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Alle, denen die Gunst des Schicksals zuteil wurde, Jacob Burckhardt in seinen geschichtlichen Vorträgen persönlich zu hören, stimmen darin überein, daß sie einen Eindruck hinterließen wie keine anderen. Warum und wieso, darüber will ich versuchen, einige Andeutungen zu geben.
Vor allem zeichnete sie aus ein unvergleichlicher Ernst, aus einer düstern Weltanschauung geschöpft, die ich wage eine religiöse zu nennen, in dem Sinn und insoweit, als jede Religion, die ihren Namen verdient, die Nichtswürdigkeit der Welt zur Voraussetzung hat. Von diesem hohen kosmischen Ernst herab betrachtet, gestaltete sich ihm die Wissenschaft der Vergangenheit, der »Geschichte«, zugleich zu einer Wissenschaft der Vergänglichkeit. Wenn wir in der Basler Universität vor diesem Lehrer saßen, oben über dem vorbeirauschenden Rheinstrom, so war uns bei seinen Worten zu Mute, als ob die Geister der verwichenen Menschengeschlechter mit den Wellen vorüberzögen. Und er hatte sich in sämtliche Jahrhunderte und Jahrtausende mit den Gedanken derart hineingelebt, daß ihm jeden Augenblick die fernste Vergangenheit gegenwärtig war, die dann ab und zu mit Geistesblitzen in das jeweilen vorliegende Thema beleuchtend zündete. Einerlei, über welchen Gegenstand er sprechen mochte, man atmete immer Ewigkeitsluft. War von der Französischen Revolution die Rede, so erhielt man beiläufig auf dem Wege der Vergleichung durch Seitenbemerkungen Aufschlüsse oder Urteile über eine Einzelheit aus der griechischen oder römischen Geschichte. Und umgekehrt. Seine Urteile waren zwar nicht unabhängig von Vorläufern, aber gänzlich unabhängig von der jeweilen herrschenden Meinung. Man sagt Jacob Burckhardt nicht eben Mannesmut nach; aber ein mutiger Denker war er, ein Denker von unbekümmertem Wahrheitsbekenntnis. Es machte ihm gar nichts aus, Platon beschränkt, Moliere steif zu nennen, dem verpönten Horaz poetische Qualitäten nachzurühmen, dem Aristophanes sie abzustreiten.
Sein Studium der Geschichte war ein Miterleben der Vergangenheit, und zwar ein teilnahmsvolles und weitherziges, sogar ehrerbietiges. Für ihn gab es keine toten Jahrhunderte und wertlosen Völker. Er war sich innig bewußt, daß in jedem Zeitalter Geburt und Tod, Kampf und Leid herrschte, daß mithin jedes Zeitalter Anspruch auf unsere Sympathie und Andacht hat. Galt es die alten Ägypter, so betonte er mit förmlicher Ergriffenheit ihren gewaltigen religiösen Ernst. »Sie wußten, daß die Zeit des Lebens kurz, die Zeit nach dem Tode lange dauert.« »Die Assyrer, wozu die auf der Welt gut waren? Ja, wozu sind denn wir auf der Welt gut? Wenn wir da ins Fragen hineingerieten, – wir wollen lieber nicht fragen.« Bezeichnend für sein Einfühlen selbst in die vermeintlich unerquicklichsten Zeiten ist seine Verteidigung des römischen Senates zur Kaiserzeit: »Historiker, welche den Senat schelten, weil es ihnen an Phantasie gebricht, um sich in jene Zeit hineinzuleben.« Das ists. Er, Jacob Burckhardt, im Unterschied von andern, hatte die Phantasie, den Ernst und die historische Gewissenhaftigkeit, sich auch in unerfreuliche Zeitalter hineinzuleben. Ich habe das Wort Ehrerbietung gebraucht. Nicht leichthin. Jacob Burckhardt kannte die Ehrerbietung bis zur Demut. Seine Ehrfurcht galt dem Erdenleid der Geschöpfe, den Völkern und ihrem Schicksal, dem geheimnisvollen (überirdischen, wie er glaubte) Willen, der das Völkerschicksal schiebt, und der genialen Größe einiger Ausnahmemenschen. In der Kunst jedem Meister, in der Weltgeschichte wenigen Einzelnen, denen er beinahe magischen Einfluß zuschrieb. »Mit dem Augenblick, wo ein Zeitalter keinen ganz großen Menschen aufweist, ist tatsächlich die Barbarei da.« Durch diese Ehrfurcht hauptsächlich, neben dem kosmischen Ernst, wurden seine Vorträge zu weihevollen Andachtstunden.
Kraft seines hohen kosmischen Standpunktes über den Zeiten bedeutete für ihn die jeweilige Gegenwart bloß einen kleinen Abschnitt in der Weltgeschichte, nichts als die herrliche Summe alles Vorangegangenen. Immer von neuem warnte er vor der Überschätzung der Gegenwart und vor dem Anspruch, als ob die jeweilige Gegenwart das Oberurteil über alles Frühere abzugeben hätte, »weil in diesem Augenblick zufällig wir das Wort haben«. Und das in den sechziger Jahren, im Taumel der Fortschrittsschwärmerei! Die Selbstberäucherung der Gegenwart, wie sie damals herrschte (nur damals?), war ihm geradezu zum Ekel. »Die Gegenwart ist eitel wie ein Aff.« Daß er überdies von dem gegenwärtigen politischen Zustand und der nächsten Zukunft Europas eine schlimme Meinung hatte, macht seiner Einsicht Ehre. Schon Ende der sechziger Jahre sah er voraus, daß eine fürchterliche Katastrophe Europa bevorstehe. »Passen Sie auf, Sie werden etwas erleben! Gut für mich, daß ichs nicht mehr erleben werde.« Burckhardt hat viel ins Blaue hinaus prophezeit. Mit dieser Prophezeiung hat er leider nur zu gut recht behalten.
Dann die glanzvollen formalen Tugenden seines Vortrags. Und jedem einzelnen Vortrag gab er sein ganzes Selbst hin, feilte ihn zu einem abgerundeten Ganzen, die Frucht unglaublich eingehender und gewissenhafter Vorarbeit. Es war ihm ein künstlerisches Bedürfnis, jeden Vortrag so auszuschaffen, daß er ihn selber befriedigte. Und Bedürfnis war ihm auch, Vorträge zu halten, je mehr, desto lieber. Was einer kann, das liebt er auch zu leisten. Offenbar hatte er auch das Gefühl (nach meiner Ansicht ein richtiges Gefühl), daß er das Beste von sich selbst in seinen Vorträgen zu bieten vermochte.
Wenn man nun weiß, was für eine Menge von Vorbedingungen nötig sind, um das zu leisten, was ein Jacob Burckhardt leistete in Werken und Lehren, wenn einer eine Ahnung davon hat, daß so bedeutende Leistungen nicht bloß eine Unsumme von Studien und von Arbeit verlangen, sondern auch eine fortwährende Trächtigkeit der Gedanken Tag für Tag und jahraus, jahrein, der wird gerne auch die Vorbedingungen dazu in Kauf nehmen: den Quietismus, das Sich-zurückziehen (›Egoismus‹ nennen das die Toren), die Leisetreterei, die vorsichtige Ablehnung aller Ruhestörungen (und zu den Ruhestörungen gehört auch das Hereinragen außerordentlicher Männer) und ähnliches. Schwächen? Meinetwegen. Aber Schwächen, die wir segnen, während wir sie belächeln, und für welche wir herzlich danken. Denn damit dieser Mann in seinem kurzen Menschenleben dieses hervorzubringen vermochte, dazu waren diese Schwächen nötig. Wir bitten um mehr solcher Schwächen, die solch ein Lebenswerk zutage fördern.