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Ich hatte mich oft gefragt, auf welchem Wege es Böcklin wohl möge gelungen sein, der bei uns so mächtigen Verführung zur ›patriotischen‹ Malerei zu entrinnen, welche Art von Seelenwanderung ihn zur griechischen Mythologie führte und welcherlei Kraft ihn dauernd an diese fesselte. Durch einen Aufsatz in der Neuen Zürcher Zeitung von Albert Fleiner, der mir neulich zufällig wieder in die Hände kam, scheint mir das Rätsel gelöst: Böcklin stand zeitlebens unter der Nachwirkung des Basler Gymnasiums, und das wohl deshalb, weil der Einfluß der humanistischen Bildung einsetzte, ehe seine Seele noch von der malerischen Phantasie gänzlich gefangengenommen war, mithin die Humanistik freies Feld vorfand.
Das Basler Gymnasium aber ist oder war wenigstens (den gegenwärtigen Zustand kenne ich nicht) etwas wesentlich anderes als – vorausgesetzt, daß man den jetzt so häufigen Schilderungen glauben darf – die meisten deutschen Gymnasien. Die klassischen Sprachen wurden da nicht so stramm, so peinlich einexerziert, es gab wohl viel Schelten und auch Drohungen, aber keine Strafen, es herrschte ein familiärer, gutartiger Geist, was freilich nicht ausschließt, daß einem auch dort ein gründlicher Haß gegen den toten Grammatikkram kommen konnte. Das Ergebnis an sachlichem und grammatischem Wissen war denn auch, wie ich von Professoren behaupten hörte, durchschnittlich weniger glänzend als in Deutschland; aber jener Zustand zeitigte unter günstigen Bedingungen andersartige, nicht examinierbare Ergebnisse, Ergebnisse für das Leben. Nämlich das Studium der klassischen Sprachen gehört zu den ererbten Heiligtümern Basels; humanistische Pietät weht in der Stadtluft; die gesamte Bürgerschaft, samt Bankiers und Seidenhändlern, nimmt warmen Anteil daran; lateinische Vokabeln laufen im Dialekt mitunter, sogar im Mund der Damen; steinreiche Herren aus den ältesten, angesehensten Familien setzen ihren Ehrgeiz darein, der geliebten, verehrten Universität irgendwie anzugehören, sei es als ordentliche Professoren, sei es als beiläufige Dozenten oder gar als Ehrendoktoren; humanistischer Dilettantismus ist oder war häufig, und jeder Millionär ist stolz darauf, wenn er seinem Buben einen lateinischen Schnitzer zu korrigieren vermag. Diese Popularität der klassischen Studien spielt nun in den Schulunterricht hinein, die Wirkung gewaltig verstärkend! Es entwickelt sich da eine eigentümliche Atmosphäre, die zwar, zufolge der Ausschließlichkeit Basels, etwas Muffiges hat, aber auch bedeutende Wärme entwickelt: Nestwärme, Brutwärme. Was für eine außerordentliche Kraft dieser Atmosphäre innewohnt, zeigt das Beispiel Jacob Burckhardts, eines echten Baslers bis in die Fingerspitzen. Jacob Burckhardts Ideal ist nicht sowohl das Altertum selbst als das Studium des Altertums. Die ›Quellen‹ haben für ihn etwas Heiliges, ja sogar, wenn sie in der Ursprache gelesen werden, etwas ›Magisches‹, wie er selbst sich auszudrücken liebte. Der Philologie bringt er eine unbegrenzte Ehrfurcht, ich möchte fast sagen demütige Unterwürfigkeit entgegen, so daß der unbedeutendste Gelehrte die tiefgefühlte Hochachtung des bedeutenden Mannes erhalten konnte; er beneidet die Philologen um ihre Fachkenntnisse, und ich bezweifle, ob ihm irgendeine eigene Geistestat so große Befriedigung gewährte wie die Fähigkeit, gelegentlich bei einer Textkritik oder bei der Auslegung einer Stelle miturteilen und Recht behalten zu können. Von alledem gibt ja auch seine Griechische Kulturgeschichte Zeugnis. Wie er da trotz einem Philologen exzerpiert, sammelt, nie genug sammeln kann, wie er den Schatz hütet und benützt, wie er in griechischen Ausdrücken schwelgt, ja sich ordentlich darin berauscht, wie er glücklich ist, wenn es ihm gelingt, statt der üblichen deutschen Übersetzung eines Begriffs die alte griechisch lautende Fassung wiederherzustellen. Man kann freilich sagen, das gehörte hier zur Sache; man kann aber auch sagen, daß neben der sachlichen Erfordernis noch eine selbständige Lust an griechischen Vokabeln einherläuft. Diese Lust aber entstammt ja nicht etwa einer Pedanterie; Burckhardt war gewiß nicht pedantisch; nein, es ist die Lust der heiligen Ehrfurcht; er taucht mit so weihevoller Andacht in die klassischen Quellen, wie ein anderer in den Jordan. Und mehr noch: es weht etwas wie Heimatliebe darin. Denn eben das alles ist ja die Basler Stadtatmosphäre. Sein sehnsüchtiges Ideal, der friedliche, begüterte Hellenenvater aus achtbarer Familie, der mit dem Kranz auf dem Kopf, abseits von der ruchlosen radikalen Politik, den Göttern opfert, im Kreise der Seinigen, die betend und mitopfernd herumstehen, – wenn das nicht ein Basler ist!
Aus derselben Quelle nun, ich meine aus dem Basler Stadthumanismus, scheint also Böcklin geschöpft und hier scheint er seine Kentauren und Tritonen gefunden zu haben. Wenn sich das wirklich so verhält, so wüßte ich nichts, worauf Basel stolzer sein dürfte. Das wäre dann wie ein Segen des Heiligen Geistes zum Lohn für die jahrhundertlange städtische Pflege der klassischen Studien.
Beiläufig bemerkt: Auch die Rettung vor der ›patriotischen‹ Malerei darf der Basler Stadtatmosphäre zugute geschrieben werden. Es herrscht da weniger eidgenössischer Festjubel als anderswo, und noch zu meiner Zeit wurde Schweizergeschichte auf dem Gymnasium überhaupt nicht gelehrt.