Ausflüge in städtischer Richtung knüpfen sich meine ältesten völlig klaren Erinnerungen aus dem nüchternen Tagesleben bei wachen Sinnen.
Ich spürte mich auf dem Arm von jemand herumgetragen, der mich schon früher herumgetragen hatte und der nicht meine Mutter war. Eine Unmenge Licht und Luft traf mein Gesicht. Nach welcher Seite ich die Augen wendete, erblickte ich unglaublich hohe lautlose Dinge, die ich deutlich sah, aber nicht begriff. Und von Zeit zu Zeit rückten ähnliche unmäßig hohe Undinge zu beiden Seiten heran. Diese stummen Ungeheuerreihen gewahrte ich weder staunend noch ängstlich, bloß befremdet und ein wenig scheu. Allmählich, wie das so fortdauerte, wurde mir trübselig zumute. Die ganze Geschichte begann mir zu verleiden, außen wie innen. Denken konnte ich noch nicht, nur fühlen, Mein Gefühl, in Gedanken übersetzt, würde gelautet haben: »Ich mache nicht mehr mit.« Plötzlich, auf dem Rückwege, zwischen einem Zaun und einem Acker, blitzte mir ein Trost auf: »Die Dinge hier herum kenne ich, von hier geht es zu einem trauten Nestlein und wohlgesinnten Menschen hinunter.« Ob dieser Erkenntnis fiel auf den tröstlichen Fleck Erdboden ein schöner Schimmer, der ihn von der wüsten, weiten Welt auszeichnete. Der schöne Schimmer ist nie erloschen. Zeitlebens hat mir von damals her jenes schmale Weglein auf dem Hügel des Großvaters für den Urkern meiner Heimat gegolten.
Ein anderes Mal, als der Ausflug in umgekehrter Richtung geschah, zeigte auf dem Rückweg die Gestalt, die mich auf dem Arm hielt, mit eifriger Gebärde nach einer himmelhohen, kahlen, häßlichen Mauer. Und da ich dem Zeichen mit gleichgültigem Blick folgte, nicht begreifend, was man von mir begehrte, redete sie mit aufmunternden Locktönen auf mich ein, bis ich endlich mit Anstrengung aller Geisteskraft erriet, inwendig, hinter dieser häßlichen Mauer, wohnten die guten Menschen, die täglichen, die meinigen. Und jetzt wurde die häßliche Mauer schön, das heißt nein, sie blieb genau so häßlich wie vorher, nur war etwas wie ein durchsichtiger Schein darüber, wenn man an das dachte, was dahinter wohnte.
Später wurde ich einmal ins Städtchen selber getragen. Nachdem wir durch einen finstern Hausgang aus der Hauptstraße in eine Nebengasse gelangt waren, kamen wir vor ein enges Gäßlein, in welchem eine Reihe aufgebrachter Weiber mit den Armen wütend in qualmenden Kesseln herumschlugen. Ganz in Dampf waren sie versteckt. Hoffentlich geht es nicht etwa durch dieses gefährliche Gäßlein! Doch wahrhaftig – warum denn? zum Ausweichen ist ja Platz genug – schwenkte meine Trägerin gerade dorthin. Nun wollte ich mich gewaltig fürchten. Allein, sonderbar, das Fürchten gelang mir nicht, es war mir zu schwierig. Ich konnte einzig die Augen aufreißen und den zornigen Weibern entgegenstarren. Diese aber, als ich dicht vor ihnen vorübergetragen wurde, taten mir nicht das mindeste zuleide. Im Gegenteil, sie lächelten mich lieblich an und nickten mir herzliche Grüße zu, wie die Großmutter. »Sind das nun fortan alles meine Großmütter?« fragte ich mich auf dem Heimwege. Und noch mehrere Tage nachher meinte ich jedesmal, wenn die Tür aufging, meine neuen Großmütter müßten hereinkommen. Vergebliche Hoffnung. Es blieb bei der einzigen Großmutter. Schade!
Aus der Wiegen- und Kinderstube habe ich wenig Gutes behalten: verworrene Erinnerungen an mühseliges Dasein, verschönt mit Geplärr, versüßt mit Arzneiflaschen und dürren Zwetschgen. Binde das Ganze zum Strauß, wickle ein Papier darum und schreibe darauf: »Prosa«.
Freilich, wenn nichts mehr nützen wollte, gab es noch das Fenster. Darum vom Kindermädchen auf den Arm gehoben, auf- und nieder geschüttelt, an die Scheiben getrommelt und: »Tütütütü, sieh dort die Krähe!« Krähen gab es allerdings jederzeit zu sehen, drüben jenseits der Straße, in der unabsehbar großen Matte des Großvaters. Die bewegten sich, spazierten durchs Gras, flogen auf einen Baum, krächzten, schaukelten auf dem Wipfel oder auf den Zweigen – das war wenigstens etwas, obschon nicht viel. Immer das nämliche, keine Hoffnung auf Abwechslung. Als Vorspiel annehmbar, hingegen das Hauptstück, das man von ihnen erwartete, die besondere Überraschung, blieben sie einem schuldig. Besser schon, wenn es hieß: »Tütütütü, sieh dort den Storch!« Ja, dann sperrte ich die Augen auf und wandte keinen Blick von dem prächtigen Herrn, solange er auf der Matte stolzierte. Leider war der Storch kein täglicher Gast wie die Krähen, es gab sogar unendliche öde storchlose Zeiten. Warum ist die Matte so freigebig mit unnützen Krähen und so geizig mit den tröstlichen Störchen? Nein, von der trügerischen Matte will ich nichts mehr wissen! aufhören mit »tütütü«! weg vom Fenster! Also geplärrt, zornig mit den Beinen gestrampelt und mit den Armen um sich geschlagen.
Und erst, wenn es regnete! O Jammer! o Elend! o Verzweiflung! Ja, Verzweiflung, echte, abgrundtiefe, uferlose Verzweiflung. Das Kind kennt ja noch nicht die Vergänglichkeit aller Zustände. Es meint, weil es überall regnet und beständig regnet, werde es immer regnen. Die gepriesene Fähigkeit des Kindes, im Augenblick aufzugehen, hat eben auch ihre Kehrseite. Überhaupt: die Weltanschauung des Kindes! Doch halt! ich möchte nicht in die Philosophie geraten.
Zwei Erfahrungssätze aus meiner Kinderstubenzeit darf ich mir aber nicht erlauben zu verschweigen: Man kommt nicht jung auf die Welt und wird allmählich älter, sondern umgekehrt: anfänglich fühlt man sich uralt und erst viel später jung. Es gibt, von innen gefühlt, gar keine Kinder; das ›Kind‹ ist eine Erdichtung der Erwachsenen.
Mein Vater wohnte in einem Anbau der Brauerei Gebrüder Brodbeck vor dem Obern Tor zur Miete. Im ersten Stock hatte er seine Familie – dort bin ich geboren –, im Erdgeschoß seine Kanzlei, zuerst als Statthalter (préfet), hierauf als Landschreiber (Kanzler).
In ältester Urzeit wurde ich eines Abends, als es schon finster war, in die Kanzlei hinuntergetragen, wo zwei unbekannte Frauen saßen, die mir mit lockenden Tönen zur Begrüßung empfohlen wurden. Aus den Locktönen erriet ich, daß es sich um freundliche Gestalten handelte. Mehr begriff ich nicht; ich war noch nicht fähig, Worte und Namen zu verstehen und mir fremde Gesichtszüge zu merken. Sehen zwar konnte ich jede ihrer Bewegungen, aber ich sah sie wie eine Pantomime. Auch wußte ich noch gar nicht, was das ist, will und bedeutet: sprechen, reden, sich unterhalten. Ich sah wohl die Lippen sich bewegen, hörte deutlich alle Stimmen, unterschied sie sogar voneinander, doch wozu die Töne geschahen, war mir rätselhaft. Und wie nun folgends von den Anwesenden einige von den Stühlen sich erhoben, den Platz wechselten, sich anders paarten, bald mit diesem, bald mit jenem in der Kanzlei auf- und abschritten, wurde mir vor dem erstaunlichen Anblick unheimlich. Scheu sah ich dem unverständlichen Vorgang zu.
Dann klingelte ein Fuhrwerk vors Haus, die eine der Frauen gab allen die Hand und fuhr gegen das Städtchen in die Nacht hinein. Gleich darauf erschien ein zweiter Wagen, und die übrige, von Papa vor die Haustür begleitet (ich höre noch seine Stimme, wie er sie verabschiedete), reiste nach der entgegengesetzten Seite in die Nacht davon.
Durch diese zwiefache nächtliche Abreise gewann ich die Ahnung, daß irgendwo, weit, weit von hier, in dunkeln Gegenden hinter den Bergen, wohlgesinnte Menschen hausten. In der Folgezeit zeichneten sich diese in meiner Vorstellung nach und nach deutlicher ab. Mein Ohr begann einige Namen zu erfassen und zu behalten: Urgroßmutter, Base, Tante, Tantegotte, Langenbruck, Waldenburg. Da jedoch meine Fähigkeit, Verwandtschaftsverhältnisse auseinanderzulesen, äußerst gering war, wurde zur Erleichterung des Verständnisses alles, was Gutes in der Ferne wohnte, ›Base‹ getauft. Also ›Base Urgroßmutter‹, ›Base Salome‹, ›Base Tantegotte‹ und so weiter.
Leibhaftig bekam ich diese Basen nicht zu Gesicht. Dagegen machten sie sich hin und wieder durch leckere Überraschungen lieblich bemerkbar. Bald kamen Rosinchen, bald Schenkeli zum Vorschein, andere Male gab es einen ›Bhaltis‹ (Aufbehaltenes) von einer Hochzeit oder einem Geburtstag oder einem Leichenschmaus. Es nützte nichts, daß man mir den Namen des zweibeinigen Osterhasen jeweilen zum dankbaren Gedächtnis mitteilte, mein Gehirn schaffte immer Verwirrung; bis man schließlich die Basen nach ihren Lieblingsgeschenken unterschied, also zum Beispiel ›Rosinenbase‹, ›Schenkelibase‹ und so weiter. Diese Verwandtschaftsgründe begriff ich.
Die Lebensgewohnheiten der unsichtbaren Basen dachte ich mir, das war meine Logik, ihren Sendungen gemäß zurecht. Die eine köcherte jahraus, jahrein heimlich Schenkeli, eine andere, hinter einem Busch versteckt, Leckerli. Von Zeit zu Zeit, wenn die Lustigkeit sie übernahm, besuchten sie einander hinter den Bergen und kamen von allen Seiten bei der Urgroßmutter oben in Langenbruck zusammen auf einer runden Wiese zwischen den Bäumen, klatschten in die Hände, lachten, sprangen und tanzten miteinander. Dann gab es einen Bhaltis.
Unerwartet fügte sichs dann, daß ich mit einer der Basen traulich bekannt wurde. Und zwar gerade mit jener, von welcher am seltensten die Rede war, mit der Tante Gotte in Basel.