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In Waldenburg lebte eine Schwester meiner Großmutter, die verwitwete Tante Tschopp, mit zwei Töchtern, der damals etwa zwanzigjährigen Salome, allgemein ›das Salomeli‹ geheißen, und Marie, die noch in die Schule ging. Als Verwandte kam das Salomeli manchmal zu Besuch nach Liestal, half gern meiner Mutter in der Kinderpflege nach, und da wir uns so gut verstanden, nahm sie mich einmal mit heim nach Waldenburg, zu ihrem und meinem Vergnügen.
Auf der Fahrt nach Waldenburg machte mir, ähnlich wie einst während der Baslerfahrt, ein Landschaftsbild den nachhaltigsten Eindruck; und wieder war es wie damals ein Flußufer. Hinter dem sogenannten Bubendorfer Bad zweigt ein Seitenweg über eine Brücke nach dem Dorfe Bubendorf ab. Beim Vorüberfahren ist weder der Bach unter der Brücke, noch der Talboden und Bubendorf selber zu sehen, die Besonderheit des Lichtes jedoch flüstert von geheimnisvollen Gegenden im unsichtbaren Hintergrund. Beim Anblick dieses Brückenbildes verspürte ich so neue und befremdende, so weit vom Verstande entfernte Gefühle, daß ich mich ihrer schämte. Ich meinte nämlich, Regungen, die sich so tief innen im Dunkel versteckt hielten, müßten etwas Unerlaubtes oder Lächerliches sein. Weil man mich gelehrt hatte, einiges an mir als schändlich zu verbergen, schloß ich, was sich in mir verberge, wäre schändlich. Kurz, ich erlitt bei diesem Anlaß zum ersten Male die seelische Schamhaftigkeit.
In Waldenburg angekommen, hielten wir mitten im Städtchen und stiegen aus; denn dort war das Häuschen der Tante (eigentlich Großtante) Tschopp. Zur Haustür ging es auf ein paar Stufen. Stufen mochte ich gerne, seit ich imstande war, sie ohne Schwanken zu ersteigen; sie gaben mir das Bewußtsein der Kraft. Im Hausgang öffnete das Salomeli eine Tür, ein Tuchlädelein kam zum Vorschein, darin stand, mit einer Kundin redend, die Tante Tschopp, anzusehen wie ein zweites Großmütterchen. Die Ähnlichkeit gewann ihr sogleich mein Herz. Zum Willkomm langte sie mir aus einer Schublade Rosinchen hervor. Das fängt gut an. Beiläufig: wem ist nicht auch schon aufgefallen, daß alle guten Menschen ein Tuchlädelein haben mit Rosinchen in einer Schublade? Mich wenigstens brachten die Jungfer Beggli in Basel, die Tante Tschopp in Waldenburg, die Urgroßmutter in Langenbruck zu dieser Überzeugung. Das Lädelein der Tante Tschopp war aber das schönste von allen. Erstens hingen Geißeln darin, und dann gab es dort ein lustiges unsichtbares Glöcklein, das von Zeit zu Zeit plötzlich klingelte, ohne daß man wußte, wo und wieso. Schon bei unserm Eintritt hatte ich gemeint, so etwas zu hören; jetzt, als die Kundin den Laden verließ, klingelte es deutlich zum zweiten Male. Halb aus eigener Klugheit, halb aus dem schlauen Lächeln des Salomeli bekam ich heraus, daß das fröhliche Glöcklein irgend etwas mit der Tür mußte zu tun haben. Richtig, dort oben hinter der Tür höckelte es im Versteck, und jedesmal, wenn man die Tür auf- und zumachte, begann es zu klingeln. Die gewonnene Einsicht setzte ich sogleich ins Werk, indem ich ewig zur Tür aus- und einging, um das Glöcklein spielen zu hören.
»Komm jetzt; du kannst nachher noch oft mit dem Glöcklein spielen«, mahnte das Salomeli, worauf sie mich eine Treppe hinauf in die Wohnstube führte. Während sie auf einen Augenblick nebenan im Schlafzimmer verschwand, um ihre Überkleider abzulegen, was entdeckte ich unterdessen in der Wohnstube? Auf der Kommode, unter einer Glasglocke, ein Wunderwerk, daß mir vor Entzücken der Atem ausgegangen wäre, wenn ich nicht unaufhörlich Ah und Oh geseufzt hätte: ein blauer See, mit einem schwimmenden Schwan darauf, hinter dem See eine jähe Felswand, mit Moos und Gebüsch und Bäumen darüber. In den Bäumen stand eine Kapelle; aus der Kapelle kam ein Kapuziner eine steile Treppe nach dem See heruntergestiegen. Von diesem Schaustück war ich gar nicht wegzubringen. Und als ich vollends vernahm, das Salomeli selber hätte das Wunderwerk mit eigenen Händen zusammengekünstelt, überschlug sich mein andächtiges Staunen in heiligen bewundernden Unglauben.
»Jetzt kommt dann bald das Marieli aus der Schule heim«, hieß es. Das Marieli kam und mit ihr eine neue Überraschung, eine in ihrem Gesicht. »Du hast glänzige Äuglein und goldige Sternlein«, lautete meine frohe Begrüßung. Dieses Sprüchlein blieb zeitlebens am Marieli hangen, sogar als sie schon Großmutter geworden war und ihre armen verkümmerten Augen längst nicht mehr glänzten. Auch den Namen ›Schwesterlein‹, den ich ihr damals erteilte, mochte sie im Alter gerne wiederholen, und so oft ich ihn aussprach, glänzten wahrhaftig trotz allem die goldenen Sternlein aufs neue.
Das war die Einleitung. Die Folge glich der Einleitung. Ich bin nachmals noch oft in meinem Leben glücklich gewesen, anhaltend glücklich sogar; ob ich jedoch jemals wieder so durch und durch bis in die kleine Zehe wunschlos selig gewesen bin wie damals in Waldenburg, frage ich mich. Ich frage michs, die Antwort aber darauf zu geben hüte ich mich, um nicht ein ernsteres, dunkleres Glück auf höherer Stufe zu beleidigen. Also ohne Vergleich sei gemeldet, daß mir der Waldenburger Aufenthalt wie ein Schmuckkästlein vorkommt, das man ohne Einbuße aus meinem übrigen Kindesleben herausnehmen und beiseite stellen kann; es strahlt für sich und hat keine Zusammenhänge über seinen eigenen Rahmen hinaus. Wie innig die Seligkeit war, läßt sich daraus erraten, daß noch ein halbes Jahrhundert später mein Dankgefühl eines meiner Bücher (den »Gustav«) in Waldenburg spielen ließ. So nachhaltig leuchtete in meinem Herzen das Glück, das ich als kaum zweiundeinhalbjähriges Büblein dort genossen.
Gleich am folgenden Morgen, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, jedenfalls am Morgen eines der ersten Tage führte mich das Salomeli in ein geheimnisvolles, dämmerdüsteres, doch keineswegs finsteres Waldverließ hinter dem Städtchen. Nicht Schlucht, denn der Raum weitete sich frei behaglich wie ein Saal, nicht Grotte, denn da gab es weder Höhlen noch Felszacken, halt etwas Besonderes für sich, das sich mir unter keinen gewöhnlichen Namen fügen will. Die Waldenburger nennen es ›das Münsterli‹ (nicht ›Fensterli‹, wie ich im »Gustav« irrtümlich schrieb). Das Münsterli, mein Münsterli, sieht folgendermaßen aus: Links und rechts steile Waldhänge; hinten eine gewaltige, jähe, glatte Steinwand, wie eine Mauer emporsteigend; von der Steinwand herunter plätschert ein bescheidener, frommer Wasserfall schnurgerade in ein seichtes natürliches Wasserbecken, und hoch oben über dem Wasserfall wächst ein von jenseits, aus unsichtbaren Lichtquellen durchleuchteter Wald. Das flache Erdgeschoß diesseits des Wasserfalles, also der Saal vor dem Wasserbecken, eben wie ein Zimmerboden, war damals mit sonderbaren, handtellerförmigen Blattpflanzen wie mit einem Teppich bekleidet, mit hohen Bäumen spärlich bestanden, deren Kronen, obschon nicht üppig, genügten, um ein gemeinsames Dach zu bilden, von Abflußbächlein und Weglein durchkreuzt. Wahrscheinlich hatte der reiche Leuenwirt Jöri, dessen Ziergärtlein oben an das Münsterli grenzte, hier unten ein bißchen Ordnung geschafft. Gegenwärtig ist das Münsterli verwildert, weglos, von nassem sumpfigen Gras überwuchert; wenigstens habe ich es vor drei Jahren so gefunden.
In diesem Münsterli nun durfte ich mit dem Salomeli eine unabsehbare, ewige Seligkeit lang verweilen, Stunde um Stunde, in unbeschränkter Freiheit, durfte Entdeckungsreisen anstellen, wohin ich wollte, sei es an den Rand des Beckens unter dem Wasserfall, sei es über den Blätterteppich, mitten zwischen die Pflanzen hinein, sei es am Ufer eines der Abzugbächlein, durfte Steinchen aufheben, Blätter abrupfen – ein unerschöpfllicher Reichtum der Güte. Und wohlbemerkt: das Salomeli folgte mir nicht etwa auf Schritt und Tritt ängstlich nach, sondern saß abseits auf einem Wachtposten am Rande eines Abhangs und schaffte an einer Arbeit, als ob sie mich nicht sähe. Und dazu sang der Wasserfall sein ruhiges, leises Lied; außer ihm war nichts zu hören. Hier wurde mir wunschlos wohl, hier hätte ich ewig bleiben mögen; diese Stelle erwählte mein Herz zu seiner landschaftlichen Heimat. Kein anderer Fleck Erde hat mir jemals wieder eine solche innige Zustimmung abgewonnen wie das Münsterli unter der Obhut des Salomeli.
Endlich – »wir müssen jetzt alsgemach heim zum Mittagessen« – mußte vom Münsterli geschieden werden. Heimzu machte aber das Salomeli mit mir einen kleinen Umweg, an steilem, gefährlich aussehendem Abhang gegen Jöris Gärtlein hinauf, auf einem jetzt nicht mehr bestehenden Pfade, dann an dem Pförtlein des Gärtleins vorbei in eine dichte, aber durchleuchtete Buschwildnis, wo einem die Zweige fast den Durchgang sperrten, während von oben der blaue Himmel hereinsah. Wie mich dieser Lichtwechsel und die Szenenverwandlung beglückte, verrät meine Schilderung des ›Fensterli‹ im »Gustav«. Und unerwartet gab es noch eine zweite Verwandlung: plötzlich, wie mit einem Zauberschlag, kamen wir aus dem Gebüsch in den strahlenden Tag, in eine weite, ungeahnte Welt, auf eine grüne Wiese hoch oben über einem Tal. Das, was ich bei dieser doppelten Verwandlung empfand, zuerst aus dem Düster des Münsterli in das durchleuchtete Waldgebüsch und dann aus dem Zwielicht des Gebüsches in den freien sonnigen Gau, möchte ich Theaterglück nennen; aber ein edleres Theaterglück, eines, das nicht täuscht und nicht entschwindet, sondern unverlöschlich nachleuchtet, weil es vom wahrhaftigen Tagessonnenschein entzündet wurde. Da, wo der Wiesenpfad zur schlangenförmigen Landstraße (Langenbrucker Straße) hinabsteigt, im Winkel diese treffend, wollte ich am Straßenbord verweilen, denn diese Stelle gefiel mir ganz außerordentlich. Daß ich von dieser hohen köstlichen Straßenschleife in die Tiefe hinunter mußte, konnte ich fast nicht verwinden. Losreißen mußte ich mich. Aber nun höre und staune, hernach lobpreise Waldenburg. Stundenweit glaubte ich von dem unsichtbaren Waldenburg entfernt zu sein. Eine Kleinigkeit, so waren wir zu Hause, mitten im Städtlein. Wer außer Waldenburg beschert einem solch eine vergnügliche Überraschung?
Mitten im Hause oder, genauer gesagt, hinten zwischen dem Wohnhause und den Holzschopfen und den verwaisten Hühnerställen befand sich ein weltabgeschlossenes, einsames, stilles Höflein, und innerhalb des Höfleins ein zweites, kleineres, noch einsameres und stilleres. Da war nichts von der Außenwelt zu hören, auch nichts anderes zu sehen als zerfallene Bretterwände, Treppchen, Türen, Läubchen und dergleichen, und oben darüber ein Ausschnitt Himmel. Ein Geruch von moderndem Holz grüßte einen beim Eintritt.
Dieses zweite Höflein in vermindertem Format, das Urbild der vielen Höflein, die ich in meinen Schriften, namentlich im »Gustav«, geschildert, wurde nun täglich und stündlich mein Lieblingsaufenthalt. Ihm vor allem verdanke ich meine unvergeßliche Waldenburger Seligkeit. Ein kleines, stumpfes Beil und eine Anzahl Nägel wurden mir überreicht, dann ließ man mich allein, und ich durfte mit dem Beil an den Holzstufen eines Treppchens beliebig zimmern, die Nägel einschlagen, wohin ich wollte; alles rundherum war dermaßen schadhaft, daß ich nichts beschädigen konnte. Warum verschaffte mir nun das Nägeleinschlagen solch eine innige Befriedigung, daß ich dieses Geschäft unersättlich Tag für Tag von neuem betreiben mochte, während ich der Spiele immer bald überdrüssig wurde, so daß ich nach Abwechslung, nach Gesellschaft, nach Anleitung verlangte? Weil ich mit Anstrengung zielmäßig arbeitete, und weil ich etwas Sichtbares und Haltbares leistete. Ich konnte am folgenden Tage darauf zurückblicken, was ich am Tage vorher gezimmert, und durfte das Werk fortsetzen. Ich kostete jetzt zum ersten Mal statt des bisherigen luftigen, trügerischen Spielglückes ein echteres, ernsthafteres: das Handwerkerglück. Weil ich aber nicht unter fremder Anleitung, sondern frei nach eigener Erfindung die Nägel einschlug, war es zugleich Schöpferglück. Darum vermochte mich die mühsame Arbeit so nachhaltig zu befriedigen. Vom berühmten Spielglück des Kindes, beiläufig bemerkt, halte ich nach meiner Erfahrung nicht viel. Die gähnende Kluft zwischen der Wirklichkeit und den Phantasieträumen beim Spielen kommt nämlich dem Kinde gar wohl zu Bewußtsein. Ich hatte es bald gelernt, daß die Bleisoldaten und irdenen Schäflein und Rößlein, die ich aufstellte, wieder in die Schachtel zurück müssen und daß sie einen trotz dem schönen Traumleben, das man ihnen leiht, stumm und dumm anglotzen. Das Spiel hat einen glücklichen Auftakt, aber die Fortsetzung langweilt, weil sie der Erwartung keine Antwort bringt; darum bedarf es des ewigen Wechsels, um immer von neuem den Auftakt zu gewinnen. Das Spiel beruht auf Täuschung, darum endet es mit Enttäuschung. Dagegen das Nägeleinschlagen, ha, das ist etwas anderes; das dauert, das überlebt, das hinterläßt bleibende Werke.
Wenn sich die Zahl der Worte nach der Bedeutung des Gegenstandes zu richten hätte, so müßte ich dem glückspendenden Höflein viele Seiten widmen. Da das aber nicht der Fall ist, und da sich Glück überhaupt nicht erzählen läßt, weil es zum Wesen des Glückes gehört, daß nichts geschieht, nehme ich hiermit von meinem lieben Waldenburger Höflein Abschied.
Um die Dämmerstunde begann Tante Tschopp zu spinnen, unten im Stübchen gegenüber dem Lädelein. Sie spannen alle, die von Langenbruck stammten, auch die Großmutter und die Urgroßmutter. Eine von ihnen, ich weiß nicht mehr welche, stand sogar im Rufe einer vorzüglichen Spinnerin. Eigene Beobachtung dagegen brachte mich zu der Überzeugung: Spinnen heißt, wenn immer der Faden abreißt oder am Rädchen etwas fehlt.
War es völlig dunkel geworden, so begab man sich in die Schlafstube hinauf und zündete die Kerze an. Dort lehrte mich das ›Schwesterlein‹ die Kunst, zusammengeknickte Spielkarten als Kapuziner hintereinander aufzustellen und anzublasen, so daß die ganze Reihe auf einmal umpurzelte. Das Salomeli aber künstelte mit der Schere aus Papier die wunderbarsten Figuren, Blumenkörbe, Vögel, Menschen. Das hatte ich freilich von der Großmutter schon hundertmal gesehen, allein das Salomeli verstand es noch besser. Hernach wurde mir ein großes Bilderbuch vorgelegt. Darin war unter anderm eine Riesenschlange zu sehen, die von einem Baum herunterhing und der ein nackter Wilder mit dem Messer den Bauch aufschlitzte. Noch weckten die Bilder nicht meine Phantasie zu selbständiger Spielgeschäftigkeit; die abenteuerlichen Bilder genügten mir für sich; bloß Inhalterklärungen dazu heischte ich. Höchstens daß unbestimmte wolkige Gemütswallungen oder Gedankenanwandlungen über die Bilder hinweg in die von der Kerze unzulänglich erleuchtete Nacht sich verloren, erzeugt von der Ahnung, daß irgendwo in der Ferne außerhalb der Waldenburger Wahrheit noch eine andere Welt wahr sein könnte.
Und niemals die mindeste Zurechtweisung oder ein ermahnendes, erzieherisches Wörtlein, geschweige denn ein Schmälen. Wie von Engelein fühlte ich mich von dem Salomeli und dem Schwesterlein behütet.
Horch, das Betzeitglöcklein! Das tönte hier anders als das großmütterliche Betzeitglöcklein in Liestal. Aber wie, das habe ich leider vergessen. »Möchte wissen, wie es tönte.«
Warum ich das alles so im einzelnen aufzähle? Das sind doch, wird man vielleicht unwillig ausrufen, lauter Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten. Ich bin anderer Meinung: Glückseligkeit ist weder eine Kleinigkeit noch etwas Alltägliches.
Schon am ersten Tage geleitete mich das Salomeli abends, als es dunkel wurde, durch das Höfchen zwischen verlassenen Hühnerställen und Schweinekoben, wo es scharf roch, durch eine finstere Tür. Draußen war man plötzlich in einer Nebengasse voller Misthaufen, Hühner und alter Weiblein, die einen wie Bekannte grüßten. Durch die Nebengasse etwas bergauf ziehend, gelangten wir vor ein Tor, das sich von den anderen Toren, die ich bisher gesehen hatte, dem Liestaler Obern Tor und dem Sankt Albantor in Basel, vorteilhaft unterschied. Der Turm sperrte nicht den Weg, sondern stand seitwärts von der Straße, den Vorüberziehenden zuschauend, müßig, die Hände in den Hosentaschen. Diesem vergnüglichen Tor sagte ich sofort Freundschaft an. Herwärts des Tores bogen wir links um die Ecke, stiegen tapfer ohne Unfall ein paar Steinstufen hinab – ah! Stufen! meine Lieblinge! – wendeten noch einmal links, und unversehens hielten wir mitten im Städtchen vor der Haustür. Die ganze Runde war nur wie um ein Haus herum. Schon durch diesen ersten Gang hatte mich Waldenburg gewonnen. Ein freundlicher Traum wiederholte mir in der Nacht das ergötzliche Städtchen, wo das Tor auf einer erhöhten Warte nebenab von der Straße steht, wo man aus der Hintergasse zur Hauptgasse eine Treppe hinuntersteigt, wo man, hinten hinaus fortwandernd, im Augenblick wieder vorn vor der Haustüre steht.
Überhaupt hatte das Städtchen just das richtige Maß, als wäre es für meinen Körper eigens zugemessen worden. Das obere und das untere Ende berührten sich fast mit den Ellenbogen; kaum daß man an einem Ort hineinging, war man gegenüber schon wieder draußen. Welch eine Erquickung nach dem unabsehbar großen Liestal! Von den endlosen Steinhaufen Basels gar nicht zu reden. Und wie alle Leute einen kennen und einem freundlich zunicken!
Die Hauptherrlichkeit Waldenburgs lernte ich dann an einem der folgenden Tage kennen: Mitten im Städtchen, nur um eine Ecke herum, unten in der Nähe der Kirche, kam man an einen Bach, und in dem Bache schwammen, ruderten, watschelten Enten. Enten, muß man wissen, sind wundervolle Vögel mit prachtvollen, metallschillernden, in allen Farben glänzenden Hälsen. Für sich allein eine ganze Farbenwelt. Und, erstaunlich, unglaublich, in jedem Augenblick andere Farben. Die Enten Waldenburgs, überhaupt das Städtchen habe ich in einer meiner Schriften so genau und überzeugt geschildert, daß ich es hier nicht wiederholen will; alles, was ich heute darüber berichtete, wäre bloß ein schwächlicher, minderwertiger Auszug. Man kann gewisse Dinge nur ein einziges Mal erschöpfend sagen.
Wenn man von den Enten unten bei der Kirche bachaufwärts wanderte, so gelangte man längs dem von einem steilen Waldberg überschatteten Wasser an einem wirren Haufen von Hinterhäusern, Höfchen, Gärtchen und Hühnerställen vorüber. Dem Erwachsenen wird dort nicht geheuer, ihm bangt für seine Schuhe und seine Nase. Einem Kinde dagegen wird an einer solchen Stelle entdeckungswohl, wie einem wohlerzogenen Schoßhund vor einem Kehrichtkübel. Ist es nicht sauber, so ist es dafür vielerlei.
Auch außerhalb des Städtchens gab es Schönes. Unten vor dem Städtchen, in der Gegend der heutigen Eisenbahnstation, aber auf der andern Seite des Baches, erhob sich die Statthalterei, also das Haus, welches die Tante Tschopp bewohnt hatte, als ihr Mann, der Statthalter, noch lebte; das Haus, in welches meine Mutter in ihrer Schulzeit mitunter während der Ferien zu Besuch kam. Es war das einzige einigermaßen herrschaftliche Haus Waldenburgs; ein parkähnlicher Baumgang zeichnete es aus, nicht so stolz und groß wie der Baumgang meiner Patin, der Frau Rosenmund in Liestal, den ich bewunderte, immerhin ein Baumgang, der nicht bäurisch, sondern herrschaftlich aussah. Oben hinaus, auf der Langenbrucker Seite, neben der Papiermühle, besaß die Familie Thommen, die im Städtchen einen Tuchladen hatte, ein merkwürdiges, abenteuerliches, farbiges Gartenhaus; allerlei fröhliche Launen verwirklichten sich dort; die Einzelheiten habe ich vergessen, nur den Gesamteindruck eines farbenlustigen, glänzenden, schmucken Häuschens und Gärtchens behalten.
Je kleiner ein Städtchen, um so höckriger die Einwohner. Das Salomeli schleppte mich nicht in die Weite spazieren, wie einst die Tante Gotte in Basel, sondern ließ mich ruhig und friedlich mit meinem Beil im Höfchen. Und das trug ebenfalls zu meinem völligen Behagen bei.
Ob ich mitkommen wolle zu der Base Soundso (den Namen habe ich vergessen), fragte mich das Salomeli und stieg mit mir durch einen brückenförmigen Gang nach dem Hinterhause über den Ställen. Schon von weitem hörte ich ein sonderbares, stetiges Gepolter, pumps und ritsch und ratsch, daß einem davon die Ohren vertaubten. Und mit jedem Schritt wurde das schreckliche Rasseln stärker. Doch das Salomeli beruhigte mich. Die Base lärme nicht vor Zorn, belehrte sie mich, sondern sei ein ganz friedliches, gutes Weiblein, ich solle nur ruhig mitkommen, ich werde dann schon sehen. Und überredete mich, in die schauerliche Wüterei einzutreten.
Dort tobte ein ungeheuerlich großes, das ganze Stübchen ausfüllendes Spielwerk wie wahnsinnig mit den Armen und Beinen, immer auf und ab, auf und ab. Spulen und Fäden tanzten darin herum, und etwas Lebhaftes schoß wie der Blitz ewig hin und her, so schnell, daß man es kaum sehen konnte. Und die Wände donnerten, und der Fußboden zitterte. Ganz schwindlig wurde einem von dem Geschütz und Gedonner; gut, daß das Salomeli mich fest an der Hand hielt.
Da guckte hinter dem Geschütz ein Weiberkopf um die Ecke, und augenblicklich hörte der ganze Lärm auf, und das zappelnde Spielwerk stand still. Und wie ein gewöhnliches, friedfertiges Weiblein kam jetzt die Base freundlich auf uns zu, begrüßte mich und erklärte mir, daß sie es wäre, welche zusammen mit dem Spielwerk den Lärm vollführe, und daß sie, so oft sie wolle, den Graus anstiften und wieder abstellen könne. Was sie mir durch wiederholte Proben bewies. Nachdem ich das begriffen, war ich mit einmal entzückt von der lustigen, geräuschfrohen Base und konnte nie genug von dem mutigen Rasselspiel bekommen. Je stärker es donnerte, desto glücklicher war ich. Ganz verträumt stand ich dabei, wollüstig das Getöse einschlürfend. Ungern verließ ich das wundersame Rasselstübchen, erhielt übrigens die Erlaubnis, wiederzukommen, so oft ich wollte.
Auf dem Rückwege erteilte mir das Salomeli Aufschluß über das Erlebnis. Die Base spinne, sagte sie, das wäre aber eine besondere Art des Spinnens, die nenne man bosamenten. Aber o weh, die Fremdwörter! Wenn schon das Salomeli wie alles Volk statt passementerie ›bosamenten‹ aussprach, wie sollte ich das schwierige Wort behalten, geschweige verstehen! Ich verwechselte das ›bosa‹ mit Base und nannte den Lärm, den die geräuschfrohe Base vollführte, ›basespinnen‹ oder, wenn das Salomeli über den Irrtum lachte, ›basementen‹. Indessen, ob ›spinnen‹ oder ›menten‹, eines blieb sich gleich: immer von neuem begehrte ich in das Rasselstübchen zu der guten, freundlichen Base hinauf, um sie ›menten‹ oder ›basespinnen‹ zu hören. Und als ich ein paar Jahre später in einem Märchenbuch (Bechstein, mit Zeichnungen von Ludwig Richter) ein Bild schaute, wo beim Mondenschein im Tannenwalde ein Weib spinnt, dachte ich dabei nicht an die spinnenden Tanten und echten Basen, sondern an das fremde posamentierende Weiblein oben über den Hühnerställen in Waldenburg, die den Namen Base bloß wegen ihres Alters und ihrer Freundlichkeit führte.
In Waldenburg, mitten im Städtchen, aber in der gegenüberliegenden Häuserreihe, wohnte damals ein Junggeselle namens Meyer, der für einen mürrischen, halbnärrischen Menschenfeind galt. Dieser Herr Meyer bezeigte mir eine besondere Gewogenheit, sprächelte mit mir, lud mich sogar ein, zu ihm aufs Bänklein vor dem Hause zu sitzen, was allgemeine Verwunderung erregte. Mir wieder ward zutraulich zumute in seiner Gesellschaft, und so blieben wir gewöhnlich in der Abenddämmerung lange Zeit wie Kameraden nebeneinander sitzen. Schließlich begehrte ich selber zu ihm hinüber, so oft ich ihn auf dem Bänklein vor seinem Hause sitzen sah.
Eines Abends, wie wir wieder so beisammen saßen, lud er mich mit geheimnisvoller Miene ein, ihm in den Hausgang zu folgen. Zuhinterst im Hausgang schwenkte er links ab in ein Gemach, das keine Wohnstube war, sondern etwas wie ein Raum zum Aufbewahren von unnützen Gegenständen. Zunächst gewahrte ich dort nichts Merkwürdiges. Plötzlich aber entdeckte ich mit namenlosem Entzücken, daß er mich in den Himmel geführt hatte: goldene Fische schwammen dort im Wasser herum, sei es in einem Glase oder, wie meine Erinnerung glaubt, in einem Teiche am Boden. Vom Himmel hatte ich aus dem Munde der Großmutter oft gehört, wenn sie uns den Abendsegen betete. Freilich, wo der war, hatte ich mir nicht vorstellen können, jetzt aber wußte ichs: in Waldenburg beim Herrn Meyer in einer Hinterstube. Und keine Möglichkeit, mir das abzustreiten, ich hatte ja doch die goldenen Fische klar und deutlich mit eigenen Augen gesehen.
Das war indessen noch nicht einmal alles. Er zeigte mir noch etwas Himmlisches, hinter dem Hause, neben dem Entenbach, wo die Gärtlein und Hühnerställe und Kehrichthaufen der Waldenburger sind: Kaninchen mit blauen Hälsen und roten Schwänzen und Ohren, Hühner mit weißen und grünen Beinen; ich glaube, sogar bunte Schweinchen waren dabei. Auch das behauptete ich mit eigenen Augen gesehen zu haben und ließ es mir nicht nehmen, solange ich ein Kind war. Später freilich sah ich die Unmöglichkeit ein, daß ich dergleichen in Wirklichkeit gesehen haben könnte, weshalb ich dieses Geschichtlein ins Traumreich verwies. Dort blieb es liegen, bis mich vor ein paar Jahren das ›Schwesterli‹ belehrte, daß meine Erinnerung doch recht hatte. Nämlich der Herr Meyer betrieb neben anderen Narreteien auch diese, seine Kaninchen und Hühner mit Farben anzustreichen.
Solche himmlische Dinge gab es im Waldenburg des Salomeli zu genießen. Aber nun sehe einer die Bosheit der Menschen: das Salomeli habe ein häßliches Gesicht, wollte man mir einreden. Empörend lügnerisch! Und obendrein noch einfältig! Sie meinen immer, sie wären so gescheit, die Erwachsenen. Und wissen noch nicht einmal, daß die Salomeli und Tante Gotten, die Großmütter und Urgroßmütter die schönsten aller Menschen sind.