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Im neuen Hause

Papa baut ein Häuschen

Mein Vater vertrug sich auf die Länge nicht mit dem Götti, dem einen der beiden Hauseigentümer, bei denen er zu Miete wohnte. Darum wollte er aus der Brauerei fort. Außerdem war es schon lange sein Wunsch gewesen, ein eigenes Häuschen zu besitzen, sei es noch so klein und bescheiden. Allein woher das Geld dazu nehmen? Denn er hatte nichts als seinen kargen Beamtensold. Mit ihm verglichen waren der Götti und der Großvater reiche Leute. Schließlich fand sich mit vereintem guten Willen von allen Seiten doch ein Mittel. Zunächst fiel die Sorge um den Baugrund weg, indem der Götti und der Großvater sich bereit erklärten, ihm gegen geringes Entgelt einen Eckzipfel ihrer großen Matte jenseits der Straße abzutreten. Das Sümmchen Geld für den bescheidenen Bau liehen ihm zu glimpflichen Bedingungen einige Basler Herren, die sich schon früher des Waisenkindes angenommen und ihm ihre Gewogenheit trotz seiner Teilnahme an der Schlacht gegen die Basler nicht gänzlich entzogen hatten. Ein junger angehender Basler Architekt entwarf überdies kostenlos den Hausplan, der selbstverständlich so einfach als möglich gehalten werden mußte. Etwas aus Stein mit einem Dach darüber und ein paar Zimmerchen darin, drei im Erdgeschoß und drei im ersten Stock, das war die Aufgabe. Ein Häuschen wie ein Spielzeug für Kinder. Aber es stand nach allen vier Seiten frei, und das war die Hauptsache.

Sobald die obrigkeitliche Baubewilligung eingelaufen war, im Sommer 1846, wurde der Bau in Angriff genommen. Der wirkte natürlich auf mich wie ein gewaltiges Ereignis, das sich als tief und nachhaltig erwies. Jedesmal wenn in meinen Schriften von einem Hausbau die Rede ist, habe ich die Gemütsfarben dazu aus dem Hausbau meines Vaters bezogen.

Ein Festvergnügen war es schon für mich, zu sehen, wie jenseits in der Matte die Schollen ausgebrochen und die Höhlen der Kellerräume gegraben wurden. Allein obgleich ein schützendes Geländer um die Abgründe lief, durfte ich nicht in die Nähe. Nur ausnahmsweise führte mich Papa vorsichtig an der Hand hinzu, und selbst an seiner Hand nicht bis dicht an das Geländer. Wie dann die Mauern emporwuchsen, ging es mir viel zu langsam. Die winterliche Unterbrechung schaffte zunächst Ungeduld, hernach Gleichgültigkeit und Vergessen. Eines Morgens aber im Frühling grüßte mich ein entzückender Anblick: eine feuerzündrote Haustür! Doch Papa dämpfte meinen Jubel. Das wäre bloß die Untermalung, belehrte er mich, die Haustür würde später grün werden. O Enttäuschung! Und unbegreiflich! Wie mochte jemand etwas grün haben wollen, wenn er es rot haben konnte! … Auch der buntbewimpelte Tannenbaum, der eines Tages auf dem Dachfirst erschien, war eine falsche Vorspiegelung: er verschwand wieder. Zur Entschädigung dafür habe ich ihn später auf die Jubelhalle des Zeus gepflanzt.

Glücklicherweise hielt der Hauptschmuck des Häuschens besser Wort: eine kreisrunde Verzierung vorn in der Mauer unter der Dachspitze. Der Kreis war ringelrund, ohne den mindesten Buckel, was ich zu schätzen wußte, da meine eigenen Kreise Kartoffeln oder Rüben glichen, und in dem Wunderkreise der Vollkommenheit lächelte eine Blume. In diese Verzierung verliebte ich mich geradezu. Ich war stolz darauf, ein solches Häuschen unser nennen zu dürfen, das einen so unvergleichlichen, fehlerlosen Kreis in der Mauer aufwies. Beides, die Blume und der Ring darum, bestehen noch heute. Aber ob wirklich eine Blume in dem Kreise ist, oder was sonst, weiß ich, obschon ich erst letztes Jahr wieder davor gestanden habe, von neuem nicht. Ich weiß besser, wie einst dem entzückten Kinde die Phantasie die Verzierung vorspiegelte, als wie neulich meine nüchternen Augen es sahen. Vorausgesetzt, daß ich überhaupt nüchterne Augen habe.

Als der Hausbau schon unter Dach und nahezu vollendet war, mußte mein Vater alles im Stich lassen und verreisen. Er war nämlich von der Regierung zum zweiten Gesandten an die eidgenössische Tagsatzung in Bern ernannt worden. Im Spätherbst, während seiner Abwesenheit, wurde der Umzug in das inwendig noch unfertige Häuschen bewerkstelligt. Nicht auf einmal, sondern ganz allmählich: heute wurde dieses, morgen jenes Stück Hausrat über die Straße getragen, wie man gerade Zeit hatte und was einem zunächst in die Finger gelangte. Beim Zusammenkramen und Einpacken kam unter anderm eine prächtige rote Weste mit goldglänzenden Knöpfen zum Vorschein, zu einer Fastnachtverkleidung gehörend. Damit wollte ich mich flugs schmücken und darin herumstolzieren. Doch Mama vertröstete mich auf die Zukunft: »Nicht jetzt; an der Fastnacht dann.« Die Großmutter half natürlich beim Umzug mit, und der Ünggeli auch. Ich habe noch deutlich im Sinn, wie die Großmutter eines Abends, als sie aus dem Neubau zurückkehrte, vor der Scheune der Brauerei die Klage ausstieß: »Das sind doch wirklich entsetzliche Zeiten, in denen wir leben! Das ist ja schrecklich, was alles geschieht!« Was sie damit meinte, davon hatte ich natürlich keinen Begriff. Sie meinte aber jedenfalls den Sonderbundskrieg oder die Zurüstungen dazu.

Als letztes Umzugsstück beförderte man eines Abends um die Dämmerzeit auch mich, der bis dahin bei der Großmutter geblieben war, in das neue Haus hinüber. Um mich mit dem fremden, noch recht leer aussehenden Wohnzimmer zu versöhnen und mir überhaupt den Tausch schmackhaft zu machen, überließ man mir ein Stück Papier und einen Bleistift. Das Papier legte ich auf den Fenstersims und begann kniend zu zeichnen. Und hier in der ersten Stunde im neuen Hause leistete ich meine erste künstlerische Komposition. Während ich nämlich bisher nur immer je einen einzigen Gegenstand gezeichnet hatte, einen Baum oder einen Vogel, geschah mir jetzt, zu meinem eigenen großen Erstaunen, ein leuchtender Einfall: den Baum und den Vogel auf einen nämlichen, gemeinsamen Erdboden zu stellen und dadurch beide miteinander zu einer Geschichte zu verbinden. Rechts auf einer Höhe entstand ein Baum, in der Mitte klaffte ein Abgrund, links, auf einem zweiten Hügel, guckte ein Vogel über den Abgrund nach dem Baum hinüber und der Baum wieder zu ihm. Als ich das vollendet hatte, überkam mich ein stolzes Gefühl, wie wenn ich etwas Wichtiges erfunden hätte. Es war auch in der Tat etwas Wichtiges, nur nicht eine Erfindung, sondern eine Eroberung: ich stieg dadurch, daß ich mehrere Gegenstände zu einem gemeinsamen Bilde vereinigte, aus dem Nichts auf eine Kunststufe, die denkbar niedrigste und lächerlichste zwar, immerhin eine Kunststufe.

Und in der darauffolgenden Nacht erfuhr ich einen Traum, der wie ein wichtiges und abenteuerliches Erlebnis auf mein Gemüt wirkte: ich sah mich im Traum durch ein eisernes Gitter wie in einer Festung von der Welt abgesperrt. Ob damals das Haus tatsächlich mit einem Eisengitter abgesperrt war, weiß ich nicht mehr; aber den Traum, der mirs zeigte, und den tiefen Eindruck, den mir der Traum verursachte, habe ich nicht vergessen.

Liedlein singen

Um sich die neue Wohnung anzusehen, erschienen in den nächsten Tagen nach dem Einzug Besucherinnen; darunter Mamas beste Schulfreundin, meine Patin, Frau Rosenmund, die schon drüben in der Brauerei fast jeden Abend meiner Mutter Gesellschaft geleistet hatte. Während die Gäste im Haus herumgeleitet wurden, durfte ich mich anschließen, wobei ich, durch die bewundernden Ausrufe aufmerksam gemacht, alle Dinge deutlicher als vorher wahrnahm. Blank, sauber, frisch mutete das ganze Häuschen an. Von überall kam Licht herein, nirgends ein dunkler Raum. Im Erdgeschoß freilich sah es leer aus. Die meisten und schönsten Möbel waren nämlich im oberen Stock untergebracht worden, den man hoffte vermieten zu können.

So oft eine Besucherin sich empfahl, wurde ich unten im Hausgang auf den Arm gehoben und mußte ihr zum Abschied meine beiden Liedlein vorsingen, die mich Mama kürzlich gelehrt hatte. Das eine pries die Lustigkeit des Eisenbahnfahrens, das andere die Wonne des Polkatanzes. Für meine Gesangsvorträge hatte ich dankbare Zuhörer, mit Beifall wurde nicht gekargt. Den Haupterfolg erzielte ich durch ein Mißverständnis, das mir in dem Polkaliedlein jedesmal begegnete. Darin kam der Satz vor: »Hüpft das Herz nicht froher dir?« Statt dessen sang ich: »Hüpft das Herz nicht vor der Tür?« Das freut mich. Ich habe demnach schon als kleines Kind unechte, messingpoetische Redeweise abgelehnt.

Auf dem Dachboden

Mit Agathe war ich neugierhalber auf den Dachboden gestiegen. Dort verließ sie mich, ich weiß nicht mehr weshalb, und ich blieb allein. Das kümmerte mich weiter nicht, denn über die Einsamkeitsangst war ich hinaus. Aber wie nun allmählich der Dachboden sich mit Düster, hernach mit Dunkel, schließlich mit Finsternis füllte, welche einen Gegenstand nach dem andern verschlang, durchschauerte mich ein eigentümliches ernstes Gefühl. Nicht etwa Gespensterfurcht, ich wußte von Gespenstern gar nichts, sondern Wahrheitswitterung; ich meine die Ahnung, daß es jenseits des hellen Tages mit seinen vielen kleinen Geschichten noch eine andere Wirklichkeitswelt gibt, größer, mächtiger und schlimmer als die freundliche Großmutterwelt. Darüber wurde mir unheimlich, so daß ich, ohne mich zu rühren, in die Finsternis starrte, welche, meinen Blick aushaltend, unverwandt zu mir zurückschaute, mit rätselhaften Augen, gebärerisch, als ob aus weiter Ferne etwas Wichtiges und Böses aus ihr hervorkommen wollte.

Ich bin weder willens noch befugt, auf jenes Stündlein auf dem Dachboden deswegen überlegen zurückzublicken, weil ich damals ein winziges, gedankenloses Menschlein war. Der Gedanke ist nicht der einzige Weg zur Wahrheit; ich bin sogar versucht zu sagen, ein Irrweg. Kurz, ich schaute damals einen Augenblick in das Antlitz der Meduse.

Dann wurde ich vom Dachboden heruntergeholt, und beim Kerzenschein im traulichen Wohnzimmer vor der warmen, mütterlichen Gegenwart genas ich gleich wieder zum muntern, törichten Kinde.

Die vergnüglichen Sträflinge

Eines finsteren Abends hielt der Postwagen, statt wie gewöhnlich vorüberzurasseln, vor dem Hause an, und die Pferde schüttelten an einem fort ihre Schellen. »Papa ist gekommen«, lautete der Freudenruf. Unmutig vernahm ich die Nachricht. Was ist das: ›Papa‹? Was geht uns der an? Er war so lange fortgeblieben (dreiundeinhalb Monate), daß ich sein Dasein vergessen hatte.

Es war die erste und zugleich die längste Pause innerhalb seiner Berner Tätigkeit. Er benützte sie, um das unterbrochene Baugeschäft zu Ende zu führen. Täglich erschien jetzt am Morgen ein Trüpplein Handwerker, Gipser und namentlich Maler, Menschen von verschiedenen Nationen, ein Ungar und ein Italiener war darunter, und auserlesene Leute: nämlich aus dem Gefängnis ausgesucht. Papa nahm erst jedem das Ehrenwort ab, nicht davonzulaufen, dann traute er ihnen und ließ sie frei, ohne Aufsicht, schalten. Es lief auch wirklich keiner davon, sie waren des Tausches gegen das finstere, feuchte Zuchthaus herzlich froh, zumal mein Vater in seiner Leutseligkeit freundlich mit ihnen umging, sie ihren sonstigen Gefängnisberuf nicht fühlen ließ und abends, nach vollbrachter redlicher Arbeit, noch ein halbes Stündchen mit ihnen bei einem Glase Wein gemütlich plaudernd zusammensaß. »So! und jetzt geht brav heim ins Zuchthaus und kommt morgen punkt acht Uhr wieder!«

Diese Sträflinge nun waren eifrige und fröhliche Leute und arbeiteten mit Freuden. Einer und der andere sang sogar während der Arbeit, und zwar recht schön, so daß einem eigentümlich wohl zumute wurde, wenn man sie singen hörte. Wir Kinder aber durften ihnen bei der Arbeit zusehen. Es lohnte sich auch, besonders bei den Malern im Hausgang. Der war grau gemalt gewesen, als wir einzogen, und das hatte ich schon prächtig gefunden, jetzt malten sie kunstvolle grüne Streifen und Tupfen ins Grau und schließlich noch weiße Zackenlinien hinein. Das werde Marmor werden, wenn es fertig sei, erklärten sie uns mit wichtiger, bedeutsamer Miene. Und dann der köstliche Ölfarbengeruch von den Wänden herab und aus den Farbentöpfen herauf! Von damals her habe ich eine Vorliebe für den Ölfarbengeruch behalten.

Mit diesen braven, freundlichen Sträflingen schlossen wir Kinder Freundschaft. Jeden Abend, wenn sie mit Papa in der Wohnstube beim Wein saßen, durften wir, nachdem wir bis aufs Hemd ausgekleidet waren, noch ein Weilchen ihnen auf die Knie sitzen, wie einst dem Großvater, und uns von ihnen schaukeln lassen. Das war das Hauptvergnügen des Tages, denn wir hatten einander wirklich gerne.

Santiklaus

Während wir eines Abends wie gewöhnlich hemdlings auf den Knien unserer internationalen Freunde saßen, geschah ein Gepolter im Hausgang, die Stubentür wurde aufgerissen, etwas Lebendiges warf schnell ein paar Handvoll harter Dinger auf den Boden, dann wurde alles wieder still. »Santiklaus!« hieß es zur Erklärung. Darauf fragte Papa mit gedämpfter Stimme, in der Meinung, wir hörten es nicht: »Wer wars?« »Der Groß-Adolf und der Karl.« Diese halblauten Worte fing ich aber auf – kein Kunststück, denn Papas mezza voce glich dem fernen Donner – und mit meiner Schlauheit kam ich hinter das Geheimnis: der unsichtbare, polternde Santiklaus war demnach ein Verwandter der Buben des Götti, ihr Onkel oder Pate, oder so etwas. Freilich, was der bei uns wollte und warum er solch einen Lärm machte, vermochte ich nicht zu enträtseln.

Unterdessen hatte Mama die Sachen aufgelesen, welche der Santiklaus auf den Boden und in den Hausgang geschleudert hatte, und trat mit dem Kram ans Licht. O Wunder, o Seligkeit! Bildertäfelchen, groß wie kleine Spielkarten, doch nicht flache Bilder wie in den Büchern, sondern erhabene, körperliche Figuren, als ob sie lebten. Und die Figuren waren angemalt, aber fein und zart, nur so mit unbeschreiblich schönen Farben angehaucht. Der Rand der Täfelchen war erhaben, von der nämlichen Höhe wie die Figur, längs der inneren Linie des Rahmens lief, kreuzweis gestrichelt, ein farbiges Kränzlein. O diese Kränzlein! für sich allein ein ganzes Paradiesgärtlein! Die Strichlein der einen Richtung waren nämlich grün, die Strichlein der andern Richtung rot. Und beides kreuzte sich, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Dieses wonnige Wunder war mit dem Blick gar nicht auszulernen. Und als wir nun einander die kunstvollen Täfelchen glückseufzend vorwiesen und sie miteinander verglichen, siehe, eine neue Überraschung: jedes Täfelchen zeigte eine andere Figur: Vögel, Fische, Menschen, Blumensträuße. Es war eine der glücklichsten Stunden meines Lebens.

»So, jetzt dürft ihr auch eines davon essen«, lautete die ermunternde Erlaubnis. Essen? Kann man denn Kunstwerke essen? Doch wahrhaftig, man konnte, und zwar schmeckten sie ausgezeichnet. Was ist nur das für ein ganz besonderer Leckergeschmack? »Anis.« Es waren Anisbrötchen. Dieser Anisgeist Santiklaus gefiel mir außerordentlich.

In den nächstfolgenden Tagen regte sich die lüsterne Frage, ob noch mehr solcher unsichtbarer, wohltätiger Geister zu erhoffen seien. Gewiß: das Weihnachtskind, der Silvester, das Neujahrskind, Drei Könige, die Fastnacht und ganz zuletzt der Osterhas, alles diesen Winter noch. »Und später, wenn der Winter vorbei ist?« Nichts mehr. Durch diese winterliche Geisterreihe im Gegensatz zu der übrigen geisterlosen Zeit dämmerte mir zum ersten Mal eine Vorstellung von verschiedenen Jahreszeiten. Einstweilen gab ich entschieden dem Winter den Vorzug.

Von wo indessen, kitzelte mich meine Wißbegier, kommen die Wintergeister eigentlich her? Bald hatte ichs heraus: hinter dem Hügel des Großvaters wohnen sie und kommen jeweilen, wenn es Zeit ist, in der Nacht um die Ecke herum, zwischen dem Rain und dem Garten der Brauerei, heimlich angeschlichen.

Der geheimnisvolle Vater

Die Tage wurden immer kürzer, die finsteren Abende länger. Da man aber uns Buben doch nicht um fünf Uhr zu Bett legen konnte, erblühte uns nun stundenlang der hochgemute Genuß, um welchen wir so oft die Erwachsenen beneidet hatten, bei Kerzenlicht wach und rüstig in den Kleidern aufzubleiben, während draußen die Nacht umging. Sie war eigentlich unheimlich, die Nacht, wenn man ein bißchen länger an sie dachte oder in die dunklen Zimmerecken und schwarzen Fenster guckte, allein sie konnte ja nicht durch die Mauer ins Haus herein, und die Haustür war geschlossen, abgesehen vom Kerzenlicht, vor welchem sie sich fürchtet.

Eines Abends, als es schon seit langer Zeit finster geworden war und wir immer dringlicher zum Schlafengehen gemahnt wurden, erklärte mein Vater so beiläufig, als handle es sich um die gewöhnlichste, gleichgültigste Sache, er wolle noch ein bißchen ausgehen, nahm gelassen seinen Hut und entfernte sich gemächlichen Schrittes erst aus dem Zimmer, dann durch den Hausgang, endlich durch die Haustür in die Nacht hinaus.

Diese nächtliche Unternehmung erfüllte mein Herz mit wollüstigem Grausen und scheuer Bewunderung. In welchen Wald wird er wohl gehen? mit was für Hexen und Zauberern verkehren? Kennt er denn die? Und der Wolf und die Eule, ist er auch mit diesen befreundet, daß er sich nicht vor ihnen fürchtet? Ob wohl die Sterne herunterkommen, um mit ihm zu reden und zu spazieren? Daß Papa in so dunkler Stunde sich anderswohin begeben könnte als in den Wald, lag außer dem Bereich meiner Vorstellungen. In der Nacht ist draußen überall Wald, das ist einfach, und leicht zu begreifen. Wie es aber zur Nachtzeit im Walde zuging, von was für Wundern und Abenteuern es dort wimmelte, wußte ich teils aus den Märchen der Großmutter, teils ahnte ichs selber von weitem.

Und wie ruhig er der märchenhaften Gesellschaft entgegenzog! Ich hatte ihn genau beobachtet: nicht eine Miene, nicht ein Blick verriet die mindeste Besorgnis. Offenbar war es heute nicht das erste Mal, er mußte schon seit langem mit den Waldgeistern auf vertrautem Fuße leben.

Aus der Nachwirkung jenes Abends ist die Schilderung der Reise der Gotteskinder in meinem »Prometheus« entstanden. Zwar steht dort natürlich nichts von dem neuen Häuschen und daß Papa den Hut aufsetzte und zur Haustür hinausging. Ich aber weiß, daß, wenn ich nicht in meiner frühesten Kinderzeit einmal meinen Vater abends spät hätte in die Nacht hinausziehen sehen, die Schilderung der Reise der Gotteskinder nicht dastände. Einem andern, der nicht in seinem Herzen ein hierher taugliches Erlebnis vorgefunden hätte, wäre es ja überhaupt nicht in den Sinn gekommen, die Reise der Gotteskinder so ausführlich zu erzählen.

In der Einsamkeit

Unversehens war der Vater wieder weg nach Bern; seine mächtige Stimme hallte nicht mehr durchs Haus, die fröhlichen Sträflinge mit ihrem wohllautenden Singen waren ebenfalls verschwunden, stille, stille ward es im Haus und einsam. Niemand mehr darin als die leise Mutter, die geschäftige Agathe und das unnütze, unruhige Brüderchen, zu groß zum Spielzeug, zu klein zum Spielkameraden.

Welch ein Gegensatz gegen früher! War das einst ein reiches Leben gewesen drüben in der Brauerei! Nicht jederzeit ein erfreuliches Leben, aber immer ein Leben. Den ganzen Tag ging etwas, und das Haus war voller Menschen. Und was für Menschen! Die liebsten auf der ganzen Welt: die Großmutter und der Großvater und der Ünggeli und die beiden Buben des Götti, und der Götti selber, den wir auch zu uns zählten. Dazu die Kellnerin und Franziska, die Köchin, und die Knechte und das Kleinvieh und Großvieh in den Ställen, ungezählt die Gäste der Wirtsstube, von denen doch auch dieser oder jener Liestaler sich mit uns angefreundet hatte.

Das alles war nun wie weggeblasen, alles Bisherige wie mit dem Messer abgeschnitten und in die Vergangenheit entrückt, die unendliche Reihe der tausend und abertausend Erlebnisse bis in die Wiegenzeit zurück entzweigerissen, der Fortsetzung bar, als unbeweglicher Leichnam in die Erinnerung verwiesen. Daß von der schräg gegenüberliegenden Brauerei einzelne Teile sichtbar waren, die Scheunen und Remisen, die Ställe, ein Stück Garten und der Rain des Hügels dahinter, machte die gegenwärtige Einsamkeit nur noch fühlbarer, indem man beständig an den Gegensatz erinnert wurde. So entstand eine Gesamtstimmung der Leere, die mir nur deshalb nicht als Heimweh zum Bewußtsein kam, weil ich, um bewußtes Heimweh spüren zu können, noch zu klein war. Anflüge davon, ich meine flüchtige Anfälle von Wehmut und Sehnsucht, kamen doch schon dann und wann vor, dann nämlich, wenn meine Mutter, deren Herz ebenfalls in der Brauerei, der Stätte ihrer Kindheit und ihres gesamten jungen Lebens, geblieben war, mich auf Lebensspuren von drüben aufmerksam machte. Zuerst, nach unserem Umzug im Herbst, hieß es: »Hörst du, wie sie dreschen, drüben in der Scheune? Das ist der Ünggeli, der drischt.« Gespannt lauschte ich, zwischen Freude und Trauer, den sonderbaren, kunstmäßigen Taktschlägen, wehmütig verwundert über die Unsichtbarkeit des dreschenden Ünggeli. Ein anderes Mal führte sie mich ans Fenster des verwaisten Bureaus: »Siehst du den Großvater auf dem Hügel oben, wie er Samen ausstreut?« Da sah ich seine geliebte Gestalt längs dem Saum des Hügels mit langsamen Schritten stetig fortschreiten und mit jedem Schritt in einen Sack greifen, den er umgebunden hatte, und dann den Arm ausstrecken und schütteln. Den Anblick verspürte ich als einen Gruß aus weiter Ferne von jemand Liebem aus alten Zeiten.

Während des Winters blieb es drüben tot. Dann aber wieder gegen das Frühjahr: »Hörst du den Hahn, wie er kräht? siehst du ihn dort auf dem Misthaufen? Das ist dem Großmütterlein ihr Hahn.« Oder: »Riechst du den Malzdampf? Das ist der Götti im Brauhaus, der Bier braut.« Oder: »Siehst du die schwarzen Pechwolken über dem Kegelplatz? riechst du sie nicht? Das ist der Ünggeli, der Fäßlein picht.« Jedem dieser Sprüche antwortete ein süßer schmerzlicher Stich in meinem Herzen. Malzgeruch und Pechgewölk aber sind mir von dorther zeitlebens Symbole des Vorfrühlings geblieben, im Andenken an den Götti im Brauhaus und den Ünggeli auf dem Kegelplatz.

Bilderbücher

Die Aufgabe, mich über die lange Winterzeit im Zimmer zu vertrösten, fiel dieses Mal in Abwesenheit der Großmutter und des Großvaters meiner Mutter und Agathe zu. Keine leichte Aufgabe. Von dem alten Spielzeug: Bäumlein, Rößlein, Schäflein und so weiter wollte ich nichts mehr wissen, das Bureau des Vater mit seinen Säbeln, Gewehren, Sporen und Dutzenden von Tabakspfeifen hielt mangels einer Erklärung als bloße Sehenswürdigkeit nicht lange vor; den Ausblick auf die Straße verschmähte ich, seit ich nach unzähligen Enttäuschungen mit mir darüber im reinen war, daß von dorther nie und nimmer etwas Ersprießliches zu erwarten sei, weder Soldaten noch wilde Tiere. Ein einziges Mal während des ganzen Winters sah es danach aus, als ob das Schicksal sich aufraffen und etwas Vernünftiges spenden wollte. Ein zweihöckeriges Kamel mit einem Affen zwischen den Buckeln wackelte daher, kehrte in der Scheune des Großvaters ein und mampfte dort Heu oder etwas desgleichen. Ah, endlich! Schon freute ich mich auf die Bataillone von Nashörnern, Löwen und Hyänen, die nachfolgen würden, aber, o leid, statt des Anfangs war es der Schluß; nicht die kleinste Antilope mehr. Nein, mit der Wirklichkeit draußen vor den Fenstern ist es nichts; besser gar nicht mehr daran denken.

Darum flüchtete ich in eine bessere Welt, in die Bilderbücher.

Das Hauptbilderbuch, jenes, auf welches ich immer von neuem zurückgriff, war gemalt, das war sein Vorzug. Das Titelbild zeigte eine spanische Küche. Ob diesem Titelbild war mir vor Zeiten, als ich das nämliche Buch zum ersten Mal betrachten durfte, im Städtchen bei der kleinen Therese im Ladenstübchen der Frau Berry, der Mutter meiner Patin, das erste Phantasiespiel in wachem Zustande widerfahren. Das ging unheimlich zu. Mein Blick glitt aus dem dunkeln, rußig gebräunten Hintergrund der spanischen Küche in den hellen Tag des Stübchens, und plötzlich schaute ich jenseits der Häuser sonnige Wiesen, die mein Auge gar nicht sehen konnte. Zuerst wollte ichs einfach nicht glauben. Wie ich mir aber nicht mehr ableugnen konnte, daß ich schaute, was ich nicht sah, packte mich ein jäher Schreck, eine Art kleiner Todesangst, ein Gefühl, als ob ich in einen Strudel gezogen und um und um gewirbelt würde, verbunden mit dem Gedanken, ich hätte meinen Verstand verloren, und mit der Befürchtung, ich würde ihn nie mehr wiederfinden. Das Ganze währte bloß einen Augenblick; denn sowie das Phantasiebild verschwand, war ich wieder beruhigt. Aber es war ein angstvoller Augenblick.

Weiter hinten im Buche waren Menschen mit Fischköpfen zu sehen, und darunter stand, wie mir vorgelesen wurde: ›Karneval von Trier‹. Daß es Menschen mit Fischköpfen gibt, erfuhr ich erst jetzt, sie gefielen mir indessen nicht. Später kam ein holländisches ›Treckschuit‹. Der Name, alemannisch gedeutet, erregte meine Entrüstung, so daß ich dieses Bild jedesmal ärgerlich überschlug. Ferner ›Tanzende Polen‹ und, wenn ich nicht irre, Tiroler oder ähnliche Bauersleute, welche mit Blumensträußen geschmückt waren und Kränze schwenkten. Beim Anblick dieser Maien erinnerte ich mich, einst etwas Ähnliches draußen im Freien gesehen zu haben, und gewann dadurch wieder einen dunklen Begriff von verschiedenen Jahreszeiten. Während mich die Farben im ganzen freuten, hielt ich mich darüber auf, daß die Backen der Menschen und die Kappen der tanzenden Polen mit dem nämlichen stumpfen Rot angemalt waren. Die letzte Bildseite war ausgerissen. Warum wäre es mir heute so wichtig, zu wissen, was die ausgerissene Bildseite vorstellte, daß ich imstande wäre, eine Reise zu unternehmen, wenn mir jemand verspräche, mir das Bild zu zeigen? Deshalb, weil ich damals genau der nämliche war, der ich heute bin.

Der Struwelpeter, den mir das Weihnachtskind gebracht hatte, mißfiel mir. Witz und Spaß empfand ich als nüchterne Verzerrungen der Welt, und gegen die aufdringlichen Nutzanwendungen empörte sich sowohl mein Verstand wie mein Gefühl. Einzig die goldene Sonne und der wahrhaftige Baum, unter welchem der Jäger steht oder liegt, kamen meinem Bedürfnis entgegen und zuhinterst das dreifache Regengewölk. Diese beiden Bilder muteten mich an, weil ihnen Erinnerungsbilder aus der Vorzeit im Reiche der Großeltern entgegengrüßten.

Um meinen unersättlichen Bilderdurst zu stillen, wurde schließlich, nachdem man aus der Brauerei illustrierte Schulbücher und andere entlehnte Bilderware mit größerem oder kleinerem Erfolg zugezogen hatte, ein riesiges Prachtwerk von vier Bänden aus Papas Bureau herübergeholt. Das enthielt nicht weniger als die gesamte Menschheit und Tierheit. In dieses Riesenbuch lebte ich mich dermaßen hinein, daß ich mich in einzelne Figuren geradezu verliebte. Unter den Menschen waren es zwei schnauzbärtige Männer, die mirs antaten, der finstere Pole auf der ersten Seite, der mit gekreuzten Armen vor einer brennenden Stadt stand, und der unglaublich schöne Seeräuber, der ein zappelndes Frauenzimmer in einen Kahn schleppte. Warum das Frauenzimmer sich sträubte, konnte ich nicht fassen. Mußte es denn nicht ein herrliches Glück sein, solch einem berückenden, langschnäuzigen Seeräuber zu folgen? Von den Tieren galt meine Zärtlichkeit der gefleckten Hyäne, bei heftiger Verachtung der gestreiften; dann dem Kasuar, den ich vornehmer fand als den windigen, eitlen Vogel Strauß. Hier spielte übrigens schon ein wenig Eigensinn mit. ›Ihr sprecht immer einzig von der gestreiften Hyäne, deswegen halte ichs mit der gefleckten. Alle Welt macht aus dem Vogel Strauß ein so großes Wesen, folglich finde ich ihn dumm und ziehe den verachteten Kasuar vor‹. Vor allem aber entzückte mich der hochbeinige, schlanke Vogel Sekretär mit seinem leichten, kühnen Schritt, seinen wilden Augen und dem unsäglich anmutigen Federbusch hinter dem Ohr. Aber ein Rätsel gab mir bei diesem Bilde zu schaffen. Mein Vater hatte in seinem Bureau ebenfalls einen Sekretär. Das war aber kein Vogel, sondern ein glänzender Schrank. Jetzt, was für eine Ähnlichkeit besteht zwischen dem Schrank und dem Vogel, daß sie beide denselben Namen haben? Immer von neuem strengte ich meinen Geist an, um eine Ähnlichkeit herauszufinden, doch ewig vergebens. Im Gegenteil; je mehr ich die beiden verglich, desto unähnlicher erschienen sie mir. Wo hat denn Papas Sekretär die Augen und den Schnabel? wo der Vogel Sekretär die Schublade, die Tür und das Schlüsselloch? Nein, das bringe ich nie heraus, das ist mir zu schwierig.

Welk

Im Vorfrühling kam einer jener atmosphärisch verwünschten Morgen, wo der Mensch unter dem grauen, nassen Himmel alles mit trüben Gefühlen betont, Vorkommnisse und Gedanken. Ich war demzufolge traurig und mürrisch, ›verstimmt‹, wie die Erwachsenen sagen. Nachdem alle übrigen Aufheiterungsversuche mißglückt waren, wurde ich auf Agathes Arm ins Freie geschickt. Sie trug mich, von der Landstraße links abbiegend, auf einem Fußweg über die Wiesen nach jenem Acker des Großvaters, der das Gitterli hieß. Aber wie sah heute die Welt trübselig aus! Flur und Acker, Erde und Himmelsluft, alles grau und braun. Die ganze Welt ein ödes Elend. Und dazu das Nachgefühl eines unendlich langen unerfreulichen Stubenlebens. Es war ein unseliger Ausflug. Trauriger zog ich heim, als ich fortgezogen war. Ein Gefühl, als ob ich ausgestorben wäre und nie mehr froh werden könnte.

Daß ich nur welk, nicht alt war, daß ein Sonnenstrahl genügen würde, um mich wieder aufzufrischen, davon wußte ich ja nichts. Nicht einmal etwas davon, daß die Welt eines Tages wieder anders, freundlicher aussehen werde. Ich meinte, das bleibe nun so. Der Trost der Erwachsenen: »Es muß doch Frühling werden« konnte mir nicht helfen, da ich noch von keinem Frühling wußte.

In der Kirche

Wenn ich ihr versprechen wolle, ruhig sitzen zu bleiben und kein Wörtlein zu reden, außer höchstens ganz leise, so dürfe ich mit ihr in die Kirche kommen, sagte Agathe. Zwar fehlte mir jede Ahnung, was einen dort erwartete; ich hatte bisher gemeint, die Kirche diene einzig dazu, daß die Störche ihr Nest darauf bauten. Allein der Erlaubniston, mit dem sie es sagte, klang nach einem bevorstehenden Genuß; überhaupt war ich immer willens, etwas Neues zu erleben. Also versprach ich, still und fromm auszuhalten.

In der Kirche befiel mich zunächst ein gewaltiges Staunen über den ungeheuer großen, hohen, leeren Raum, der weder einem Wohnzimmer, noch einer Wirtsstube glich, am ehesten noch dem Brauhause des Götti, aber auch das eigentlich nicht recht, denn im Brauhause war es finster und hier war es hell, im Brauhause standen Kessel und hier Bänke. Wie sich meine Augen dann allmählich eingewöhnt hatten, erblickte ich plötzlich an der Seitenwand etwas Entzückendes: prachtvolle Fenster, hoch und schmal, mit märchenhaft schönen farbigen Scheiben darin. An diesen Fenstern blieb mein Blick bewundernd hangen. Wenn ich nicht Agathe neben mir gespürt und nicht gewußt hätte, daß draußen vor der Tür das Städtchen Liestal warte, so hätte ich gemeint, ich wäre im Himmel. Horch! mit einmal begannen die himmlischen Fensterscheiben noch Musik zu machen, und zwar solch eine beglückend wohllautende Musik, daß man ganz selig davon wurde. Eine Unmasse Töne auf einmal, und jeder Ton schön, und alle die schönen Töne waren befreundet miteinander. Sind die musizierenden Fenster denn heimlich belebt? Oder schweben am Ende Engel dahinter, welche unsichtbar durch die Fensterscheiben in die Kirche herein sangen? Da hieß mich Agathe den Kopf umdrehen und deutete nach einem riesigen gold- und silberfunkelnden Gestell hinter mir, oben in der Kirche; ›Orgel‹ nannte sie das, und jetzt begriff ich, daß die Musik nicht von den Fenstern kam, sondern von der Orgel.

Nachbarschaft

Im folgenden Frühling kam mein Geburtstag. Hiemit wurde ich dreijährig, war mir dessen hochgemut bewußt, fühlte mich groß und stark, behauptete, ich sei jetzt erwachsen, und erhob deshalb den Anspruch, unbegleitet, nach freier Laune, in der Nähe des Hauses herumzustreifen. Dem Anspruch wurde zur Hälfte nachgegeben. Mich über die Straße zu wagen, blieb nach wie vor verboten, dagegen in der Nachbarschaft diesseits der Straße durfte ich mich, mit Vorsichtsregeln beladen, frei ergehen. Und den kleinen Adolf nahm ich jeweilen mit.

Nur wenige Schritte entfernt, auf der nämlichen Straßenseite, und gleich unserm Hause etwas zurückstehend, darum ohne Gefahr erreichbar, stand das äußerste Haus des damaligen Liestal. Das war geräumig, mit Familien und Kindern reich gesegnet. Unter anderen hauste dort der Liestaler Musikmeister namens Seber. Der hatte mehrere Töchter, die dazu dienten, uns die abenteuerlichen, glänzenden Musikinstrumente ihres Vaters aufzuschließen und vorzuzeigen. Wir bliesen aus Leibeskräften in die Trompeten, brachten aber keinen Ton hervor. Im Hinterhause, gegen die Wiesen, unten vor dem Gärtchen, hantierte ein Schreiner in seiner Werkstatt. Bei einem Handwerker gibt es immer etwas zu sehen; erstens liegen dort beständig eine Menge merkwürdiger Gegenstände herum, zweitens rührt sich der Mensch und schafft etwas und sitzt nicht so faul und langweilig da wie die übrigen Erwachsenen. Mit dem Schreiner schlossen wir daher Freundschaft. Ferner gab es vorn gegen die Straße ein Wirtsstübchen, das uns aber nicht zusagte; denn die Hauptsache, die Großmutter, fehlte dort. Was wollen die Menschen in einer Wirtsstube, wenn keine Großmutter darin ist? Dagegen die Familie Neugebauer, die ebenfalls in dem unergründlichen Hause wohnte, wurde uns wichtig, wegen ihres jüngsten Buben namens Fritz. Der Fritz Neugebauer, ein gutmütiger Junge, etwa zwei Jahre älter als ich, schloß sich bereitwillig allen unseren Unternehmungen an und wurde unser täglicher Spielkamerad. Immer waren wir mit dem Fritz Neugebauer zusammen.

Aber der Raum zwischen den Neugebauers und der Straße war beschränkt. Auf dem Kegelplatz der Brauerei drüben hätte sichs bequemer spielen lassen. Darum erbettelte und erhielt ich schließlich von der Mutter die Erlaubnis, mich mit dem Fritz über die Straße ins Reich der Großeltern zu begeben; doch ja nicht mit meinem Brüderchen. Gut. Dort in den trauten weitläufigen Geländen des Gartens, des Kegelplatzes, des Hofes ergingen wir uns nun nach Herzenslust, und zwar immer friedlich; wir hatten einander so gerne, daß niemals der mindeste Zank zwischen uns entstand. Eines Tages schlug er mir vor, Krieg zu spielen. Mit Vergnügen einverstanden. Wir sagten also einander Feindschaft an. Nachdem wir uns eine Zeitlang verfolgt hatten, flüchtete er unversehens in ein kleines Häuslein im Hof, riegelte die Tür zu und ließ sich nicht mehr blicken. Umsonst rüttelte ich an der Tür, ich brachte sie nicht auf. Also ein Belagerungskrieg! urteilte ich. Wie aber dem unsichtbaren Feind in seiner Festung beikommen? Nachdem ich lange Zeit ratlos dagestanden, umsonst hoffend, daß er einen Ausfall machen würde, kam mir ein schlauer Gedanke. Oben in der Wand des Häuschens befand sich ein herzförmiges Luftloch. Soll mich wundernehmen, dachte ich, wenn der Feind nicht auf das Brett steigt und zum Luftloch herausguckt, um mich zu verhöhnen. Aber wart! Ich holte eine Bohnenstange und stellte mich mäuschenstille vor dem Luftloche auf die Lauer. Und wie nun der Feind richtig mit spöttischer Miene durchs Luftloch bleckte, stach ich ihn schnell mit der Bohnenstange ins Gesicht, daß das Blut hervorrieselte. Triumph! jauchzte meine Siegesfreude. Ganz stolz war ich über meine Heldentat. Da kamen der Großvater und andere Leute aufgeregt dahergelaufen, die mir eifrig Vorwürfe machten, daß ich den Fritzi Neugebauer ins Gesicht gestochen hätte. Aber ich hatte ja gar nicht den Fritzi Neugebauer gestochen, sondern den Feind, in welchen er sich verwandelt hatte. Ist es denn nicht heldenhaft und rühmlich, den Feind zu verwunden? Der Fritz selber hat das auch ganz gut eingesehen, und einige Tage später, nachdem seine Wunde geheilt war, lebten wir wieder in herzlicher Eintracht miteinander. Aber zum Kriegspiel hat er mich nie wieder aufgefordert.


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