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Der Ausflug nach Bern

Über den Berg

Ende Juni 1848 war das Tagsatzungsmandat meines Vaters abgelaufen. Eine Staatskutsche, mit dem Standesweibel in den Landesfarben auf dem Bock, wurde gestellt, ihn von Bern heimzuholen. Meine Mutter benutzte diese Gelegenheit, ihrem Manne entgegenzureisen, und nahm mich mit.

Meine junge Mutter, vor drei Wochen erst einundzwanzig Jahre alt geworden, noch wenig in der Welt herumgekommen, außer ihrem Pensionsaufenthalt am Genfersee kaum über die Kantonsgrenze hinaus, unternahm die Reise in frischer, freudiger, fast festlicher Stimmung, zumal es galt, ihren seit einem halben Jahre abwesenden Mann wiederzusehen und wiederzuhaben. Mit mir fühlte sie alles und jedes innig überein und ich mit ihr, ohne daß es der Worte bedurfte. Es war wie eine Hochzeitsreise zweier Kinder. Jede Neuigkeit längs des Weges, und wäre es nur eine Baumgruppe oder Matte, wurde von uns beiden als Abenteuer empfunden und mit durstigen Blicken eingesogen.

Das erste gemeinschaftliche Entzücken geschah hinter dem Bubendorfer Bad, an der nämlichen Stelle, die mir im vorigen Jahre auf der Waldenburger Reise so befremdende, rätselhafte Gefühle verursacht hatte. Ich hatte gemeint, ich einzig würde von solchen geheimnisvollen Gefühlen heimgesucht, und ich müßte mich ihrer schämen. Jetzt aber rief zu meinem Erstaunen an dieser selben Stelle meine Mutter freudig aufgeregt mit glänzenden Augen: »Es wird einem hier so sonderbar zumute.« Wie ging nun das zu? Wie konnte sie wissen, was in meinem tiefsten Innern vorging? Und solche verborgene Gefühle sind demnach nichts Lächerliches oder Sträfliches, da meine Mutter sich offen zu ihnen bekannte? Während ich noch an dem Wunder herumstaunte, daß zwei Menschen durch die Haut hindurch, ohne sich zuvor mit Worten zu verständigen, genau das nämliche fühlen können, rollte der Wagen weiter und neue Bilder bannten meinen Blick.

Spittelers Mutter Anna Dorothea, geborene Brodbeck

Spittelers Mutter Anna Dorothea, geborene Brodbeck 1827-1915

Das Dorf Hölstein weckte unsere Verwunderung durch die ungewohnte gieblige Bauart, die schwarzbraune Farbe des Gebälkes und vor allem durch die Höhe einzelner Häuser. Dazwischen liefen jedoch lumpig gekleidete Kinder mit nackten Füßen und Beinen herum. Wie eine Sammlung von Armenpalästen erschien uns das Dorf. Vor dem allergrößten himmelhohen Giebelhause, das von braunem Getäfel in kleine Fächer zerschnitten war, hielten wir still; ich weiß nicht wozu, wahrscheinlich führten sich der Kutscher und der Weibel ein Glas Wein zu Gemüte. Den Halt benützte ich dazu, das fabelhafte Haus auswendig zu lernen. Nun hatte ich ja freilich Hölstein schon auf meiner Waldenburger Reise mit dem Salomeli durchfahren, sogar zweimal, nämlich auf der Hinreise und auf der Rückreise. Warum war mir damals das Dorf nicht aufgefallen, sondern erst heute? Teils weil ich jetzt um ein Jährchen älter war, folglich mit aufmerksamerem Geiste beobachtete, hauptsächlich aber deshalb, weil ich diesmal durch die Augen meiner Mutter sah, der keine Neuigkeit entging. Und das tat ich nicht bloß damals, sondern von diesem Tage an betrachtete ich zeitlebens die sichtbare Welt durch die Augen meiner Mutter.

In Waldenburg wird uns ohne Zweifel das Salomeli mit dem Schwesterlein und der Tante Tschopp bewillkommt haben. Doch davon weiß ich nichts mehr. Wohl hingegen von ihrem Abschied draußen vor dem ›Leuen‹ unter der Berghöhe. Der verlief in freudig aufgeregter, lauter Geschäftigkeit. Päckchen wurden auf den Kutscherbock geschoben, für die Urgroßmutter und ihren Sohn, den Onkel Dettwyler, bestimmt, und eine Unmenge Grüße an die beiden aufgetragen. Dabei war von Langenbruck oben auf dem Berge aus allen Mündern so eifrig die Rede, daß meine Verwunderung um diesen Namenslaut phantastische Mutmaßungen wölkte. Und das vermutete Langenbruck räumte nachher dem wirklichen Langenbruck, das mir gar keinen Eindruck hinterließ, nicht den Platz, denn es hatte in der Seele Wurzel gefaßt. Noch in meinem Mannesalter zeigte mir etwa ein Traum den Onkel Dettwyler auf unmöglichen Hügelfeldern in einem märchenhaften Langenbruck hausend. Dieser Traum keimte aus jener Wurzel.

Dann ging es den steilen Stutz hinauf, an Jöris Berggärtlein vorbei, an der Stelle vorüber, wo ich voriges Jahr mit dem Salomeli, vom Münsterli kommend, herabgestiegen war. Doch keine Rückerinnerung streifte mich, ich reiste der Zukunft entgegen. Was im vorigen Jahr geschehen war, galt mir für erledigte uralte Geschichte. Dagegen nur wenige Wagenlängen später, wie wir so hoch oben über dem tiefen saftigen Bachtal im Baumschatten dahinfuhren, überkam uns ein stolzes Glück, das Glück der Hoheit. Mit diesem Worte meine ich nichts anderes als das Bewußtsein des körperlichen Überragens, des Hinunterblickens vom Sims einer erhöhten Stelle. Aber ob auch nur körperlich, das ist viel. Nicht umsonst schaut die menschliche Sprache alle Macht und Herrlichkeit auf erhöhter Stufe. Ein Haufen Arbeiter, welche die Straße verbesserten, wirkte überdies als Ereignis. Die Straße mußte lange Zeit unfahrbar gewesen sein, da mein Vater gar nicht glauben wollte, daß wir sie benutzt hätten; er selber war den alten Weg unten im Bachtale neben der Papiermühle vorbei nach Bern gefahren.

Auf der Paßhöhe des Hauenstein, an dem Punkte, wo die bisher bergansteigende Poststraße plötzlich im Bogen nach dem jenseitigen Dorfe Langenbruck hinabschwenkt, ließ meine Mutter den Wagen leer ins Dorf hinunter vorausfahren, während sie mit mir zu Fuß, den Bogen abschneidend, das alte verlassene Sträßlein einschlug. Sie kannte in Langenbruck Weg und Steg, hatte sie doch als Kind öfters die Ferien bei der Urgroßmutter zugebracht. Ein lieblicher Obstbaumgang umfing uns mit einladendem Düster, und durch die Fenster des Baumganges grüßten freundliche Häuserchen und Blumengärtchen. Von Heimatglück beseelt, nahm sie mich fröhlich an der Hand, und wir tänzelten zusammen lustlachend den ergötzlichen Baumgang hinab.

Der Empfang im Hause der Urgroßmutter ist meinem Gedächtnis abhanden gekommen. Dagegen entsinne ich mich, im Gasthof zum Bären die Wandbilder im Laubengang des ersten Stockes bewundert zu haben. Und durch meine ganze spätere Kindheit hat sich die Erinnerung fortgepflanzt, als wäre ich jenen Tag im Hause der Urgroßmutter auf einem Himmelbett gelegen und meine Mutter, durch den Vorhang blickend, hätte mich die Wonne des Aufwachens in ein liebes Gesicht kosten lassen, wie einst die Tante Gotte in Basel.

Jenseits des Berges

Bis Langenbruck war Heimatkanton und Freundesland, jenseits ging es für uns beide in neue, fremde Gegend. Um nicht auf Schritt und Tritt darauf zurückkommen zu müssen, will ich es gleich auf einmal vorausmelden, daß der Weg, den wir nun von Langenbruck bis Solothurn fuhren, der nämliche ist, der in meinen »Mädchenfeinden« geschildert wird, mit einziger Ausnahme, daß die Mädchenfeinde, einem späteren Erlebnis zum Angedenken, unterhalb Holderbank über den Bach nach der alten Straße abschwenken, während meine Mutter mit mir im Wagen natürlich auf der Poststraße blieb. Die Ortsnamen habe ich in meiner Erzählung verändert, Langenbruck in ›Sentisbrugg‹, Balsthal in ›Schönthal‹, die Dürrenmühle in ›Friedlismühle‹, das Städtlein Wiedlisbach in ›Weidenbach‹, Solothurn in ›Bischofshardt‹.

In Balsthal besuchten wir flüchtig einen Freund meines Vaters, den nachmaligen Regierungsrat Schenker, der linker Hand im letzten Hause Balsthals wohnte. Dann ging es durch die Klus, jene Felsschlucht, die in meinen Schriften so oft wiederkehrt, nicht einzig in den »Mädchenfeinden«. Eine geplante, ausgedachte, doch nicht niedergeschriebene Nummer meiner »Extramundana« wollte sogar die Klus zum Hauptthema nehmen. Diese ewige Wiederkehr der Klus spricht für sich genug und enthebt mich der schwierigen, ja unmöglichen Aufgabe, zu schildern, was ich alles empfand, als ich zum ersten Male durch die Klus fuhr. Ich füge bloß bei, daß ich beim Vorüberfahren die ganze Herrlichkeit, nicht allein etwa die Burgruine, sondern auch die Häuser mit dem Blick auswendig lernte. Endlich, um Enttäuschungen vorzubeugen, muß ich noch berichten, daß damals die Klus ganz anders aussah als heute. Damals war sie ein abenteuerlicher Engpaß, heute ist sie eine häßliche weite, staubige Fabrikwüste.

Jenseits der Klus ging es durch einen schmalen Streifen des Kantons Bern, der hier den Kanton Solothurn kreuzt: bei Niederbipp und der Dürrenmühle vorbei, so genannt, weil die Mühle durch mehrere Menschenalter einer Familie namens Dürr gehörte. Das Wort ›Kanton Bern‹ wirkte spannend aufregend. Es wurde einem zumute, als ob man einen unbekannten Weltteil entdeckte. Da erschien alles merkwürdig, vor allem die Strohdächer der Häuser; jede Biegung des Weges, jeden Sandhaufen merkte ich mir so scharf, daß ich nachher auf der Heimfahrt immer voraussagen konnte, was jetzt kommen werde, viel besser als mein Vater, der doch schon mehrere Male den Weg gemacht hatte, worauf ich ein wenig stolz war.

Gleich hinter der Dürrenmühle aber erlebte ich Phantasiespiele. Rechts von der Poststraße steigen Wälder von einem Berg (dem Jura) herunter. Die Wälder haben einen Saum. Längs diesem Saum geschahen mir Visionen, es werden wohl Grenadierregimenter der napoleonischen Alten Garde gewesen sein, ich weiß das nicht mehr so genau. Aber Visionen waren es, und diese blieben mitsamt ihrer Szenerie im Herzen haften, die Erinnerung spielte mit ihnen, wandelte sie um, aus dem Waldsaum wurden Täler, aus den Grenadierregimentern ›Hindinnen der Nacht‹. Die geheimnisvollen Täler des »Olympischen Frühlings« auf der Reise zu Uranos, die Talvisionen in »Imago« sind die Nachkommen der Visionen, die dem Dreijährigen auf seiner ersten Berner Reise in der Gegend der Dürrenmühle geschahen.

In der Nähe von Solothurn, auf der sanften Höhe, die, glaube ich, Feldbrunnen heißt, sammelten sich eine Menge von staunenswerten Neuigkeiten und noch erstaunlicheren Ahnungen, vor allem die Ahnung der Stadt in der Tiefe, zu überwältigendem Eindruck. Wir konntens fast nicht ertragen, so groß war unsere Freude. Reden wie Schweigen war von Glückseufzern begleitet. Der Wagen schwenkte hier in Feldbrunnen, ich weiß nicht warum, in einen weiten geräumigen Platz vor einem Hause: war es eine Poststation? oder ein Wirtshaus? Allerlei Geräte lagen, mehrere Bäume standen, verschiedene Tiere liefen auf dem Platz herum. Daß das einfache Abschwenken von der Straße von uns beiden als ein Ereignis, der Anblick eines geräumigen bäurischen Hofes mit dem dazu gehörigen Gewusel als ein bedeutsames, herzerfreuendes Bild genossen wurde, bezeugt die Stimmungshöhe und Kindlichkeit unseres seelischen Zustandes.

Dann ging es hinunter nach der Stadt an immer andern Kapellen, Landhäusern und Gärten vorüber, in jubelndem Staunen der Bewunderung.

Solothurn, die goldene Märchenstadt

In Solothurn führte mich meine Mutter an der Hand ein enges Gäßchen hinauf (gegen das Bieler Tor), um eine Freundin von ihr, Witwe Zschokke, geborene Vögtlin, zu besuchen. Diese wohnte im ersten Stock, in einer merkwürdigen Wohnung. Als wir nämlich eine Zeitlang in einem düsteren Zimmer gesessen hatten, das in das Gäßlein schaute, öffnete sie eine Hintertür. Statt daß aber jetzt ein noch dunkleres Gemach durch die Hintertür zu sehen gewesen wäre, wie ich erwartete, schien der helle Tag durch die offene Tür. Es war ein Haus mit zwei Stirnseiten. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Nachher gingen, liefen, tänzelten wir eine andere Gasse schräg abwärts, wo Gemüseweiber uns freundlich zunickten und ansprachen. Gerne wäre ich bei ihnen verweilt, allein Mama sagte, es sei Zeit abzureisen, es wäre noch ein weiter Weg bis Bern. Auf einem prächtigen Platz ging sie in einen Laden, um etwas einzukaufen. Oh, waren schöne Dinge in dem Laden! Kisten unter anderm, worauf man sich setzen konnte. Dort wollte ich mich häuslich niederlassen. Aber wieder lautete die Mahnung: »Der Kutscher wartet, es ist noch eine lange Reise bis Bern.« Und so fuhren wir weiter.

Das ist alles, was ich von unserm Aufenthalt in Solothurn noch weiß, und das ist nicht viel. Aber nun der Gesamteindruck, den ich von Solothurn davontrug, und zwar zeitlebens bis auf den heutigen Tag: eine Märchenstadt mit goldenen Dächern. Ich bin seither noch oft in Solothurn gewesen und habe jedesmal festgestellt, daß in Solothurn die Dächer aus Ziegeln bestehen und nicht aus Gold. Allein das hilft mir wenig; immer wieder werden die Dächer golden, immer von neuem muß mein Verstand mühsam das Gold abschaben, damit ich Solothurn in Gedanken so sehe, wie es wirklich ist, und nicht so, wie es im Herzen des Kindes nachleuchtete. Ja, im Herzen. Denn nicht bloß zur goldenen Märchenstadt wurde mir Solothurn, sondern auch zur Sehnsuchtsstadt. Wie oft ist mir Solothurn nachher in seligen Träumen erschienen! Als jungem Mann in Rußland träumte mir nie von meiner Heimat Liestal, oft dagegen von Solothurn. Und immer war es der nämliche Traum: ich ging mit meiner Mutter an einer gewaltigen Schanze vorbei in eine ungeheuer große prächtige Kirche, und Seligkeit erfüllte uns beide. Wo das Gold und die Sehnsucht eigentlich herkommt, weiß ich nicht; Tatsache ist meine rätselhafte, durch keinen vernünftigen Grund zu erklärende Vorliebe für Solothurn, die so weit geht, daß mich sogar die Solothurner Sprache heimatlicher anmutet als jeder andere Schweizerdialekt, heimatlicher sogar als die Sprache meines wirklichen Heimatortes. Und alles das einzig deshalb, weil ich einst als kleines dreijähriges Kind mit meiner Mutter auf der Durchfahrt anderthalb Stunden in Solothurn geweilt hatte.

Ein Ausblick

Jählings, wie durch einen Zauberschlag, war Solothurn, sobald man aus der letzten Gasse hervorkam (beim jetzigen Bahnhof Neu-Solothurn), verschwunden. Nur noch ein einziges herrschaftliches Haus, von einer Mauer herunter zum Abschied grüßend, dann sah man sich plötzlich in der Einsamkeit, von bäurischem Gelände umgeben, wo kein Blick, keine Ahnung mehr die Nähe einer Stadt verriet, wo man sich stundenweit von Solothurn entfernt hätte glauben können. Matten, Kartoffeläcker und Saatfelder (»Hafer«, belehrte mich meine Mutter), dahinter Wald und mitten drin, nach einiger Zeit, ein einziges Bauernhaus.

Die Poststraße, sanft ansteigend, macht dort zuerst eine scharfe Biegung nach rechts, dann, nahe dem Bauernhaus, eine zweite, kleinere, nach links, aufwärts, dem Walde zu. Bei der ersten dieser Biegungen rief meine Mutter aufgeregt mit feuchtglänzenden Augen: »Sieh, was für ein merkwürdiger Anblick! Man spürt dabei etwas so Eigentümliches inwendig.« Was war da zu sehen? Nichts als die von leichtem Wind sanft bewegten Halme des Haferfeldes und darüber Luft und Licht und Duft und Wolken. Aber Luft und Wolken schwebten über einer unsichtbaren Ebene und hatten deshalb ein anderes Gepräge und eine andere Färbung, und das Licht kam von Süden her, von Biel und Neuenburg, wo ein von der deutschen Schweiz verschiedenes Klima, mit stärkerer Besonnung und saftigeren, glühenderen Farben beginnt, wo die Seen liegen, die Reben reifen und die Zypressen gedeihen. Ich nenne das den Savoyer oder Burgunder Süden und ziehe ihn dem italienischen vor. Diesen Savoyer Süden muß man gesehen, nein, nicht bloß gesehen, man muß ihn durch jahrelangen Aufenthalt erlebt haben, um Rousseaus Naturreligion von innen heraus verstehen, das heißt nachfühlen zu können. Wäre Rousseau in der deutschen Schweiz aufgewachsen, in den nördlichen Alpen mit ihren feuchten, neblichten Weiden, so hätte er wohl nicht so schwärmerisch zu seiner Göttin Natur gebetet. Von diesem Savoyer Süden nun gelangt ein letztes Licht und letzter Odem durch die Ebene von Biel-Grenchen und durch das Tal der Aare bis vor Solothurn. Und diesen Gruß des Südens vermochte das Auge meiner Mutter zu vernehmen und ihre Seele zu spüren.

Auf der Heimfahrt rief nachher an der nämlichen Stelle Papa bewundernd: »Dort ist der Weißenstein!« Richtig, ja, da stand er, riesengroß bis zum Himmel ragend. Den hatten wir beide gar nicht bemerkt.

Im tiefen Wald

Dann kamen wir in einen groß mächtigen Wald, wie er im Märchen steht und wie ich noch keinen gesehen hatte. Prächtig war es, hinter dem Waldsaum unter dem Laubdach der riesigen Bäume dahinzufahren, und unendlich währte die wonnig düstere Reise. Öfters begegneten wir andern schönen Wagen, aus deren Innern fremde Menschen uns freundliche Grüße zuwinkten: Diplomaten und schweizerische Staatsmänner, welche von Bern heimkehrten, an der schwarzweißen Tracht des Weibels auf dem Kutscherbock den Amtswagen erkannten und uns als Kameraden begrüßten. Möchte doch diese vergnügliche Waldfahrt ewig währen!

Da hielt unser Wagen an, der Kutscher und der Weibel begannen auf meine Mutter einzureden; das Ende der Verhandlung war, daß wir zu meinem Leidwesen von der belebten, abwechslungsreichen Straße rechts abschwenkten, in den Wald hinein, auf einem schmalen, holperigen Seitenwege, wo kaum durchzukommen war und wo einem die Zweige ins Gesicht schlugen. Vermutlich wollte der Kutscher dem lebhaften Verkehr auf der Poststraße ausweichen.

Und immer tiefer gerieten wir in das Dickicht, immer schmaler und unwegsamer wurde der Pfad, immer einsamer und stiller der Wald, so daß einem allmählich ein wenig unheimlich zumute wurde. Ob er sich nicht vielleicht verirrt hätte, fragte Mama den Kutscher. Der gab unaufhörlich die Versicherung, er kenne den Weg genau, wir sollten nur nicht bange sein, wir wären bald aus dem Holz heraus. Er kannte den Weg so genau, daß wir unversehens in eine lichte weite Mulde gerieten, wo der Weg ein Ende hatte. Dort stiegen wir aus, der Kutscher mit dem Wagen suchte die eine Seite nach einem Ausweg ab, der Weibel zu Fuß ging nach einer andern Richtung auf die Entdeckungsreise, während Mama mit mir in der Mulde umherspazierte. Es war vergnüglich dort, kein Gebüsch hemmte das Umherwandeln zwischen den hohen Bäumen, Holzstöße, an den Stämmen aufgeschichtet, dienten für Abwechslung. Im Augenblick wurde ich heimisch; meinetwegen hätte man noch lange hierbleiben können. Da rief der Kutscher aus der Ferne, er hätte einen Weg gefunden. Das erwies sich als richtig, wir stiegen also wieder ein, und nun ging es auf einem einladenden, schönen Sträßlein im Walde steil bergauf, der Höhe entgegen, wo über den Saum des Weges der Himmel zu uns hereinleuchtete. Oben angelangt, sprangen plötzlich die Bäume links und rechts auf die Seite, und wir befanden uns auf einem freien Berge neben einem Dorfe und einem Schlosse und schauten über den mit Äckern und Feldern besetzten Hang hinunter in ein weites, offenes, ebenes Gelände. Das Dorf heiße Lohn, wurden wir belehrt, und der Wald, in welchem wir uns verirrt hatten, der Lohner Wald.

Wie wir dann den Berghang hinunterrollten, zwischen Matten und Feldern, im Abendsonnenschein, der tiefen Ebene zu, jubelten unsere Augen vor Entzücken. Etwas Schöneres, schien uns, könnte es auf der ganzen Welt nicht geben. Ich zweifle an der Möglichkeit, daß ein Hochzeitspaar, das über die Alpen nach Italien hinunterfährt, ein seligeres Reiseglück genieße als meine Mutter und ich, als wir von Lohn in die Ebene hinunterfuhren.

Von Lohn bis Bern ist noch eine ansehnliche Strecke, vier bis fünf Stunden zu Fuß, wenn ich nicht irre; die Gegend ist zwar üppig bebaut, aber einförmig, Langeweile meldete sich, mit ihr die Müdigkeit und schließlich ein fester, tiefer Schlaf, der mich bis Bern nicht mehr verließ. In der Nähe der Stadt Bern, auf der Höhe, wo es vom Beundenfeld nach dem Aargauerstalden hinuntergeht, hielt der Wagen einen Augenblick an, ich schreckte aus dem Schlafe auf, sah in finstere Nacht hinaus, erblickte über dem Wagen riesige, gespenstische Bäume, merkte, daß zwei Männer zu uns in den Wagen stiegen, erkannte die Stimme meines Vaters, dann schlief ich sofort weiter.

Unten bei der Nydeckbrücke, da, wo gegenwärtig der Bärengraben ist, weckte mich Lärm und Getümmel halb aus dem Schlaf. »Ein Kadettenfest«, erklärte mir später meine Mutter. Jemand trug mich auf dem Arm durch eine Menge Volk, das ich in der Nacht und im Halbschlaf kaum gewahrte. Ha, wenn ich gewußt hätte, wer mich auf dem Arm trug! Oberst Frey-Hérosé, weiland Generalstabschef der schweizerischen Armee im Sonderbundskrieg! Das ging noch weit über den Oberst Sulzberger!

Wie ich in finsterer Nacht völlig aufwachte, lag ich irgendwo in einem fremden Bett, ich meinte, in Solothurn. Aber unaufhörlich zuckten Blitze durchs Zimmer, so daß ich ängstlich nach meiner Mutter rief, sie möge die Blitze verscheuchen. Die Blitze sah ich im Fieberwahn, die Aufregungen des allzu inhaltreichen Reisetages hatten meine Nerven überreizt.

Der Elefant, oder Sinn und Bedeutung der Stadt Bern

Am nächsten Morgen befand ich mich zu meiner Verwunderung nicht in Solothurn, sondern in Bern, und zwar beim Käfigturm, fast im Käfigturm selber, denn eine Tür führte aus dem Hausgang unmittelbar ins Gefängnis. Das war die Junggesellenwohnung meines Vaters, wenn er in Bern weilte. Frau Lutz hieß die Eigentümerin. Bei ihr und ihrer Tochter Söpheli Lutz waren wir also heute zu Gast. Das Söpheli Lutz war ein munteres, gesprächiges Jüngferlein, die mich vortrefflich zu unterhalten wußte. Vor allem mochte ich zum Fenster hinausgucken. Ein rotes Polster lag auf dem Fenstersims, bequem sich darauf zu setzen; überdies schützte ein eisernes Geländer vor dem Hinausfallen. Allein das Söpheli Lutz warnte mich vor dem Anlehnen. Eben in den letzten Tagen wieder, erzählte sie, wäre in Bern ein Kind auf die Straße zu Tode gestürzt, weil es sich an das Geländer anlehnte und das Geländer nachgab.

Dann schilderten wir meinem Vater begeistert unsere Reise. Er kannte Lohn und den Lohner Wald nicht einmal dem Namen nach. Ist es möglich, daß jemand den Lohner Wald mit seinen Herrlichkeiten nicht kennt? Diese Kenntnis hatte ich vor ihm voraus.

Im Laufe des Tages wurde ich mit dem Dienstmädchen spazieren geschickt. Einmal in Bern, mußte ich doch, nicht wahr, auch etwas von Bern sehen? Das Dienstmädchen nahm mich also auf den Arm und trug mich durch die Lauben, und zwar auf der linken Seite der Marktgasse, wenn man stadtabwärts sieht. Allein nichts wollte mir gefallen, ich fühlte mich müde, zerschlagen, verstimmt und verdrossen. Ich begriff den Sinn und die Bedeutung dieser farblosen, steinigen Stadt nicht. Nichts als graue Häuser, Platten und Pflaster. Wozu das alles? Da schwenkte das Dienstmädchen mit mir auf die andere Seite der Gasse, guckte bald in diesen, bald in jenen Hausgang hinein, als ob sie etwas suchte. Endlich trug sie mich in einen Hausgang, der genau so aussah wie seine Nachbarn. Aber was erblicke ich in dem Hausgang? O Wunder, o Begeisterung! einen riesigen schwarzen Elefanten an die Wand gemalt! Jetzt begriff ich den Sinn und die Bedeutung der Stadt Bern: die ganze Stadt war nur der Deckel und Umschlag zu diesem köstlichen Schatze. Ha, jetzt war meine Verdrossenheit augenblicklich vorbei und meine Mattigkeit genesen! Unaufhörlich mochte ich den Elefanten bewundern. Eine Frau kam die Treppe herunter. O weh! dachte ich; die wird dich fortjagen. Doch nein, sie lächelte mir zu und lud mich ein, mit ihr in ihre Wohnung hinaufzusteigen. Warum nicht gar! Von dem Elefanten bringt mich niemand weg, wenn ich nicht muß. Glücklicherweise nötigte sie mich nicht.

Schließlich, nach langer, langer Zeit, mußte ich doch von dem Elefanten fort, heim, nach dem Käfigturm. Auf dem Heimwege beschäftigte mich eine Unerklärlichkeit: Entweder wollen die Leute, die in Bern Meister sind, daß man ihren Elefanten sehe, oder sie wollen, daß man ihn nicht sehe. Wenn sie es wollen, warum machen sie dann nicht auf ihn aufmerksam, durch eine Krone oder eine Fahne oder sonst ein Zeichen, damit jedermann den richtigen Hausgang findet? Wenn sie es aber nicht wollen, warum lassen sie den Hausgang offen? Wie leicht könnte ein Vorübergehender den Elefanten erblicken, und dann wäre es mit dem Geheimnis vorbei, und die ganze Stadt würde sich in dem Hausgang versammeln, um den Elefanten zu genießen. Ich hatte nämlich gar wohl, während ich den Elefanten bewunderte, eine Menge Menschen draußen vorübergehen sehen; wenn ich sie sah, so konnten sie mich auch sehen und ebensogut den Elefanten. Der reine Zufall, daß sie so eilig vorüberrannten und ihn nicht bemerkten. Aber auf die Länge konnte doch unter Tausenden einer das Geheimnis entdecken.

Mehr als den Elefanten sah ich von Bern nicht und begehrte auch nicht mehr davon zu sehen. Die Hauptsache macht die Nebensachen überflüssig, oder nicht? Und nach meiner Rückkehr nach Liestal, wenn mich jemand fragte: »Was hast du in Bern gesehen? jedenfalls die Bären?«, verbesserte ich überlegen, glückstrahlend: »Nicht Bären: ein Elefant!« Dumme Menschen, die nicht einmal Elefanten und Bären voneinander unterscheiden können!

Den Elefanten habe ich übrigens nicht etwa erträumt oder erdichtet. Es gab wirklich einen solchen in einem Hausgang, nämlich dort, wo der Oberst Gerwer wohnte, rechts unten in der Marktgasse oder Kramgasse, neben einem Gasthof oder Zunfthause. Mit diesem Oberst Gerwer nun war mein Vater befreundet. Er oder das Söpheli Lutz wird also wohl dem Dienstmädchen einen Wink gegeben haben, mir den Elefanten zu zeigen. Die Frau aber, welche die Treppe herunterkam, war die Frau Oberst Gerwer. Darum lud sie mich ein, nachdem sie vom Dienstmädchen erfahren hatte, wer ich sei, mit ihr ins Zimmer hinaufzukommen.

Die Heimfahrt

Am andern Morgen fuhren wir heim. Diesmal gab Papa den Ton an. Nichts mehr von Märchenluft, seelischen Abenteuern, Landschaftsüberraschungen, Visionen, Licht- und Luftwundern; wir reisten jetzt durch die sachliche Wirklichkeit. Und in der Wirklichkeit kannte sich mein Vater aus. Berge, Flüsse und Dörfer meldete er mit erhobener, lauter Stimme an. Alles, was kräftig, tüchtig, gesund war, was Ansehen genoß, Macht oder Reichtum bekundete, nannte er im Tone der Hochachtung. Überall kannte er die hervorragenden Einwohner wenigstens dem Namen nach, manche davon, hauptsächlich die Staatsmänner, die Postmeister und Gastwirte, persönlich, und wußte von ihrer Vergangenheit und Herkunft zu erzählen. Wo immer der Wagen anhielt, kam der Postmeister oder Gastwirt eilends zum Vorschein, um ihn zu bewillkommnen. Der Willkomm wurde mit schallender Herzlichkeit erwidert, mit Erkundigungen nach der Familie und den Kindern begleitet. Dem Kutscher, dem Weibel, den bedienenden Postknechten spendete er Wein, den Pferden Zucker, am liebsten eigenhändig, wobei er nie unterließ, einen darüber zu belehren, daß man einem Pferde das Naschwerk mit flacher Hand und abgewendetem Daumen hinhalten müsse. Während der Fahrt grüßte er jeden vorüberziehenden Menschen zuvorkommend, rief den Bauern auf dem Felde ein Sprüchlein über das Wetter oder eine Frage nach dem Stande der Früchte zu, kurz, wir reisten wie durch Freundesland.

Dem sah und hörte ich verwundert zu, doch nur beiläufig und zerstreut. Meine eigene Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, die Dinge längs des Weges, die ich vorgestern geschaut, heute von der Rückseite zu erblicken, erwartungsvoll gespannt, ob ich sie wiedererkennen würde. Die Strecke von Bern bis Solothurn war mir neu, da ich sie auf der Hinreise im Schlafe durchfahren hatte: Schönbühl, Utzenstorf, Jegenstorf, Fraubrunnen. In Fraubrunnen ging es einen steilen Abhang zum Posthaus hinunter; ich fand den Post- und Amtsplatz, oder wie er heißt, auffallend stattlich, empfand ihn als einen Trost gegenüber der bisherigen Gegend. Mein liebes Lohn ließen wir heute beiseite, indem wir auf der gewöhnlichen Poststraße weiter rechts im Wald, zunächst dem Waldsaum, Biberist gegenüber, nach Solothurn fuhren. Die Nähe von Biberist war eine geographische Tatsache; mein Vater verfehlte nicht, sie mit lauter Stimme anzukündigen. Solothurn durchfuhren wir durch eine andere Gasse als früher, was ich als ein wichtiges Ereignis erstaunt und aufgeregt wahrnahm, die neue Gasse, wo fast nur fensterlose Mauern und Kapellen zu sehen waren, wie ein Märchen empfindend und gierig ins Herz schöpfend. In Feldbrunnen schwenkte der Wagen in den nämlichen Hof wie neulich. Allein der Zauber des Bildes war verflogen; statt dessen trat ein gewöhnlicher Mann aus dem Hause, um meinen Vater zu begrüßen. In der Dürrenmühle stiegen wir aus und begaben uns eine Treppe hinauf in ein abenteuerliches Läubchen auf der Rückseite des Hauses. Das Läubchen war dermaßen mit Blumenstöcken und Blumentöpfen vollgestopft, daß man kaum durchgehen konnte. Wozu stiegen wir dort aus? weshalb begaben wir uns in solch ein Läubchen? Gibt es überhaupt in Wirklichkeit Läubchen, die nur dazu dienen, mit Blumentöpfen vollgestopft zu werden? Ich glaubte lange Zeit, dieses Läubchen hätte mir ein Traum vorgespiegelt, bis ich es einmal, mehr als dreißig Jahre später, genau so wie einst, mit Blumentöpfen vollgestopft, leibhaftig in der Dürrenmühle wieder entdeckte.

Von der Begrüßung der Verwandten in Langenbruck wiederum keine Erinnerungsspur. Dagegen in nächster Nähe von Waldenburg, oben, neben Jöris Gärtchen, erlebte ich den köstlichsten Genuß der Heimreise: Als der Wagen sich anschickte, die große Straßenschleife bergab in die Tiefe zu fahren, ließ Papa halten, stieg aus und hob mich aus dem Wagen. Ich wäre ja jetzt ein großer Bub, erklärte er, ich könnte gar wohl mit ihm zu Fuß den alten Steinweg zur Sägemühle hinab, um abzuschneiden und den Pferden die Talfahrt zu erleichtern. Der Stutz war außerordentlich jäh, so daß Mama ernste Besorgnisse äußerte, ob meine Kräfte ausreichten. Mir aber jubelte das Herz vor Vergnügen; an der Seite meines Vaters fürchtete ich überhaupt nichts. Also nahm er mich bei der Hand und führte mich den Stutz hinab. Das Unternehmen gelang über alles Erwarten, und ich durfte das stolze Gefühl kosten, Mut bewiesen und Kraft betätigt zu haben.

In Waldenburg wurde längere Rast gehalten. Meine Eltern kehrten im ›Leuen‹ ein, wahrscheinlich zum Abendessen; mich holte das Salomeli zu sich heim. Als wir von Waldenburg fortfuhren, war es finstere Nacht. Über das Weitere weiß mein Gedächtnis nichts zu berichten. Jedenfalls werde ich bis Liestal geschlafen haben.

Die nächsten Tage ließ ich mich als das Kind anstaunen, das in Bern gewesen war, wobei ich nie verfehlte, von dem wunderbaren Elefanten zu erzählen. Nachher fing wieder das gewöhnliche Leben an. Aber der Gewinn der Reise blieb bestehen: der innige Anschluß an meine Mutter, mit welcher ich fortan, und zwar ich einzig und allein, die Erinnerung an eine hohe Zeit gemein hatte.


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