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Wenn Widmann ins Zimmer trat

Ich unterscheide zweierlei Menschen: solche, die stets mit einer nüchternen Atmosphäre umgeben sind, so daß ihr Anblick wie Regenwetter verdrießt und verkältet, und solche, deren bloßer Eintritt schon wie Sonnenschein wirkt. Unter den letzteren gibt es wieder verschiedene Naturen, zurückhaltende, deren lieblicher Kern sich erst nach einigem Beisammensein in Blick und Worten offenbart, und urwüchsig demonstrative, die jederzeit sofort mit dem vollen Freundschaftsorchester einsetzen. Zu diesen gehörte Joseph Viktor Widmann, und zwar vorn in die erste Reihe an die Spitze. Nie habe ich einen Menschen gekannt, der so wie er gleich bei seinem Erscheinen rundumher Freude weckte und den Lebensmut erfrischte; nicht anders, als ob er ein heilsames Elixier mitgebracht hätte. Schon im Vorraum erhob er mit seiner herzlichen Stimme einen schallenden Freundschaftslärm; man horchte auf, hörte jemand das Dienstmädchen befragen und das ihn anbellende Hündchen zärtlich begrüßen. »Widmann ist da!« erscholl der Jubelruf, und alles sprang fröhlich von den Sitzen. Dann trat er mit lautem Glücklachen und Glückhusten ins Zimmer, unartikulierte Freudenrufe der Begrüßung stotternd, und brauchte ein Weilchen, um aus der freudigen Aufregung des Wiedersehens zu sich zu kommen. Hernach, auf die Erkundigung nach seinem Befinden, fing er meist an, kläglich zu seufzen: »Ach Gott, elend genug!« Doch kaum hatte er das gesagt, so kam schon unversehens ein Geistesblitz aus seinem Munde oder eine verbindliche Artigkeit, welche die Gemüter und Gesichter erhellten. Er mochte selber noch so seufzen, seine Nebenmenschen stimmte er fröhlich, und noch so niedergeschlagen sein, im traulichen Kreise vergaß er sich und seine Leiden, um nur mit den Anwesenden zu fühlen. Sah er ein Kind im Zimmer, so gehörte er zuallererst dem Kinde. Wenn er dann schied, so hatte man eine Stunde erhöhter Lebensgegenwart genossen; und niemand, wer er auch sein mochte, der nicht urteilte: »Widmann ist doch wirklich ein reizender, liebenswürdiger Mensch!« Er war aber noch mehr als ein reizender, liebenswürdiger Mensch, nämlich ein einzigartiger Mensch, der mit dem Zauber seiner persönlichen Gegenwart groß und klein gefangennahm und selbst den sich Sträubenden zur Sympathie zwang. Wenn ich mich nun frage, woher er diesen Zauber seiner Gegenwart bezog, so finde ich: aus einem Verein von vielen seltenen Eigenschaften und Tugenden.

Zunächst, wenn er kam oder wenn man zu ihm kam, war er immer ganz da, nicht zur Hälfte mit den Gedanken abwesend wie wir anderen Leute. Sein Dasein bedeutete mithin Gegenwart; Gegenwart aber ist eines der allerseltensten Güter der Erwachsenen; nur das Kind weiß sonst, was Gegenwart ist. Und weil er gegenwärtig war, so hatte er Augen und Ohren offen und konnte an allem, was vorkam oder was gesprochen wurde, und wäre es noch so unbedeutend gewesen, mit wachem Geiste teilnehmen. Es war schwer, Widmann zu langweilen; um das zu können, mußte man schon ein ganz ungewöhnlicher Greuel sein. Da aber die Unterhaltung der Menschen sich meistens mit unbedeutenden Dingen beschäftigt, so ist ein ausnehmend gescheiter Mann, der trotz seiner geistigen Überlegenheit selbst auf die unbedeutendsten Gespräche eingehen mochte, der nach den entferntesten Verwandten sich teilnahmsvoll erkundigte und mit den kleinsten Kindern spielte und tändelte, eine ebenso seltene wie herzgewinnende Erscheinung. Sodann war Widmann eine durch und durch gesellige Natur, ich meine, ihm war Gesellschaft Bedürfnis. Er taute auf, wenn er Menschen sah. Anspruch auf Geist machte er bei ihnen nicht, denn den Geist hatte er selber. Wenn nur etwas um ihn lebte; je einfacher, munterer und natürlicher, um so lieber. Kinder und Tiere waren ihm nötiger als hochgebildete Gespräche. Im Alter überwog dann die Bequemlichkeit, verbunden mit körperlichen Gebrechen (Schwerhörigkeit), über das Gesellschaftsbedürfnis; doch kann ich mir selbst den alten Widmann nicht gut ohne ein Hündchen und eine Schar Kinder und Großkinder vorstellen.

Seine Anschlußfähigkeit wurzelte übrigens nicht einzig in dem Gesellschaftsbedürfnis, er war zugleich ein Menschenfreund. Er hielt jeden Menschen, von dem er nicht das Gegenteil wußte, für gut und entdeckte in jedem Besucher wundersame, interessante Eigenschaften, genau wie einst seine Eltern. Für wie viele seiner Gäste hat er sich während seines Lebens begeistert! Weil er aber Menschenfreund war, so konnte er sich auch rasch nach allen Seiten anschließen. Darum zählte er mit der Zeit so viele Freunde und Bekannte allerorten. Aus demselben Grunde gelang es ihm auch kaum je, einen Menschen persönlich zu beleidigen, so aggressiv er mitunter in seinen Schriften sein konnte. Selbst mit seinen Erz- und Leibfeinden, den Pfaffen, ging er im Privatleben ganz gemütlich um. Während so manche Menschen eine wahre Sucht zu haben scheinen, dem Nebenmenschen Schnödigkeiten an den Kopf zu werfen oder ihn mit bissigen Bemerkungen zu kränken, hielt es Widmann gerade umgekehrt: er verspürte das Bedürfnis, einem etwas Verbindliches zu sagen. Hierin offenbarte sich sein österreichisches Geblüt.

Ferner – und hiemit komme ich auf einen Hauptpunkt: Widmann war gutherzig. Wo er auch war, wohin er reiste, er trug seine Herzenswärme mit sich, die nun, er mochte tun oder sagen, was er wollte, auf seine jeweilige Umgebung ausstrahlte und intensiv gespürt wurde. Kein Wunder, daß man ihn gern haben mußte. Von dieser Gutherzigkeit wissen zahllose jüngere Leute zu erzählen, denen er ohne besonderen Anlaß, ohne Anspruch auf Wiedervergeltung, aus rein natürlicher Helferfreude und Menschenliebe nach Kräften den Weg zu ebnen suchte. Und nicht nur gutherzig, auch großherzig war er. Nie ist ein Mensch ferner von Neid und Mißgunst geblieben; auch die Rache kannte er nicht. Einer mochte ihn noch so schwer beleidigt haben, nach einiger Zeit hatte er es vergessen; er war imstande, denselben Menschen, der ihn öffentlich verlästert hatte, gegen unbilliges Urteil in Schutz zu nehmen und, wenn es not tat, mit Geld zu unterstützen. Hier, wo ich von der Gutherzigkeit Widmanns spreche, darf ich nicht unterlassen, mitzuteilen, daß die Gutherzigkeit eine ererbte Eigenschaft war, die er mit seinen Eltern und seiner Schwester teilte. Sowohl sein Vater, der Pfarrer von Liestal, wie seine Mutter wetteiferten darin; wo man anderswo zischelt und lästert, da lächelte man im Pfarrhaus zu Liestal.

Endlich, ein zweiter Hauptpunkt: Widmanns Geist. Über die ganz eigentümliche Art seines Geistes sollte und wird wohl auch einmal eine besondere Abhandlung geschrieben werden. Es war ein scherzhafter Anmerkungsgeist, der im Gedankenspiel und auch im Wortspiel an der unerwartetsten Stelle anmutig hervorhüpfte und wie ein freundliches Sternchen leuchtend aufblitzte. Nie und nimmer ein gesuchter Witz, nie eine absichtliche Geistreichheit, nie eine schnoddrige selbstbewußte und selbstgefällige Stiltänzerei, wie so viele andere geistreiche Feuilletonisten sie sich erlauben; er konnte einfach nicht anders. Ob er im Krankenbett vor Schmerzen stöhnte, es entschlüpfte ihm zwischen dem Stöhnen sicherlich irgendeine geistvolle Bemerkung. Denn er war im Privatleben genau so geistreich wie in seinen Schriften. Das sprudelte und quoll nur so heraus. Und darum wirkte seine Gegenwart unter allen Umständen erfrischend, denn Geist bringt Glanz und Lächeln in die harte, nackte Welt. Und wie reich sprudelte der Quell, wie erquickend und köstlich! Oft zum Aufjubeln vor Vergnügen. Nur ein Beispiel für unzählige. Einmal hatte er eine Fidelio-Aufführung zu besprechen, bei welcher der Gefangenenchor greulich falsch gesungen hatte. »Nun«, bemerkte Widmann, »das läßt sich entschuldigen; die Gefangenen werden wohl in Einzelhaft gesessen haben.« Dem griesgrämigen, mißlaunischen Verruf des Wortspiels trotzte er. Wortspiele machten ihm Vergnügen; warum auch nicht? Die geistreichen Franzosen verschmähen ebenfalls nicht das Wortspiel. Man höre zum Beispiel folgendes Wortspiel Widmanns. Als Zola seinen letzten langweiligen Bandwurm herausgab, urteilte Widmann: »Er ist Zo-lala!« Oder dieses: »Es wird immer Leute geben, denen die nackte Monna Vanna ein Wonne-Manna ist.«

Und nun rechne man die genannten Eigenschaften zusammen und noch einige dazu, die ich nicht genannt habe, so wird auch der Fernstehende ahnend begreifen, warum man freudig aufjubelte, wenn Widmann ins Zimmer trat, denn Licht und Wärme brachte er mit; und auch das begreifen, daß nach seinem Tode eine wahre Explosion von trauernder Liebe im ganzen Schweizerlande erfolgte; eine allseitige Liebesdemonstration, wie sie wohl seit Menschengedenken über keinem anderen Grabe sich ereignet hat. Ewig Jammer und Schade, daß sie sich nicht zu seinem siebzigsten Geburtstage offenbaren konnte. Wohl wußte er ja, daß er hier und dort manch ergebenes Herz hatte, allein das waren stille, vereinzelte Huldigungen, und die einen wußten nichts von den andern. Erst nachträglich hat sich gezeigt, was weder er noch sonst jemand wissen konnte: daß es das ganze Volk gewesen ist, das ihn liebte.


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