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Als ich die Einladung erhielt, zum Gedächtnis meines lieben, verehrten Lehrers Wackernagel einige Worte beizutragen, war mir zumute, wie wenn man mir ein Türchen meines Herzens öffnete, damit der dort auf Aussprache wartende Dank und Segen herausspringe. Ist doch Wackernagel der einzige Lehrer gewesen, von welchem ich einen erzieherischen Einfluß erhielt, der einzige, für welchen ich die Dankespflicht, die ich andern ebenfalls schulde, im warmen Herzen auch lebendig spüre. Allein mit Gefühlen, wie lebhaft sie schon seien, ist der Einsicht in den Wert der Wackernagelschen Erziehungstätigkeit nicht gedient. Seien wir daher verständig, und suchen wir uns verständlich auszudrücken.
Ein großer Lehrer war Wackernagel, so groß, daß sein Beispiel verdient, als Muster für jeden Lehrer aufgestellt zu werden. Die Wahrheit dieses Satzes ist durch die Tatsache bewiesen, daß von diesem einen Manne Jahr für Jahr mehr Wirkung auf die Schüler überging als von sämtlichen übrigen Lehrern zusammengenommen; daß eine knappe Anerkennung aus seinem redearmen Munde mehr galt als alle Auszeichnungen der Schule, daß eine gute Note, von ihm erteilt, für ein Talentzeugnis erachtet wurde, daß auch der widerwilligste, schulfeindlichste Schüler ihn liebte und verehrte, daß ein stillschweigendes, von sämtlichen befolgtes Übereinkommen herrschte, diesem Lehrer niemals einen Possen zu spielen, niemals eine Ungebührlichkeit zu bieten. Und das Geheimnis dieser Wirkung?
Die Wirkung beruhte nicht auf dem Unterricht, also in der Unterweisung in der deutschen Sprache und Poesie. Was die Sprache betrifft, so verwehrte schon die kärglich zugemessene Stundenzahl, zwei oder drei Stunden in der Woche, einen tieferen Eindruck des Gebotenen; einen Monat lang die Vorsilben ge und be, einen Monat lang die Endsilbe heit oder tum: man vermochte bei dem abgestückelten, durch Jahre sich hinziehenden Vortrag der deutschen Grammatik gar nicht ein System oder auch nur den Zusammenhang zu übersehen (ich spreche vom Obergymnasium, dem sogenannten Pädagogium, nicht von der Universität). Auch hatte Wackernagels trocken sachliche Lehrweise nichts Begeisterndes; höchstens davon erhielten wir Schüler aus seinem sprachlichen Unterricht eine entfernte Ahnung, daß auch die deutsche Sprache der Achtung und Aufmerksamkeit wert wäre. Die Einführung aber in die Werke der klassischen deutschen Dichter, womit andere Deutschlehrer die Schüler hinreißen, war bei Wackernagel gleich Null. Es wurde niemals irgendein klassisches Dichtwerk in seinen Lehrstunden gelesen, ja ich erinnere mich nicht, die Namen Lessing, Goethe und Schiller von ihm anders als beiläufig, anlaßweise aussprechen gehört zu haben; vielmehr verleitete ihn seine Frömmigkeit zur Bevorzugung religiöser Dichter dritten und vierten Ranges. Die Wirkung beruhte auch nicht auf gedankentiefen gelegentlichen Aussprüchen (im Zusammenhang lehrte der wortkarge Wackernagel nie), denn Wackernagel war weder als Denker noch als Ästhetiker von hervorragender Bedeutung. Und dennoch diese fabelhafte, geradezu unglaubliche Wirkung auf die Schüler! Worauf beruhte diese nun? Einzig und allein auf der magischen Macht seiner Persönlichkeit. Und diese magische Macht bezog er vor allem aus seiner Güte und Wärme. Wie ein geheizter Ofen einen frierenden Hund, so zog dieser gute große Mensch die Jugend an, die arme, verscholtene, verpädagogisierte, ewig gemaßregelte Jugend, die zu beneiden man sich das Wort gegeben hat und die doch von allen Menschenklassen die erbarmungswürdigste ist, da sie noch nicht einmal so viel Boden auf Erden gewonnen hat, um auch nur von ihrer Daseinsberechtigung völlig überzeugt zu sein; die sucht sie ja erst noch in der Zukunft.
Doch Güte und Wärme vermochten es nicht allein; es gibt ja gute, liebevolle Lehrer, denen die ruchlose Bubenschaft auf dem Kopfe tanzt; es kommen ehrfurchtgebietende Charaktereigenschaften hinzu. Zunächst seine reine, unbestechliche Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, Tugenden, die der Schüler zuerst vom Lehrer fordert und die er am höchsten schätzt. Bei Wackernagel gab es keine Voreingenommenheit gegen einen Buben, keine Ansteckung durch das Urteil der andern Lehrer; bei ihm konnten die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein; und das war denn auch tatsächlich vielfach der Fall.
Dann etwas im Charakter, im Auftreten, das unmittelbar Ehrerbietung einflößte; eine Miene, ein Wörtlein von ihm wirkte wie ein Ereignis, selbst bei solchen, welche die polterndsten Strafpredigten eines ganzen Lehrerkollegiums mit Hohn und Verachtung über sich ergehen ließen. Strafen gab es in dem großherzigen, milden Basler Pädagogium überhaupt keine; aber Wackernagel brauchte auch nicht einmal zu schelten; ein Wörtlein Tadel aus seinem Munde schmerzte schon gewaltig, indem sein Tadel beschämte, ja entwertete.
Das war der Quell seiner Wirkung: seine ehrfurchtgebietende und liebeerzeugende, weil liebespendende Persönlichkeit. Das Mittel der Wirkung wieder war der deutsche Aufsatz und nur er. Auch hier übrigens keinerlei Unterricht; keine Belehrung über Stilgesetze, keine Einführung in den Inhalt des Themas, nichts; nur das Thema, jetzt schreib. Daß das der Gipfel der Pädagogik wäre, die Schüler ohne jede Anleitung schreiben zu lassen, würde man wohl auch theoretisch nicht zugeben. Und dennoch hat Wackernagel mit diesem System geradezu Wunder gewirkt; Hunderte hat er aus Stilstümpern zu anständigen Schreibern erzogen, Dutzende von Individualitäten und Talenten geradezu geweckt. Wie ging nun das wieder zu?
Erstens war es der Ehrgeiz jedes Schülers, unter dem deutschen Aufsatz eine gute Zensur zu lesen; man mochte im Griechischen, in der Mathematik oder wo immer mit Achselzucken die schlimmste Note hinnehmen, nur von Wackernagel wollte man das heiß ersehnte »sehr gut« unter dem Aufsatz haben. Also: man strengte alle seine Kräfte an. Zweitens flößte Wackernagels Aufsatzkritik Mut ein, löste hiemit die Eigenart eines jeden, indem sie die Furcht und die Bedenken beseitigte. Das geschah folgendermaßen: Jedem Aufsatz, wie er auch wäre, war von vornherein Tadellosigkeit hinsichtlich des Inhalts zugesichert; der Inhalt wurde bloß durch die stumme schriftliche Zensur, nicht vor der Klasse beurteilt. Man war also frei, zu schreiben, was man wollte, und durfte hierin unglaublich weit gehen, bis zur Keckheit; was denn auch häufig geschah, nicht zum Vorteil der Bescheidenheit, doch zum Nutzen der Eigenart. Also was man schrieb, kam gar nicht zur Sprache, nur um das Wie in stilistischer und grammatischer Hinsicht, und zwar jeweilen nur um den einen herausgerissenen, fehlerhaften Satz handelte es sich bei der Aufsatzkritik. Diese grammatikalische Kritik wieder war ein Meisterstück des Zartgefühls. Wackernagel schonte einerseits den Verfasser des Aufsatzes, dessen Verstöße zu rügen waren, indem er nie den Verfasser nannte, so daß der Fehlende allein wußte, wer den Fehler begangen hatte, – eine Maßregel von allerhöchster Bedeutung, denn so wurde der Fehlende der grausamsten Schulstrafe: des Hohnes seiner Kameraden enthoben; anderseits ließ er den anonymen Fehler durch die ganze Klasse korrigieren (»Wer kann korrigieren?«), so daß durch die Richtertätigkeit das Stilgefühl und das Selbstgefühl der Klasse erhöht wurde. Überall im Aufsatz das Ziel, den Schüler Mut, Freiheit und Individualität gewinnen zu lassen. So ist es vorgekommen, daß ein Schüler, der von jeher im deutschen Aufsatz der verspottete und verachtete Sündenbock gewesen, mit dem Augenblicke, da er zu Wackernagel kam, der beste deutsche Stilist der Klasse wurde; deshalb, weil er bei Wackernagel die Furcht verlernte, also wagte, er selbst zu sein, sich frei herauszugeben.
Doch genug, oder vielleicht zuviel. Ich schließe, womit ich begann, mit einer ehrfürchtigen Verneigung der Dankbarkeit vor dem geliebten Gedächtnis dieses wohlwollenden Mannes. So tief und nachhaltig ist meine Verehrung, daß ich es mir beinahe wie eine Unschicklichkeit vorwerfe, Wackernagel gepriesen zu haben. Denn nicht ihn zu preisen, sondern ihn zu segnen heißt mich mein Dankgefühl.