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Frau Joseph Viktor Widmann †

Es ist rührend, erschütternd und erhebend: Als Widmanns Leiche noch im Hause lag, hat seine Frau, die den Kranken aufopfernd gepflegt, umsichtig alles geordnet hatte, den fürchterlichen Schicksalsschlag gefaßt zu ertragen schien, sich gleichfalls hingelegt und ruhig und einfach erklärt: »Genug, nun will ich auch sterben.« Wir haben sie am Begräbnistage ihres Gatten nicht gesehen; man sprach an jenem Tage von Ermüdung und Überanstrengung, von der Reaktion des Schmerzes nach der künstlich durch Willenskraft aufrechterhaltenen Gefaßtheit, was begreiflich genug schien; aber am Abend schon hieß es, es liege Schlimmes vor, eine ernstlichere körperliche Erkrankung. Und am folgenden Morgen lautete der bedrohliche Bescheid der Ärzte: Lungenentzündung, die nämliche Krankheit, der Widmann soeben erlegen war! Dann hat die ergebene Pflege der Kinder und die Wissenschaft der Ärzte das Leben noch zweieinhalb Wochen hinzuziehen vermocht, die Kranke hat ergeben und geduldig alles über sich ergehen lassen, alles sanft befolgt, was ihr verordnet wurde, dankbar jeden Liebesdienst hingenommen, entschlossen, um der Kinder und Kindeskinder willen selbst das Leben noch weiter zu ertragen, wenn es sein müsse, aber immer wieder sprach aus ihrer Seele das Wort: »Genug, ich möchte am liebsten sterben.« Und sie ist nun schließlich wirklich gestorben, nach schweren Leiden sanft und ohne Todeskampf, und die Ihrigen trauern jetzt doppelt, um beide Eltern oder Großeltern oder Urgroßeltern, um das vor kurzem noch lebensfrische und liebefrische Paar, das dem Alter zum Trotz geistig so jung geblieben war, daß man sich mit dem Gedanken gar nicht zu versöhnen vermag, der Herd, von welchem soeben noch so viel Licht und Wärme strahlte, sei erkaltet. Daß Widmann verstummt sei, daß sein Geist nicht mehr blitze, daß seine Frau, deren Herz einer so zahlreichen, nach allen Seiten zerstreuten Nachkommenschaft die gemeinsame Heimat bedeutete, aus der Zahl der Lebenden verschwunden sei, gegen diese traurige Wahrheit empört sich Herz und Vernunft, damit kann man sich nicht abfinden, ob man sichs auch täglich vorsage.

Als mein Freund Joseph Viktor Widmann im Herbst des Jahres 1865 die junge, aber um einige Jahre ältere Witwe meines Onkels (des Bruders meiner Mama) heiratete, erregte das anfänglich einiges Befremden. Das Befremden hat bald dem Begreifen und das Begreifen dem Segen Platz gemacht; denn wenn ich meine Tante, als sie noch nicht Frau Widmann, sondern Frau Brodbeck hieß, Eugenia (den guten Genius) nannte, für das, was sie mir gewesen war, so wurde sie auch für Joseph Viktor Widmann Eugenia. Was für ein Segen für Widmann aus dieser Verbindung sproß, läßt sich nicht ausmessen und berechnen, bloß andeuten. Da ich aber von Anfang an als Freund beider Ehegatten an dem Bündnis mit dem Herzen teilgenommen und den Widmann, wie er früher war und wie er später wurde, vergleichen kann, so glaube ich mich nicht bloß befugt, ich glaube mich zugleich von der Wahrheits- und Erinnerungspflicht genötigt, die Andeutungen auszusprechen.

Zunächst hat Frau Widmann ihrem Gatten das Leben verlängert, ja sogar, nach meiner festen Überzeugung, die ich freilich nicht beweisen kann, das Leben gerettet. Joseph Viktor Widmann war nahezu ein Todeskandidat gewesen, seine Frau hat ihm den Körper- und Muskelmut eingeflößt, ihn aus einem verzärtelten schwächlichen Menschen durch Änderung der ganzen Lebensweise zu dem kräftigen Manne gemacht, als den wir ihn später kannten.

Sie hat ferner den ursprünglich Fremden in die Schweiz eingepflanzt, durch Einführung in ihre zahlreiche Verwandtschaft in Winterthur und im Thurgau, durch Gewöhnung, durch Beispiel und Beeinflussung.

Sie hat ihm neben dem Gattenglück gleich mit der ersten Stunde das Familienglück beschert. Denn sie war schon Mutter zweier reizender, geistig aufgeweckter Kinder, als sie Widmann heiratete. Was das für Widmann, den Kinderfreund, wert war, weiß, wer es mit angesehen hat, welche Freude er an seinen Stiefkindern hatte; und die zahlreiche Nachkommenschaft, die ihm in der Folge aus seinen Stiefkindern und später aus seinen eigenen Kindern erwuchs, bedeutete für ihn lauter Zuwachs an Glück. Großpapa und Urgroßvater zu werden, und dabei immer jünger zu werden, dazu hatte er ein förmliches Talent; als ob er eigens dafür und nur dafür geboren gewesen wäre.

Sie hat ihm ferner einen gewissen Rückhalt gegen Not und Sorge verschafft; Widmann hat deshalb niemals das Schriftstellerelend spüren müssen oder auch nur die Angst vor dem Schriftstellerelend. So nebensächlich das sein mag, so ist es doch nicht nichts, und es wäre unwahre Ziererei, diesen Umstand gänzlich zu übergehen. Den Verlag und Druck seines Erstlingswerkes zum Beispiel hat ihm seine Frau, als sie noch seine Braut war, ermöglicht.

Sie hat ihm ferner, dem Geselligkeit Lebensbedürfnis war, im eigenen Heim die Gesellschaft der auserlesensten Männer zu bereiten gewußt. Wohl bildete ja er selber die Anziehungskraft, aber daß die Anziehungskraft Dauer behielt, daß, wer ins Haus kam, immer wieder kommen mochte, das verdankte er der Mitanziehungskraft seiner Frau. Die Götz, die Hegar, die Brahms und so weiter hätten nicht Widmanns Haus so gerne aufsuchen mögen, wenn sie nicht auch in der Hausfrau selbsteigene seelische Teilnahme gespürt hätten. Frau Widmann nämlich lebte mit der ganzen Seele in der Musik; sie konnte ohne Musik gar nicht ihres Lebens froh sein. In diesem Sinne war sie sogar noch musikalischer als Widmann selber, der zwar die Musik wie alles Schöne liebte, auch in der Jugend recht hübsch sang, und leidlich Klavier spielte, der aber der Musik nicht durchaus bedurfte. Er konnte die Musik entbehren, sie nicht.

Endlich hat sie sich ihm geistig ganz und gar angeschmiegt, mit Aufgabe ihrer persönlichen Wünsche; sie hat sich allen seinen Launen (und er hatte Launen) gefügt, gemieden, wen er nicht mochte, ertragen, wen er vorzog; sie hat ihm einen großen Teil lästiger Arbeiten abgenommen, ihm die Druckbogen korrigieren helfen, ihm die Romane, die er rezensieren sollte, vorgelesen, unermüdlich, solange es ihr schwindendes Augenlicht zu leisten vermochte; sie hat, als er im Alter allmählich bequemer und einsiedlerischer wurde, sich ebenfalls, gegen ihre Natur, in die Einsamkeit zurückgezogen. Und, ja nicht zu vergessen, sie hat ihn, der leicht verzagte, in Stunden der Mutlosigkeit aufgerichtet.

Schließlich verwuchs sie mit ihm dergestalt, daß beide wie eine einzige Persönlichkeit lebten und fühlten, und dermaßen, daß, als er starb, sie sich einfach hinlegte und ebenfalls starb. Und das ganze Verhältnis ist so rührend, so ergreifend, so erhebend, daß vor Andacht sogar die Trauer bescheiden zurückzutreten Miene macht. Aber sie wird sich nicht lange bescheiden, sie wird ihr grausames Recht erbarmungslos nachholen.


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