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Der angehende Sommer traf mich gesund, kräftig, mutig und unternehmungslustig. Die wichtigste Unternehmung war die Entdeckung von Liestal. Bisher hatte sich mein Gesichtskreis auf die Welt vor dem Obern Tor, auf die Umgegend der Brauerei und unseres Hauses beschränkt, mit Abstechern in das Gestadeck, wohin man vom Obern Tor mit Umgehung des Städtchens gelangte. Ins Städtchen selber war ich selten gekommen. Nun aber machte ich öftere Fußreisen nach verschiedenen Teilen des Städtchens Liestal. Nie allein, so weit reichte das Vertrauen auf meine Klugheit noch nicht, ich war ja dieses Frühjahr erst vier Jahre alt geworden, sondern meistens mit Agathe, mitunter auch mit meiner Mutter oder meinem Vater.
Noch immer blieb das Gestadeck das häufigste Ausflugsziel; man befand sich eben dort ein wenig wie auf dem Lande. Aber jetzt durfte ich das Gestadeck gründlich kennenlernen. Wohl mir, denn in einer Gasse des Gestadecks erspürte ich eine unterirdische Base – schade, daß ich ihren Namen vergessen habe –,zu deren Stüblein man von der Straße auf einer Treppe hinunterstieg. Diese Base, die selbstverständlich wie alle Basen Rosinchen zu verschenken hatte, wurde jenen Sommer neben Fräulein Bahrdt meine Hauptfreundin. Ich kehrte dort jedesmal ein, so oft ich ins Gestadeck geleitet wurde. Auch in die großmächtige, gefährliche Sägemühle neben der Kaserne kam ich wiederholt, je länger, desto öfter. Dort wohnte ein Trüpplein Kinder, die mich zum Spielen einluden und mich in den weiten unheimlichen Räumen neben und über den donnernden Wassern und rauschenden Sägen umherführten.
Über dem Gestadeck und dem Exerzierfeld, abseits auf einem Bühl, war damals der Turnplatz. Auf diesem Turnplatz, wo ich zwanzig Jahre später die Urszene meines Prometheus erlebte, von welcher ich meine Dichtereigenschaft herleite, brachte ich in Gesellschaft von Agathe einen langen und etwas langweiligen Nachmittag zu. Ich saß und lag auf einer Bank unter einem Lindenbaum und ermaß, mit dem Blick aufwärts schauend, den unerschöpflichen Wunderreichtum der Baumkrone. Von jenem Nachmittage her habe ich eine gewisse Ehrfurcht vor jedem Menschen behalten, der einen Baum zeichnen kann.
Im Städtchen war es Papa, der mich auf Spaziergängen seinen Bekannten – und so ziemlich jedermann war sein Bekannter – vorstellte, wenn sie, vor der Haustür oder Ladentür stehend, ihm den Willkomm boten. Eine ansehnliche Zahl Freunde unter der Liestaler Einwohnerschaft gewann ich damals, die mir ein treues Andenken bewahrten, während ich sie nach meiner Abreise gänzlich vergaß. Wie oft ist es mir in späterer Zeit begegnet, daß mich in Liestal ein altes Männlein oder Weiblein anredete: »Kennen Sie mich denn nicht mehr? Wir sind doch so gute Freunde zusammen gewesen, als Sie noch ein kleines Büblein waren.«
Der Exerzierplatz unten bei der Kaserne war in diesem Sommer besonders ausgiebig. Vornehme grüne eidgenössische Obersten erschienen, um die Übungen zu leiten oder zu beurteilen; diesen galt von nun an meine Schwärmerei. Wenn man mich fragte: »Was willst du werden, wenn du einmal groß bist?« antwortete ich nicht mehr wie früher: »Ein Oberst Sulzberger«, sondern: »Ein eidgenössischer Oberst.« Noch ein anderer überlegener Nebenbuhler in meiner Andacht erwuchs jetzt dem Oberst Sulzberger: der Riese des Kantons, die Krone der Schöpfung: der Tambourmajor Gerster. Freilich, so hoch hinauf verstieg sich meine Hoffnung nicht; seufzend verzweifelte ich daran, jemals so groß zu werden wie der Tambourmajor Gerster von Gelterkinden. Ich war wohl größer als die andern Knaben meines Alters, doch leider nicht doppelt so groß. Allein man sollte nie die Hoffnung aufgeben: ich bin später doch Tambourmajor geworden, bei den Basler Kadetten.
Alles andere aber drängten bald die Fußreisen nach Schönthal in den Hintergrund, die mein Vater immer häufiger, schließlich fast täglich, mit mir unternahm. In Schönthal suchte er einen Herrn Schaffter auf, der in der Fabrik meines Paten, des Herrn Stehlin aus Basel, angestellt war. Diese Schönthalerreisen hatten für mich einen vielfachen Reiz. Zunächst erhob es mein Selbstbewußtsein, daß ich eine so große Fußreise (eine halbe Stunde Entfernung) hin und zurück auszuführen vermochte, ohne mich nachher im mindesten müde zu fühlen. Dann gab es auf halbem Wege einen umgitterten Hof und in dem Hof einen Mann in Uniform (Invaliden?); er war nicht ganz ein Soldat, aber fast. Dieser beehrte meinen Vater und mich jedesmal, wenn wir vorbeigingen, mit seinem Gruß, was mir im Herzen wohltat. Schon allein wegen dieser Halbkaserne, Alter Spital genannt, freute ich mich auf die Ausflüge nach Schönthal. Wieder etwas Schönes kam, wenn man in der Nähe von Schönthal die Landstraße verließ und rechts das Fußweglein hinunterstieg. Ein unvergleichlich nettes Weglein, wie keine andern Weglein, sauber und glatt wie ein Zimmerboden. Und links vom Weglein, auf der Höhe der Landstraße, wuchs ein grüner Rain mit einem buschigen Wäldchen darauf. Dann in Schönthal die beiden Basler Fabriken des Herrn Bölger und des Herrn Stehlin mit ihren herrschaftlichen Gärten und Landhäusern, mit ihren vergnüglichen Bächlein und Brücklein. Ferner Herr Schaffter selber, der mir gefiel, weil er städtisch gekleidet war, weil er lebhaft und höflich mit einem sprach und weil ich ihn für den Herzensfreund meines Vaters hielt. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um Herzensfreundschaft, sondern um Geschäftsfreundschaft. Mein Vater hatte im Plan, gemeinsam mit Herrn Schaffter ein Weinhandlungsgeschäft zu gründen. Endlich etwas Märchenhaftes auf dem Rückwege. Den Rückweg nahm mein Vater mit mir nicht auf dem Fußweglein, auf welchem wir gekommen waren, sondern steil aufwärts die Schönthaler Halde hinan und von dort auf der Landstraße. Auf der Landstraße kam man an einer Baumgruppe zur Linken vorbei, die meine Unerfahrenheit als Wald deutete. Ein Wald aber mitten im Alltagsleben, dicht neben der Landstraße, hatte für mich etwas Unglaubliches, Märchenhaftes. Tief bewegt zog ich jedesmal dort vorbei, mit staunendem Blicke nach den rätselhaften Bäumen, die aus dem Märchenlande bis an die Landstraße herangewachsen gekommen waren, und nachts wiederholte mir der Traum die geheimnisvolle Erdenstelle über Schönthal, wo über den Rand der gemeinen, mit Bauernkarren und Postwagen besäten Landstraße der leibhaftige Wald ragte. Aber wohlverstanden, ich träumte nicht etwa mit der Phantasie Märchen dorthinein, nicht ein künftiger Dichter staunte die Baumgruppe an, sondern ein geborener Zeichner: ich lernte die Gestalten der Bäume auswendig, unterschied diese Gruppe von allen, die ich bisher geschaut hatte, und sog an der seelischen Stimmung, die sie enthielt.
Eines Tages jedoch, als ich wieder vor meiner Mama meine Freude über die Schönthaler Reisen äußerte, sagte sie nachdenklich, mehr für sich selber als für mich: »Mit den Schönthaler Reisen ist es zu Ende. Wir ziehen ja nach Bern.«
Der Sommer mit seinen Zukunftsplänen war wurmstichig. Schon bald nach Jahresanfang war etwas anderes im Gange. Mein Vater hatte in Bern unter seinen Kollegen, den Tagsatzungsgesandten, viele Freunde gewonnen, von denen die Mehrzahl jetzt hohe Ämter im neuen Bundesstaate bekleidete und die ihn vermißten. Insonderheit der ›Chef des Finanzdepartements‹, wie man in der Schweiz sagt, oder der Finanzminister, wie man ihn in Deutschland nennen würde, Bundesrat Munzinger, mochte ihn nicht entbehren. In herzlichen Briefen bestürmte er ihn, nach Bern zu kommen. Die Stelle eines eidgenössischen Kassiers war frei geworden; für sie, urteilte Herr Munzinger, eigne sich mein Vater. Lange sträubte sich dieser, endlich ließ er sich durch die überzeugenden Gründe seines Freundes bekehren, erteilte Herrn Munzinger die Ermächtigung, ihn dem Bundesrat als Bewerber vorzustellen, wurde einstimmig gewählt und aufgefordert, unverzüglich, schon am ersten Juli, also binnen acht Tagen, sein neues Amt anzutreten.
Hiermit war die Notwendigkeit gegeben, schleunig von Liestal nach Bern überzusiedeln und selbstverständlich vor allem seine Entlassung aus dem kantonalen Amt nachzusuchen. Das war augenblicklich zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt. Der hastige, überstürzte Umzug dagegen verursachte Aufregungen und Sorgen. Was mit dem Hause beginnen? was mit den Hausgerätschaften, die man nicht mitnehmen konnte oder mochte? Da hatte zum Beispiel mein Vater für die geplante Unternehmung mit Herrn Schaffter eine Unmenge Wein im Keller. Hauptsächlich um diesen loszuwerden, ließ er sich eine Gantbewilligung erteilen. ( ›Gant‹ heißt bei uns eine öffentliche Versteigerung.) Für das Häuschen fand sich ein Mieter, das war also ebenfalls im reinen.
Und nun ging es an die Abschiedsbesuche. Von diesen ist mir einzig der Besuch bei Fräulein Bahrdt in Erinnerung geblieben. Sie schenkte mir ein unglaublich schönes Schächtelchen, blau, unsäglich schön und rein blau, mit goldenen Zackenlinien in der blauen Fläche, und versprach uns, uns in Bern zu besuchen. Das Schächtelchen stimmte mich fröhlich, während sonst mein Verstand ein ziemlich dummes Gesicht zu der bevorstehenden Übersiedlung machte. Ich wußte nicht recht, sollte ich mich darüber freuen oder nicht. Eigentlich wäre ich ganz gern in Liestal geblieben; es ließ sich alles gerade jetzt so vielversprechend an: die Obersten und der Tambourmajor auf dem Exerzierplatz, das Schönthal mit Herrn Schaffter und dem Wald neben der Landstraße, die unterirdische Base mit den Rosinchen im Gestadeck und noch so vieles. Anderseits mochte ich den Elefanten von Bern doch auch gerne wiedersehen, Abwechslung ist immer angenehm, das schafft Leben, und Agathe kommt ja mit. Übrigens dachte ich nicht viel darüber nach, sondern nahm, was kam, aus meiner Eltern Hand – sie werdens schon wissen, mir ist alles recht, wenn nur überhaupt etwas geht – und freute mich auf die bevorstehende Gant. Schon die Zurüstungen dazu waren genußreich. In der Scheune des Großvaters, wo die Gant stattfinden sollte, wurden ganze Burgen von Möbeln aufgestapelt, anzusehen wie ein Riesenspielzeug. »Oh, das ist doch etwas Lustiges«, meinte ich zur Großmutter, »eine Gant«! »Ach nein«, seufzte sie, »das ist gar nichts Lustiges.« Der Abschied lag ihr schwer im Herzen und meiner Mutter gewiß noch schwerer. Aber was wußte, was begriff, was ahnte ich von Abschiedsweh und Trennungsschmerz! Ich dachte einzig an die abenteuerliche Gant in der Scheune des Großvaters und des Ünggeli. Wie ein Freudenfest, wie eine allgemeine Liestaler Weihnachtsbescherung stellte ich mir die rätselhafte Gant vor.
Ich bekam die ersehnte Gant nicht zu sehen. Es wurde nämlich beschlossen, daß mein Vater, der vorausreisen mußte, weil der Amtsantritt keinen Aufschub erlaubte, mich bis Waldenburg mitnehme und dort dem Salomeli übergebe, für die paar Tage, bis Mama mit meinem Bruder und Agathe und dem Hausrat nachgefahren kommen werde.
Und so wurde ich denn eines Morgens von Papa in den Postwagen geschoben, und fort ging es von Liestal. Von Abschiedsgefühlen nicht der mindeste Anflug. Ich war mir in diesem Augenblick keines anderen Ereignisses bewußt, als daß ich wieder nach meinem Waldenburg zum Salomeli dürfe. Ein Reischen, folglich ein Vergnügungsreischen. Meinem Vater aber lag nichts ferner, als mich mit einem Wort auf die Wichtigkeit der Stunde aufmerksam zu machen. Er haßte alle ›Sentimentalitäten‹, sah es gerne, daß ich keine Ahnung davon hatte, daß neben dem Postkutscher das Schicksal saß.
Im Bubendorfer Bad rastete der Postwagen geraume Weile. Während der Rast durfte ich im parkähnlichen, mit Ruhebänklein versehenen Bergwald über dem Kegelplatze Entdeckungsreisen unternehmen, ganz allein; lebte mich auch augenblicklich ein, so daß ich mit Bedauern von dem Walde schied, als Papas Ruf mich zur Fortsetzung der Reise herunterholte. Bei der Bubendorfer Brücke, an der Stelle, wo früher meine Mutter und ich die eigentümliche Landschaftsstimmung verspürt hatten, verkündete mein Vater mit erhobener Stimme sachlich: »Dort geht es nach Bubendorf.« In Hölstein erzählte er von den Verwüstungen, die der Bach vor Jahren durch Überschwemmungen angerichtet hatte. Vor Waldenburg machte er auf den großen Landbesitz des Leuenwirts Jöri aufmerksam: »Der ganze Wald dort oben gehört ihm.«
In Waldenburg, unten vor der Kirche, stiegen wir aus und erwarteten das Salomeli. Die kam eilends aus dem Städtchen herangetrippelt und nahm mich in Empfang, worauf Papa nach einem flüchtigen Gruß mit der Post weiterfuhr. So war ich denn wieder bei meinem Salomeli, folglich glücklich und zufrieden. Zunächst ging sie mit mir zum Förster, der einen lebendigen Fuchs an der Kette hatte, im Hundehäuschen vor der Haustür. Nachdem ich diesen sattsam bewundert, führte sie mich heim zur Tante Tschopp und zum ›Schwesterlein‹ . Was ich in den kurzen ein oder zwei Tagen in Waldenburg erlebte, weiß ich nicht mehr. Sicher ist, daß ich mich sofort wieder glücklich fühlte. So glücklich, daß man mich fast mit Gewalt in den Wagen stoßen mußte, als Mama angekommen war und es galt, die Reise nach Bern fortzusetzen. Nur weil das Salomeli bis Langenbruck mitfuhr, ließ ich mich schließlich überreden, einzusteigen.
In Langenbruck wird wohl der Segensspruch der Urgroßmutter stattgefunden haben, der mir so tief im Gedächtnis geblieben ist. Die Erinnerung zeigt mir indessen bloß das Bild, nennt mir zum Bilde nicht zugleich die Jahreszahl. Die Überlegung aber glaubt, es hierhersetzen zu sollen. Denn hier, bei der Auswanderung der ganzen Familie aus der Heimat, war Grund und Anlaß zu pathetischer Stimmung für eine kranke, bresthafte Urgroßmutter. Wann übrigens auch der Segenswunsch stattgefunden haben mochte, der Wunsch ging in Erfüllung. Die beiden Kinder, die einst die Urgroßmutter segnete, haben neben vielem Leid, das keinem Menschen erspart wird – doch Verzeihung! ich nehme mir die Freiheit, diesen Satz nicht zu vollenden.
In Balsthal aßen wir bei Herrn Schenker zu Mittag, draußen vor dem Hause auf der Straße zwischen zwei Granatbäumchen in Kübeln. Herr Schenker war inzwischen Obmann geworden und wohnte jetzt mitten im Dorfe. Während der Zubereitungen zum Mittagessen sah ich zum ersten Male des Lebens ein Hühnchen schlachten. Entsetzlich! Mit dem Messer durch den Schnabel in den Hals!
Hernach nichts mehr. Von der ganzen Weiterreise keine Spur im Gedächtnis. Wahrscheinlich deshalb, weil wir diesmal in einem engen, geschlossenen, mit Personen und Möbelstücken überfüllten Wagen fuhren, der keinen freien Ausblick erlaubte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hörte ich einen tosenden Lärm, so daß ich zuerst meinte, ich wäre in der Sägemühle des Gestadecks. Ich war aber nicht in der Liestaler Sägemühle, sondern in der Fabrik der Herren Nägeli und Rieter in Holligen bei Bern.
Schon nach einem halben Jahre hatten wir Kinder die Berner Sprache angenommen, während die Eltern immer ihre heimische Mundart bewahrten. In der Folge verbernerten wir beide ganz und gar, so daß wir später den Schulkameraden in Basel völlig als Bernerbuben erschienen, auch mit unserer Aussprache Lehrern und Schülern anfänglich lebhaftes Ergötzen bereiteten. Nicht das Emmentalerdeutsch eines Gotthelf und Loosli, sondern das Stadtbernische der Tavel und Greyerz.
Im Innersten jedoch, im Herzen, blieben wir Basellandschäftler. Zu lebhaft leuchteten in unserer Erinnerung die tausend und aber tausend Erlebnisse der vier ersten Kinderjahre, zu innig beseelte uns die Anhänglichkeit an unsere Großeltern, Vettern und Verwandten, zu zahlreiche Freunde, Bekannte und Gönner hatten wir zurückgelassen, als daß wir uns dessen hätten entledigen können. Wir fühlten uns in Bern von der ersten Stunde an als Abwesende und bald als Verbannte. Mit der Zeit übernahm uns ein sehnsüchtiges Heimweh, das den Hintergrund unseres gesamten Gefühlszustandes bildete und mit den Jahren nicht abnahm, vielmehr immer deutlicher ins Bewußtsein emporwuchs. Das Wort ›Heimweh‹ kannten wir zwar nicht, und das Wort ›Heimat‹ verstanden wir nicht. Anders als unsere Mutter, deren Augen feucht erglänzten, wenn wir kräftig und ruhig sangen »Heimat, Heimat über alles«. Aber die Sache kannten wir: die glühende Sehnsucht nach den zurückgelassenen lieben Menschen und trauten Örtlichkeiten.
Ein Wort war es, das unsere Sehnsucht im Traum und im Wachen seufzte: das Wort Liestal. Mit Liestal meinten wir nicht das Städtchen, denn mit diesem verbanden uns nur wenige und verhältnismäßig unbedeutende Erinnerungen, sondern vor allem die lieben Menschen, die in Liestal wohnten, die Großmutter, der Großvater, der Ünggeli und so weiter, sodann in zweiter Linie das Haus und die Umgegend des Hauses, wo sie wohnten, also die Brauerei. Nicht etwa das Häuschen unseres Vaters; denn alles, was einst Liebes darin gewesen war, war ja mit uns nach Bern gezogen: Mutter, Vater und Agathe. Fremde Menschen hausten jetzt darin, es galt unserm Herzen für leer, wir würdigten es, wenn wir in den Ferien nach Liestal reisten, keines Blickes.
Von der Heftigkeit unseres Heimwehs kann ein anderer sich schwer eine Vorstellung machen; zumal es sich um Kinder handelt, von denen doch die Sage geht, sie lebten in den Tag hinein. Wo fange ich an, um von den tausend Proben einige zu berichten? Der Spaziergang nach dem beliebten Ausflugsort Enge lud unser Herz mit Wehmut, weil dort die Aare zu sehen ist, die in der Richtung gegen Liestal strömt. In der Gerechtigkeitsgasse, an der linken Ecke gegen das Rathaus, neben dem Apotheker Müller, gab es ein Haus, das von außen wie die gemeinen Häuser aussah, aber aus dem Hofe innen im Hause fuhr der Postwagen nach Liestal, und zwar, wie Papa uns sagte, nicht bloß ein- oder zweimal im Jahr, sondern täglich. Es gab also Pferde, sogar Menschen: einen Kutscher und einen Kondukteur, die Glücklichen, die jede Woche nach Liestal fahren durften! Ja warum, wenn man es doch kann, fahren nicht alle Menschen alle Wochen nach Liestal? Und wenn die andern Menschen nicht wollen, warum nicht wir? Jammervolle Traurigkeit schlug uns nieder, wenn irgendein Umstand uns an dieses Posthaus erinnerte; besser gar nicht daran zu denken.
Einmal machten unsere Eltern in Gesellschaft anderer mit uns eine Spazierfahrt in die Nähe von Schönbühl. Wir wußten, daß Schönbühl die erste Poststation auf dem Wege nach Liestal ist. Da bettelten wir allen Ernstes, doch weiterzufahren, da wir doch schon unterwegs seien, und konnten nicht begreifen, warum wir statt dessen rückwärts nach Bern kehrten. Ebenso später, als wir mit der Schule ein Reischen nach dem Weißenstein machten. Auf einer Anhöhe über Solothurn zeigte ein Lehrer gegen das Hauensteingebirge: »Dort geht es nach Langenbruck und Liestal«, verkündete er. Nun also! Wenn es doch dort nach Liestal geht, warum gehen wir nicht nach Liestal statt auf den unnützen Weißenstein? Im wachen Zustande drängten die täglichen Sorgen und Vergnügungen das Heimweh in den Hintergrund. Aber von Zeit zu Zeit die nächtlichen Träume! Wenn mein Bruder eines Morgens zu mir oder ich zu ihm sagte: »Ich habe von Liestal geträumt«, so verstanden wir einander und seufzten. Das gemeinsame Heimweh vornehmlich hat uns die Bruderliebe gelehrt. Wohl kam ab und zu dieser oder jener der schmerzlich Vermißten auf Besuch zu uns nach Bern, und solche Besuche wurden als Herzerquickung mit jubelnden Freudenstürmen begrüßt, allein das war ein Trost, nicht eine Erfüllung; die Ankunft eines einzelnen schürte die Sehnsucht nach sämtlichen.
Nur eines half zum Glücke, zum zeitweiligen Glücke wenigstens: die Ferienreise nach Liestal, wenn sie uns erlaubt wurde, und sie wurde uns fast alle Jahre einmal erlaubt. Ha, wie da unsere Herzen klopften! Wie wir angstvoll zwischen Furcht und Seligkeit die letzten Tage und Stunden vor der Abreise im Erwartungsfieber dahinlebten, besorgend, es könnte noch in der letzten Minute ein dummes Hindernis dazwischenplumpsen. Mein Bruder freute sich einmal in der letzten Nacht vor der Abreise so unsinnig, daß er am Morgen sich krank meldete und die Liestaler Reise unterbleiben mußte. Ich kann es ihm noch heute nicht recht verzeihen.
Der Weg aber, der nach Liestal führte, wurde uns zur heiligen Straße. Natürlich! er führte doch in die Seligkeit. Oh, wie wir den auswendig kannten! Zuerst Schönbühl. Dort entschied es sich. Wenn man beim Gasthof Schönbühl um die richtige Ecke herum war, in der Richtung gegen Utzenstorf und Jegenstorf, so war man gerettet. Nichts konnte einen mehr zurückholen. Aber die richtige Ecke mußte es sein; denn es liefen eine Menge Straßen bei Schönbühl nach allen Richtungen. Zum Beispiel nach Biel. Weswegen läuft eine Straße nach Biel? Gibt es denn auf der Erde Menschen, so verstandesblöde, so stumpfsinnig, so glückblind, daß sie nach Biel mögen statt nach Liestal? Kaum zu glauben. Aber es scheint so. Hinter Schönbühl mußte man Geduld schöpfen, denn bis Solothurn wurde es langweilig. Mit Solothurn hatte man die Hälfte gewonnen. Dürrenmühle und die Klus winkten als die ersten heimatlichen Grüße aus der Ferne. Langenbruck, nun ja, die Urgroßmutter wohnt dort, das ist schon etwas, obschon noch nicht das Rechte, mehr nur eine Andeutung. Dagegen Jöris Gärtlein und die Waldenburger Schloßruine, o Wonne! das ist schon halb Liestal. Jetzt Herz und Augen auf! – Aber warum dauert es von Waldenburg nach Liestal noch so unvernünftig, so endlos lange? Was soll das für einen Zweck haben? Gar nicht zu erleben. – Endlich, endlich heißt es: »Seht ihr dort den Kirchturm von Liestal?« Da tanzte die Ungeduld eine Erlösungspolka. Und das erste Mal, daß wir in den Ferien nach Liestal durften, tastete ich am nächsten Morgen im Halbschlaf mit der Hand an die Tapete, ob es auch zweifellos wahrhaftig wahr sei, daß ich nicht bloß im Traum, sondern in haltbarer, gegenständlicher Wirklichkeit die Glückseligkeit erlebte, im leibhaftigen Liestal aufzuwachen, in der Brauerei, beim Großvater, bei der Großmutter, beim Ünggeli und allem andern, was das Herz heilt.