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Ich war ein fünfzehnjähriger Schulbub, da wurde uns verkündet, wir dürften zusammen, mein Bruder und ich, in den Sommerferien unsere neue, junge, frisch aus Indien zurückgekehrte Tante auf acht Tage besuchen. Die Tante, hieß es, wohne in Winterthur, in der ›Zeder‹. Winterthur, wo ist denn das gleich? Irgendwo hinter Zürich. Ich glaube, im Kanton Thurgau. Oder dort herum. Zeder? Nun ja, Indien, Palmen, Zedern – das stimmte. Aber wieso Zedern in Winterthur? Konnte sie denn die aus Indien mitnehmen? Die Zeder war uns nicht ganz klar. Überhaupt war uns vorderhand vor der fremden hinzugeheirateten Tante ein bißchen bange. Musikalisch sollte sie sein und hochgebildet. Genial, aber doch freundlich. Kann man denn hochgebildet und doch freundlich sein? Nach unsern Lehrern zu schließen, nur sehr mäßig. Und genial, was ist das eigentlich? Jedenfalls etwas Unheimliches. Mit freundlichen Ermahnungen gestärkt (die Kleider ordentlich auf den Stuhl legen, den Schwamm aufhängen, einander helfen, den Scheitel gerade kämmen, und so weiter), machten wir uns auf die weite Reise. Wo Winterthur lag, das wußte zum Glück die Eisenbahn. Die Zeder aber enträtselte sich als ein ganz sittsames europäisches Wohnhaus, das nicht das mindeste Tropische an sich hatte. Mit Ausnahme des Salons im Hinterhause! Mit den Fenstern gegen die Anlagen. Der war wie aus einem Märchenpalast. Gewölbte Decke, rote Tapeten, wundersame Teppiche, Möbel, Nippsachen, und der ganze Raum von fabelhaften Wohlgerüchen durchduftet. Sogar das Holzwerk darin roch aromatisch. Hinter der Wand in einem Nebenhause geisterte es. Kirchner wohnte dort, und man hörte ihn zuweilen ein paar Akkorde auf dem Klavier anschlagen. Neben diesem märchenhaften Feenzimmer, hinter der andern Wand in einem schmalen, länglichen Gemach, waren wir einquartiert. Am nächsten Morgen, ehe ich aufgewacht war, quollen in meinen Schlummer himmlische Töne aus dem Märchenzimmer, so unaussprechlich schöne, daß mir ganz selig davon wurde. Es klang wie Engelsgesang. Ich hatte zwar auch schon Klavier spielen gehört. ›Les cloches du monastère‹, ›Le réveil du lion‹ und dergleichen. Sogar singen: die schauderhafte ›Gnadenarie‹ und den geschwollenen ›Wanderer‹ . Aber das war heute eine ganz neue Gattung von Musik und Klavierspiel, von der ich noch keine Ahnung hatte und die mir zu innerst ins Herz drang, so weich und so heilig, halb Harfe, halb Orgel. Als ich mich dann zum Frühstück meldete, erwies es sich, daß es die Tante war, die Klavier gespielt hatte. »Und was ist denn das für eine himmlische Musik gewesen, die du gespielt hast?« »Aha, gelt, der Bach gefällt dir auch, ich glaube wohl.« »Und wie hast du denn das gemacht, daß die Töne so wundervoll ineinander rauschten wie eine Harfe?« »Das habe ich nicht gemacht, das hat der Komponist gemacht, das liegt in den Noten.« Und zeigte mir die Noten. »Siehst du, das da.« Es war ein C-Moll-Stücklein aus den ›Etudes pour les commençants‹.
Von da an mußte sie mir Tag für Tag Bach spielen. Je mehr, je öfter, desto lieber. Ich wollte nichts anderes hören, nichts sehen als nur ewig im Feenzimmer den Bach genießen, und am liebsten immer die nämliche Nummer in C-Moll. Angebliche Vergnügungen, freundlich zu unserer Unterhaltung ersonnen, bedeuteten mir unwillkommene Unterbrechung. Einmal gab es ein Kinderfest, Knabenschießen oder so etwas, irgendwo in der Nähe, auf einer Wiese gegen Töß. Ein anderes Mal führte sie uns nach dem Rheinfall und nach Schaffhausen. Wir kamen zu spät an die Eisenbahn. Der Zug war schon im Gang. Da gönnte die Tante dem Stationsvorsteher ein Lächeln, und siehe da, wahrhaftig, der Zug stand wieder still, um uns aufzunehmen, worüber wir gewaltig erstaunten. Wir hatten bisher noch nicht gewußt, daß man einen fahrenden Eisenbahnzug mit einem Lächeln stillstellen könne. Am Rheinfall benahmen wir uns als echte, dumme Schulbuben, kreischend, wenn die Wellen ins Boot schlugen, was uns pädagogisch als ›gschämig‹ verwiesen wurde. Das alles nahm ich mit, weil ich mußte, wie eine Strafaufgabe, froh, wenn man wieder in die wonnige Zeder, zum Bach heimkehrte.
Da sagte die Tante eines Tages zu mir: »So spiele doch selber deinen Bach, wenn du solch eine Freude daran hast.« »Aber ich kann ja gar nicht Klavier spielen; ich kenne ja nicht einmal den Baßschlüssel, habe auch keine Idee, was die bösen gefährlichen schwarzen Tasten bedeuten.« Denn es beschränkte sich meine ganze bisherige Musikkunst auf Trommel und Gitarre. »Ach was«, sagte die Tante, »den einfältigen Baßschlüssel und die schwarzen Tasten lernst du in zwei Minuten.« »Aber ich habe doch nie im Leben Fingerübungen gemacht!« »Fingerübungen, das ist bloß für die gewöhnlichen Leute. Menschen wie unsereins brauchen so etwas nicht.« Menschen wie unsereins? Was war jetzt das für eine merkwürdige Sprache? Ich hatte bisher nichts anderes gewußt, als ich sei dumm, und nun redete plötzlich die Tante so, daß man fast hätte meinen können, sie rechne mich zu ihr und zu den ungewöhnlichen Menschen? »Unsereins!« Ich genas nicht vom Staunen.
Inzwischen legte sie mir eines meiner Lieblingsstücke vor, das winzige Adagio in D-Moll, buchstabierte mir den Baßschlüssel, manövrierte die Finger auf die richtigen Tasten. Unglaublich viele Finger auf einmal. Beide Hände voll. »So, jetzt brauchst du nur mit den Fingern zu drücken, das ist das ganze Kunststück.« Und wahrhaftig, es gelang. Nachher mußte ich ihr das nämliche Stück selbständig spielen und später noch ein zweites Stück. Damit ging der kurze achttägige Ferienaufenthalt zu Ende. Zum Abschied schob sie mir ein Büchlein in die Hand. »Dieses Büchlein«, bemerkte sie nachlässig, »kann dir vielleicht für deinen Ferienaufsatz ein paar Gedanken geben.« Dann reisten wir aus dem Ferienpalast, der Zeder, wieder heim in die Schulwüste.
So unbedeutend dieses erste Winterthurer Erlebnis sich anhört, so hatte es doch für meine ganze innere Entwicklung die wichtigsten und nachhaltigsten Folgen. Von dem Büchlein, das mir die Tante beim Abschied in die Hand nötigte, datiere ich mein geistiges Erwachen.
Ein Jahr vorher war ich noch Kadetten-Tambourmajor gewesen und hatte noch mit Bleisoldaten gespielt, ein Jahr später war ich ein ernster und ernst zu nehmender Denker, dessen Gedanken sich von meinen heutigen Gedanken nicht wesentlich unterschieden. Ich darf das Zauberbüchlein nennen, warum denn nicht: »Diätetik der Seele« von Feuchtersieben. Das Stücklein Bach wiederum, das sie mich gelehrt hatte, bewirkte ein zweites Wunder. Ich wurde in Liestal einmal von meinem Freund Widmann dabei überrascht, wie ich das Sätzlein für mich spielte. »Was«, schrie er, »das warst du, du spielst Klavier! Du, und dazu noch Bach!« Im Pfarrhaus machte er ein gewaltiges Geschrei: »Er spielt Klavier, er spielt Bach!« Ich mußte mein Kunststücklein zum besten geben und wurde daraufhin als musikalischer Wunderbub begrüßt. Der musikalische Wunderbub entpuppte sich zwar in der Folge als ein elender Klavierstümper, allein jener Tag erschloß mir den täglichen traulichen Verkehr mit der Familie Widmann, der für mich von der allerhöchsten Bedeutung werden sollte. Das verrät schon der Name, den ich dem Pfarrhaus Widmann gab: »Das Paradies auf Erden.« Also auch das verdankte ich der Tante. Und noch mehr. Das Bewußtsein, von einer hochstehenden Frau ausgezeichnet und bevorzugt zu werden, gab mir ein Stücklein Glück und Trost und Halt in meinen Kämpfen mit den Lehrern. Wenn die Lehrer wieder keiften, zuckte ich fortan überlegen lächelnd die Achseln. »Scheltet, so viel ihr wollt; wenn meine liebliche indische Fee herbeigeschwebt käme, so würde sie euch sämtlich stehenlassen mit all eurer Weisheit und sich zu mir wenden.« Ich hatte also künftig gegenüber meinen bedenklichen Schulzeugnissen ein holdes weibliches Oberurteil. Und der Frauen Gesetzbuch, Gott sei Dank, ist nicht die lateinische Grammatik. Angenommen, es wäre jenem ersten Besuch kein zweiter nachgefolgt, so würde doch schon wegen dieses einzigen meine Tante einen Namen verdient haben, den ich ihr in der Folge erteilte: »Eugenia«, das heißt: mein guter Genius. Es sollte aber noch besser, ich meine, noch höher kommen.
Zwei Jahre später wurde dem nunmehr Siebzehnjährigen ein zweiter Besuch in Winterthur erlaubt. Und diesmal war ich allein, denn mein Bruder hatte seine besondere Ferienverlustigung am Frankfurter Schützenfeste. Diesmal war der Oasen-Charakter von Winterthur noch deutlicher ausgesprochen als früher, das heißt gegensätzlicher; denn in der Heimat stand es nicht mehr gut für mich. Mein Freund Widmann war verreist nach Heidelberg auf die Universität, und ich hatte niemand außer meiner lieben Mutter und etwa noch meinem Bruder, der mich nicht als verfehlt, verschupft und mißraten betrachtet hätte. Dagegen im fernen Winterthur, bei meiner Tante, da stand es anders. Durch brieflichen Verkehr und ihre gelegentlichen flüchtigen Besuche in Liestal waren wir einander nähergekommen. Wir hatten ein Freundschaftsbündnis geschlossen auf Eins und Unsereins, und der Beständigkeit dieser Freundschaft, der ganzen Welt zum Trotz, war ich sicher. Ich reiste daher diesmal nach Winterthur mit den Seufzern der Erlösung und freudiger, jubelnder Erwartung. Freilich, im letzten Augenblick begann ich von neuem zu zagen. Es kam mir trotz allen Beweisen so unglaublich, beinahe unnatürlich vor, daß mich bescholtenen Schulbuben jemand ein bißchen gern haben und wertschätzen könnte, zumal eine so gefeierte Frau, deren Name bei uns daheim mit flüsternder Ehrerbietung ausgesprochen wurde, fast wie der Name eines höheren Wesens. Auch die neue unbekannte Wohnung beunruhigte mich ein wenig. Die Tante wohnte nämlich nicht mehr in der gebenedeiten Zeder, sondern in der ›Pflanzschule‹. Pflanzschule? Was ist jetzt das aber für eine Botanik? Offenbar eine Stadtgärtnerei. Folglich stellte ich mir das Haus umringt von zwerghaften Tannenwäldchen und unabsehbar weiten Gemüsefeldern vor. Sonderbarer Einfall: ein Gewächshaus zum Wohnort zu wählen; das kann doch nicht behaglich sein in den schmalen, feuchten Gängen zwischen aufgetürmten Blumentöpfen. Ist denn überhaupt Platz dazwischen für Tische, Betten und Klavier? Und den ganzen Tag die Gärtnerjungen mit den Gießkannen! Vermutlich Verwandtschaftsgründe oder so was.
In Winterthur angekommen, ließ ich mir Straße und ungefähre Lage der Pflanzschule erklären, aber nirgends konnte ich die Tannenwäldchen und Kohlfelder erblicken. In einem Garten sprangen zwei lustige Kinder umher, und aus dem Hause hinter dem Garten tönte von ferne eine wunderschöne Musik, der ich ergriffen lauschte. Nachdem die Musik verklungen war, fragte ich die Kinder um den Weg nach der Pflanzschule, und siehe da, wahrhaftig, das eben war die Pflanzschule. Ohne jede Botanik, ohne Gärtnerburschen, ohne Gießkannen, und die Musik kam von der Tante. »Oh, was für ein wunderbares Musikstück hast du soeben gespielt?« »Eine Sonate von Beethoven.« »Oh, zeig, zeig, bitte, bitte, spiel mir sie.« Es war die F-Dur-Sonate, jene mit dem fugierten Presto im letzten Satz.
So fing die schöne goldene Zeit gleich hoch oben an und dauerte all die seligen zwei Wochen, wie in den obersten Räumen der Seele. Ich brachte nämlich einige Eigenschaften mit, welche die Stimmung hoch über das Leben des Alltags hoben; neben Jugendfrühling und überquellender Gesundheit ein Herz voll Schönheitsdurst, Reinheit der Gedanken bis in die entlegensten Winkel und den sehnsüchtigen Willen, einmal etwas Großes zu leisten. Den Segen darüber sprachen die Beethovenschen Sonaten. Sie waren mir neu und wurden mir eine Offenbarung. Der Einfluß dieser Offenbarung auf meine spätere Entwicklung kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Alles, was ich auf dem Gebiete der Kunst in der Folge wurde und was ich heute bin, habe ich von damals. In jenen Tagen lernte ich vor der Kunst die Demut, die Ehrerbietung, die Entsagung fühlen. In jenen Tagen wurde ich für immer vor Pfuscherei, vor Geniefaxen, vor den Anfechtungen der Mode und der Weisheit gefeit. Wenn einer meine Biographie schreiben will, so muß er der Pflanzschule ein besonders großes und leuchtendes Kapitel widmen und als Titel darüber setzen: »Der Künstler«. Denn ich war ein innerlich fertiger Künstler, längst ehe ich ein Dichter wurde. Und dazu das Freundschaftsglück, die seelische und herzliche Übereinstimmung, das hochfliegende und reine Eins und Unsereins, das Dolce far niente mit Musikbegleitung in einem nämlichen Märchenheim wie einst in der Zeder. Denn die wundersamen Teppiche und Nippsachen, die indischen Wohlgerüche waren ja in die Pflanzschule hinübergewandert, und die Hauptsache, die Tante, ebenfalls. Wie hatte ich mich zwei böse unendliche Jahre lang nach ihr gesehnt. Und jetzt, als die Erfüllung gekommen, wollte ich sie auch genießen, und zwar allein. Ich begehrte nichts außer ihr und duldete niemand außer ihr. Und das Tausendwunderheim ihres indischen Salons erschien mir als der einzige richtige Rahmen ihrer Gegenwart. Aus diesem Raum war ich gar nicht wegzubringen.
In Winterthur gab es Straßen und Häuser. Von denen nahm ich gar keine Notiz. Höchstens die Musikalienhandlung und der Zuckerbäcker, bei welchem ich einmal für die Kinder Zeitli kaufte. Eine unglaubliche Menge von Verwandten wohnte in der Stadt. Viel zu viel nach meiner Meinung. Die lehnte ich alle ab. Ihre liebenswürdigen Freundlichkeiten, ihre Einladungen waren Wasser über eine Ente. »Meine Schwester! Willst du gegen meine Schwester unfreundlich sein?« Ich erstaunte, ich begriff nicht. Ihre eigene Mutter, ihre Kinder, die im nämlichen Hause, sogar in den nämlichen Zimmern wohnten, empfand und behandelte ich als lästige Zugabe, Besuche als unerträglichen feindlichen Einbruch.
Leider gab es um Winterthur auch eine sogenannte Natur. Und die Tante, die außer an die Kunst auch an die Natur glaubte, hielt es für ihre Pflicht, mir die Natur von Winterthur vorzustellen. Das gab jedesmal ein Ächzen, Stöhnen und mühsames Unterhandeln, bis sie mich aus dem wonnigen Musikzimmer heraus hatte ins Freie, das heißt in die nüchterne Wirklichkeit. Laß sehen, wo hat sie mich alles hingeschleppt. Einmal zu einem fernen Forsthaus, hoch oben auf einem waldigen Berggipfel. Dort habe man eine weite Aussicht. Bis zum Säntis! Als ob der etwas Sehenswertes wäre! Der Säntis! Einzig die Tante war für mich sehenswert. Dann zur Kyburg, in der Meinung, mir das Schloß zu zeigen. Das Schloß anzusehen weigerte ich mich. Ich begnügte mich mit dem grünen Wald darunter. Ein anderes Mal fuhr man im Wagen über ein abenteuerliches Städtchen Elgg nach einem weltentlegenen Nestchen namens Aadorf, zu einem Pfarrer. Und siehe da, unterwegs kam wiederum der Säntis. Ferner erinnere ich mich eines großen Teiches oder Weihers, neben dem wir auf einem Rundgang aus einem Wald heimkehrten. Irgendwo gab es eine sogenannte Schlangenmühle und natürlich immer von neuem das unvermeidliche Töß. Ich weiß nicht, stimmt es zur Geographie, aber wenigstens nach meiner Erfahrung kommt der Mensch, nach welcher Richtung er auch aus Winterthur auszieht, auf dem Rückweg unfehlbar nach Töß. Einem Ausflug indessen sah ich mit freudiger Spannung entgegen, nach Pfungen. Dort wohnte eine ägyptische Schwägerin, von welcher die Tante behauptete, sie spiele noch besser Klavier als sie selber. Die Abencerragen-Ouvertüre von Cherubini wurde mitgenommen, und da ich in meinem Leben noch keine Note von Cherubini gehört hatte, war ich aufs äußerste gespannt, wie der klinge. Einleitung und Thema enttäuschten mich, hingegen die Moll-Kantilene des Allegro weckte meine inbrünstige Bewunderung, wie ich denn noch heute die Moll-Kantilenen in den Cherubinischen Ouvertüren zu den beglückendsten Offenbarungen der Musik zähle. Außerdem spielte mir die ägyptische Schwägerin einige Takte aus dem letzten Satz der As-Dur-Sonate, jener mit den Variationen im ersten Satz. Dafür habe ich der längst Verstorbenen einen treuen Dank bewahrt. Besser gefiel mirs, wenn man sich einfach im nächsten Walde niederließ. Dann zeichnete ich entweder etwas oder las der Tante aus ihren Lieblingsgedichtbüchern vor, von ihrem Lehrer Mörike, von Geibel, von Goethe. Allein das war mir Nebensache. Ich hatte zur Poesie kein inneres Verhältnis.
Eines Tages fragte sie mich, ob ich nicht statt ihrer eine Harmonie-Unterrichtsstunde nehmen wolle, sie wäre nicht aufgelegt und möchte doch dem Lehrer nicht absagen. Also bekam ich eine Harmonielehrstunde, die einzige meines Lebens. Ah, wie ich dem Lehrer andächtig lauschte. Ja, wenn man solchen Unterricht in der Schule bekäme statt des abscheulichen Cicero! Diesem Lehrer war ich ergeben. Ich wollte seine unscheinbare Person sogar zum Thema meines Ferienaufsatzes wählen. Lorenz hieß das Männlein. Und ›Der Stubengelehrte‹ sollte der begeisterte Aufsatz heißen. Doch die Tante konnte sich nicht mit diesem Aufsatzthema befreunden, so daß es unterblieb.
Es waren Wochen des höchsten wolkenlosen Seelenglückes. Zweimal in meinem Leben bin ich wochenlang wunschlos selig gewesen. Das erste Mal als zweijähriges Kind in Waldenburg, das andere Mal als Siebzehnjähriger in der Pflanzschule. Und das Geheimnis solchen Glückes? Einander Tag für Tag von Morgen bis Abend gegenwärtig sein und stündlich gern haben!
Zum Abschied beschwor sie mich, daheim geduldig auszuhalten und keine Katastrophen anzustiften. Der Ermahnung gehorchte ich, so gut es ging, weil sie von ihr kam. Aber schwer wars, denn die Jugend tut weh und die Geburt unförmlich großer Geisteskinder noch weher, namentlich wenn statt eines Geburtshelfers Kindleinfresser am Wochenbett doktern.
Und noch einmal, im Jahre darauf, in den Herbstferien bekam ich die Pflanzschule zu kosten. Ich war unterdessen aus Gnaden und Barmherzigkeit, mit Mühe und Not, auf die Universität gerutscht. »Nicht ganz unwürdig«, lautete mein Abgangszeugnis. Wenn man meinen Lehrern, wenn man mir damals gesagt hätte, ich würde einmal Ehrendoktor werden! Und noch etwas viel Wichtigeres war inzwischen geschehen; ich hatte meinen Lebensberuf gewählt, nicht den äußern, den Juristenberuf, der ging mich nichts an, sondern den innern. Ich hatte mich im Oktober des vorigen Jahres, also bald nach meinem Besuch in der Pflanzschule, der Dichtkunst verschworen oder vielmehr dem, was ich für Dichtkunst hielt. Warum gerade der einzigen Kunst, zu der ich kein Verhältnis hatte und von der ich nicht das mindeste verstand? Das kann ich Ihnen natürlich nicht so beiläufig mit wenigen Worten erklären. Kurz, ich kam diesmal als vermeintlicher Dichter in die Pflanzschule. Aber diesmal nicht allein, sondern in Begleitung meines Freundes Widmann, der auf dem Wege zu Pfarrer Vögelin in Uster einen Abstecher nach Winterthur mit mir machte. Kaum angekommen, fing ich an, das zu tun, was ich dichten nannte. Keine Verse, nicht einmal Sprache. Derselbe frühreife Bursch, der mit sechzehn Jahren als Maler und musikalischer Wunderbub entdeckt worden war, brauchte nachher elf Jahre dazu, um nur zu begreifen, daß man zum Dichten der Worte bedürfe, und mehr als zwanzig Jahre, bis er die ersten reimlosen Verse zu schreiben wagte.
Hinter der Pflanzschule, in den Reben, war ein Gartenhäuschen. Dort drinnen stellte ich mich alle Tage auf und las stundenlang an den kahlen Wänden Visionen ab. Zu dieser Art Dichtung schüttelte die Tante bedenklich den Kopf, und ihr Glaube an meine künftige Bedeutung begann zu wanken. Leicht begreiflich, denn das Klarste, was einstweilen bei meinem Dichten herausschaute, war, daß ich immer unausstehlicher wurde. Ein Beispiel: die Tante nötigte mich eines Abends in ein Gastmahl neben eine stadtbekannte schöne Frau, mit dem Auftrag, mich pflichtschuldigst in sie zu verlieben. Warum nicht gar! Mich verlieben! Ich verliebte mich damals nicht so leicht, denn ich war spröd, eigensinnig und treu wie ein Mädchen. Kein Wort sprach ich mit der schönen Winterthurerin und sie kein Wort mit mir; wir glotzten einander feindselig an wie zwei Porzellanhunde.
Dagegen mit Widmann und seinem Dichten verstand sich jetzt die Tante besser. Der bekundete in seiner gemütvollen Art sofort eine unbändige Freude an den reizenden Kindern; sie waren auch wirklich reizend, wenn man sie bemerkte. Er sprach ehrerbietig mit der hochgebildeten feinsinnigen Mutter der Tante und wußte auch etwas Gescheites zu sprechen. Er brachte seinen unvergleichlichen Geist und Witz mit. Er verstand, was wenige Menschen verstehen und ich damals am allerwenigsten, in der gegenwärtigen Stunde ganz aufzugehen. Er interessierte sich für alles und ging freudig auf jeden Vorschlag ein, sogar nach Töß! Kurz, er übte, ohne es zu wollen, den Zauber aus, der ihm innewohnte und der ihm alle Menschen gewann. Überdies schüttelte er geistreiche Gedichte zum Preise des Hauses und der liebenswürdigen Gastgeberin aus dem Ärmel, echte Gedichte in Sprache, Versen und Reimen, die man sehen und lesen und hören konnte. Und noch ein wichtiger, vielleicht entscheidender Umstand: Ihm ging ein wenig Ruhm voraus, und er brachte eine literarische Leistung mit: das Manuskript zu dem Märchenepos »Der geraubte Schleier«, das bald darauf durch die Vermittlung der Tante gedruckt und verlegt werden sollte, ich glaube, beim »Landboten«. Kein Wunder, daß er dringend gebeten wurde, aus Uster zurückzukehren, und daß er die Einladung begeistert annahm, denn auch er stand seit der ersten Minute im Banne der Pflanzschule. Wie er dann wiederkehrte, geriet in einem herrlichen Dreibund eine wahre Orgie der Freundschaft. Meine beiden teuersten Menschen gleichzeitig gegenwärtig und mit mir vereint, was konnte mir Lieberes geschehen? Sogar ein Vierbund, denn mein Bruder wohnte ja jetzt in Winterthur, als Anfänger in einem großen Kaufmannshause angestellt. Und der half in den Abendstunden nach Geschäftsschluß lebhaft mit. Die Grundstimmung war jauchzende Fröhlichkeit. Einmal stiftete ich zu Ehren der Mozartschen G-Moll-Symphonie, die mirs neuestens angetan hatte, eine Hausandacht. Eine Art Abtei wurde errichtet und am hellen Tage Weihkerzen angezündet. Ein anderes Mal schrieben Widmann und ich einander Briefe mit eigenhändig illustrierten Adressen, die uns dann von dem gestrengen, mürrischen eidgenössischen Postamt mit entrüsteter Verwarnung zugestellt wurden.
In ernsteren Stunden sang Widmann mit seiner wohllautenden Stimme die Stradella-Arie: »Se i miei sospiri.« Oder wir spielten vierhändig Klavier, bald er, bald ich mit der Tante oder ich mit ihm. Als die Tante eines Nachmittags auf Besuch sich entfernen mußte, erhielten wir von ihr eine gemeinschaftliche Aufgabe: »Dichtet unterdessen etwas Schönes.« Und wir dichteten aus Leibeskräften, er auf dem Papier, ich an den Wänden herum. Als sie zurückkam, überreichte ihr mein Freund ein reizendes Gedichtchen. »Und du, Carl?« Nichts! Ich meinte im reinsten Überglück zu schwimmen, noch schöner als im vorigen Jahre. Allein ich täuschte mich. Nicht etwa ein Schatten von Eifersucht, bewahre, dafür war unsere Freundschaft viel zu hoch und zu groß. Aber ich hatte den Wurm des Unfriedens in mir, den Schaffenskummer, da ich leidenschaftlich etwas wollte, was ich nicht konnte, nämlich das Dichten. Mein Frohsinn tanzte auf schwarzem Grunde, und wenn ich übermütig jauchzte, so geschah es, um nicht zu verzweifeln.
Mein Freund reiste etwas früher ab als ich, nach Heidelberg über Stuttgart. Ich erhielt von der Tante den Auftrag, ihn bis Konstanz zu begleiten, mit der Aufmunterung, auf dem Rückweg zu Fuß über den Berg nach Weinfelden zu wandern, wo – wie sie sagte – sehenswerte Verwandte wohnten. Der Berg sei nicht hoch, tröstete sie, durchaus unschädlich. Das geschah denn. In Konstanz gab es nichts Bemerkenswertes. Das Konzil, das wußten wir, war ja längst vorbei, und Konstanz ohne Konzil …! Mein Freund bestieg ein Schiff, und ich schaute, neben dem Leuchtturm stehend, ihm unverwandt nach, und wir winkten einander zu, so lange man sich sehen konnte, bewegt und ernst, mit den Gedanken ratend, was wohl das künftige Jahr uns bringen würde, ob Gutes oder Böses. Am folgenden Tage machte ich mich zu Fuß nach Weinfelden auf. Die bequeme Wanderung von Konstanz über den unverhofft niedrigen Berg, auf der herbstlich umnebelten Landstraße, im einsamen Tannenwalde, ja, so eine Natur mundete mir, die ließ ich mir gefallen. Dabei gab es viel zu ahnen und zu fühlen. In Weinfelden erspähte ich die sehenswerten Verwandten weit abseits in den Reben, in einem einzelnstehenden Hause, halb Schloß, halb Bauernhaus, ich weiß es nicht mehr genau. Ein junger, starker, stattlicher Mann waltete darin, halb Junker, halb Bauer, der mich fortwährend mit klugen Augen stumm betrachtete. Das Sehenswerteste schien mir seine Schwester. Mit dieser lebte ich sofort in menschenfreundschaftlichem Einverständnis. Wir spielten zusammen die D-Dur-Symphonie von Haydn, jene, die alle Leute, die sie hören, inwendig gutartig macht, obschon mans von außen nicht immer merkt.
Im folgenden Jahr, wo ich mich überhaupt mit Weltverbesserungen beschäftigte, wußte ich ein unfehlbares Mittel, alle bösen Menschen urplötzlich in gute zu verwandeln: mit einem Orchester die Dörfer durchziehen und dem Volke die Haydnschen Symphonien vorspielen, vor allem die D-Dur- und die andere D-Dur-, die Jagdsymphonie!
Nur ein paar Stunden war ich in Weinfelden, aber die D-Dur-Symphonie, mir noch neu, grüßte wie Sonnenschein die wenigen Stunden. In den letzten Tagen, ehe ich heimreiste nach Liestal, schenkte mir das Schicksal noch etwas Köstliches. An Stelle Kirchners war ein neuer Musikmeister angelangt. Die Tante, die ihren Kirchner nicht verschmerzen konnte, brachte es nicht über sich, den Ersatzmann anzuhören, und übergab mir ihr Konzertbillett. Ah, was ich da zum ersten Mal hörte! Den letzten Satz der Waldstein-Sonate. Und wie er den spielte! Der ersten Episode, der mit den Triolen, gab er ausgesprochenen dämonischen Charakter. Selten habe ich später wieder so meisterhaft Beethoven spielen gehört. Götz hieß der Meister. Unter uns gesagt, gibt es überhaupt auf Erden etwas Beseligenderes als den letzten Satz der Waldstein-Sonate?
Im folgenden Winter bereitete mir meine Tante noch ein Nachspiel. Sie war am Neujahr zu unsern Verwandten nach Basel gekommen, blieb ein paar Wochen dort, und jeden Abend spät in finsterer Nacht, ehe ich von der Universität nach Liestal heimreiste, ging ich sie ein paar Minuten besuchen. Dann spielte sie mir den ersten Satz der E-Moll-Sonate opus 90. Der klang in meinem Herzen wehmütig und tragisch, wie ein Abschiedsgruß und eine Todesahnung. Denn ich witterte schon eine schwere Krankheit heranschleichen, die mich im folgenden Monat ergreifen sollte, die einzige schwere Krankheit meines Lebens, die Kinderseuchen abgerechnet. Und als ich im Sommer vollends genesen war, fand ich meine beiden liebsten Freunde, Widmann und die Tante, durch eheliches Verlöbnis auf ewig verbunden.
Goldene Ausnahmstage und -wochen im vergänglichen Leben, von allen guten Geistern gesegnet, von Lebenssonne durchglänzt und durchwärmt wie jene waren, von denen ich Ihnen soeben erzählte, lassen sich nicht in nüchterner Rede überzeugend vermitteln; um ihrem Schönheitsgehalt gerecht zu werden, müßte man sich der Poesie bedienen. In der Tat habe ich mich mein ganzes Leben lang mit dem Gedanken getragen, sie mittelst poetischer Verklärung festzuhalten. Während mehr als vierzig Jahren habe ich immer und immer wieder von neuem eine Dichtung mit Eugenia als Hauptperson von ganzem Herzen gewollt und mit allem Ernste angegriffen. In jenen Spätsommertagen des Jahres 1869, wo sichs entschied, wohnten, in besonderer Schrift in meinen Notizen aufgezeichnet, zwei Pläne halbfertig ausgedacht nebeneinander. Erstens ein Gleichnis »Prometheus und Epimetheus«. Zweitens ein Epos »Johannes« oder, das nämliche mit anderem Titel, »Eugenia«. Ich schwankte, welchen der beiden Pläne ich zunächst ausführen wollte. Einzelne Gesänge, nicht die besten, sind auch später versucht, geschrieben und gedruckt worden. Noch vor sechs Jahren, nach Vollendung des »Olympischen Frühlings«, hoffte ich von neuem, daß mir die Dichtung »Eugenia« gelingen möge. Es hat nicht sein sollen; es hat sich nicht gefügt, und zwingen kann mans bekanntlich mit Gewalt nicht. Schade darum, es wäre das liebenswürdigste meiner Werke geworden.
Aber meinen Dank und meine Pietät für die leibhaftige Eugenia still und stumm in meinem Herzen zu verbergen und mit mir ins Grab zu nehmen, einen solchen Gedanken konnte ich nicht ertragen. Wohl sind ja gute Kinder und Kindeskinder da, die wissen, wen sie besaßen und wie viel sie verloren, und die der Dahingeschiedenen die heilige Trauer unvergessender Liebe pietätvoll bewahren. Allein wenn auch noch so viele Kränze einen Sarg bedecken, so will man dennoch seinen eigenen bescheidenen beisteuern, und wenn man die Nächsten vorn im Geleite trauern sieht, so ist es einem unverwehrt, sich hinten im Zuge andächtig anzuschließen. Und so habe ich mir denn gesagt: in der Heimatstadt einer Frau, die zweien Schweizerdichtern den guten Genius bedeutete, dem einen Trost und Erweckung, dem andern sein Lebensglück, in der Heimatstadt darf ich von dieser Frau reden. Häusliches von Privatpersonen öffentlich erzählen, wäre eine Indiskretion; aber wer sich, sei es auf einem Umwege, Verdienste erworben hat, denen die Heimat Dank schuldet, ist keine Privatperson. Ihre Tugenden und Vorzüge, ihre Gestalt, ihr Wandel gehören ans Tageslicht, damit sämtliche ihr huldigen und danken, alle sie lieben können. Liebe aber begehrt ja auch die intimen Einzelzüge.
Möchte es mir gelungen sein, trotz der Unzulänglichkeit meiner Worte, Ihnen von dem Schönheitsglanz jener begnadeten Tage einen Schimmer, von meinen Dankgefühlen einen Hauch mitzubringen. Dann wird vielleicht dieser und jener von Ihnen, wenn er künftig an der Zeder oder der Pflanzschule vorübergeht, zu sich selber sprechen: »Hier wohnte Eugenia«, und ihrem Andenken einen stillen Gruß der Freundschaft zollen. Das wird eine echtere, weil innigere Huldigung sein als eine Gedenktafel.