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Zum folgenden Winter ist meinem Gedächtnis der Schlüssel abhanden gekommen. Möglich, daß ich ihn wieder finde. Gegenwärtig weiß ich nichts mehr davon als ein paar flüchtige Zwischenfälle, und auch von ihnen bin ich nicht sicher, ob sie nicht in den vorjährigen Winter fielen. Erinnerungsbilder, mögen sie noch so hell und deutlich sein, ermangeln eben der Unterschrift, wie das Leben selber, und auch das treuste Gedächtnis ist schlecht beschlagen im Kalender.
Einmal, während ich im Hausgang stand, liefen nacheinander meine beiden Eltern und Agathe aufgeregt an mir vorbei, über die Straße in die Brauerei. Als sie kurz darauf beruhigt zurückkamen, sagte Agathe im Ton des Vorwurfs zu mir: »Wäre es dir denn ganz gleichgültig gewesen, wenn dein Bruder Adolf gestorben wäre?« Er hatte drüben hinter der Küche eine Vitriolflasche an den Mund gesetzt, in der Meinung, es wäre Zuckerwasser. Glücklicherweise spritzte ihm ein Tropfen rechtzeitig an die Lippen, so daß er mit einer geringfügigen Verbrennung davonkam.
Ein anderes Mal geschah ein Aufruhr der Freude. Der sagenhafte Onkel Henri war unerwartet aus Bordeaux angekommen. Es gab ein paar Stunden lang ein lebhaftes, festliches Hin und Her, ich sah einen schönen jungen Mann, der enge Beinkleider mit Strippen unter den Stiefeln trug, wie mein Vater, was mir gefiel. Doch das freute sich über meinen Kopf hinweg, ohne sich sonderlich um mich zu kümmern, und ehe ich recht begriff, daß der Onkel Henri bei uns sei, war er schon wieder weg.
Dann machte eines Tages die Morgensonne auf ihrer Reise vom Schleifenberg zum Alten Markt einen Abstecher und gab in unserm Häuschen eine Privatvorstellung. Ein Strahl traf ein Fenster, das loderte und blitzte. Dem über das Wunder Jubelnden holte Agathe ihr Spiegelchen, und nun verübte ich begeistert Spiegelfechten. Was Augen vorwies, diesseits wie jenseits der Straße, wurde geblendet. Bis mich Papa auf das Schädliche des Vergnügens aufmerksam machte. Ich habe später im Knabenalter das Kunststück wiederholen wollen, allein es schmeckte lange nicht mehr so gut wie jenes erste Mal.
Im Frühling aber begann mein Vater eifrig zu gärtnern. Neben Holzspalten und Sägen war das seine Lieblingsbeschäftigung in friedlichen, ›idyllischen‹ Zeitläuften. Früher, vor dem ›Idyll‹, waren es andere gewesen: Reiten, Fechten, Duellieren, Hunde dressieren, Hauen, Raufen und Kriegen. Das Rauchen nahm er ins Idyll herüber. Jetzt also ging es ans Gärtnern. Nicht Blumen, das war ihm zu weibisch, nicht Beeren, das war ihm zu kindisch, nicht Obst, das war ihm zu schwierig, sondern Gemüse. Salat! ah: mit großen, blonden Krausköpfen! Und vor allem Bohnen und Erbsen. Wie ein Kind schmunzelte er, wenn er von Erbschen redete, frisch aus dem Garten, wie Butter schmelzend, mit der Zunge zu zerdrücken.
Schon das Anlegen des Gärtchens bereitete ihm ein Hauptvergnügen. Was meint ihr denn? Auf eigenem Grund und Boden, mit eigenen Händen einen feilen Grasplatz in ein köstliches Gemüsegärtlein verwandeln mit sauberen Weglein und samtweichen Beeten, alles ohne den mindesten Gärtner, das kann nicht jeder – versuchts einmal! –, darauf darf man stolz sein. Und wartet nur, bis die Erbschen zeitig sind, dann werdet ihr etwas erleben! So weiche, süße, grüne Erbslein wie aus meinem Gärtchen habt ihr noch nie keine gegessen!
Neben dem Gärtchen hatte er in Großvaters Wiese ein viereckiges Loch ausgegraben, nicht tief, immerhin genügend, um, wenn man es geschickt anfing, ein Bein darin zu brechen. Vor diesem Loch wurde ich mild gewarnt, hierauf als verständiger Bub ermächtigt, vorsichtig rings um den Rand herumzuwandeln und hinunterzugucken. Die Erlaubnis benützte ich begierig; beständig mochte ich am Rande des Abgründleins weilen und mit dem Blick die abenteuerliche Tiefe (etwa ein Meter) ergründen. Und in einer der folgenden Nächte schaute ich einen der seligsten Träume meines Lebens: Mir träumte, ich befände mich, ruhig schlafend, in der Tiefe jener Grube neben dem Gärtlein. Von oben her, aus dem Licht, rankte ein lebendiges Blumengewinde zu mir hernieder, aus welchem Engelsköpfe mich grüßten. Das war nicht ganz so deutlich zu sehen, wie es hier die Sprache sagt, denn goldenes Licht verwischte die Umrisse, dafür wieder viel seliger, als Worte es zu erzählen vermöchten. Statt der unmöglichen Schilderung lasse ich eine Tatsache reden. Mehr als dreißig Jahre später habe ich jenen Traum zum Inhalt einer Nummer meiner »Extramundana« gewählt (Arabeskenmythos). Daß die Ausführung unterblieb, ist Zufallssache. Eine Zeichnungsskizze dazu ist, glaube ich, noch vorhanden.
Inzwischen grünte um das Haus des Großvaters Wiese, hinten am Schleifenberge dunkelte der Wald, und in die Zimmer lachte der Sonnenschein. Durch alle Fenster zog Luft und Licht, in alle Herzen die Lebensfreude. Es war, als ob das Häuschen erst gestern aus dem Gras emporgewachsen wäre, so blank, so frisch muteten sämtliche Räume einen an, und als ob wir alle miteinander neu geboren würden. Also mit einem Wort, der Frühling, wie er im Liede steht. Warum verspürten wir ihn erst in diesem Jahr und nicht schon im vorigen? Weil damals der Vater ferne war und wir Kinder noch zu klein, um den Wechsel der Jahreszeiten zu erfassen oder auch nur zu bemerken, geschweige denn zu fühlen.
Wer den Frühling am innigsten spürte, das war meine Mutter. In ihrem Herzen wurde es Morgen. Gerade weil sie so früh geheiratet hatte, mit sechzehn Jahren, hatte sie bisher noch gar nie Zeit gefunden, jung zu sein. Von der Schule weg als Braut in die Pension, aus der Pension ohne einen Monat Pause in den Ehestand, von klein auf in Gehorsam befangen, von ihren Eltern und dem Götti ziemlich scharf gehalten, noch unerwachsen schon mit Mutterstandspflichten und Haushaltungssorgen beladen, war sie noch gar nicht recht zur Besinnung gekommen. Nun, im Glücke, dem vereinten Eheglück und Mutterglück, wachte sie beim Gruße des Frühlings auf und wurde jung.
Und was sie fühlte, ließ sie mich mitfühlen. Nicht in schwärmerischer Rede. Die Rede war ihr überhaupt nicht gegeben, und ihre leise Stimme, die Stimme ihrer Eltern und des Ünggeli, versagte hilflos nach den ersten zwei Sätzen. Die Mitteilung vollzog sich vornehmlich durch wortlose, seelische Überströmung, erläutert von der Sprache der Träne, die bei jeder Gemütsbewegung, auch bei einer freudigen, in ihrem Auge erschien. Sowie sie etwas Schönes sah oder hörte, mußte sie mit den Tränen kämpfen. Sie machte mich etwa auf den Kuckuckruf oder auf das Wimmern des Käuzchens im Walde aufmerksam, ließ mich wissen, daß sie einst als Kind die ersten Veilchen am Raine beim Alten Markt suchen gegangen wäre, führte mich ums Haus und dichtete dabei mit der Hoffnung in die Zukunft.
Rings um das Haus lief nämlich ein vergnügliches Weglein, oben am Rand der künstlichen grasbesäten Böschung, auf welcher das Häuschen stand. Das Weglein war mit Meerrohrböglein eingefriedigt, teils für die Zier, teils zur Andeutung, daß man nicht die steile Böschung hinunterpurzeln sollte. Diese Meerrohrböglein gefielen mir außerordentlich. Allein meine Mutter wußte von ihnen noch Besseres zu berichten, als was gegenwärtig zu sehen war. Sie wolle später, teilte sie mir mit, prächtige rote Blumen, Kapuziner nenne man sie, längs dem Weglein in die Böschung säen, die sich dann von selber als Girlanden um die Böglein schlingen würden. Ich würde schon sehen, ich dürfe mich darauf freuen. Die Kapuziner haben sich nie um die Böglein geschlungen, sie sind nicht einmal gepflanzt worden, es kam ja bald alles ganz anders. Und doch kenne ich keine Blume von leuchtenderem Rot als das Rot jener Kapuziner, die einst die Hoffnung meiner Mutter um die Meerrohrböglein blühen sah.
Wenn ich am Knie ein vielfarbiges Mal entdecke, das bei der Bewegung schmerzlich spannt, so schließe ich daraus, daß ich mich angestoßen haben muß, ob ich mich schon nicht erinnere, wann und wo. Wenn ich als Kind in Bern über den Bildern von Ludwig Richter jedesmal bei jedem fernen Hügelzug, bei jedem Wolkenstreifen am Himmel, bei jedem Taubenflug Heimweh nach Liestal verspürte, wenn ich als Mann den Wolkenschatten meiner ›Glockenjungfern‹ unwillkürlich vor dem Liestaler Schleifenberg schweben sah, so muß ich einst in Liestal die Fernen und die Höhen mit meinen Augen geschöpft und in meine Seele gegraben haben, ob ich schon nur den allgemeinen Eindruck im Gedächtnis behalten habe, daß mir im Jahre 1849 der Frühling ins Herz schien. Das wird überdies noch durch den Gegensatz bestätigt, indem später in Bern meine Augen nichts Ähnliches erlebten; ich muß es also vorher gesehen haben. In der Juralandschaft, nicht in den Alpen, habe ich Luft und Licht, Höhe und Ferne geschöpft.
Es handelt sich vornehmlich um den Blick in solche Himmelshöhen, Erdenfernen, Luft- und Wolkenspiele, wo zwischen niederen Gebirgsausläufern eine unsichtbare Talebene sich weitet, die sich der Ahnung durch Duftschleier und durch andersartige, tiefergelegene Lichtquellen bemerklich macht. Das erste Mal werde ich das bei meiner Heimreise aus Waldenburg gesehen haben, ein zweites Mal beim Ausblick hinter Solothurn. Entscheidend wirkte wohl im Frühling 1849 das Hereinscheinen des Lichtes vom Ergolztale zwischen dem Städtchen und dem Schleifenberge schräg über Großvaters Matte hinten an unser Häuschen und Gärtchen. Wie gesagt, ich finde keine Spur in meinem Gedächtnis davon, daß ich als Kind jenes Licht bewußt bemerkt oder gar angestaunt hätte, aber sicher ist, daß meine Seele fortan Höhe und Ferne trinkt, daß ich ähnlich wie der Maler zeitlebens die Himmelskuppel als unabtrennbar zum Erdenbild gehörig empfunden habe. Und von irgendwoher, nicht wahr, muß ich doch diese Anschauung geholt haben. Aus diesem Grunde, ich meine wegen solcher Augenerlebnisse in meiner Kinderzeit, wurde ich dann, als ich mich der Poesie verschwor, durch meine Natur gezwungen, meine Stoffe aus der blauen Luft zu beziehen. »Im Blicke fliegt mein Geist, mein Führer ist das Licht, der Äther hoch und hell ist meines Liedes Quell.«
Auch das Ohr muß damals, wenn nicht schon früher, Frühlingseindrücke aufgenommen haben. Das erfahre ich wiederum durch den Rückschluß. Im Winter vor meiner Konfirmation hörte ich im Basler Theater den »Freischütz«. Als der Freischützwalzer erklang, überkam mich eine Verzückung: »Den hast du vor unvordenklichen Zeiten als Kind schon vernommen.« In Bern hörte ich einmal Knaben auf Weidenflöten pfeifen. Beim Klang dieser Flötentöne erfaßte mich die Sehnsucht nach Liestal. Folglich muß ich eine Unmenge von Frühlingsoffenbarungen, von welchen ich nichts mehr weiß, in Liestal erlebt haben. Zunächst nur mit den Sinnen, ohne ihnen Beachtung zu gönnen, aber mit den Jahren stiegen sie aus dem Unbewußten ins Gefühl.
Hinten in einer Wiese, abgelegen von der Straße, weit draußen vor Liestal, wohnte neben einer großen Scheune ein deutscher Flüchtling aus Wiesbaden, namens Bahrdt. Ein gebildeter Mann aus guter Familie, Doktor der Rechte. Da er von Hause ein ansehnliches Vermögen mitgebracht hatte, brauchte er nicht wie die übrigen Flüchtlinge eine Stelle zu suchen, um sein Leben zu fristen, sondern betrieb auf eigene Faust ein Advokaturgeschäft, wie er denn zeitlebens als Advokat Bahrdt im Baselland weit und breit bekannt war. Überdies erwarb er, wenn ich nicht irre, die Scheune und die damit verbundene kleine Wohnung käuflich zum Eigentum. Die Scheune war ursprünglich für ihn die Hauptsache; mit dieser hatte er Pläne: er wollte mit Regierungsrat Begle zusammen eine Fuhrhalterei gründen, was indessen nicht zustande kam.
Durch den Hausbau meines Vaters wurden wir seine Nachbarn. Papa schätzte den Umgang mit dem gebildeten Manne, meine Mutter wieder schloß nachbarliche Freundschaft mit der Schwester des Doktor Bahrdt, die jahrelang bei dem Bruder wohnte, um in seine Junggesellen Wirtschaft Ordnung, Wärme und Fröhlichkeit zu bringen, was ihr auch gelang. Gleich anfangs nach unserem Einzug in das neue Häuschen entwickelte sich ein lebhafter gesellschaftlicher Verkehr zwischen den beiden Nachbarsfamilien; es hatte sogar eine Zeitlang den Anschein, als ob Doktor Bahrdt mit seiner Schwester den oberen Stock unseres Häuschens mieten wollte. Es kam zwar nicht dazu, Doktor Bahrdt zog vor, ein eigenes Häuschen zu bauen; aber das gute Verhältnis blieb nach wie vor das nämliche.
Den Doktor Bahrdt selber bekam ich wenig zu Gesicht, Fräulein Bahrdt dagegen begann als Freundin meiner Mutter je länger je mehr eine Rolle in unserem Hause zu spielen, eine gute Rolle, als Spenderin der Unterhaltung und Erheiterung. Ihre rheinländische Harmlosigkeit und Zutraulichkeit, ihre Fröhlichkeit und Gesprächigkeit, lauter fremdländische Dinge, wirkten erquickend, ihr Lachen steckte an, man badete in Lebenslust, wenn Fräulein Bahrdt zu Besuch erschien. Uns Kindern namentlich wurde sie durch ihre ewige gute Laune, durch ihren reichen Vorrat an Witzlein, Späßlein und erfinderischen Ergötzlichkeiten zum Labsal. Ihr ganzes Wesen erfrischte wie der menschgewordene Frühling.
Wie Frühling muteten mich auch die Räume an, in welchen sie wohnte, nämlich das neue, noch nicht völlig fertige Häuschen ihres Bruders. Unter Dach wird es wohl schon im vorigen Herbst gewesen sein, nach der abenteuerlichen Erzählung zu schließen, die mein Vater von der Hauseinweihung öfters zum besten gab. Doktor Bahrdt, so liebte mein Vater zu berichten, stiftete zur Einweihung seines neuen Hauses einen großen Ball. Als aber die Gäste erschienen, erwies es sich, daß der Hauseigentümer vergessen hatte, zum oberen Stock eine Treppe bauen zu lassen, so daß die Gäste auf Leitern durch die Fenster in den Tanzsaal steigen mußten. Wie dem auch sei, im Frühjahr 1849 stand das Häuschen wohnbar da, indessen inwendig noch unfertig, so daß jedesmal, wenn Mama mich zu Fräulein Bahrdt geleitete, und das geschah fast täglich, etwas Neues, Schönes zu schauen war, heute ein nach Ölfarben duftender Anstrich, morgen ein Spiegel an der Wand, ein anderes Mal eine Reihe Blumen außen längs der Mauer und so weiter. Schon der Weg zu Fräulein Bahrdt war vergnüglich. Anstatt die Straße zu nehmen, führte mich Mama hinten durch die saftigen Matten an sonderbaren Gärtlein vorbei, auf schmalem, winkligem Pfade, den sie entdeckt hatte und den niemand sonst wußte als sie und ich allein, den ich aber bald auswendig lernte, so daß sogar meine Träume ihn kannten. Durch die Träume aber gewann er Gemütswert und seelische Bedeutung. Dieser geheime Schlupfpfad zu Fräulein Bahrdt und ihr freundschaftlicher, lachender Willkomm im luftigen, blanken, von Sonnenschein durchstrahlten Häuschen haben mir den Frühling ins Herz geleuchtet. Fräulein Bahrdt lebt als Fee des Frühlings in meiner Erinnerung.