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Joseph Viktor Widmanns Elternhaus

Wiederholt hat sich mir der Gedanke aufgedrängt, es sollte doch einmal jemand ein Buch über den Einfluß der deutschen Flüchtlinge auf das Geistes- und Gemütsleben in der Schweiz schreiben. Diesem Buche bin ich nicht gewachsen, aber ein Kapitel dazu vermöchte ich zu liefern, und zwar, insofern der Gegenstand den Wert bestimmt, eines der leuchtendsten. Ich denke nicht zunächst an städtische Mäzenaten, obschon es auch solche unter der deutschen Einwandererkolonie in der Schweiz gegeben hat; die Musik- und Literaturgeschichte weiß ihre Ehrennamen zu nennen. Nein, noch höher scheint mir die stetige Wirkung der weniger begünstigten Deutschen zu gelten, welche, in die Dörfer und Kleinstädtchen unseres Vaterlandes verschlagen, dort zwischen Sorgen und Heimweh durch ihre Tätigkeit, durch ihr Beispiel und vor allem durch ihre Persönlichkeit geistiges Leben weckten und Geselligkeit förderten. Denn ohne Frage bedeutete in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und auch später noch bei unsern kleinlichen zerklüfteten Verhältnissen jedesmal die Einwanderung eines Fremden von Bildung eine Horizonterweiterung, meist auch eine Erwärmung der lokalen Gemütstemperatur. Geriet ein keimendes Talent in diese Atmosphäre, so empfing es Sonnenschein, nicht selten sogar Schutz und Pflege. Viel Dank und Segen von Schweizern schwebt in kleinen Friedhöfen über den Gräbern der deutschen Einwanderer.

In dem denkbar vollkommensten Maße ging solche segensreiche Einwirkung, also vor allem Wärme und Sonnenschein, von dem Pfarrhause Widmann in Liestal aus, dem Elternhause unseres Dichters. In diesem gesegneten Heim wehte ein ganz besonderer, zarter Seelenatem, der einem, sowie man eintrat, die harte, kalte Wirklichkeit in metaphysische Entfernung entrückte. Ein komplizierter Hauch, zusammengesetzt aus weltmännischer Großstadtluft (die Eltern stammten beide aus Wien), pastoralem, fröhlichem Frieden, Kunst und Geist, alles harmonisch gestimmt durch eine geradezu beispiellose Herzensgüte. Ich sehe keine Notwendigkeit, diese Herzensgüte auf ihre Elemente hin zu analysieren; immerhin drängt sich mir die Beobachtung auf, daß so absolut harmlose Menschen, die gar nicht ahnen, irgend jemand auf Erden könnte boshaft sein, außerhalb Wiens kaum vorkommen. Das österreichische Blut spielte entschieden mit, wenn auch nicht die Hauptrolle.

Da wurde jeder Besucher vertrauensvoll mit offenem Herzen empfangen, irgendeine gute Seite an ihm herausgefunden, und wenn es nur irgend anging, begeisterte man sich für ihn. Anerkennung war da nicht nur eine Bereitwilligkeit, sondern geradezu ein Bedürfnis. Waren schlechterdings keine Vorzüge an einem Menschen aufzutreiben, so lieh man ihm solche aus dem eigenen, nach dem glorreichen Vorrecht hervorragend guter Geister, die Menschen zu überschätzen. Eine edle Spezialität des Pfarrhauses war die Entdeckung und Behütung von verborgenen Talenten. Aus einem Dörfchen oder Städtchen ein unbekanntes, begabtes Bürschlein hervorzuziehen, ihm Mut und Glauben einzuflößen, ihm Unterricht zu erteilen, ihn bei einflußreichen Freunden zu empfehlen, das gehörte hier zur Natur. Nicht jeder entsprach den großen Hoffnungen, aber dieser und jener hielt Wort und dankt es ihnen zeitlebens.

Wer hat nicht während dieser Schilderung an unsern Dichter selbst gedacht, der ja die gemeinschaftlichen Familienzüge deutlich ausgeprägt aufweist? Die leidenschaftliche, selbstlose, fast weibliche Hingabe an bedeutende Menschen, eine förmliche Apostelnatur, sein Freundschaftstalent, womit er alle Welt fesselt, sein Begeisterungsbedürfnis, das sich mitunter wahllos äußert, da so ziemlich jeder Mensch imstande ist, auf einige Tage sein gutes Herz zu überrumpeln, bis der kritische Verstand nachträglich die Schwärmerei korrigiert, und vor allem diese aus tiefster Seele stammenden und darum überwältigenden Gefühlsausbrüche, dieser jubelnde Freudenlärm, mit welchem er den Besucher begrüßt. Das alles ist Erbstück aus einer Familie, wo das wahre Leben erst mit lieben Freunden und Gästen begann, wo jede gesellige Stunde zur Gegenwart im höchsten Sinn wurde, zum weihevollen intimen Kultus des Schönen, wo der Empfänger der ausgesuchtesten Geistesgenüsse zugleich die Illusion erhielt, als wäre er der Gebende. Es ist, als ob die Natur sich gesagt hätte: ich will einmal die Gegenfigur des Neides schaffen, einen Musensohn, der aus der Art schlägt, dem fremder Wert noch teurer ist als der eigene: da schuf sie Joseph Viktor Widmann.

Mehr als durch die beste Schilderung erhellt der ausnehmende Reiz des Pfarrhauses Widmann durch die Anziehungskraft, die von ihm in weite Fernen ausstrahlte und die ganz allein von den Persönlichkeiten ausging. Wovon denn sonst? Denn um »ein Haus zu machen«, Gastereien und Festlichkeiten zu geben, dazu fehlten bei weitem die Mittel. Wie wenig aber auf Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Reichtum für die Geselligkeit ankommt, wie unendlich höher nicht bloß eine kleine Minderheit, sondern die gebildete und feinfühlige Menschheit überhaupt geistige Genüsse als festliche Schmausereien bewertet, dafür gibt das Beispiel des Liestaler Pfarrhauses Zeugnis. In weitem Umkreis bis über die Kantonsgrenzen, ja Landesgrenzen hinaus bildete es den Sammelpunkt des geistigen und künstlerischen Interesses, der Bedeutung, des Ruhmes und in großherziger Weise auch der Abenteurerei; denn echt liberale Gastlichkeit übt ja nicht Federlesens noch Zensur, sie überläßt die Auswahl den Gästen, sich selber damit begnügend, die Menschen aus ihren dumpfen Murrwinkeln hervorzuziehen und nebeneinander zu bringen. Deutsche Fabrikanten, Barone, Revolutionäre, fremde Künstler, reiche Basler der benachbarten Villen, Polen, Hannoveraner und was da sonst noch Politisches fleuchte oder Literarisches zeuchte, dazwischen Einheimische aus der nächsten Nähe, alles sprach dort vor, immer jedoch in dem Sinne, daß es für eine Auszeichnung galt, im Pfarrhause Liestal verkehren zu dürfen.

Als natürlich gegebener Empfangstag diente jahraus, jahrein der Sonntag. Ich habe immer gefunden, daß, während alle Welt beständig Sonntagsruhe fordert, niemand recht weiß, was mit seiner Sonntagsruhe anfangen. Genauer besehen scheint mir die Menschheit entschieden an Sonntagen unzufriedener als an Werktagen. Man kann sogar ein besonderes Sonntagskopfweh beobachten, eine Müßiggangsmigräne, an welcher weit mehr Leute leiden, als man vermuten sollte. Die einzigen, die ich an Sonntagen wirklich seelenvergnügt gesehen habe, sind diejenigen, die am Sonntagvormittag etwas Energisches arbeiten, also vor allem die Pfarrer, wenn sie sich eine Stunde lang müde gepredigt haben, etwa für die Sonntagsruhe eifernd. So im Pfarrhause zu Liestal. Hier bedeuteten die Sonntagnachmittage das denkbar schönste, was es hienieden (man verzeihe mir das Sonntagswörtchen hienieden) gibt: Zufriedenheit und Erholung, Freundschaft und Güte, Kunst und Geist, mit einem Wort Glück.

Und auch am Nachmittag tat man immer etwas. Allerlei, hauptsächlich aber wurde musiziert. Und nicht dilettantisch, weit entfernt. Die Kammermusikkonzerte am Sonntagnachmittag im Liestaler Pfarrhaus, das waren Leistungen, zu welchen Musiker von Fach, ja Virtuosen herbeireisten, um zuzuhören oder teilzunehmen. Das ging übrigens ganz zwanglos zu, wie es bei Kammermusik zugehen soll, ohne mysteriöse Ehrfurcht, mit Ausspruch und Kritik von Satz zu Satz. Ähnlich wie man anderswo einander zum Kartenspiel oder Tanz aufmuntert, sprach der Herr Pfarrer in seinem gemütlichen Wiener Dialekt: »Nun, Kinder, sollen wir nicht etwas spülln?« Deren aber, die etwas »spülln« konnten, wohnten im Pfarrhause selber, es bedurfte dazu nicht einmal der Gäste. Vor allem die gemütsfeine, geistig hochbegabte Frau Pfarrer, eine geniale Meisterin auf dem Klavier, eine Schülerin Hummels, deren Vortrag, wenn ihre Kränklichkeit ihr einen solchen einmal gestattete, jedesmal ein Ereignis vorstellte. Für gewöhnlich freilich übernahm den Klavierpart ihre anmutige bildhübsche Tochter Anna, und mit Glanz; hatte sie doch schon als Schulmädchen wagen dürfen, das Webersche Konzertstück und die C-Dur-Phantasie von Schubert öffentlich vorzutragen. In seltenen Fällen, zur Auszeichnung und Belohnung, wurde auch etwa eine der Pensionärinnen, mit welchen das Pfarrhaus immer gesegnet war, mit der Ehre eines Klaviervortrags bedacht.

Dann der Herr Pfarrer selber; ein großer, schöner, stattlicher Herr, der allem andern eher gleichsah als einem Pfarrherrn. Seine musikalischen Eigenschaften waren vornehmlich diejenigen eines Dirigenten, der alles kennt, alles übersieht, überall einzuspringen vermag. Im Trio übernahm er je nach Bedürfnis die Violine oder das Cello, im Quartett auch die Viola. Mit seiner sonoren sympathischen Stimme trug er wohl auch einmal eine Arie oder ein Lied vor, mitunter ein humoristisches, wie den »Pfarrer von Ohnewitz« oder den »gebildeten Heinrich«, so daß das Pfarrhaus, das von außen so gestrenge aussah, inwendig von herzlichstem Lachen erglänzte. Und der Sohn, unser Dichter Joseph Viktor? Nun, auch er war und ist durch und durch musikalisch. Und wie! Nicht umsonst vereinigte ihn besondere Freundschaft mit hervorragenden Musikern, Brahms und Goetz und Hegar und vielen andern. Dagegen verstockte er von jeher sein Herz gegen die technischen Gebote, so daß er als ausübender Musiker bei den Konzerten im Pfarrhause nicht zum Vorschein kam. Und nun versuche man einmal nachzufühlen, was das heißen will, in einem bescheidenen, stillen Städtchen ein Haus, wo allwöchentlich Beethovensche Violinsonaten und Haydnsche Trios sangen, alltäglich Mozartsche Klavierkonzerte rauschten, eine Gastlichkeit, wo an Stelle der Frage »Wollen Sie lieber Roten oder Weißen?« eine andere grüßte: »Wollen Sie lieber das D-Moll- oder das C-Moll-Konzert?«

In dieser Atmosphäre also spielen die Idyllen Joseph Viktor Widmanns, dies war sein Elternhaus, dessen Mittelpunkt er bildete, denn aller Augen waren von jeher auf ihn gerichtet, als den Stolz, die Hoffnung, den Abgott der Familie. Ein Wunderkind der Begabung, als Schüler schon wegen seines künftigen Genies und seines gegenwärtigen Geistes gepriesen, ja weithin berühmt. Und mit vollem Recht, denn ich habe niemals einen Menschen gekannt, der es an verschwenderischem Reichtum geistiger Einfälle mit Joseph Viktor Widmann aufzunehmen vermöchte. Ob aber auch durchaus zu seinem Vorteil, darüber ließe sich streiten, zumal die Vergötterung durch den damaligen Zeitirrtum kompliziert wurde, welcher als oberstes Kennzeichen des Genies die mühelose Schnellfertigkeit verkündigte. Dem vierzehnjährigen Widmann wurde von allen Seiten, sogar von seinen Lehrern (darunter Autoritäten) das leckere Evangelium gepredigt, er wäre ein fertig vom Himmel gefallener vollendeter Dichter, der es nur brauche fließen zu lassen. Anderseits empfingen freilich wieder durch die überströmende Liebesfülle der Umgebung und den vorzeitigen Frühruhm rund um die Nachbarschaft Charakter und Talent eine behagliche farbige Grundstimmung, die Stimmung des Menschenfreundes, der in der Jugend statt der gewöhnlichen pädagogischen Zurücksetzungen ungewöhnliche Bevorzugung erfuhr, so daß sich statt Bitterkeit Süßigkeit sammeln konnte, die dann zeitlebens die Phantasie der Erinnerung und des Schaffens idyllisch-humoristisch anhauchte. Wie denn zum Beispiel sogar der alte heimatliche Pfarrershund Hektor in dem Alpenhund Argos auferstanden ist, ein vierbeiniges Symbol der Pietät. Gewiß leuchtet ja in jedem Menschen mehr oder weniger die Kindheit goldig nach, in Widmann entschieden mehr. Und nicht bloß mit Mnemosynens Illusionsgold. Nein, der Glückszauber hat in Wirklichkeit bestanden. Es leben viele, die ihn einst mitverspürt haben und aus warmem Andenken meine Worte bestätigen werden. Inzwischen hat der rücksichtslose Tod längst mit grausamer Faust eingegriffen. Es kann niemand mehr Widmanns Eltern Liebe, Verehrung und Dank aussprechen. Aber ihn selber können wir zu ihrem Gedächtnis herzlich grüßen und mit ihm seine treue, seelenvolle Schwester, welche, wenn sie in diesen Tagen im fernen Rußland des Bruders, der verstorbenen Eltern und Tante, der veränderten Heimat gedenkt, sich sagen darf, daß die großen Hoffnungen, die sie sämtlich einst auf ihren schwärmerisch geliebten Pepi gesetzt, durch ihn gerechtfertigt worden sind. Den Liestaler Pfarrerpepi feiert heute die literarische Schweiz.


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