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Ich war noch nicht zwölfjährig, als ich ein Mädchen erblickte, das mir so überirdisch schön vorkam, daß ich vor Andacht beinahe in Ohnmacht fiel und von Stund an dieses Mädchen wie eine Göttin verehrte. Außer ihrem Namen (Anna), und daß sie die Tochter des Pfarrers von Liestal sei, wußte ich weiter nichts von ihr, brauchte auch nichts Weiteres zu wissen. Das Auge hatte das Bild getrunken, das Herz sich daran berauscht; das genügte der Phantasie, um von selber die Liebe immer neu zu gebären und in dieser Liebe glücklich zu sein, ohne Sehnsucht, ohne Begehrlichkeit. Während dreier langer Jahre blieb es eine heimliche, von niemand, am wenigsten von ihr selber geahnte Liebe aus der Ferne; in drei Jahren aber hat viel Liebe Platz; mein ganzes Wesen wurde von dem Bilde und dem dazugehörenden Namen wie von einem süßen Gifte durchdrungen.
Als mich dann nach Ablauf von dreien Jahren das Schicksal mit dem wirklichen, leibhaftigen Urbild meines göttlichen Phantoms zusammenführte, stellte es sich heraus, daß ich wie der dumme Hans im Märchen aus tausend möglichen Nummern blindlings die beste gezogen hatte; ein gnädiges Glück ließ meine Liebe zufällig das denkbar liebenswerteste Wesen treffen. Den Fehler, ihre Vorzüge schildern zu wollen, werde ich nicht begehen; man könnte sonst glauben, ich dichte, wo ich einfach berichte; ich begnüge mich mit der Mitteilung, daß zu den Vorzügen sich eine seltene Güte und Bescheidenheit gesellte, die ihr Verzeihung für ihre Vorzüge erwarben; wie ich denn von keinem Menschen weiß, dem das Kunststück gelungen wäre, sie nicht gern zu haben. Ein Bruder – nicht wahr? – steht nicht in dem Verdacht, seine Schwester durch eine Phantasiebrille zu sehen. Nun wohl: am fünfzehnten November 1862 notiert Annas Bruder ›Pepi‹ in seinen Taschenkalender: »Heute Annas Geburtstag. Engel!« Dieses Erfahrungsurteil habe ich einfach zu unterschreiben.
Weit entfernt, meine Liebe zu ernüchtern, schürte daher die persönliche Bekanntschaft sie zu Flammen. Von allem, was sich in den fünf Jahren 1857 bis 1862 in meinem Innern abspielte, war Anna das Hauptthema; die Geschichte meiner Entwicklung ist die Geschichte meiner ersten Liebe. Aus diesem Grunde war es mir trotz den gewichtigsten Bedenken nicht erlaubt, sie zu verschweigen; ich wurde sogar durch die Wahrheit gezwungen, sie an den Anfang zu setzen, wie es dem Hauptthema gebührt. Sie überlegen lächelnd als eine ›Kindertorheit‹ behandeln, weil von einem Elfjährigen die Rede ist, der sich närrischerweise mit einer langjährigen brotlosen Anbetung verköstigt? ›Torheit‹: gewiß; allein ich war es nicht, der die Torheit beging, ich bin es; es stände mir daher schlecht an, überlegen zu sprechen. Hingegen ›Kinderei‹: nein. Es gibt keine kindischen Kräfte, und nichts, was Gutes zeugt, ist lächerlich. Meiner ersten Liebe aber, gerade weil sie so närrisch hoch war, eignete eine starke Segenskraft. Zwar ob ich ihr, wie ich in meiner Jugend meinte, alles und jedes verdankte, sogar mein Zeichentalent, bezweifle ich heute; sicher jedoch verdankte ich ihr das Beste, nämlich Läuterung und Veredelung. Der inbrünstigste Gottesgläubige kann sich nicht so strenge kasteien und büßen, wie ich mich viele Jahre hindurch gebüßt und kasteit habe, um des geliebten Antlitzes würdig zu werden. Stündlich wachte ich über meine Gefühle, Gedanken und Phantasien, daß auch nicht flüchtig ein unedler Hauch sie verunreinige; genau wie ein frommer Christ, der auf Schritt und Tritt das Auge Gottes gegenwärtig fühlt. Es war wie eine Religion, eine Religion der Schönheit, mit einer Diana als Göttin. Schließlich, auf der höchsten Höhe dieser Religion, im Herbst 1861, erreichte ich in der Tat eine seelische Reinheit, die sich mit der keuschesten Jungfrau, mit dem eifrigsten Asketen hätte messen dürfen. Andacht ergreift mich, wenn ich die glühenden, demütigen Selbstermahnungen aus jener Zeit wieder lese, und ernstlich frage ich mich, ob ich jemals später wieder so durch und durch lauter und gut gewesen bin, wie ich damals war.
Angesichts einer solchen religiösen Liebe darf die Frage, ob sie erwidert wurde oder nicht, gar nicht gestellt werden. Eine solche Liebe kann und will gar nicht erwidert werden; sie käme sogar in die größte Verlegenheit, wenn sie erwidert würde. Im vorliegenden Fall fiel die Gegenseitigkeit schon wegen des Altersunterschiedes weg. Ein heiratsfähiges Mädchen und ein um zwei Jahre jüngerer Schulbub! Wie klein der Altersunterschied, am Kalender gemessen, schon scheinen mag, im Herzensleben der Jugend schafft er zwei getrennte Standpunkte, zu denen keine Brücke hin und her führt, mit verschiedenen Sehnsuchtsrichtungen, die einander nicht begegnen. Von vorneherein konnte es sich da nicht um Erwiderung, sondern höchstens um Nachsicht handeln. Daß mir diese Nachsicht geduldig Jahr um Jahr gewährt wurde und darüber hinaus noch treue, lebenslängliche Freundschaft, dafür preise ich die Herzensgüte jener, die ich mit meiner törichten Anbetung belästigte.
Eines Tages führte mich ein Auftrag meiner Eltern, ich entsinne mich nicht mehr was für einer, ins Pfarrhaus Liestal. Nicht ohne Zagen begab ich mich dorthin; denn das Gerücht flüsterte von dem geheimnisvollen Pfarrhaus entmutigende Dinge: es gehe dort fremdländisch, vornehm und gebildet zu, man mache eine Art Musik, die dermaßen gelehrt sei, daß kein Mensch sie verstehe, und dergleichen mehr. Und dann! und dann! Noch ein Bangen: im Pfarrhaus wohnte ja – Das Herz stockte mir. Ob ich sie wohl zu Gesicht bekommen werde?
Nicht bloß zu Gesicht bekam ich sie, sondern zu Gehör. Denn sie setzte sich ans Klavier, was mich in ähnlicher Weise erstaunte, wie wenn in einem Raffaelischen Gemälde die Madonna plötzlich zu singen anfinge. Und wie spielte sie! Und, o Wunder, was spielte sie! Ich hatte bisher nur pfuschende Dilettanten erfahren, noch nie im Leben einen Flügel gesehen, wußte nichts von deutscher Musik, meinte, Donizetti und Bellini wären der Gipfel der Tonkunst und das denkbar schwierigste ein Opernpotpourri. Dagegen jetzt! Unter einem nüchternen, nichtssagenden Namen (»C-Dur-Phantasie« von Schubert) was für eine ungeahnte, unverhoffte, berauschende Welt! Ein Zauberregen von himmlischen Tönen, daß mir vor Entzücken der Atem verging. Als flutete ein unerschöpflich sprudelnder, farbenfunkelnder Wasserfall auf mich herunter. Aufschreien vor Glück und Bewunderung hätte ich an gewissen Stellen mögen (zum Beispiel im Des-Dur-Gesang des Presto). Ich weiß nicht mehr, steckte Anna, während sie dieses Stück vortrug, wirklich in einem blauen Sammetkleid oder war es bloß die inwendige Maienseligkeit, die mir das Erinnerungsbild mit Himmelblau und Frühlingsblütenschnee verklärt hat? Sicher ist, daß mir auf dem Heimweg der gelbe Straßensonnenschein im Vergleich mit den erlebten Wonnen gemein und verächtlich vorkam. Das Haus aber, in welchem man von einem schönen Menschenkinde solche beseligende Offenbarungswunder zu Genuß bekommt, galt mir fortan für das Paradies auf Erden. O die Beneidenswerten, die dort regelmäßig verkehren durften!
Der Tanzmeister Priems erschien im Frühjahr 1860 in Liestal. Die Gelegenheit benutzend, stiftete Pfarrer Widmann einen privaten Tanzkurs für seine Kinder und seine Pensionsmädchen, mit Zuziehung der beiden Spittelerbuben. Überdies erlaubte er dem Pepi Fechtstunden.
Schon zweimal im Leben hatte ich Tanzstunden erhalten. Das erste Mal vor alten, alten Zeiten in Bern. Damals war ich noch ein gewalttätiger Mädchenfeind gewesen, dessen Hauptziel beim Tanzen war, die Tänzerin zu Boden zu reißen; eins, zwei, drei, pumps, hurra! Auch hatten mir die Berner Tanzstunden Strafexerzieren eingetragen, weil ich an die Kanonenmündung statt in strammem Schritt in Polkahopsern rückte. Das zweite Mal jüngst in Basel. Da war mirs aber schlimm ergangen. Ein wildes, frühreifes Vorstadtvölklein, auf der Straße besser bewandert als im Hause, rächte sich für meine verhältnismäßige Manierlichkeit, indem sie mich zur Zielscheibe des Spottes erkoren. Grausam wurde ich von den verbündeten Buben und Maidlein gehänselt; und daß ich der dümmste Bub auf Erden sei, wurde mir mit heiligster Überzeugung so oft versichert, bis ich es schließlich selber glaubte. Eingedenk dieser Erfahrungen wollte ich mich zuerst gegen eine dritte Auflage Tanzstunden sperren; es kostete den Pepi einige Überredungsmühe, um mein Widerstreben zu überwinden. Ich würde keinerlei Bosheit, versicherte er mir, erleben, im Gegenteil, lauter Freundlichkeit.
Er prophezeite wahr. Wohl erlaubten sich die Pensionsmädchen hinterrücks einen kleinen Mundvoll Schnabelkritik über den schweren, gutgenährten Tänzer, der beim Galopp herzhaft schnaufte, als ob es bergauf ginge; allein es war nicht böse, bloß übermütig gemeint. Und als ich einmal die Tanzstunde mit Tinte und Feder aufs Papier zeichnete, wurde ich für leidlich erklärt. Alles aber, was Widmann hieß, bezeugte mir Wohlwollen. Der Pfarrer, der als Stifter und Schutzpatron meistens gegenwärtig war, lächelte mir väterlich aufmunternd zu. Pepi, der sich sonst auf dem Schulweg noch ziemlich fremd verhielt, schmiegte sich hier im Privatkreis traulich an mich an, und mit Anna hüpfte ich so unbefangen herum, als ob sie ein gewöhnliches Mädchen gewesen wäre. Ein Mädchen gleichzeitig als Göttin fürchten und verehren und sie keck um den Leib fassen und herumschwenken, das kann man demnach offenbar. Aber auf den Boden gerissen habe ich sie nicht.
Eines Abends meinte plötzlich der Pfarrer beiläufig zu mir und Anna: »Warum so steif? Sagt euch doch du, wie es unter Kindern Brauch ist.« Anna zierte sich nicht im mindesten, und so kam ich wahrhaftig mit ihr auf du und du zu stehen. Ha, die Auszeichnung! Wer mir das drei Jahre früher gesagt hätte!
Den Schluß des Tanzkurses sollte der übliche ›Repetitionsball‹ bilden. Da kam aber ein Unstern am Himmel heraufgewackelt. Mein Bruder hieb sich beim Holzspalten ins Bein, so daß er wochenlang bettlägerig blieb, und Pepi, seinen Fechtstunden zu Ehren, stach mit dem Degen seine Schwester durch die Maske ins Gesicht. Um ein Haar hätte er ihr ein Auge ausgestochen. Der Repetitionsball schien demnach vereitelt. In der Tat konnte mein Bruder nicht beiwohnen; Anna dagegen genas noch rechtzeitig und erschien zum Ball als eine Auferstandene, heil und hübsch, froh und freundlich. Weil sie der Augenwunde wegen die Schule hatte versäumen müssen (oder war das bei einem früheren Anlaß?), schrieb ihr die Lehrerin ins Zeugnis: »Anna hatte lange, böse Augen«, mit einem Komma zwischen lange und böse.
Nach dem Repetitionsball verschwand Anna auf viele Monate lange Ewigkeiten wieder gänzlich aus meinem Gesichtskreis. Natürlich; die in künstlerischer Luft Aufgewachsene hatte keinen Grund, dem Gewerbeschüler, aus dem ein Kaufmann werden sollte (das sollte ich nämlich damals, einen Monat lang), Beachtung zu schenken.
Aber das Du hatte ich bei der Gelegenheit doch gewonnen, und zwar, beiläufig gemeldet, für das ganze Leben.
Wie hilft man sich, wenn man Konfirmationsunterricht nehmen soll, aber weder in Basel noch in Liestal, sondern an beiden Orten zugleich wohnt, in Liestal zu Hause, in Basel zu Schule? Mein Vater fand Rat; Pfarrer Widmann in Liestal erbot sich, mir ausnahmsweise den Konfirmationsunterricht mittels Privatstunden zu erteilen, oben in seinem Studierzimmer, am späten Abend, wenn ich von Basel zurückkehrte. Bei dieser Nachricht verspürte ich mannigfaltiges Vergnügen. Zunächst die Ehre einer besondern Bevorzugung (›Privatunterricht‹), sodann die Verletzung von Brauch und Sitte: als Fünfzehnjähriger hatte ich noch nicht das erforderliche Alter; ferner die Erlösung von dem Basler Konfirmationsunterricht. Der stand nämlich damals, mit Recht oder mit Unrecht, bei der Schuljugend in schlimmem Ruf: Überbürdung mit Bibelstoff neben den Schulstunden, Untersagung aller Vergnügungen während eines ganzen Winters, niemals lachen, niemals fröhlich sein, nichts als ewig über seine Sündhaftigkeit nachsinnen. So sagte die Legende. Da stand es jedenfalls bei Pfarrer Widmann anders. Der war ja selber des Heidentums anrüchig: sah gar nicht wie ein Pfarrer aus, im Gegenteil, wie ein Schauspieldirektor; hatte so viele weltliche Manieren, wußte humoristische Wienersprüche, kegelte mit den Leuten, ließ im Pfarrhaus geigen und tanzen, sang seinen Gästen und seinen Pensionsmädchen ungeistliche, lustige Liedlein vor, zum Beispiel vom gebildeten Heinrich, so daß sich fromme Köpfe schüttelten, ob eine Konfirmation, von Pfarrer Widmann vorgenommen, auch oben gelte. Ich versprach mir daher ausgesuchte ketzerische Genüsse von dem Privatkonfirmationsunterricht.
Damit wurde freilich nichts. Wohl war Pfarrer Widmann weitherzig und duldsam, erlaubte mir, zu lachen und ins Theater zu gehen, setzte sich selber sogar neben mich im »Freischütz«; wohl ließ er milde Freundlichkeit während der Religionsstunden walten, sogar Behagen, mit Sofa und Tabakdose; die Dogmatik dagegen, die er mir verabreichte, unterschied sich in nichts von der landesüblichen gemäßigt orthodoxen: ein wohltemperiertes Apostolikum mit abgerundeten Ecken, im gemütlichen Andantino vorgetragen. Meine religiösen Zweifel und Ängste erriet er nicht; wenn ich beichten wollte, seufzend, ich hätte eine schwarze Seele, lachte er mich einfach aus.
Die Hauptandacht bei der ganzen Religionslehre schöpfte ich aus dem Bewußtsein, in dem nämlichen Hause oben im Studierzimmer den neuen Adam angezogen zu bekommen, wo, ein Stockwerk tiefer, Anna geisterte. Man hörte beständig ferne, geheimnisvolle Geräusche, gedämpftes Klavierspiel, Summen, Trällern, Lachen von Mädchenstimmen; ab und zu kam der Pepi oder Fräulein Wimmer herein, um etwas zu fragen, oder der Küster hatte etwas zu melden. So oft jemand die Tür aufmachte, drang ein plötzlicher Schwall von herrlichen Dingen auf einen Augenblick herein; falls es glückte, sogar Annas eigene Stimme. Oder der Hektor, der kleine, verwöhnte, allmächtige Pfarrershund, kratzte an der Tür und nahm an der Konfirmationsstunde teil. All dem lauschte ich mit gespanntem Ohr, während meine Augen sich an dem schönen, feinen Munde des Pfarrers weideten, der mir fortwährend neben dem Evangelium von Kanaan das andere Evangelium predigte: »Vergiß nicht, daß ich Annas Vater bin; findest du nicht, daß ich ihr gleiche?«
Keine Gefahr, daß ich das vergaß! Nicht eine Sekunde lang.
Wir kamen übrigens vortrefflich miteinander aus. Von meinem Lebensläuflein, das ich ihm einzuliefern hatte, machte er sogar ein großes Aufheben. Bei welcher Gelegenheit er mir auch mitteilte, ich sei sein erster Täufling gewesen. »Meines ersten Täuflings kann ich mich rühmen«, fügte er verbindlich hinzu. Dagegen die andern Hausbewohner, mit Ausnahme Pepis, nahmen gar keine Notiz von dem Konfirmanden, der jeden Abend ins Studierzimmer hinaufstieg; Anna, statt daß sie an die Tür gepocht hätte, unter irgendeinem Vorwand, ließ sich nicht blicken, außer wenn sie mir zufällig im Flur begegnete.
Das sollte indessen gleich nach meiner Konfirmation anders werden.
Im nämlichen Winter, während ich bei ihrem Vater Konfirmationsstunden nahm, ließ mir Anna durch ihren Bruder Pepi ihr Album geben, damit ich etwas hineinzeichne. Das war ganz gleichgültig gemeint, Ausschmückung ihres Albums war der einzige Zweck. Für mich dagegen bedeutete der Auftrag eine willkommene Erlaubnis, ihr meine Andacht anzudeuten. Etwas ganz Außerordentliches sollte es darum werden.
In irgendeiner illustrierten Zeitung fand ich ein Bild, das mir gefiel und dessen Nachzeichnung ungemein viel Zeit und Mühe beanspruchen würde; also gerade das, was ich brauchte. Eine italienische Banditentochter stellte das Bild dar, die sich trauernd an das vergitterte Kerkerfenster ihres gefangenen Vaters klammerte. Daran tüftelte ich nun heimlich während der Pausen meiner Schulgeschäfte, mit glückseliger Innigkeit, in heimtückischer Schenkervorfreude über die Überraschung, die ich bereiten würde. Darüber vergingen Wochen, dann Monate; ab und zu, in immer kürzern Abständen, erfolgten Erkundigungen, wie es eigentlich mit der Zeichnung stehe, und allmählich verwandelten sich die Erkundigungen zu Mahnungen, die immer ungeduldiger und dringender lauteten. Endlich, in den Osterferien, wo ich anhaltender arbeiten konnte, rückte das Werklein seiner Vollendung entgegen. Am Tage meines ersten »Abendmahls«, das meine Konfirmation besiegelte, machte ich es fertig. Ob ich es auch vor meinem Gewissen verantworten könne, meinte eine zu Besuch weilende Dame, die der Arbeit zusah, an einem so heiligen Tage solch einem weltlichen Vergnügen zu frönen. Mein Gewissen zog allerdings ein bedenkliches Gesicht dazu; allein die künstlerische Andacht war stärker als die kirchliche.
Gerade als ich die letzten Verbesserungen angebracht hatte, erhielt ich die gestrenge Aufforderung, das Album zurückzuerstatten, einerlei, mit oder ohne Zeichnung. Als Antwort trug ich das Album mit dem fertigen Bilde ins Pfarrhaus.
Die Wirkung übertraf noch meine Erwartungen: nicht bloß freudige Überraschung und Dank, sondern auch die freundschaftliche Gewogenheit der gesamten Familie Widmann. Und ein traulich kosender Künstlername grüßte mich fortan im Pfarrhaus: »Carlo dolce«.
Der Name Carlo dolce wollte mir sagen: »Du einfältiger, gutmütiger Riesenbub, der du gar nicht ahnst, was für köstliche Keime in deinem Malerherzen schlummern, du und ein Jurist werden? Warum nicht gar! Das wäre ewig schade. Komm du zu uns, wir wollen dich gern haben und dir den Weg zu deinem Glück weisen. Was sträubst du dich? Weil du dir allerlei Fehler weißt? Bah, das ist nicht halb so schlimm, wie du dir einbildest. Oder etwa weil du Anna anschwärmst? Kindereien, die dir schon von selber vergehen werden! Das alles ist Nebensache; Hauptsache ist, daß du glücklich werdest! Glücklich aber kann ein Mensch nur dann werden, wenn er denjenigen Beruf ergreift, zu welchem ihn seine Natur bestimmt hat. Oh, der Festtag für uns alle, wenn wir es einmal erleben, daß du glückstrahlend als berühmter Maler ins Pfarrhaus einziehst! Und wir werden es sicher, ganz sicher erleben, wofern du nur nicht dein Ohr gegen die Stimme der Natur gewaltsam verschließen willst. Einstweilen komm du zu uns, so oft du magst, je öfter, desto lieber; du bist uns immer willkommen. Du weißt, am Sonntagnachmittag ist unser Empfangstag.«
Solche liebe Dinge enthielt der Name Carlo dolce. Kein Wunder, daß er meinem Herzen teuer wurde, wenn schon mein Verstand bezweifelte, ob das Kind nach dem richtigen Heiligen getauft sei.
»Zum Mittagessen!« Jetzt schon? Noch nicht einmal elf Uhr! Richtig, ich vergaß: am Sonntag speist man ja eine Stunde früher. Warum eigentlich? Ich besinne mich und begreife: am Sonntag kommen sie von den Dörfern nach Liestal ihre Einkäufe machen; und da wir den größten Tuchladen im Kanton haben, und so weiter und so weiter. Wenn es nur nicht etwa heißt, ich solle im Laden helfen.
Unten im Eßzimmer stupft mich mein Bruder, das Wölflein (oder, um respektvoller zu reden, der Adolf) teilnahmvoll mit dem Ellbogen: »Warum machst du heute ein so dummes Gesicht?« Ach, ich weiß wohl, warum ich heute ein dummes Gesicht mache: nach der Predigt, bei der Kirchentür, haben sie mich natürlich wieder eingeladen, am Nachmittag zu ihnen ins Pfarrhaus zu kommen. Anna hat sich sogar umgedreht und mir mit dem Finger gedroht: »Wir erwarten dich ganz sicher«, und zuletzt noch der Pepi: »Nicht wahr, du kommst doch, gelt?« Als ob das von mir abhinge! Und die Erlaubnis bei mir daheim! An die denkt ihr nicht. Zwar Mama schon; keine Gefahr; hat sie mich doch selber Carlo dolce genannt, heute morgen, während sie mir den Haarscheitel zurechtbesserte. Allein das hilft mir nicht viel: »Frag den Papa«, wird sie mir antworten. Und der, mit seinem Widerwillen gegen das »ungesunde, überspannte Wesen im Pfarrhaus«, mit seiner heftigen Abneigung, um nicht zu sagen Haß, gegen den Pepi, »der meinem Sohne den Kopf verdreht, ihn seinen Eltern abspenstig zu machen versucht, ihm einreden möchte, er wäre etwas Besonderes«. Schon das letzte Mal hat er ein Gesicht dazu gemacht, und jetzt nach acht Tagen komme ich ihm wieder. Wenig Hoffnung, sehr wenig.
Die Suppe dampft schon lange auf dem Tisch, drei Mahnungen sind bereits erfolgt, Papa läßt sich noch immer nicht blicken. Endlich erscheint er, ein Bild urwüchsiger Kraft und Gesundheit, in einer Atmosphäre des Behagens und des Friedens. »Wie steht es mit Leib und Leben?« grüßt er lachend, zum voraus erfreut über die zufriedenstellende Antwort, die er als selbstverständlich voraussetzt. Ah, wie ihm die Fleischsuppe schmeckt; wie er sie preisend empfiehlt, mit einem begeisterten Lob auf die Köchin; jeder Löffel ein unaussprechlicher Genuß. »Wer will Wein?« ermuntert er einladend, die Flasche erhebend. Halt, ein Tröpflein glitzert auf seinem Schnurrbart, das läßt er sich gutmütig lachend von der Mama mit der Serviette abwischen, geduldig mit schlaffen Armen hinhaltend wie ein Kranker seiner Pflegerin. »Buben, was habt ihr diesen Nachmittag vor?« Beherzt, mit kecker Stimme kräht das Wölflein: »Mein Gewehr putzen und nachher Flötenstunde geben.« Die frische, fröhliche Antwort mundet dem Papa. »So geh du denn dein Gewehr putzen und Flötenstunde geben«, billigt er sanft, mit gütigem Lächeln, väterlich gerührt. Jetzt, nicht wahr, hätte man meinen sollen, jetzt wäre der richtige Augenblick, mit dem Pfarrhaus herauszurücken; zumal bei solcher Erlaubnisstimmung. Papperlapapp, ich lasse mich von dem frommen Anblick nicht mehr fangen. Wenn ich ihm jetzt mit dem Pfarrhaus käme, so würde ich unfehlbar folgenden Bescheid erhalten: Zunächst, mit einem stechenden Blick ins Unbestimmte: »Weißt du denn wirklich auf der ganzen Welt gar nichts anderes als Sonntag für Sonntag im Pfarrhaus zu sitzen?« Darauf, nach einer Pause, ruhig, aber bestimmt: »Ob just gerade das Pfarrhaus der zuträglichste Ort für dich ist, darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Du könntest zur Abwechslung lieber auch wieder einmal nachsehen, wie es dem Großvater geht. Auch würde es dir schwerlich groß schaden, ein bißchen im Laden mitzuhelfen. Er geht ja auch dich an. Oder meinst du vielleicht, zu meinem Vergnügen hätte ich meine Staatsämter aufgegeben, ein Advokaturbureau eröffnet und einen Tuchladen gekauft? Das ist einzig und allein für euch Buben geschehen, für dich und Adolf, um euch eine angemessene Schulbildung zu ermöglichen. Und Aufgaben, denk ich, wirst du wohl auch zu machen haben; dein letztes Zeugnis lautete ohnehin nichts weniger als glänzend. Du bist jetzt sechzehn Jahre alt geworden, da ist es allmählich an der Zeit, die Allotria, das Zeichnen und dergleichen (gegen das ich an sich nicht das mindeste habe, vorausgesetzt, daß es nicht die Studien beeinträchtige) an den Nagel zu hängen und dich auf deinen künftigen Beruf zu konzentrieren. Nachher, wenn du dann deine Aufgaben gemacht hast, kannst du meinetwegen nach Herzenslust Gitarre spielen; das ist mir ganz recht, denn Gitarre wirkt auf das Gemüt. Item, enfin, es gibt noch manches andere in der Welt als immer und ewig einzig nur das Pfarrhaus.« So würde es ganz sicher lauten, begleitet von den spöttischen Blicken des Wölfleins. Nein, lieber spar ichs noch auf; vielleicht, falls er nicht noch einmal fragt, gelingt mirs, mich um die Antwort herumzuschweigen. »Wer will Knochenmark? Aber schnell essen, bevor es kalt wird!« Das Ladenmädchen ziert sich; er behalte ja für sich selber nichts übrig. »Ah bah! Keine Schneckentänze und Stempeneien! En avant, marsch! Aber geschwind, sonst wirds kalt!«
Das Glöcklein der Ladentür klingelt; aha, jetzt fängt es an. Bald meldet mir vielstimmiges Gemurmel, daß das Geschäft im Zug ist, ruhig und sittig, denn unsere Kunden sind eine Art Auslese des Kantons. Ich höre Papas freundlich gedämpfte Donnerstimme, deren bloßer Klang ihm schon alles Volk gewinnt, sich leutselig erkundigen, wie es mit dem Heu stehe und ob die Äpfel gut angesetzt hätten. Durch die Glastür guckend, sehe ich einen Knäuel von Leuten, zwischen welchen ab und zu ein Maßstab oder das Gesicht einer der jungen Sonntagsladengehilfinnen hervorschaut; das Alltagsladenmädchen schwatzt, wie ich an den Lippen ablese, ein Duett mit einer Käuferin, beide einander gegenseitig ins Gesicht redend. Das Mannsvolk umsteht müßig den Papa, seinem Vortrag lauschend, das Weibsvolk dagegen zupft mit ernsten Mienen an den Tüchern. Allmählich unterscheidet mein Ohr auch einzelne Redebrocken, unter welchen – merkwürdig bei diesem Landvolk – Fremdwörter eine große Rolle spielen: Indienne, Persienne, Kaschmir, Nanking … Alle Achtung! Diese einfachen Bauersfrauen scheinen mir in der Geographie Asiens über zu sein. Und wie sie in Halbwolle, Halbleinen, Halbseide beschlagen sind! Ich wäre schon froh, wenn ich Ganzwolle von Ganzleinen unterscheiden könnte. – O weh, da fängt von der Spelunke drüben schon das weinselige Geplärr an! Greuliche Fistelstimmen in den höchsten Kopfregistern; kein Gesang, ein Geheul von kastrierten Wölfen; das wird dann mein Konzert sein, bis tief in den Abend, falls ich nicht ins Pfarrhaus darf. Nein, ich will endlich wissen, woran ich bin. Ich fasse mir also ein Herz und gehe in den Laden, um von Papa die Erlaubnis zu erbitten. Allein da kann ich gar nicht durch. Dumm! Vielleicht wäre es doch gescheiter gewesen, während des Mittagessens zu fragen! Nun muß ich warten, bis es Raum gibt. Und wieder stehe ich ratlos und zwecklos in der Nebenstube. Was tun, um die Zeit zu betrügen? Der Wandkalender sieht mich an. Bewahre, dich kenne ich seit Jahren auswendig. »Kinder, im April geboren, sind launisch und wetterwendisch.« Bin ich nun wirklich launisch und wetterwendisch? Die Gartenlaube lesen? Meinetwegen. Allein ich lese die selben drei Zeilen hundertmal aufs neue, ohne zu wissen, was drin steht, wie im Vorzimmer des Zahnarztes. Ich streichle die Katze, die auf dem Fenstersims lungert, aus Versehen, in der Zerstreutheit, denn ich hasse ja diese falschen, grausamen Miniaturbestien. Ab und zu rennt in hastiger Eile Papa an mir vorüber, taucht in den engen Comptoirkäfig, schreibt hurtig ein paar Zeilen in das große Buch und verschwindet sofort wieder. Er sieht mich gar nicht einmal; und das ist gut, denn sonst könnte ihm mein zweckloses Herumlungern zuletzt auf die Nerven schlagen. Um ihn nicht durch meinen Anblick zu reizen, stelle ich mich weiter hinten auf, vor dem Wandbilde, das den Sturm der Basler auf Liestal schildert. Da war der Großvater auch dabei; von der Weißen Fluh herunter hat er auf die Basler geschossen. Der arme Großvater! Der kommt nie mehr auf die Weiße Fluh; er wäre froh, wenn er nur bis zur Kegelbahn kriechen könnte. – Was sie wohl jetzt im Pfarrhause tun mögen? Die Frau Pfarrer liegt wahrscheinlich auf dem Sofa, sie ist ja immer krank; der Pfarrer ist in der Kinderlehre, eben hats geläutet; der Pepi liest oder dichtet auf seinem Zimmer. Die Pensionsmädchen werden sich für den Nachmittagsbesuch schön machen. Von allen gefällt mir Melanie am besten; sie hat so etwas Rassiges, Temperamentvolles, Offenes, und hübsch ist sie auch; sehr hübsch sogar. Freilich, mit Anna verglichen –
»Willst du denn nicht auch den Präsidenten von Ipflingen begrüßen?« schreckt mich Papas Stimme auf, »er ist mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern da. Wenn du denn doch mit deiner Zeit nichts anzufangen weißt, so komm lieber ein wenig im Laden helfen.« Ich gehe also in den Laden, den Präsidenten Weber von Ipflingen begrüßen. »So, ist das Euer Sohn? Es geht ihm nicht schlecht, dem Anschein nach. Wie alt ist er denn? – Ists möglich! Und schon so groß! Er ist ja beinahe fast so groß wie Ihr.« »Was, fast so groß! Größer als ich ist er. – Zeig, streck dich!« Ich strecke mich. »Ich habe noch einen, einen Jüngern, den Adolf. Er gibt eben einem paar Buben Flötenstunde. Umsonst, wohlverstanden; zu seinem Vergnügen. Er kanns, er genießt sogar die große Auszeichnung, im Basler Orchester mitspielen zu dürfen.« »Potztausend, da könnt Ihr stolz auf ihn sein.« »Ich habe über meine beiden Buben nicht zu klagen.« Da kraut mich etwas traulich in den Haaren, und Mama flüstert mir ins Ohr: »Sag doch auch irgend etwas zu den Leuten und mach ein freundliches Gesicht!« Ja, was sagt man zu den Leuten? Wenn ich das nur wüßte! Ein freundliches Gesicht machen! Das Kunststück! Bei diesem Anblick, vor welchem einem schaudert: blicklose Augen, Münder ohne Lippen, Bewegungen ohne Anmut, Kleider ohne Farbe; alles grau und braun, trüb und trostlos. Kann ich nicht reden, so will ich wenigstens ›helfen‹. Ich sehe das Ladenmädchen Tücher auf den Arm nehmen und auf einen Schaft (oder wie man das nennt) legen. Ich folge ihrem Beispiel, raffe, was ich Tüchernes auf dem Tische liegen sehe, zusammen und trage es dorthin, wo ich die größte Lücke entdecke. Ein Kichern durchläuft die Kundschaft (warum?), die Ladenmädchen lachen hellauf. »Laß du das ›Helfen‹ sein«, mahnt Mama lächelnd, »und mach lieber Platz.« Einzig der Papa wundert sich nicht; natürlich, er hätte es ungefähr gleich gemacht, wenn er hätte ›helfen‹ sollen.
Was schlägt es denn? Drei Uhr! Heiß und kalt überläuft es mich. Von jetzt an ist jede Minute ein unersetzlicher Verlust. Ich erhasche den Augenblick, wo Papa wieder einmal in die Nebenstube eilt, und dann zu Mama: »Darf ich ins Pfarrhaus?«, mit vor Bangigkeit tonloser Stimme. Erst läßt sie mich ein paar Sekunden zappeln. »Ich habe dirs schon seit einer Stunde angesehen, daß du das fragen wirst.« Dann mitleidig: »So geh denn. Ich wills nachher dem Papa selber sagen. Mach nur, daß du um sieben Uhr wieder zu Hause bist.« O Erlösung! So geschwind und so leise wie ein Dieb bin ich durchs Hintertor auf der Straße. Aus einem Fenster quiekt ein Dutzend Flöten den Jägerchor aus dem »Freischütz«: das Wölflein mit seinen Flötenbuben. Allerlei freundliche Gesichter grüßen mich mit gesprächigen Mienen, Halbverwandte und Drittels- und Viertelsverwandte vom Großvater her. – Schon gut; morgen gern; nur nicht jetzt. Hingegen die Bas Salome, das ist etwas anderes; an der gehe ich nicht vorbei, das ist Erinnerungsbesitz aus den allerersten Kinderjahren. Schon damals war sie uralt; wie alt mag sie gegenwärtig sein? Um die neunzig, heißt es. Sie hat zu klagen, die Bas Salome; der Atem, erzählt sie mir, wollte nicht mehr nach; sie wisse nicht, was das sei.
Der Brunnen, die paar Stufen Freitreppe; ich ziehe die Klingel – wenn nur nicht in der letzten Sekunde noch ein teuflisches Hindernis erfolgt. Hektor, der Pfarrershund, gibt Laut; die Köchin, die Marie, steckt ihren Strubelkopf oben zum Fenster heraus, dann tut sich die Haustür auf, hinter mir wieder zu. Gewonnen! Durch eine Wand vor der gemeinen Wirklichkeit geschützt! O Glück: vor mir vier Stunden Paradies!
Den ersten Gruß, sobald die Haustür sich hinter mir schließt, empfange ich von Hektor, dem Pfarrershund, der mich freundlich beschnuppert. »Ach so, du bists? Nicht wahr, du begreifst, ich habe bloß so im allgemeinen gebellt, als es klingelte; aber seit ich weiß, daß du es bist –«
Während ich die Treppe hinaufsteige, erscheint oben die Tante, Fräulein Wimmer, die Schwester der Frau Pfarrer, um nachzusehen, wer geläutet habe. »Der Pepi ist auf seinem Zimmer«, flüstert sie geheimnisvoll, indem sie mich durchs Eßzimmer führt, »er arbeitet.« Ich weiß, was das bedeutet: er dichtet und will nicht gestört werden. Auch ich will ihn nicht stören; denn dichten, das geht über meinen Horizont, das lasse ich ihn mit sich allein ausmachen.
Wie ich in den Salon trete, schöpfe ich einen tiefen, langen Atemzug, gleich einem, der aus dem Nebel plötzlich in den Sonnenschein gerät; denn ein Schwall von Güte und Freundschaft, von Schönheit und Frohsinn grüßt mich und blendet mich. Aus dem Glanze ruft mir Frau Pfarrer ihren warmen, fast mütterlichen Willkomm zu, mit ihrer zwar nicht klangschönen, aber so überzeugend herzlichen Stimme, mit ihrem so liebenswürdig anmutenden Wienerdeutsch, daß ich mich wundere, warum nicht alle gutartigen Menschen wienerisch sprechen, nämlich so wienerisch, wie sie es ausspricht. Zu gleicher Zeit erhebt sich etwas Junges, Schönes aus der Gesellschaft, das mir entgegenkommt und mir kameradschaftlich unbefangen die Hand reicht: Anna. Statt eines Grußspruches sagt sie einfach »Carlo dolce« und lächelt dazu mit jenem guten, überlegenen Lächeln, das man für ein naives Kind hat, während man ihm Zucker auf den Pfirsich streut. Der Pfarrer, voll geruhsamer Menschenfreundlichkeit, im Bewußtsein einer kräftigen Arbeitsleistung (Predigt und Kinderlehre), macht seinen Gruß etwas trockener ab; ein gnädig wohlwollender Gruß des Lehrers zum Schüler; Jovialität und Humor liegt in seiner Stimme; seine Aussprache ist kurz und bündig; man spürt, er kennt, wenns sein muß, auch derbere Wienersprüchlein. Gäste sind ebenfalls da, der verschiedensten Art und Herkunft; vornehme aus der Umgegend, die in eigenen Wagen anfahren, daneben fremde Flüchtlinge, in Liestal gestrandet, deren Vorleben man nicht kennt und nicht untersucht. Wer sie übrigens auch sein mögen, ich empfinde Gäste als überzählig, weil die Familie Widmann so viel Wärme ausstrahlt, daß im Vergleich damit fremde Gesichter kälten.
Da bin ich nun, sehe mich um, weide meine Blicke und genese. In diesem Kreise brauche ich, um glücklich zu sein, nichts anderes als zu atmen und zu schauen. Neben dem Flügel gruppiert ein halbes Dutzend Pensionsmädchen aus der französischen Schweiz, jung, übermütig, ein bißchen spottlustig, was nichts schadet; einige davon hübsch, was noch weniger schadet. Man kennt sich, hat zusammen Spiele gemacht, hat sich geneckt und gestritten, man nickt einander zu. Melanie sitzt heute unter den Erwachsenen, denn ihr Papa ist zu Besuch gekommen; dort thront er auf dem Ehrenplatz, neben der Frau Pfarrer, ein vornehmer, dekorativer Herr. Der Pfarrer hat zu meiner Freude den Fensterplatz gewählt, so daß sich sein feines Profil scharf vom Lichte abhebt. Eine Kleinigkeit, nicht wahr, ein schönes Profil; allein wenn man, wie ich, mit stümperndem Stift und sehnsüchtigem Wunsch sich umsonst bemüht hat, eine Nase, ein paar Lippen richtig zu zeichnen, da gewinnt ein schönes Profil Wirklichkeit. Andere mögen andere Weltwunder anstaunen, für mich ist das Bemerkenswerteste auf Erden ein schönes menschliches Antlitz. Der Pfarrer ist übrigens in doppelter Ausgabe vorhanden; denn Anna ist dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, seine Übersetzung ins Weibliche und Jugendliche; ich ziehe die Übersetzung sogar dem Original vor. Und wie fröhlich, wie farbenlustig, wie freundlich: alle die Garibaldihemden und Medicigürtel. Es wird auch gesprochen. Wozu? Was? Ich höre es gar nicht, nur fällt mir angenehm auf, daß buchdeutsch gesprochen wird (mehr oder weniger), daß man lacht und scherzt, daß man von den Abwesenden nichts Unvorteilhaftes berichtet, daß man den Anwesenden Verbindlichkeiten sagt. Und noch etwas fällt mir auf: die Ehrerbietung, mit welcher die ganze Gesellschaft, sogar der Pfarrer selber, zu der Frau Pfarrer hinüberblickt. Unscheinbar, zusammengekauert, von Krankheit gebeugt, von körperlichem Schmerz zur Einsilbigkeit verurteilt, leiten ihre großen klugen Augen doch die Geselligkeit und leiten sie zur Fröhlichkeit; denn mit echt weiblicher Seelengröße weiß sie zu verhüten, daß der Anblick ihrer Leiden den Frohsinn dämpft. Sie ist, ob schweigsam, der geistige Mittelpunkt der Gesellschaft, wie sie den seelischen Mittelpunkt der Familie bedeutet.
»Aber sollen wir denn nicht etwas spielen?« verlangt die wohltönende Rednerstimme des Pfarrers. Und hiemit beginnt einer jener Musikvorträge, die in weitem Umkreis das Pfarrhaus Widmann berühmt gemacht haben und die mir so tief ins Herz sangen, daß ich noch nach fünfzig Jahren die Szene vor Augen sehe, als erlebte ich sie heute, daß ich mich sogar der begleitenden Bemerkungen erinnere, daß ich noch weiß, wie ein gewisser Takt eines bestimmten Musikstückes damals ausgeführt wurde. Die ideale Kammermusik, wie die großen Wiener Meister sie sich wünschten, nicht von selbstgefälligen Virtuosen, nicht von Geniefexen, nicht von abgespielten harthäutigen Berufsmusikern vorgetragen, sondern von erlesenen Dilettanten, die einerseits über hinreichende Technik verfügen, um ein Stück fehlerlos wiederzugeben (Frau Pfarrer duldete keine Fehler), und die zugleich mit heiliger Andacht dabei sind. Ist es bloße Parteilichkeit, Erinnerungspietätglanz, was mir den Gedanken, eines jener Musikstücke nachträglich von andern gespielt zu erhalten, unleidlich macht? Zum Teil gewiß, aber nicht einzig; es wirkt auch meine Überzeugung mit, daß nur herzensgute Menschen die Werke der ganz großen Meister richtig zu spielen (und auch zu hören) vermögen; so viel Herzensgüte aber, wie in dem kleinen Empfangszimmer des Pfarrhauses Widmann versammelt war, wird man mir kaum irgendwo wieder zusammenbringen können. Schwer, sehr schwer wird es mir, nicht ins einzelne einzugehen; allein wenn ich damit anfinge, würde ich nicht mehr aufhören; hier nur einige Andeutungen, worum es sich handelte.
Nicht der Pfarrer, nicht die Pfarrerin allein waren hervorragende Musiker, sondern beide; sie eine geniale Klavierspielerin, er ein tüchtiger Dirigent, ein guter Violinspieler, leidlicher Cellist, anmutender Sänger; beide kannten die ganze Partitur des »Don Juan« auswendig. Zu meiner Zeit hatte die Frau Pfarrer sich vom Soloklavierspiel zurückgezogen (ich habe sie kein einziges ganzes Musikstück spielen hören) und es ihrer Tochter übertragen, teils wegen Krankheit, teils weil die Mutter dem Talent der Tochter das volle Licht gönnte. Sie durfte das, denn das Talent der Tochter verdiente es. Annas Klavierspiel erzielte sogar in öffentlichen Konzerten Aufsehen und Begeisterung, so daß ihr glänzender Vortrag weit herum gerühmt wurde; er war aber nicht bloß glänzend, sondern seelenvoll.
Gleichwohl war es weniger das Soloklavierspiel, an welches man zunächst dachte, wenn man von der Kammermusik im Pfarrhaus Liestal sprach, als die Streichmusik: Violinsonate und Trio, zur Seltenheit auch das Streichquartett. Um Trio und Quartett zu ermöglichen, bedurfte es der Mitwirkung von Berufsmusikern aus dem Basler Orchester (Primgeiger, Cellist und so weiter), welche mitunter in dem gastlichen Pfarrhause vorsprachen. Ich verspürte nach solchem Zuzug kein Bedürfnis; die intimen Violinsonaten, welche der Pfarrer mit seiner Tochter jahraus, jahrein vortrug, sobald die Gäste sich verabschiedet hatten, genügten mir vollauf. Wie könnte ich es wagen, den Einfluß ermessen zu wollen, den diese mit durstiger Seele aufgenommenen Violinsonaten von Mozart und Beethoven im Verlauf der Jahre auf die Bildung meiner Persönlichkeit ausgeübt haben mochten? Sonntag für Sonntag lange Stunden, innerhalb derer die Sekunden Ewigkeitswerte enthielten; Ahnungsschauer kamen zu Gast, vor welchen die wirklichen Dinge verschwanden; die stillen Bäume, die von draußen durch die Fenster hereinschauten, schienen aus unergründlichen Tiefen zu wachsen, mit Geheimnissen in den Augen, die man nur abzulesen brauchte.
Und da wir es doch einmal hier mit Wundern zu tun haben, will ich bekennen, daß meine Einbildung, wenn ich an jene Musikvorträge zurückdenke, Geister, von meiner Freundschaft heraufbeschworen, um das Pfarrhaus schweben sieht, Geister des Dankes, welche die Stätte jener hohen, reinen Stunden segnen, die Toten auferwecken und die Entfernten grüßen.
Und wie ich damals zuhören durfte, so glaube ich heute die Erlaubnis zu haben, zuzutrauern und zuzulieben.
Im Frühsommer 1860 hatte ich den Pepi (Joseph Victor Widmann) kennengelernt. (Zwei flüchtige frühere Begegnungen sind gleich Null zu zählen.) Im Frühsommer 1861 schwuren wir uns feierlich ewige Freundschaft. In einem einzigen Jahre also legten wir die gewaltige Strecke von gänzlicher Unbekanntschaft bis zur innigsten Intimität zurück. Und was für Hemmnisse und Hindernisse hatten wir doch erst zu beseitigen, um uns zusammenzufinden!
Erstens sahen wir uns, selbst nach unserer Bekanntschaft (Mai 1860), wenn schon fast täglich, trotzdem nicht viel, nämlich nur vorübergehend, nie auf längere Stunden: auf der Eisenbahn und beim gemeinschaftlichen Mittagessen; und auch das nicht etwa zu zweien, sondern in Gesellschaft mancher anderer. Wir mußten uns also erst gegenseitig aus den Vielen herauslesen. Überdies besuchte ich anfänglich eine andere Schule als er. Und als ich später in die nämliche Schule, in das Basler Pädagogium (Obergymnasium) übertrat, kam ich, meinem Alter entsprechend, in die unterste Klasse zu sitzen, während er schon vor dem Maturitätsexamen und der Universität stand. Denn er war ja volle drei Jahre älter als ich. Die Freundschaft pflegt sich aber in der Jugend sonst auf der Klassenkameradschaft und Studiengemeinschaft, mit andern Worten auf der Schicksals- und Lebensgenossenschaft aufzubauen. Daß ein Knabe über zwei Schulklassen hinweg, ein Student unter den Gymnasiasten sich seinen intimsten Freund aussucht, ist ein so seltenes, so auffallendes Vorkommnis, daß es von den Altersgenossen beinahe als unnatürlich empfunden wird.
Sodann mußten wir beide, um uns zusammenzuschließen, unsere bisherigen, langjährigen Freunde in den zweiten Rang zurücksetzen. Widmann, aus der Liestaler Bezirksschule kommend, hatte von dort eine Anzahl Freunde mitgebracht, andere in Basel erworben, die alle ein besseres Recht auf seinen Umgang beanspruchten und auch besaßen als ich, der Neue. Ich wiederum hatte vom Basler Untergymnasium her neben andern traulichen Schulkameraden einen guten Freund, Ludwig Müller. Diese alten Bande mußten auf beiden Seiten erst gelockert sein, ehe der neue Bund geschlossen werden konnte. Zieht man noch einige Vorurteile in Rechnung, an denen zwar nicht er, aber ich krankte, sein Äußeres und so weiter, so ist erstaunlich, daß wir uns überhaupt fanden.
Was ihn bewog, mich hervorzuziehen, kann ich natürlich nicht wissen. Was hingegen mich in den Stand setzte, meine anfänglichen Vorurteile zu überwinden, ist mir bewußt: erstens seine Eigenschaft als Bruder Jener, die ich liebte; eine Eigenschaft, die ihn vor allen andern Menschen auszeichnete, zweitens je länger, je mehr die Erkenntnis seines Wertes. Nicht seines geistigen Wertes, den zu begreifen mir das Organ fehlte. Sein täglich neu aus dem Innern sprudelnder Witz und Geist, der ihn durch tausend überraschende Einfälle bei seinen Basler Schulkameraden beliebt machte, prallte an mir, dem reinen germanischen Toren, ab. Wer ein »Lob der Dummheit« zu schreiben plant, wie ich damals (heute nicht mehr), ist für die glänzendsten Geisteszeichen unempfänglich. Auch nicht sein weithin berühmtes, selbst von seinen Lehrern gepriesenes poetisches Talent. Denn Poesie lag überhaupt jenseits meines Horizontes; was aber jenseits des Horizontes liegt, das sieht man nicht. Nein, nicht die geistigen, sondern die Gemütswerte eroberten mich. Seine Gutartigkeit, seine Wärme, seine Gefälligkeiten, seine treue Fürsprache für mich, welche fast einer Protektion gleichkam, seine Ehrerbietung vor seiner Mutter (er küßte seiner Mutter die Hand), seine Zärtlichkeit gegenüber seiner Schwester, mit einem Wort, sein Herz besiegte mich. Und dann gewisse Taktfeinheiten, die Frucht einer von weiblichen Genien geleiteten Erziehung. Wenn er zum Beispiel an einem geheimen Tagebuch schrieb, worin verfängliche Dinge standen, und über diesem Tagebuch ertappt wurde, so zog er das Buch nicht weg, weil die feige, hastige Gebärde der Beseitigung seinem Geschmack widerstrebte. So etwas bewunderte ich, so etwas nahm mich gefangen. Die einzelnen Stationen unserer Annäherung habe ich nicht im Gedächtnis behalten. Wenn es überhaupt Stationen gab; was ich bezweifle, denn sonst würde ich sie kaum vergessen haben. Die Freundschaft keimte vielmehr lange Zeit im Unbewußten; dann plötzlich hob sie ein ekstatischer Zustand ins Bewußtsein.
Die Ekstase befiel mich im Frühling 1861, über dem Lesen des »Titan« von Jean Paul. Sie hatte neben anderen, mir rätselhaften Gründen diesen Hauptgrund: das nämliche Exemplar des Titan hatte (was ich von Pepi wußte) soeben Anna gelesen; auf jeder Zeile hatte ihr Blick geruht, jede Seite war von ihrer Hand berührt worden; an einer Stelle klebte ein Veilchen, das sie hineingelegt; von einer andern Stelle wußte ich, daß sie beim Lesen Tränen vergoß; ich las also das Buch zum vornherein wie ein Heiligtum. Wie weit der Inhalt an meiner Begeisterung mit schuld war, ist mir unmöglich wieder herauszubekommen, weil ich mich gegenwärtig mit dem besten Willen nicht mehr durch den geschwätzigen, sentimentalen Brei durchzuarbeiten vermag. Sicher ist, daß der »Titan« von Jean Paul einen Gefühlsparoxysmus in mir und mein Gefühlsparoxysmus unser gegenseitiges Freundschaftsgeständnis bewirkte. Wieso? Schwer zu erklären; denn Gefühle kennen keine Logik. Vielleicht steckte ihn mein Fieber einfach an, vielleicht erriet der gescheite Beobachter aus meiner stummen Verzückung die Idealität, den heiligen Ernst, die religiöse Inbrunst meiner Liebe zu seiner Schwester. In diesem Fall hätte Anna mittelbar unsern Freundschaftsbund gestiftet. In jedem Fall hat sie ihn eingesegnet; denn sie war in unsern Herzen und Gedanken gegenwärtig, als wir den Bund schwuren.
Das Datum des Schwures läßt sich genau bezeichnen: 27. Juni 1861. Wie wir den Schwur mit symbolischen Handlungen bekräftigten, am ›Tiergarten‹ (nahe der Eisenbahnstation Liestal; er ist aber inzwischen längst überbaut) Freundschaftsgeranien in die Erde pflanzten, hernach ein Freundschaftsalbum namens Lilar gründeten, habe ich an einem andern Ort erzählt. Was für eine hohe, starke Gesinnung aber die beiden damals beseelte, das bezeugt die Tatsache, daß der zwischen einem Studenten und einem Gymnasiasten geschworene Bund zeitlebens vorhielt. Gleich einem wundertätigen Duett flutete aus jener Abendstunde des 27. Juni 1861 unaufhörlich und unerschöpflich Weihe über das ganze Leben des einen und des andern.
Nachdem wir unsern Freundschaftsbund geschlossen, entstand von selber, da wir beide Anna liebhatten, ein schöner Dreibund guter Menschen. Denn auch dem Carlo dolce glaube ich das Prädikat »gut« zusprechen zu dürfen, da doch seine näheren Bekannten es ihm fast wie einen ständigen Beinamen zuteilten; er hieß ja auch nicht umsonst Carlo dolce. Schön aber war der Dreibund, weil jedes der drei von der seelischen Lauterkeit der beiden andern felsenfest überzeugt war, weil niemand von uns dem andern auch nur den flüchtigsten unedlen Gedanken zutraute, weil es unter uns dreien als selbstverständliche Voraussetzung galt, daß man sich gegenseitig jedes Versehen, was einem entschlüpfen könnte, jeden Schmerz, den er unabsichtlich verschulden würde, groß und einfach verzeihe, ohne daß eine Spur, eine Trübung nachbliebe. Der vereinte Sonnenschein der Güte aus dreien Herzen ließ keine Wolken aufkommen. Der Dreibund wäre für sämtliche Teilhaber eine Quelle reinsten Glückes geworden, wie er später für uns alle eine Quelle reinster Erinnerungen wurde, wenn ich nicht das kameradschaftliche, unbefangene Geschwisterverhältnis, das Anna meinte und Pepi erstrebte, durch meine anbetende Liebe vergiftet hätte. Liebe ist der Todfeind der geschwisterlichen Freundschaft. Man kann nicht kameradschaftlich unbefangen mit jemand umgehen, den man anbetet.
In dem Dreibund war Pepi entschieden das wichtigste Glied, deswegen weil er die Brücke bildete, über welche die beiden andern zusammenkamen, zusammenfühlten und sich verstanden. Sobald der Pepi fehlte, also im folgenden Sommer nach seiner Abreise nach Heidelberg, rückten nicht etwa die beiden übrigen enger zusammen, sondern fielen auseinander. Er war im eigentlichsten Sinne der Vermittler.
Aber der Vermittler diente nicht etwa als Liebesbote. Ein solcher war auch gar nicht nötig. Ich brauchte keinen Liebesboten, weil Anna so gut wie alle Welt ohnehin wußte, daß ich sie liebe (meine Liebe war phänomenal, und ein Phänomen bleibt nicht unbemerkt); Anna brauchte keinen, weil sie mir nichts Liebes mitzuteilen hatte. (Ein einziges Mal geschah ausnahmsweise durch ihn ein Bescheid Annas.) Ich war überhaupt so spröde und in diesem Punkte so empfindlich und verwundbar, Pepi wiederum so feinfühlig, daß zwischen uns beiden nur im dringendsten, seltensten Notfall die Rede auf seine Schwester kam, ja daß wir soviel als möglich sogar die Aussprache des Namens vermieden. Hingegen muß er, wie ich schließen konnte, zuweilen mich der Anna vorgepredigt haben. Als ob das etwas nützte! Es steht schon hoffnungslos, wenn man einem Mädchen jemand vorpredigen muß. War aber Pepi einmal über mich aufgebracht, dann fand Anna in ihrem Herzen Freundschaft genug, um mich zu verteidigen.
Der gegenseitige Verkehr war in höchstem Grade seltsam. Zum vornherein war eine gemeinsame körperliche Gegenwart sämtlicher drei Verbündeten vollständig ausgeschlossen. Ein Spaziergang zu dreien? Eine solche Unmöglichkeit, daß auch nicht ein Gedanke daran jemals aufkam. Man geht nicht mit einem Heiligenbild spazieren. Es wäre eine Prozession daraus geworden; oder man lief Gefahr, daß ich unterwegs irgendwo versteinert einwurzelte. Auf Pepis Zimmer? Allerdings, da erschien sie mitunter; indessen nie länger als auf wenige Minuten. Denn bei solchem Ereignis verging mir der Atem und die Stimme, so daß ich nichts vermochte, als sie anzustarren und einzusaugen. Das ist aber weder unterhaltlich noch gemütlich; darum machte sie sich jedesmal schleunigst wieder davon. Ihre körperliche Gegenwart also fiel weg, hingegen war Anna allgegenwärtig. Wo immer die beiden Freunde sich befinden mochten, was sie auch sprachen oder taten, ewig schwebte Annas Bild dazwischen. Das wußte und fühlte sie, und darum wirkte jede Zusammenkunft der Freunde zugleich wie eine Huldigung für die abwesende Dritte. Etwas Schönes wie ein Dank verklärte ihr Gesicht, wenn sie uns von einem Spaziergang zurückkehren sah. Ja, wenn ihr meine Liebe durch meine Freundschaft mit dem Bruder zuströmte, dann war sie filtriert, dann konnte sie sie annehmen, dann hielt sie gerne mit.
Auch der Umgangsstil der beiden Freunde unter sich war eigentümlich. Sobald wir uns selber sahen, trat augenblicklich die höchste Spannung der Gefühle ein, jene Spannung, die man empfindet, wenn man entweder selber ein Bekenntnis auf der Zunge hat oder ahnt, daß der andere an einem Geständnis laboriert. Für mich bedeutete ja unter anderm Pepi einen Hohepriester, der aus dem Allerheiligsten, aus Annas Gegenwart herauskam; er wußte tausend intime Dinge von ihr, deren Mitteilung ich zwar nicht wünschte, deren Mitteilungsmöglichkeit aber schon genügte, um mein Gefühl in die höchste Spannung zu versetzen. Er wieder wußte mich mit erhabenen Gedanken über Gott und die Welt trächtig und erwartete jeden Augenblick irgendeine stammelnde Offenbarung. Gefühlsspannung beweist Schweigsamkeit. Wie schweigsam wir uns verhielten, ist fast unglaublich. Stundenlang konnten wir durch den Wald wandern, ohne auch nur ein einziges Wort miteinander zu sprechen; das Bewußtsein der Freundschaft genügte. Es genügte so sehr, daß gerade diese schweigsamen Wanderungen die Freundschaft fürs ganze Leben haltbar festkitteten.
Nur wenn die Gefühlsspannung nachließ, wenn etwa ein längerer Marsch das Herz beruhigt und den Atem geebnet hatte, taute die Zunge auf, und der emsige Geist heischte die Sprache. Dann war es Widmann, der sprach, und ich, der lauschte; denn er wußte viel, und ich wußte wenig; er war belesen, war durch tausend Fäden mit der Welt verbunden, ich war ein Einsamer, der nur mit sich selber redete. Er, der um volle drei Jahre ältere, wurde mir Zeitung und Post und Nährvater, das Segelschiff, das dem Robinson alles mögliche auf die Insel zutrug. Aber niemals etwas Unbedeutendes, niemals eine bloße Unterhaltung zum Zeitvertreib. Ob gesprochen wurde, wurde nie geschwatzt; auch nie gescherzt; der Humor, der Spaß fand keinen Raum in unsern Gesprächen. Wir blieben jederzeit ernst, weil der Geist beständig auf die wichtigsten Gegenstände zielte. Selbstverständlich war alles Rohe ausgeschlossen. Wir vermieden so peinlich, so übertrieben peinlich jedes häßliche Wort, daß ich an seiner Seite jahrelang, obschon er aufgeklärt war, über die Bedeutung der körperlichen Entwicklungsvorgänge die abenteuerlichsten, schrecklichsten Wahnvorstellungen beibehalten konnte.
Es war ein sonderbares, wenn man will, närrisches Ding, unser Dreibund. Aber er war schön, denn er war rein, war edel und war hoch. Gewiß gab es auch Verstimmungen und Mißverständnisse zwischen uns dreien. Man tat einander etwa ein wenig Unrecht oder ein bißchen furchtbar weh. Allein das waren Fliegen, die über ein Gemälde huschten. Die Fliegen vertreibt ein Wink und ein Blast, die Verstimmungen und Mißverständnisse beseitigt ein Blick und ein Lächeln. Und das Gemälde stellte drei gute Menschengesichter dar, die einander alle drei liebhatten und hochschätzten. Mit einem leuchtenden goldenen Rahmen darum, den die Erinnerung schenkte.
Im August 1859 schlug eine Todesbotschaft unsere Familie mit Bestürzung. Der Stolz und die Hoffnung aller, das Ideal meiner Kindheit, der ebenso liebenswürdige wie hochbegabte und ausnehmend gescheite Onkel Henri, erst seit zwei Jahren verheiratet, war plötzlich in Bombay gestorben. Seine Witwe reiste sofort nach ihrer Heimat Winterthur zurück, ein Kind auf dem Arm, ein anderes unter dem Herzen; mein Vater, zu ihrem Vormund ernannt, holte sie in Marseille ab.
Diese junge Witwe, Sophie Brodbeck, geborene Ernst, die man als Braut nur flüchtig kennengelernt hatte, wurde nun nach ihrer Rückkehr vom Gerücht und von der Phantasie umsponnen; der Ton der Stimme dämpfte sich, wenn man von ihr sprach. Sie sei vornehm, hieß es, fürchterlich wohlerzogen, hübsch, reich, genial, künstlerisch begabt; wenn wir Buben allenfalls die Gunst ihrer Gegenwart genießen sollten, so müßten wir uns schrecklich zusammennehmen und musterhaft artig sein, insonderheit dürften wir dann keine dummen Streiche machen. Das Erinnerungsbild, das ich von ihr hatte, wollte allerdings nicht recht zu diesen Beschreibungen stimmen; denn als ich vor zwei Jahren (Anfang 1858) meinem Onkel und seiner jungen Frau auf ihrer Durchreise nach Indien in Basel ein kindisches Geschichtlein hersagen mußte, das ich kurz vorher erfunden, erhielt ich zum Lohn einen herzhaften Kuß von der neuen Tante.
Zum Basler Universitätsjubiläum (5. bis 7. September 1860) erschien dann die märchenhafte Witwe leibhaftig in Liestal bei uns zu Gast. Während anläßlich dieses Festes in Augusta Rauracorum feierliche Reden gehalten wurden und ich mich zu diesem Zwecke außer Gehörweite auf einen einsamen Rain gesetzt hatte, steckten mir ein paar feine Finger heimlich eine Beere in den Mund, und wie ich mich umsah, war es die neue Tante.
Für die Osterferien 1861 lud sie dann uns zwei Buben zu sich nach Winterthur ein. Sie wohnte in der Stadt, in der ›Zeder‹. Unser Schlafzimmer lag neben dem schönen, geräumigen gotischen Salon, wo es herrlich nach indischen Wohlgerüchen duftete, Sandelholz und desgleichen. Jeden Morgen wurden wir von wundersamer Musik aus dem Schlaf geweckt, einer Art Musik, wie ich noch keine gehört hatte, auch nicht im Pfarrhaus: die Tante, welche im Salon Bach spielte. Das war nun in der Tat märchenhaft, aus schönen Träumen in noch schönere Wirklichkeit hinübergezaubert zu werden, so daß ich mir wie in einem Feenpalast vorkam.
Eines Tages urteilte sie, ich müsse ebenfalls Bach spielen. »Aber ich weiß ja gar nicht, was die schwarzen und weißen Tasten bedeuten, kenne auch nicht einmal den Baßschlüssel.« »Bah, das sind Kleinigkeiten, das kannst du in ein paar Minuten.« Als sie mir das Nötigste gezeigt hatte, legte sie mir ein Menuett von Bach vor: »Da, spiel das!« »Aber ich müßte ja doch zuerst Fingerübungen gemacht haben«. »Warum nicht gar; Fingerübungen, das ist bloß für den musikalischen Pöbel; geniale Menschen fangen mit Bach an; also«. Hiemit legte sie mir die Finger auf dem Klavier zurecht, und wahrhaftig, die selbe wundersame Musik, die sie zu spielen pflegte, tönte jetzt unter meinen Fingern. Nach dem Menuett kam ein Adagio; diese beiden Stücke wurden jetzt mein; ich konnte sie erklingen lassen, wann ich wollte. Auf diese Weise erschloß mir die Tante die Schätze derjenigen Kunst, die unsrem Herzen am unentbehrlichsten ist, der Musik. Ob ich schon zeitlebens ein unglaublich elender Klavierspieler geblieben bin, so wurde ich doch dadurch in den Stand gesetzt, die großen Meister selber zu mir einzuladen, ohne dazu fremder Vermittlung zu bedürfen. Schon deswegen verdiente die Tante den Namen Eugenia (guter Genius), den ich ihr später gab. Aber nicht allein deswegen. Vor der Heimreise schob sie mir »mit sanfter Gewalt« ein Büchlein in die Hand; das müsse ich mitnehmen und lesen. Dieses Büchlein (Feuchtersieben) wurde der Wecker meines Geisteslebens. Also zwiefach Eugenia. Und nicht nur zwiefach, sondern dreifach: sie schenkte mir die Auszeichnung ihrer persönlichen herzlichen Freundschaft, die mich von nun an wie Sonnenschein begleitete.
Leider aus der Ferne.
Hätte Eugenia statt in Winterthur in Liestal oder Basel gewohnt, manches wäre mir erspart geblieben.
*
Nachsatz. Kritik: Das Verdienst Eugenias um mein Klavierspiel ist hier etwas zu einseitig beschrieben. Sie gab allerdings den ersten Anstoß und verursachte mittelbar auch, daß mir später Frau Pfarrer Widmann Klavierstunden gönnte (siehe das Kapitel: »Der Segen Eugenias«), aber das minime bißchen Technik, was ich habe, verdanke ich Frau Pfarrer Widmann.
Vor zwei Jahren hatte ich noch mit Bleisoldaten gespielt. Jetzt meldeten sich die Gedanken und ließen mich nicht mehr los. Folgenden Ursachen oder Kräften oder Anlässen schreibe ich mein geistiges Erwachen zu.
Den ersten, zugleich heftigsten Anstoß gab die kirchliche Dogmatik, die mich zum Widerspruch und zur Rechtfertigung des Widerspruchs durch den Gedanken zwang. Ich hatte metaphysische Schrecken wegen des bevorstehenden Abendmahls ausgestanden. »Wer da ißt und glaubet nicht, der wird verdammt werden.« Da ich mit dem besten Willen manches nicht zu glauben vermochte, komme ich demnach auf ewig in die feurige Hölle, wenn ich das Abendmahl esse. Wie diesem fürchterlichen Schicksal ausweichen? Es gibt nur ein Mittel: bewirken, daß man vor dem Abendmahl stirbt. Ich schwebte deshalb mehrere Wochen buchstäblich in Todesgefahr. Nach überstandener Angst und Gefahr erfolgte dann der Rückschlag. Die Einsicht, mit Lügen geschreckt worden zu sein, lud meinen Geist mit Grimm, das Bewußtsein ethischer Überlegenheit (des ehrlich Denkenden über die Gedankenmogler) mit Mut, Summa: mit Trotz. Der Trotz fraß den Carlo dolce auf und gebar einen Denker. (Ich bemerke übrigens: dem einzelnen Religionslehrer trug ich nichts nach; wie kann denn auch ein Pfarrer ahnen, daß jemand die jenseitigen Angelegenheiten so wichtig nimmt!)
Ein zweiter Reiz tat es friedlicher und sanfter, dafür stetig: der deutsche Aufsatz für Wackernagel. Ich war gezwungen, alle drei Wochen einmal meiner widersprechenden Natur, welche die logische Aussprache verabscheut, etwas Leserliches, Verständliches und stilistisch Säuberliches abzuringen. Der Zwang aber gestaltete sich schließlich zur Erlaubnis, weil Wackernagel, ein Pädagog ersten Ranges, das heißt ein warmherziger, gütiger und gnädiger Lehrer, gestattete, sich frei auszusprechen. Um es mit einem Satz zu sagen: man wurde gezwungen, eigene Gedanken frei aussprechen zu dürfen.
Zwar nicht die Grundgedanken, da wäre ich bei dem pietistischen Wackernagel übel angekommen, sondern nur die kleinen unruhigen, überschwebigen Kopfgedanken, die ich zeitlebens verachtet habe, wie ich denn meine sämtlichen Wackernagelaufsätze gleich Null zähle; immerhin Gedanken.
Als ausschlaggebend habe damals ich selber – und ich werde wohl auch etwas davon gewußt haben – ein Büchlein empfunden, das mir meine Tante beim Abschied »mit sanfter Gewalt« in die Hände geschoben hatte: die »Diätetik der Seele« von Feuchtersleben. Ich habe keine Ahnung mehr, was in diesem Büchlein steht; dagegen über seine einstige Wirkung auf mich besitze ich in einem Brief vom Juli 1861 treue und genaue Kunde. In diesem Briefe schrieb ich meiner Tante: »Ich habe nun Deinen Feuchtersleben ausgelesen und wiedergelesen. So lange ich mich zu erinnern weiß, hat mich noch kein Buch mit solchem Enthusiasmus erfüllt wie dieses. Jeder Satz hat eine solche Fülle von Gedankenreichtum in sich, daß man über ein einziges Kapitel Bücher schreiben könnte. Wer von meinen Kameraden ein tadelndes Wort über diese Diätetik zu sagen wagt – und sie tun es oft zum Spaß –, der hat es mit mir aufzunehmen. Ich kann nicht begreifen, warum nicht dieses Wunderwerk in jeder Haushaltung neben der Bibel und so weiter.«
Endlich, vielleicht das Wichtigste von allem: Mein Körper war inzwischen reif geworden und mit dem Körper der Kopf und mit dem Kopf das Gehirn. Der mit fünfunddreißig Jahren sein erstes Buch schrieb, war mit sechzehn Jahren ein Erwachsener.
Die Ausdrucksweise meiner Gedanken erscheint nicht nur in meinen Aufsätzen, sondern auch in meinen Briefen unecht, entstellt. Da drückte ich mich möglichst säuberlich, umständlich, sogar redselig aus, weil ich meinte, das gehöre sich und dürfe nicht anders sein. Die individuelle Ausdrucksform meiner eigensten Gedanken war der Aphorismus. Dieser lautete, wie man das zu nennen pflegt, paradox; ich nenne es autodox.
Hier einige Gedankenproben des Sechzehnjährigen und Siebzehnjährigen, wie ich sie in einem Heft aus jener Zeit finde:
»Es gibt kein Vergessen.
Kein Gedanke taugt, der nicht Wille ist.
Die größte Todsünde ist die Zufriedenheit.
Im wirklichen Leben ist das tragische Schicksal etwas Schreckliches.
Von allen Übeln das größte ist der körperliche Schmerz.
Das Kind ist keineswegs glücklich.
Die Pflanze hat den göttlichen Geist auch.
Der Liebe ermangelt zu den fünf Sinnen noch ein besonderer (spezifischer).
Die Religion ist die Poesie des Volkes.
Man muß nicht die Musik in Bilder übersetzen wollen (wie Schwind getan hat); denn der Ton ist eine (direkte) Offenbarung Gottes.
Es gibt in der ganzen deutschen Sprache kein lügenhafteres Wort als das Wort ›unmöglich‹. (Der nämliche Spruch in einem Brief vom Juli 1861: ›Was ich will, das kann ich‹).
Kein Mensch ist lächerlich.«
Und so weiter.
Ich bekenne, daß ich für einen Gymnasiasten, der für sich in ein geheimes Privatheft den Spruch »Kein Mensch ist lächerlich« niederschreibt, eine gewisse Ehrerbietung verspüre und heische.
Bei Liestal gibt es einen Weg, der ist nicht wie ein anderer Weg, der ist mein Weg. Er heißt der Lange Hag, obgleich der Hag, der ihm den Namen gegeben, schon seit mehr als sechzig Jahren verschwunden ist, und führt von der Brücke, unter welcher tief unten in einem künstlichen Hügeleinschnitt die Eisenbahn wie zwischen zwei Schanzen durchfährt, nach dem Steinenbrücklein. Zu sehen gibt es dort nichts, weder für den Fremden, noch für den Einheimischen. Ein ebenes Sträßchen (früher war es ein schmaler Pfad) von etwa fünf Minuten Länge; zur Linken flache Felder mit einem Pulverturm darauf, zur Rechten bergansteigendes Wiesengelände, vor dem Wiesenberg irgendwo ein Bänklein und etwas weiter eine Lehmgrube, welche, wenn es geregnet hat, sich in einen Froschgraben verwandelt. So sieht der Lange Hag in meiner Erinnerung aus; gegenwärtig mag er etwas anders aussehen.
Daß dort und in der Nähe ein Schimmer meiner allerersten Lebenserinnerungen schwebt, darf mich hier nichts angehen; denn nicht diese Erinnerungen waren es, sondern ein rein äußerlicher Grund, weshalb der Lange Hag bis zum Steinenbrücklein seit 1860 mein bevorzugter Weg wurde. Auf diesem Wege gelangte ich von Hause in der kürzesten Zeit, binnen wenigen Minuten, in die stille Einsamkeit. Ich konnte sogar unbemerkt dorthin gelangen, was zwar keineswegs nötig war, da niemand mir verwehrte, spazieren zu gehen, wohin ich wollte, aber doch erwünscht; denn wer sich in die Einsamkeit begibt, liebt nicht aufzufallen und empfindet es als überflüssig, nach dem Zweck und Ziel des einsamen Wandels befragt zu werden. Die Unbemerktheit meiner Gänge nach dem Langen Hag erzielte ich dadurch, daß ich meine Absicht meldete, die Großeltern zu besuchen, mir dort, indem ich mich in und außer dem Hause wiederholt zeigte, ein Alibi konstruierte und dann unversehens zwischen Zaun und Dächern den Hügel hinauf nach dem Langen Hag verschwand. Fragte jemand nach mir, so erhielt er zur Antwort: »Er war den Augenblick noch da, er wird wohl auf dem Kegelplatz oder im Garten sein.«
Der Lange Hag bis zum Steinenbrücklein (aber nie über das Brücklein) wurde der Schauplatz meines Innenlebens während vieler Jahre; nicht ausschließlich, aber vorwiegend. Dort hauptsächlich entstand meine Persönlichkeit. Was ich immer auf dem Herzen hatte oder was mein Geist kreißte, das trug ich dort hinauf.
Herwärts des Steinenbrückleins, beim Langen Hag, überkamen mich mitunter rätselhafte Seelenzustände, die ich mich wohl hüten werde beschreiben und erklären oder benennen und bewerten zu wollen, da niemand sich selber durch die Augen schauen kann. Hingegen zeigen kann ich sie: durch ein Spiegelbild.
In meinem »Olympischen Frühling«, im zweiten Gesang des ersten Teils, tritt der Seher Orpheus auf. Dieser Orpheus, so wie er im Buche geschildert wird, ist nichts anderes als das seelische Abbild des sechzehnjährigen Gymnasiasten, wie die Erinnerung es aufbewahrt hat; jeder Zug ist dem Erlebnis nachgezeichnet. Daß aber das Erinnerungsbild wirklichkeitsgetreu haftete, daß nicht etwa der Dichter nachträglich mit der Phantasie das meiste hinzugetan hat, das bekunden Schriftstücke aus jener Zeit, die ich wieder aufgefunden habe, nachdem das Buch schon veröffentlicht war.
Im »Olympischen Frühling« ruft Orpheus: »Eh daß ich war, so bin ich früher schon gewesen.« In einer Notiz vom Jahre 1862 finde ich den Satz: »Wir sind von Ewigkeit da«; in einer andern vom 22. September 1861 die Worte »Meine Lehre von der Seelenwanderung«, in einer dritten aus der nämlichen Zeit (1861 oder 1862): »Nach dem Tode werden wir allen den Verwandlungen subjektiv werden, die wir schon durchgemacht haben.« Wir finden also hier den Glauben an eine Seelenwanderung als eine feste Überzeugung, mehr noch als eine Selbstverständlichkeit verzeichnet. Nun wäre ja an sich dieser Glaube nichts sonderlich Bemerkenswertes; eine Menge Menschen, darunter namhafte Philosophen, teilen ihn. Das Merkwürdige in unserm Falle ist das, daß dieser Glaube nicht, wie es sonst geschieht, durch den denkenden Geist, auf logischem Wege gewonnen wurde, sondern durch die ekstatische Vision, während welcher sich der Jüngling genau wie der Orpheus des Buches an vormenschliche Erlebnisse zu erinnern glaubte.
Die Verse »Von dorther« bis »laugen« zeichnen die Methode, wie der Jüngling die Offenbarungen der Wahrheit suchte, nicht aus Büchern, nicht von Lehrern, nicht durch Nachdenken, sondern durch unmittelbare Anschauung der metaphysischen Welt, indem er so lange die irdischen Dinge, ein Feld, einen Baum, einen Fleck Erdboden anstarrte, bis er schließlich glaubte, durch die Kruste der Materie hindurch ins Ewige zu blicken. Doch warum soll ich versuchen, in nüchterner Prosa nachzustammeln, was der Dichter trefflicher gesagt hat.
Sogar von dem starren Seherblick des Orpheus finde ich in den damaligen Aufzeichnungen die Spur. »Man fühlt die Erhebung (Exaltation) in den Augen.«
Der Seher Orpheus meines »Olympischen Frühlings« ist also ein genaues, wirklich getreues Spiegelbild jenes jungen Menschen, um den es sich hier handelt, vom Standpunkt der Seelenwanderung betrachtet. Zur Ergänzung noch zwei Seelengesichtsbilder, von einem andern Standpunkt aufgenommen. Ein Satz, in jener Zeit geschrieben, lautet: »Wir sind Gott. Daß wir die Pflicht lieben können, hat einzig seinen Grund darin, daß wir Gott sind.« Und am 28. September 1861 schreibe ich in mein Tagebuch: »Abends Spaziergang nach Frenkendorf. Visionen bis zur Verzweiflung gesteigert: eine teuflische Macht, die über die göttliche den Vorrang hat.«
Selbstverständlich lief ich nicht etwa täglich von Morgen bis Abend als Seher herum. Die Ekstasen oder Visionen, oder wie man das nennen will, suchten mich bloß in der Einsamkeit in den Augenblicken höchster Durchseelung heim; im übrigen blieb ich ein ganz gewöhnlicher Schulbub, wenigstens von außen gesehen. Aber selbst in meinen allergewöhnlichsten Stunden verspürte ich zuinnerst etwas, das mir keinen Frieden mehr ließ, etwas wie einen Schatten, etwas Ernstes oder Trauriges oder Pathetisches. »Merkwürdig«, rief mir eines der Mädchen im Pfarrhause zu, »ich habe Sie noch nicht ein einziges Mal lachen gesehen.«
Eines Tages erzählte mir mein Freund beiläufig von einem großen Philosophen namens Kant, der ein Buch »Kritik der reinen Vernunft« geschrieben habe. Hochauf jauchzte mein Gedanke bei dieser Nachricht. Ein tapferer Mensch, der rücksichtlos alles und jegliches mit der reinen Vernunft kritisiert, das ist mein Mann, das muß ich lesen. Also flink das Buch aus der Bibliothek geholt. Zwar fand ich dann zu meiner Verblüffung etwas anderes, als ich meinte; da ich aber für den heroischen Mann einmal Feuer gefaßt hatte, gab ich mir, immer in der Hoffnung, auf eine revolutionäre Gesellschaftskritik zu stoßen, eine mörderliche Mühe, aus dem scholastischen Volapük klug zu werden. Klug wurde ich daraus nicht, aber eine richtige chronische Philosophose akquirierte ich mir dabei, glücklicherweise eine gutartige infantile Form; edlere Organe wurden nicht ergriffen; bloß der Gedankenstil und die Sprache blieben geraume Zeit philosophisch angeseucht: Blässe des Ausdrucks, Wortarmut, Neigung zu Subtilisierung und dergleichen äußere Symptome: Versuche, mit der Begriffsmühle zu klappern, mit griechischen und lateinischen Wörtern zu klingeln, auf Stelzen zu schreiten und eine nüchterne pedantische Miene vorzuzeigen. Dann ging die Krankheit allmählich in völlige Genesung über. Im Gegenteil, der Anfall wirkte als Schutzimpfung; die philosophischen Kinderpocken haben mich auf Lebenszeit von der Gefahr einer ernsthaften philosophischen Infektion behütet. Damals aber war es mir bitter ernst mit meiner philosophischen Eigenschaft; ich war stolz darauf und brüstete mich damit. Auf einem Reischen, das ich im folgenden Jahre machte, schrieb ich ins Fremdenbuch: »Carl Spitteler aus Liestal, Philosoph.«
Keine Gefahr, daß, wer mich kennt oder auch nur sich nach meiner Jugend umsieht, sich durch den philosophischen Hokuspokus könnte täuschen lassen. Der ganz aus Herz und Traum geschaffene Jüngling in der Philosophenmaske: über diesen fröhlichen Domino lachen alle meine gegenwärtigen Bekannten und Freunde einfach hellauf. Aber meine damaligen Bekannten und Freunde, die ja nur die Krankheit und nicht die spätere Genesung mitansahen, lachten nicht, sondern schüttelten bedenklich den Kopf, wenn ich mit »Moral« und »Grundsätzen« und »subjektiv und objektiv« und »Makrokosmus und Mikrokosmus« rasselte. »Schade«, urteilten sie im Pfarrhaus, »was für ein greulicher abstrakter Beelzebub ist in den Carlo dolce gefahren!« Und auch Wackernagel mag ein sonderbares Gesicht gemacht haben, als er einen Aufsatz von mir erhielt, in welchem ich ihm auf philosophisch bewies, daß keine Gewalt des Himmels und der Erde eine Tür, die jemand zugemacht hat, wieder aufzumachen vermöge. Diese Behauptung war übrigens echt philosophisch gedacht; meine Wundertür hat in der Geschichte der Philosophie erlauchte Verwandte von tausendjährigem Adel: die Schildkröte, die von Achilles nicht kann eingeholt werden, und den Esel, der zwischen zwei Heubündeln verhungert, weil er sich nie entscheiden kann, welchen von beiden er anbeißen will.
Diesen ganzen Unfug hat die »Kritik der reinen Vernunft« verschuldet. Aber finden Sie nicht auch: der geriebenste Spötter könnte keine boshaftere Satire auf die sogenannte »Erkenntnistheorie« ausdenken als die schlichte Tatsache, daß ein gesunder, naiver Mensch den Titel »Kritik der reinen Vernunft« so haarsträubend ins Vernünftige mißverstand?
Ein anderes Mal erzählte mir Widmann, (der überhaupt dem einsamen Geistesrobinson jeweilen Nachrichten aus der Welt und aus den Bibliotheken zutrug wie ein Dampfschiff einem Schiffbrüchigen Zeitungen und Nahrungsmittel), auch von Sokrates. Der habe einen Dämon gehabt, berichtete er, und wäre oft stundenlang auf einem Fleck stillgestanden, um dem Dämon zu lauschen. »Ei sieh doch«, sagte ich mir, »das ist ja genau mein Fall. So stehe ich ja auch beim Langen Hag stundenlang still, um zu lauschen, was mir Offenbarendes aus der Wahrheit geschieht.« Deshalb faßte ich eine große Sympathie, unbekannterweise, für den dämonischen Bruder Sokrates.
So lange bis ich den wirklichen Sokrates (aus Xenophon) in der Schule kennen lernte. Jetzt wurde mir der nüchterne Mann im Gegenteil gründlich zuwider. Schon bei seiner Verteidigungsrede vor den Richtern. Und als ich vollends erfuhr, er habe einen berühmten griechischen Statuenkünstler über die Statuenkunst belehren wollen, galt mir Sokrates als Schauerbeispiel afterweiser Anmaßung. Ein Gehirn- und Zungenfasler, der mit tiftelnder Dialektik einen Künstler zu maßregeln sich untersteht, etwas Verhaßteres konnte ich mir gar nicht denken.
Weil ich gerade von Philosophie und dergleichen spreche: im Winter 1861/62 überraschte ich eines Abends meine Freunde im Pfarrhaus plötzlich mit der Behauptung, alle Kunst wäre frivoles, nichtiges Zeug. Kaum hatte ich diesen Kraftsatz ausgesprochen, so kam Frau Pfarrer, die sich sonst nur mühsam vom Stuhl zu erheben vermochte, vor Empörung flink wie ein Wiesel auf mich zugesprungen und rief mir ins Gesicht: »Du abscheulicher Bub, willst du gleich schweigen?« Und Anna sekundierte ihr: »Wenn du so sprichst, so kannst du Räuberhauptmann werden; dann hetze ich den Adolf (meinen Bruder) auf dich, daß er dich einfängt und gefesselt zu mir schleppt.« Das war zornig gemeint. Allein in welchem Tone wurde es gesagt! Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man gute Menschen am sichersten an der Art erkennt, wie sie mit einem zanken. Nie ist mir die Herzensgüte und das innige Wohlwollen der Frau Pfarrer so rührend deutlich geworden wie damals, als sie mir zurief: »Du abscheulicher Bub!« In diesem Tone schilt eine Mutter ihren Sohn.
Aber bei dieser Gelegenheit eine Rätselfrage: Wie in aller Welt war es möglich, daß ein Junge, der zum Künstler geboren war, der die Schönheit anbetet, dessen Pulsschlag die Kunst ist, dem die Phantasie aus den Fingerspitzen schwitzt, zu solch einem bilderstürmerischen Schauerspruch gelangen kann? Auflösung des Rätsels: Weil er immer in allem, was er unternahm, wahrhaft und ehrlich verfuhr. Jetzt war er ›Philosoph‹, besser gesagt: Theosoph, meinte wenigstens, es zu sein. Jede Philosophie aber, wenn sie hoch ist, und jede Religion, wenn sie ganz ist, nötigt zur Verachtung der Kunst. Denn die Kunst, ob sie Kirchen baue oder Madonnen und Gekreuzigte male, hat ein weltliches Herz.
Artillerieoffizier, meinte mein Vater zur Abwechslung, sollte ich werden. Warum nicht? Jurist, Kaufmann, Offizier, alles was beliebt, denn der Beruf geht die Zukunft an, die Zukunft aber ist ein so fernes, fabelhaftes Ding, daß man sie gar nie erlebt. Da ich erst sechzehnjährig war, hatte man reichlich Zeit; einstweilen sollte ich einmal reiten lernen, und mein Bruder bei der Gelegenheit gleichfalls. In Maisprach, einem Dörflein unweit Rheinfelden, wohnte der Rittmeister der kantonalen Kavallerie, Hauptmann Graf; das war zugleich der Gastwirt des Dörfchens; deshalb wurden wir in den Sommerferien bei ihm einquartiert, und nun gings vom Morgen bis Abend ans Reiten. Zwei Pferde hatte der Rittmeister eigen, einen wilden, schwarzen Hengst, den nur er zu bemeistern vermochte, und einen frommen Schimmel; außerdem verfügte er noch über ein ausgedientes deutsches Kavalleriepferd, einen Fuchs, der dem Dorfmüller gehörte. Diese drei wurden auf ein Mättelein geführt, und wir durften auswählen. Sofort entschied ich mich für den dämonischen Hengst, weil der so herrlich malerisch aussah. Also wurde ich auf diesen hinaufgehißt, natürlich ohne Sattel und Reitbügel, und jetzt »vorwärts, marsch!« Kaum aber, daß der Hauptmann »marsch« befahl, verübte der Hengst einen mächtigen Sprung und wollte über Bach und Zaun, wobei er mich unterwegs ablud. Und ähnlich jedesmal, so oft der Rittmeister bloß seine Stimme hören ließ. Als das ein paar Tage gedauert hatte und sich bei mir nervöse Symptome einstellten, wurde ich auf den Fuchs gesetzt; da gings.
Die Dörfler verfolgten unsere Fortschritte mit wohlwollender Teilnahme, und allmählich, da man so beständig beisammen wohnte, bildete sich etwas wie ein Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen und uns. Zwar den eigentlichen Bauern blieb ich fern; ich verstand ihre Vorliebe für Kühe und Mist nicht und vermochte sie nicht zu teilen; dagegen mit dem Pfarrer, dem Lehrer, dem Arzte verkehrten wir in den Reitpausen, hörten den Gesangsübungen der ›Knaben‹, das heißt der Unverheirateten, zu, inspizierten die Schulen und was uns sonst einfiel. Unter dem mitgebrachten Gepäck befand sich eine Gitarre, eine Flöte; ein Schulkamerad von mir aus Basel kam zu uns wohnen; der spielte Violine, und so gab es etwa ein Konzertchen. Allabendlich tönten die schönen Flötensonaten von Kuhlau, die mein Bruder beim offenen Fenster spielte, über das stille Dörflein bis in den entfernten Mühlegrund hinunter. Mädchen gab es auch in dem Dörflein; die versuchte ich abzuzeichnen. Wenn es regnete, nahm ich ein mitgebrachtes Bändchen Jean Paul vor, den Nachtrag zum »Titan«, vermochte ihm aber keinen Geschmack abzugewinnen; dagegen kam mir an einem blendenden Sonntag eine Aufsatzvision für Wackernagel: Don Juan in Sevilla. Was der eigentlich in Sevilla sollte, war mir nicht klar; der Einfall war nichts als notdürftig ins Logische übersetzte Sonnenglut. Überhaupt lag das Geistige brach; die Reitmuskeln übermochten das Gehirn; kein Wille vermochte den lahmen Gedanken zu galvanisieren.
Endlich wurden wir für wirkliche Kavalleristen erklärt, Sporen – o Glück, o Ehre! – wurden herbeigeschafft, und nun ritt man täglich über Land, zu dreien, der Rittmeister und wir beiden Buben. Erst nach den umliegenden Dörfern, dann ins Fricktal oder nach Rheinfelden, nach Augst. Da lernte ich die Welt im Allegrotempo kennen; und es ist wirklich ein neuartiges Gefühl, durch die Landschaft im Galopp zu sprengen; ich bin sogar geneigt, zu vermuten, daß ohne meine vielen, ob auch noch so ungeschickten Reitereien (später hauptsächlich in Rußland) meine nachmaligen epischen Dichtungen nicht den frischen, mutigen Zug aufweisen würden. Den Abschluß des ganzen Reitkurses bildete ein Ritt nach Liestal. Ha, welch ein Stolz, hoch zu Pferd selbdritt in die Heimat einzurücken! Welch ein Genuß, das lärmende Hufgeklapper, das man auf dem Pflaster verursachte!
Und nachher, als die Ferien vorbei waren, bezogen wir das Gymnasium mit den Sporen, so daß es wunderbar klirrte, wenn wir in den Gängen und Schulzimmern herumstampften; zur Belustigung unserer Kameraden, zum Ärger unserer Lehrer. Mehrere Tage lang durften wir mit Erlaubnis des Papa die berittenen Gymnasiasten in der Schule betonen, bis schließlich doch der Verdruß der Lehrer dem ritterlichen Vergnügen Einhalt gebot.
Mit dem Reiten war es also ziemlich geglückt; dagegen der Artillerieoffizier, auf den das Reiten gemünzt war, ging dabei verloren. Ich hatte nämlich beiläufig von meinem Rittmeister manches über den militärischen Beruf erfahren, was mir ihn verleidete. Man müsse mit den Soldaten in einem und demselben Zimmer schlafen, wovor mir ekelte; man müsse sich vom Kopf bis zum Fuß ärztlich untersuchen lassen, was mich als eine schamlose Beleidigung empörte; man müsse als Artillerieoffizier Trigonometrie und weiß was noch alles für greuliche mathematische Dinge verstehen. Und als er vollends einmal meinte, ich sollte meinem Pferde den Bauch striegeln, ohne das gehe es bei der Kavallerie und Artillerie nicht, sagte ich ihm bündig den Gehorsam auf. »Dem Vaterlande dienen, ja; aber nicht als vernünftiger zweibeiniger Mensch einem unvernünftigen Vierbein den Knecht machen.« Dieses Pferdestriegeln gab den Ausschlag. Einen Monat später notiere ich in mein Tagebuch den festen Entschluß: »Ich will nicht unter die Soldaten.«
Als wir aus den reitenden Ferien heimkehrten, traf ich zu Hause Eugenia, unsere Tante, die dort schon wochenlang zu Besuch geweilt hatte. Sie blieb nur noch wenige Tage; allein über die wenigen Tage verbreitete ihre Gegenwart Wonnestimmung.
Eugenia offenbarte mir diesmal wiederum eine musikalische Neuigkeit: die »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn. Eines dieser Lieder wurde sofort mein Liebling, den sie mir nicht oft genug vorspielen konnte: das Presto agitato in G-Moll. Das leidenschaftliche Tempo, der trotzige Rhythmus der Einleitung, das schwungvolle Thema rissen mich hin, die verminderten Septimen- und Nonenakkorde, die ich hier zum ersten Male vernahm oder wenigstens bemerkte, entzückten mich wie übernatürliche Tonwunder. »Bitte, erkläre mir, was sind das für geheimnisvolle Harmonien? Kraft welcher Mittel tönen sie so ganz anders als die übrigen? Warum wirken sie so herzberauschend?«
Der Zufall wollte, daß gerade in jenen Tagen mein Lateinlehrer, Professor Gerlach, über die Lieder ohne Worte als einen angeblichen Widersinn spöttelte. Ha! Der Hohn, die Verachtung, die ich ihm dafür zinste! »O du alter, dickhäutiger, ochsenstirniger Barbar! In die Völkerwanderung mit dir! Unter Zimbern, Teutonen und Vandalen ist dein Platz!« Den Hohn mußte er mir wohl am Gesichte abgelesen haben; denn er hielt sich über mein »überlegenes Lächeln« auf.
Ein Lied ohne Worte war auch der Verkehr zwischen uns. Wir verstanden uns unmittelbar, ohne Aussprache, wir harmonierten in unserm Geschmack, in unsern Anschauungen, bildeten (einen) Sonderbund. Während die übrigen die Fenster öffneten, um den Sonnenschein einzuladen, ließen wir die Jalousien herunter, um die Stimmungsgenüsse und Farben- und Schattenwunder des gedämpften Lichtes zu kosten. »Merkwürdig«, meinte jemand zu Eugenia, »man sieht Sie fast immer nur im Profil.« Bei dieser Bemerkung lächelten wir uns im verstohlenen vergnügt an. Im Bad Schauenburg, eine starke halbe Stunde von Liestal entfernt, war Ball. Dorthin führte ich sie zum Tanz. Wir hatten den Hausschlüssel nicht mitgenommen; den ging ich in dunkler Nacht in Liestal holen und kehrte mit ihm nach Schauenburg zu ihr zurück. Und ähnlich wie ich vom Pfarrhaus einen italienischen Künstlernamen empfangen hatte, erhielt ich jetzt von Eugenia einen englischen Freundschaftsnamen.
Unbedeutende, alltägliche Vorkommnisse, der Erwähnung unwert? Ja, ist Freundschaft, ist Kunst, ist eine reine, gehobene Stimmung etwas Unbedeutendes? Ist Glück etwas Alltägliches? Nur kurz (wenige Tage) dauerte leider das Zusammensein. Aber nach ihrer Abreise tönte noch wochenlang der Nachhall des Presto agitato in meiner Seele, den Sommer ausläutend. Und sein Thema, von Eugenias Bild illustriert, rief mir zu: »Mut! Ob deine Zukunft auch vielleicht in G-Moll geht, du wirst siegen.«
Den Sommer 1861 kann ich mir ohne das Presto agitato gar nicht denken. Dieses Lied meldet wahrer, als Worte es vermöchten, meine seelische Stimmung im August und September. Darum mußte ich davon erzählen.
Ich habe beobachtet, daß wichtige Ereignisse sich gerne in Stimmungen der Gleichgültigkeit, der Niedergeschlagenheit, der Langenweile einschleichen. Man glaubt sich den gewöhnlichsten, nüchternsten Regenwetterstunden anheimgegeben und erfährt währenddessen etwas, was dem Leben, wie die Zukunft zeigen wird, eine Wendung gibt. An einem Herbstsonntag (22. September 1861) wußte ich nicht recht, was mit mir anfangen, las ein wenig, spielte ein bißchen Klavier, wollte nach dem Essen in die Sonntagszeichenschule gehen; diese fand nicht statt; darauf kehrte ich heim und setzte mich vor lauter Enttäuschung und Langerweile wieder ans Klavier.
Ans Klavier, sage ich. Mein Vater hatte nämlich zufällig fast um die nämliche Zeit, da mich Eugenia die zehn Finger auf die Tasten legen lehrte, etwas, das sich Klavier nannte, angeschafft, um seine Tänzlein darauf zu spielen. Naiv und gläubig, wie er war, hatte er sich von einem katholischen Pfäfflein von Pantaleon einen schauerlichen Musikkasten aufschwatzen lassen, der undenkliche Jahre im Basler Theater gestanden hatte und dermaßen abgespielt war, daß er von Tönen bloß noch die Schatten von sich gab. Immerhin, es hieß Klavier, und mit Hilfe der Phantasie konnte man ungefähr unterscheiden, was man spielte. Für mich ergab sich bei diesem Anlaß die Frage: Soll ich, was mich Eugenia gelehrt, aus eigener Kraft weitertreiben? Um diese Frage zu entscheiden, stellte ich die Vorfrage: Verspricht mir jemand, daß ich, falls ich mich anstrenge, spätestens in zwei Jahren eine der großen Beethovenschen Sonaten, zum Beispiel die Pathétique, werde fehlerlos und meisterhaft spielen können? Als diese Vorfrage allgemein verneint wurde, entsagte ich dem Klavierspiel, während mir anderseits das Gitarrenspielen, das ich meinem Vater zuliebe fortsetzen mußte, jetzt verleidet war. Also zunächst eher Verlust als Gewinn. Jenen Herbstsonntag nun nahm ich aus Langerweile die beiden Winterthurer Stücklein wieder vor. Während ich diese spielte, kam Pepi, um mich ins Pfarrhaus abzuholen. Ich folgte seiner Einladung, traf aber im Pfarrhaus die nämliche gedrückte Stimmung. Frau Pfarrer litt an Brustkrämpfen, Fräulein Wimmer hatte Zahnschmerzen, Anna fühlte sich nicht wohl; zum Überdruß hatten sich noch zwei unliebsame Gäste eingefunden. Alles versprach einen trüben, verfehlten Nachmittag.
Da verkündete Pepi plötzlich die Nachricht, er hätte mich dabei überrascht, wie ich die denkbar schönste und schwierigste Fuge von Bach gespielt hätte. Natürlich erregte seine Mitteilung Aufsehen; denn daß ich Klavier spielen könnte, geschweige denn eine Fuge von Bach, war eine erstaunliche Neuigkeit. Unschwer vermochte ich jedoch die Anwesenden von der liebenswürdigen Übertreibung meines Freundes zu überzeugen; die Unmöglichkeit leuchtete ein, und hiemit schien die Sache abgetan. Als aber Anna aufgefordert wurde, etwas vorzuspielen, öffnete sie den Flügel und meldete einfach: »Carl wird spielen.« Sie sagte richtig; denn, ob noch so ungern: wenn Anna es wollte, so spielte Carl. Nachdem ich mein bescheidenes Sätzlein mit Angst und Zagen beendet, wurde ich wie eine Art musikalischer Wunderbub angesprochen: »Schade«, rief mir Frau Pfarrer zu, »schade, daß Sie nicht früher angefangen haben; Sie wären ein ganz großer Klavierspieler geworden! Dazu ist es jetzt leider zu spät; hingegen ein tüchtiger Klavierspieler können Sie immer noch werden.« Und als ich meinen Widerwillen gegen Klavierunterricht aussprach, entgegnete sie mit schönem, geheimnisvollem Lächeln: »Es dürfte auch nicht der gewöhnliche Unterricht sein; wer weiß, vielleicht wüßte ich Ihnen Rat.« Und ließ durchblicken, sie selber, wenn die Gesundheit es ihr erlaube, wolle mir Klavierunterricht geben. Klavierunterricht von Frau Pfarrer in Person! Das wäre eine so hohe, seltene Auszeichnung gewesen, daß ich nicht zu glauben wagte, es handle sich um einen ernsthaften Vorsatz.
Aber schon am nächsten Tag schickte Frau Pfarrer ihre beiden Kinder aus, um mich zur ersten Klavierstunde zu holen. Sie trafen mich nicht zu Hause, sondern beim Schillingsrain auf dem Felde des Großvaters, neben einem Feuerlein und einer Kuh sitzend, die Ästhetik von Carrière in den Händen. Diese nicht gewöhnliche Situation wurde später von der Sage fröhlich ausgeschmückt: man hätte mich angetroffen, wie ich gleichzeitig Kühe hütete und eine Ästhetik dazu studierte. Ich und Kühe hüten! Der keine Ahnung hatte, was eine Kuh ungefähr frißt und wovor man eine Kuh zu hüten hat. Sondern die Kuh, neben welcher man mich sitzen sah, war eine sentimentale Kuh, und das Feuerlein ein aufgewärmtes: mit Erinnerungsglanz. Ich feierte nämlich den ersten Herbstferientag mit dem Versuch, die einstigen Herbstferienwonnen wieder zu kosten, die wir als kleine Büblein genossen hatten, als wir, von Bern kommend, zusahen, wie die Knechte des Großvaters die Kühe hüteten, und dabei Äpfel zu Kohlen verbrannten (was wir ›braten‹ hießen) und über das Feuerlein sprangen und uns dabei die Hosen verbrannten. Ein Versuch, der natürlich, wie alle Erlebnisaufwärmungen, kläglich mißlang. Und da mir der Versuch schon am Morgen mißlungen war, nahm ich am Nachmittag aus Vorsicht ein Buch gegen die Langeweile mit.
Mit den Klavierstunden dagegen hatte es seine Richtigkeit, und der ersten Stunde folgten im Verlauf von etwa zwei Jahren eine ansehnliche Anzahl anderer. Trotz beiderseitiger Mühe und Geduld kam jedoch nichts Erkleckliches dabei heraus. Ich war eben den Jahren entwachsen, wo man es erträgt, täglich stundenlang Fingerübungen zu machen; auch hatten meine Hände nicht mehr die kindliche Geschmeidigkeit, so daß wegen des ewig ausbleibenden Ergebnisses schließlich Entmutigung den Unterricht allmählich einschlafen ließ. Der vermeintliche Wunderknabe entpuppte sich als untermittelmäßig. Nur die bewundernswerte Langmut und Güte meiner verehrten Lehrerin konnte es überhaupt so lange mit dem Stümpernden aushalten.
Trotzdem bedeutete der Anfang dieser Klavierstunden ein Ereignis ersten Ranges für mein Jugendleben; trotzdem datiere ich von jenen zwei Septembertagen einen Umschwung meines Schicksals; trotzdem schreibe ich Eugenia den Dank dafür in mein Schuldbuch, daß ihre erste Unterweisung mittelbar die Aufmerksamkeit der Frau Pfarrer auf mein vermeintliches Talent richtete. Der Klavierunterricht im Pfarrhaus erschloß mir nämlich den täglichen Umgang mit Anna. Ob mir daraus dann Freud oder Leid erwuchs, ist Nebensache; selbst Leid ist als Glück zu buchen, wenn es aus erhöhter Seelenstimmung stammt. Und das eben stempelte das Datum des 22. September 1861, das mir den täglichen Verkehr mit Anna eröffnete, zu einem Ereignis ersten Ranges, daß von nun an während eines langen Winters jeder einzelne Tag hoch tönte, daß die Stunden einen reicheren Inhalt gewannen als früher die Wochen, daß ich in einem bewegteren Tempo unter innigeren Gefühlen lebte und litt, daß über die ganze Gegenwart Schicksalsatem wehte. Wichtig, ernst und geschlossen, wie die fortlaufenden Szenen einer Tragödie hebt sich aus meinen Jugendjahren der Winter 1861/62 dunkel ab. Auch ist das kleinste Vorkommnis jener Monate wie mit dem Ätzstift in mein Gedächtnis eingetragen.
Ich war mir auch gar wohl der Bedeutung des Ereignisses bewußt. Während ich weder früher noch später jemals ein Tagebuch schrieb, eröffnete ich eines für den Winter 1861 auf 1862, aus einem ähnlichen Trieb, wie etwa ein Evangelist bei seinem Eintritt in den Jüngerkreis den Wunsch verspürt haben mag, jeweilen alles niederzuschreiben, was Jesus täglich sagen oder tun würde. Und das Tagebuch begann ich mit dem 22. September, dem Tage, der mir den täglichen Umgang mit Anna erschloß.
Ehe ich weiter erzähle, will ich die zwei ersten Seiten des Tagebuches wörtlich mitteilen, woraus ein Einsichtiger wie aus einer Seelenphilosophie ablesen kann, wie der junge Mensch um diese Zeit inwendig beschaffen war, mit Herz und Phantasie und ›Philosophie‹ und Kinderei und Schulaufsatzstil. Ich will keine Zeile, kein Wort davon weglassen oder retuschieren.
Sonntag, 22. September 1861
»Verschiedene Phantasien überwältigten mich, die ich eine Kasuistik der Phantasie nennen möchte [die übrigen Menschen nennen das Poesie]: in der Kirche verfolgen mich diese Ideen wiederum [Anna: (meine) Gemahlin]. Dann spiele ich Klavier, lese Ästhetik und Andersen. Ein Spaziergang vor dem Essen nach der Steinenbrücke. Die (meine) Lehre von der Seelen Wanderung wird ein System.
Egoismus. Jede Liebe ist Egoismus. Haß schließt einfach Höheranerkennen der Person in sich, die wir hassen. Selbstmord ist unzulässig für jeden Starken.
Nach dem Essen wollte ich zeichnen gehen, Herr Völlmy (Zeichenlehrer) war nicht zu Hause. (Sonntagszeichenschule fürs Volk. Ich nahm an diesem Unterricht einzig deshalb teil, weil unter den Zeichenvorlagen sich ein ›Urteil Salomons‹ befand, in welchem Bilde eine weibliche Gestalt zufällig Ähnlichkeit mit Anna hatte.) Da setzte ich mich wieder ans Klavier. Während ich aber spielte, kam mein lieber Freund und holte mich ab, ins Pfarrhaus zu gehen. Gerne ging ich und fand alle dort (versammelt) mit Herrn Sonntag (aus Berlin). Frau Pfarrer litt an Brustkrämpfen, Fräulein Wimmer an Zahnschmerzen. Auch Anna war nicht wohl. Zu meinem Ärger mußte ich Bach spielen. Die Scharade war mir anfangs unlieb, da meine Anna nicht mitspielen wollte. Sie ließ sich aber nach der ersten Aufführung bewegen, mitzuspielen. Die Liebliche aß mit mir eine Traube und schaute mich an mit treuen, sanften Augen, als ob sie nie ein Herz verwunden, nie einen Menschen dem Unglück überlassen könnte. Da trat ich auch zum ersten Male in das Heiligtum ihres Zimmers ein. Efeu zeugte von dem Geschmacke, der aus einem fühlenden Gemüte entspringt. Alles war in Ordnung und geziert durch ihre Gegenwart. Auch die andern Mädchen waren mir heute so lieb. Warum sollte ich sie denn nicht lieb haben, da sie sich doch geäußert: »Wenn Anna nicht bei unserm Spiele ist, so geht alles nicht.« Doch die Armen! Sie dienten nur, um den Glanz der Königin noch mehr hervorzuheben. Sie selbst war freundlich und willigte sogar darein, mir (Egmont) als Klärchen zu erscheinen und den Kranz aufzudrücken. Beim Abendessen nahm sie wieder den Platz neben mir ein. Pepi auf der andern Seite war auch sehr liebreich, daß ich mir keine liebere Nachbarschaft je auf Erden wünschen könnte. Beim Abschiede küßte ich Anna die Hand, ganz gegen meine Grundsätze, doch nicht gegen mein Gemüt«.
(Am Rande dieser Zeilen versucht der Tagebuchschreiber die Erlebnisse dieses Tages in philosophische Rubriken unterzubringen. Neben den ersten Zeilen, die von den Romanphantasien, vom Klavierspielen, vom Andersenlesen handeln, schreibt er die zwei Worte »Phantasie« und »Gemüt«; hierauf, wenn er die Gedanken über Seelenwanderung und so weiter beim Steinenbrücklein berichtet, schreibt er daneben: »Geist« und »Wissenschaft«. Dem ganzen Nachmittag, von dem Augenblick an, wo ihn der Freund ins Pfarrhaus holt, gibt er am Rand das Kennzeichen »Gemüt«.)
Montag, 25. September 1861
»Das Gefühl der Ferien bekam ich erst dann recht, als ich mit Adolf (meinem Bruder) nach dem Bahnhof ging (der hatte, eine andere Schule besuchend, nicht Ferien). Er war erfreut, mich einmal gesprächig zu finden, da ich ihm von meinem (gestrigen) Besuch im Pfarrhaus erzählte. Ein Spaziergang nach dem Radacker (ein Feld des Großvaters, auf welchem jenen Tag Großvaters Knecht Felix die Kühe hütete) lehrte mich da zum ersten Male, daß es nicht vorteilhaft sei, in der freien Natur Philosophie zu treiben, da die Natur zu sehr Gemüt und Phantasie anregt und diese daher die Vernunft übertönen. Indem ich (zu Hause) Feuchtersleben wieder zur Hand nahm, fand ich zu meiner Freude, daß ich jetzt seiner Denkweise schon viel näher stand, daß ich ihn besser verstehe und daß ich mir auch eine bessere Übersicht erworben habe als früher. Dennoch spürte ich die gewaltige Leere in meinem Innern wieder aufs heftigste. Besonders mein Geist scheint mir klein, so beschränkt zu sein, daß ich an jedem Gehalte in mir verzweifelte. (Der Tagebuchschreiber wußte nicht, daß der Geist Pausen hat, daß man etwas tun muß, daß das müßige Zuschauen, wie der Felix die Kühe hütet, nicht gedankenfördernd wirkt.) Desto mehr beschloß ich von neuem, auf meinen Charakter die größte Sorgfalt zu verwenden, welchen Teil meines geistigen Prinzips ich als den vollendetsten betrachten darf (das Gemüt nicht zu berühren, welches ja vom Charakter geleitet wird). Dem Geiste (suchte ich mir vorzuspiegeln) kann ich vielleicht durch Willenskraft Geist schaffen, wie ich aus Liebe (zu Anna) das Zeichentalent in mir hervorgerufen habe. Geistesgröße und (-)Erhabenheit wird deshalb mein Ziel sein. Wie ich mir im Charakter, im Gemüt und in der Phantasie ebenfalls Größe, Adel und Hoheit schon lange vorgesetzt hatte. Ich erkannte also heute, daß es auch eine Hoheit im Denken oder, um den allgemein üblichen Ausdruck zu gebrauchen, eine Tiefe in den Gedanken gebe. Der (unfreundlichen) Witterung setzte ich mich entgegen durch Hervorrufen von Phantasie und Visionen.
Als ich nachmittags wieder die Kühe hüten ging (zusah, wie der Felix die Kühe hütete), nahm ich die Ästhetik (von Carrière) mit. Vieles blieb mir unverständlich, so lange ich auch darüber nachdenken mochte. Ich kam daher zu dem Schlusse, man müsse zuerst Bücher schnell lesen, um sich in den Geist derselben einzuarbeiten; dann müsse man sie noch einmal erwägend lesen, wie wir, wenn ein Musikstück zum Beispiel in A-Dur geendet hat, nicht gleich (ohne vorhergehende Pause, die uns die Gefühle und besonders die Töne verarbeiten läßt, die in unsern Ohren klingen) ein C-Dur hören können, ohne daß der Eindruck, den die ersten Takte machen sollen, darunter leidet.
Während ich beschäftigt war, meine Gedanken auf meine Ästhetik zu sammeln, wurde ich auf die angenehmste Weise überrascht durch meine Lieben, durch Anna und Pepi. Es ist schön und rührend anzusehen, wie die beiden Geschwister in mehr als geschwisterlicher Liebe zart und weich für einander fühlen. Diese Liebe war es, welche mich von Anfang an zu Pepi zog und mir bei all seinen Eigenheiten, die mir am Anfang so anstößig waren, da sie nicht wie jetzt durch Freundschaft gemildert, nein aufgehoben sind, ein Anhaltspunkt war, daß ich mich ihm anzuschließen bemüht war. Denn daß er ein Herz habe, und das ein zartes, bewies mir seine Aufmerksamkeit, Anhänglichkeit und Zärtlichkeit an seine Schwester. Als ich nun sah, daß er ein Herz habe, so kam es nur darauf an, auch mir dies Herz zu gewinnen. Und ich habe es, und werde es fest bewahren und nicht loslassen.
Sie brachten mir die Nachricht, die Frau Pfarrer wolle mir Klavierstunden geben. Dies kam mir ganz unerwartet. Denn obschon sie mich es hatte hoffen lassen (gestern), so stellte sie doch die Bedingung ihrer Gesundheit dazu, die ich nicht so früh erwarten konnte. Ich nahm also sofort die erste Stunde. Ich faßte gleich den Beschluß, mich der Frau Pfarrer insofern dankbar zu erweisen, daß ich ihr durch allen Fleiß, der mir bei Aufgaben und Erholung immer möglich wäre, etwas an ihrer Mühe ersparen könnte, und auch weil ich glaubte, daß ich das schon aus Hochachtung tun solle und werde. Pepi und Anna erschienen während der Stunde für einen Augenblick, verabschiedeten sich aber sogleich, um zu Onkel Tütchen (Herrn Sonntag) zu gehen. Ich muß gestehen, ich wurde betrübt durch diesen Abschied; ich bin so kindisch, daß ich sogar dem alten Onkel Tütchen die Gegenwart meiner Geliebten mißgönne. Dies Gefühl wurde gesteigert dadurch, daß mir schon der Heimgang vom Felde zum ›Falken‹ (Gasthof) etwas zu eintönig und kalt erschien; natürlich aber durch meine Schuld. Ich trug ein Körbchen von Anna und übergab es ihr beim Scheiden wieder, worauf sie in den Doppelsinn dieses Wortes einging.
Abends faßte ich den Entschluß, ein Tagebuch zu schreiben, weil ich jetzt hoffen durfte, meine Anna öfters wiederzusehen, damit ich nie vergesse, was je Bedeutendes geschehen sei (werde geschehen sein). Papa hielt mir einen Vortrag über die Rechte. Mein Entschluß, nicht unter die Soldaten zu gehen.«
(Auch dieser Text ist am Rande mit philosophisch rubrizierenden Titeln versehen. Wo ich mit meinem Bruder spreche, heißt es am Rande »Gemüt«, wo ich über Widmanns Verhältnis zu seiner Schwester rede, »Kritik«, und so weiter. Das Erscheinen der Geschwister, welche mich zur Klavierstunde abholen, erhält den Namen »Fatum«.)