B. Spinoza

Der Theologisch-politische Traktat

Neu übersetzt und mit einem
biographischen Vorwort versehen von
J. Stern

 

Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Leipzig

Zweite Auflage

Baruch de Spinoza

Baruch de Spinoza
Stich nach einem anonymen Gemälde
Bildquelle: digitalcollections.nypl.org

Vorwort des Übersetzers.

Benedikt Spinoza, der große epochemachende Denker, der die Philosophie von der Theologie völlig losgelöst hat und für die gesamte neuere Philosophie richtunggebend geworden, geboren am 24. November stammte aus einer jüdischen Familie in Amsterdam, wo viele der um ihres Glaubens willen aus Spanien und Portugal verjagten Juden, ebenso wie freidenkende Gelehrte, ein freundliches Asyl gefunden hatten. Er hieß ursprünglich Baruch, was »der, Gesegnete« bedeutet, wie der lateinisierte Name Benediktus. Der Knabe erhielt den herkömmlichen Unterricht in der hebräischen Bibel, dem Talmud und der sonstigen rabbinischen Literatur und zeigte schon frühzeitig glänzende Geistesgaben. Man erblickte in ihm daher ein künftiges Licht der Synagoge als Rabbiner.

Die Skepsis aber beunruhigte bald seine helle und scharfe Intelligenz und äußerte sich in Fragen und Einwürfen gegen seine Lehrer, die diese Altgläubigen oft in Verlegenheit setzten. Hiezu mochte er angeregt und bestärkt worden sein durch das Studium einiger älterer jüdischer Werke, worin manche rationalistische und sogar ketzerische Gedankenblitze aufzuckten. Besonders der Pentateuchkommentar des geistvollen und witzigen Abraham Ibn-Esra (aus Toledo 1088-1167) scheint mit seinem nur schwach verdeckten Unglauben an die mosaische Autorschaft des ganzen Pentateuch dem jungen Spinoza die Augen, geöffnet zu haben; im achten Kapitel des vorliegenden Buches hat er später die betreffende Hauptstelle erläutert und ergänzt. Er ist damit bahnbrechend geworden für die moderne kritische Richtung in Auffassung und Behandlung des Alten Testaments. Noch weit mehr entfremdete ihn dem traditionellen Glauben und erweiterte seinen Horizont die lateinische Sprache, die ihm die wissenschaftliche Literatur erschloß. Sein Lehrer war der Arzt van der Ende, ein vielseitig gebildeter Freigeist. Dessen gelehrte Tochter Olympia Klara Maria, die bisweilen an des Vaters Statt Lektionen gab, soll das Herz Spinozas in Flammen gesetzt haben, so daß er sich mit der Absicht trug, sie zu heiraten. Doch sie reichte ihre Hand einem reichen Hamburger Kaufmann. Es war wohl die einzige Frauenliebe Spinozas, ein heftiger aber flüchtiger Wellenschlag in diesem großen Leben. Die höhere Liebe zur philosophischen Erkenntnis, der sokratische Eros, den Platon im »Symposion« verherrlicht, und die er selbst in der »Ethik« amor dei intellectualis (geistige Liebe zu Gott) nennt, erfüllte fortan allein seine Seele.

Spinoza war aufrichtig und tapfer genug, von seinem inneren Zerfall mit dem Judentum die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Er hörte auf, die Synagoge zu besuchen und die Ritualgesetze zu beobachten, und wenn man ihn über seine Ansichten auszuholen suchte, machte er von ihnen kein Hehl. Nicht leicht mochte ihm selbst der Abfall von dem Religionswesen geworden sein, um das eine lange Leidensgeschichte eine Glorie wob und das so tief im Stammes- wie im Familiengefühl der Juden wurzelt.

Erbitterung, Haß, Anfeindung, Bedrohung, Verfolgung blieben nicht aus. Aber bevor der Fanatismus gegen ihn mobil machte, versuchte man gütlich auf ihn einzuwirken und die Gemeinde bot ihm sogar ein Jahrgehalt von tausend Gulden, wenn er die Synagoge bisweilen besuchen und den offenen Bruch vermeiden wolle. Man besorgte offenbar, er würde zum Christentum übertreten und wie so manche Abtrünnige früherer Zeiten eine Geißel seiner Stammesgenossen und ihres Bekenntnisses werden. Diese Besorgnis war schon darum unbegründet, weil Spinoza für den christlichen Glauben so wenig Sympathie empfand wie für den jüdischen. Spinoza wies das Anerbieten der Gemeinde verächtlich zurück und erklärte, er sei kein Heuchler und wolle nicht um das Zehnfache seine Überzeugung verleugnen. Er lebte fortan als »Konfessionsloser«.

Nun ward zur ultima ratio geschritten, zuvor jedoch versuchte ein Fanatiker ihn durch Meuchelmord unschädlich zu machen. Eines Abends wurde er von einem ehemaligen Gefährten angefallen, der mit einem Dolch bewaffnet war. Das Attentat mißglückte, der Stich ging nur durch den Mantel. Das durchstochene Gewand bewahrte er auf zum Andenken an diesen verruchten Akt des krassen Fanatismus.

In seinem 23. Lebensjahre wurde vom Rabbinat der »große Bann« gegen ihn verhängt, wie schon früher gegen seinen ketzerischen Landsmann Uriel Acosta, bekannt durch Gutzkows Trauerspiel. Diese feierliche Exkommunikation ( Cherem), die erst zur Einführung gelangte, nachdem mit der Auflösung des jüdischen Staates der Religionsbehörde andere gesetzliche Repressionsmittel gegen Sünder und Ketzer nicht mehr zu Gebote standen, hatte für den Betroffenen je nach seiner sozialen Position oft schwere Nachteile und war wohl geeignet, zu schrecken und zur Buße zu bewegen. Spinoza machte sich nichts daraus und antwortete nur mit einem Protest in spanischer Sprache.

Die Bannbulle, die ihm von der Gemeinde zugeschickt ward, ist um die Mitte des vorigen Jahrhunderts aufgefunden worden. Sie lautete im wesentlichen: »Nach dem Urteil der Engel und dem Urteil der Heiligen belegen wir mit Bann, schließen wir aus, verfluchen und verdammen wir Baruch Spinoza mit Zustimmung des kirchlichen Tribunals und mit Zustimmung jener ganzen heiligen Gemeinschaft, vor den heiligen Schriften, nach den 613 heiligen Geboten, die in ihnen geschrieben stehen, mit dem Fluch, mit dem Josua Jericho fluchte, mit dem Fluch, mit dem Elisa die Knaben verfluchte und mit allen Flüchen, die in dem Buche des Gesetzes geschrieben stehen. Verflucht sei er bei Tag und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er im Schlaf und verflucht sei er im Erwachen, verflucht sei er beim Ausgehen und verflucht sei er beim Eintreten. Möge der Herr ihm niemals verzeihen, möge der Herr seinen Zorn und seinen Eifer entbrennen lassen gegen den Menschen und alle Flüche auf ihn laden, die geschrieben stehen im Buche des Gesetzes, und er wird seinen Namen vertilgen unter dem Himmel, und der Herr wird ihn ins Elend hinausstoßen aus allen Stämmen Israels unter allen Flüchen des Himmels, die da geschrieben stehen im Buche des Gesetzes. Aber ihr, die ihr dem Herrn, eurem Gott anhänget, seid für heute alle gegrüßt! Bedenket, daß niemand jenen mündlich noch schriftlich anreden, niemand ihm irgend eine Gunst erweisen, niemand unter einem Dache mit ihm weilen, niemand sich ihm auf mehr als vier Ellen nähern, niemand irgend ein von ihm verfaßtes oder geschriebenes Schriftstück lesen darf.« – Man sieht, daß die Synagoge sich auf das Anathematisieren so gut verstanden hat, wie die Kirche. Um den Eindruck solcher Explosion des feuerspeienden Priestertums noch schauerlicher zu machen, wurde die Exkommunikation mit dem heiligen Widderhorn, Schofar, das in der Liturgie des jüdischen Neujahrsfestes eine wichtige Rolle spielt, akkompagniert. Es muß eine furchtbare Bewandtnis haben mit diesem Horn, schreibt H. Heine. Denn wie ich mal in dem Leben des Salomon Maimon gelesen, suchte einst der Rabbi von Altona ihn, den Freidenker, wieder zum Glauben zurückzuführen, und als derselbe bei seinen philosophischen Ketzereien halsstarrig beharrte, wurde er drohend und zeigte ihm den Schofar mit den finsteren Worten: »Weißt du, was das ist?« Als aber der Schüler Kants sehr gelassen antwortete: »Es ist das Horn eines Bockes!« da fiel der Rabbi rücklings zu Boden vor Entsetzen.

Einem Biographen zufolge hat noch die jüdische Hierarchie den Magistrat bewogen, Spinoza auf einige Monate aus der Stadt zu verbannen. Nach kürzerem Verweilen bei einem Freunde in der Nähe von Amsterdam begab er sich auf einige Monate nach Rhynsburg bei Leiden, sodann nach Voorburg, eine Stunde vom Haag, und endlich, ungefähr 1670, nahm er seinen Aufenthalt in Haag selbst, wo er bis zu seinem Ende blieb. Aus seiner Korrespondenz ergibt sich, daß er ab und zu von dem einem der genannten Orte zum anderen reiste.

In stiller Zurückgezogenheit, nur durch einigen wissenschaftlichen Verkehr mit Freunden und Gelehrten unterbrochen, führte Spinoza ein strenges Denker- und Forscherleben und schrieb seine lichtausstrahlenden Werke. Seinen Lebensbedarf, den er auf ein fabelhaft geringes Maß einschränkte, nicht aus asketischer Gesinnung, sondern um seine Unabhängigkeit zu wahren, erwarb er durch Schleifen optischer Gläser für Brillen und wissenschaftliche Zwecke, was er erlernte, als er dem Rabbinerberuf Valet gesagt hatte, und wobei ihm seine Kenntnisse der Mathematik und Physik zustatten kamen. Er hatte es darin zu einer Meisterschaft gebracht, so daß noch nach seinem Tode die von ihm geschliffenen Gläser zu hohen Preisen verkauft wurden. Etwas Zerstreuung suchte er im Zeichnen, worin er es zur Fertigung von Porträts mit Kohle oder Tinte gebracht hatte.

Die Biographen bezeugen einmütig den tadellos edlen Charakter Spinozas, wie seine Leutseligkeit und heitere Liebenswürdigkeit, die geistvolle Behandlung auch gewöhnlicher Gesprächsmaterien und seine weise Zurückhaltung im Umgang mit gläubigen Leuten.

Zahlreiche Züge seltener Uneigennützigkeit werden von ihm berichtet. Geldgeschenke, womit ihn seine Freunde gern unterstützt hätten, wies er zurück, und als einer derselben, Simon de Vries, ihn zum Erben seines Vermögens einsetzen wollte, bat er den Freund, er möge die Erbschaft dem eigenen Bruder zuwenden. De Vries tat es, fügte aber seinem Testamente die Bedingung bei, daß sein Bruder an Spinoza eine lebenslängliche Pension abgeben müsse. Als nun der zu Schiedam wohnende Bruder Spinoza ein Jahrgeld von 500 Gulden übermachen wollte, nahm dieser diese Summe nicht an, sondern reduzierte sie auf 300 Gulden, die er nun, solange er lebte, bezog. Nach dem Tode seiner Eltern überließ Spinoza den Anteil seines Vermögens freiwillig seinen Schwestern, ein Bett ausgenommen.

Um sich die Freiheit des Philosophierens nicht im geringsten einengen zu lassen, widerstand er 1673 dem verlockenden Ruf des Kurfürsten von der Pfalz auf den philosophischen Lehrstuhl der Universität Heidelberg und lehnte ihn ab mit weltmännischem Takt. (Man sehe die Korrespondenz darüber, Univ.-Bibl. 4553-55, Briefe 48/9.)

An den politischen Zeitereignissen nahm er lebhaftes Interesse, wie u. a. auch sein Freundschaftsverhältnis zu dem Staatsmann Jan de Witt zeigt. Fast hätte er während der kriegerischen Wirren als fälschlich verdächtiger franzosenfreundlicher Spion das Leben eingebüßt; doch seine mutige Rechtfertigung beschwichtigte die Volkswut. Während nämlich Holland mit Frankreich in Krieg verwickelt war, begab sich Spinoza auf eine Einladung hin nach Utrecht, um mit einigen bedeutenden Männern zusammenzutreffen. Kaum war er wieder im Haag angelangt, so wurde er als Spion verdächtigt, der mit dem Prinzen Condé heimlich zusammengekommen sei, um das Land zu verraten. Die Erregung gegen ihn war so groß, daß der Hauswirt Spinozas besorgte, man möchte die Tür sprengen, und es könnte zu Gewalttätigkeiten kommen. Spinoza aber sagte furchtlos: »Seid meinethalb unbesorgt, denn es ist mir leicht, mich zu rechtfertigen. Genug Leute auch unter den Angesehensten des Landes wissen wohl, was mich zu dieser Reise vermocht hat. Aber jedenfalls werde ich, sobald die Volksmasse vor der Tür Lärm machen sollte, gerade auf sie zugehen, sollte mir auch das nämliche Schicksal widerfahren, das die armen Herren v. Witt getroffen hat. Ich bin ein guter Republikaner und habe nie etwas anderes als die Ehre und das Wohl des Staates im Auge gehabt.« Seine gut demokratische Gesinnung ist namentlich aus dem »Politischen Traktat« ersichtlich.

Spinoza war von mittlerer Statur, hatte regelmäßige Gesichtszüge, schwarze glänzende Augen, eine bräunliche Hautfarbe, lange schwarze Augenbrauen und schwarzes gekräuseltes Haar, das in kräftiger Fülle den wohlgeformten Kopf umgab. Es sind noch mehrere Porträts von ihm vorhanden. Erst in späteren Jahren scheint er etwas kränklich ausgesehen zu haben, als die Schwindsucht ihn angefallen hatte, wie vermutet wird, infolge Einatmung des Glasstaubs beim Glasschleifen. Möglich auch, daß er in der Beschränkung seiner Bedürfnisse zu weit gegangen war, namentlich bei seiner anhaltend strengen Denkarbeit.

Spinoza starb nicht ganz fünfundvierzig Jahre alt. Seine Sterbestunde war der würdige Abschluß seines Lebens. Er hat dem Tod mit Seelenruhe entgegengesehen. Unerschüttert in seiner Weltanschauung hauchte er am 21. Februar 1677 sein Leben aus. Ein Einsamer; zu weit war die Distanz zu den Zeitgenossen und nicht gering selbst zu den meisten seiner Freunde; doch glückselig auf seinem sonnigen Hochgipfel. Tags zuvor, es war der Samstag vor den Fasten, ging der Hausherr mit seiner Frau zur Kirche. Als er um vier Uhr nach Hause zurückkehrte, kam Spinoza aus seinem Zimmer zu ihm herab und unterhielt sich lange mit ihm. Nachdem er eine Pfeife Tabak geraucht hatte, ging er wieder in sein Zimmer zurück und legte sich früh zu Bette. Am Sonntag Morgen kam sein Freund, der Arzt Ludwig Mayer aus Amsterdam, den er bestellt hatte, und dieser trug den Leuten im Hause auf, gleich einen Hahn zu sieden, damit Spinoza gegen Mittag die Brühe davon genießen könne. Diese nahm er denn auch mit gutem Appetit zu sich. Nachmittags blieb der Arzt allein bei ihm. Als die Hausleute vom Nachmittagsgottesdienst heimkamen, vernahmen sie zu ihrem nicht geringen Schrecken, daß Spinoza gegen drei Uhr in Gegenwart des Arztes verschieden sei. Einige Tage später wurde der Leichnam unter großer Beteiligung aus allen Kreisen bestattet.

Schwegler zeichnet in seiner »Geschichte der Philosophie« Spinozas Charakterbild also: »In seinem Leben spiegelte sich überall die wolkenlose Klarheit und Ruhe des vollendeten Weisen. Nüchtern, mit wenigem zufrieden, Herr seiner Leidenschaften, nie übermäßig traurig oder fröhlich, mild und wohlwollend, ein bewundernswert reiner Charakter, hat er die Lehren seiner Philosophie auch im Leben getreulich befolgt.«


Die erste Publikation Spinozas, Amsterdam 1663, war eine meisterhafte Darstellung der Philosophie des Cartesius (des Cartes), seines unmittelbaren Vorgängers, mit einem Anhang. Er hatte sie einem jungen Mann auf dessen Wunsch diktiert, wiewohl er mit dem Inhalt vielfach durchaus nicht einverstanden war, wie er ausdrücklich bemerkt.

Anonym und mit dem pseudonymen Druckort Hamburg statt Amsterdam, kam 1670 der (in meiner Übersetzung aus dem Lateinischen vorliegende) » Theologisch-politische Traktat« heraus. Er wirkte wie eine Sprengbombe und brachte namentlich die Theologen in Harnisch gegen das Werk und dessen trotz Anonymität wohlbekannten Autor. Wurden doch darin die Grundpfeiler des Kirchenglaubens, Wunder, übernatürliche Offenbarung und Unfehlbarkeit der Bibel, mit wuchtigen Argumenten, wiewohl im würdigen Ton – der nur pathetisch anschwellt oder sarkastisch sich zuspitzt, wo er auf die Intoleranz der Theologen zu reden kommt – fundamental erschüttert. Die praktische Pointe desselben ist die Emanzipation der Philosophie vom Joch der Theologie und die Forderung absoluter Denkfreiheit, (wie schon der Titel hervorhebt,) auf Grund origineller staatsrechtsphilosophischer Thesen. Das erste klassische Manifest der Toleranz. Verbot und Beschlagnahme konnte die Verbreitung nicht hindern; schon 1673 wurde es unter allerlei Scheintiteln neu gedruckt, und die zahlreichen Gegenschriften förderten nur sein Ansehen.

Das eigentliche Hauptwerk Spinozas, die » Ethik«, dieser monumentale Kristallpalast der Philosophie der reinen Vernunft, und zwar der gesamten Philosophie (den Namen »Ethik« führt das Werk nur nach der praktischen Philosophie, in welche es ausläuft), kam erst nach dessen Tod heraus. Näheres darüber im Vorwort zu meiner gleichfalls in der Univ.-Bibl. (Nr. 2361-64) erschienenen Übersetzung.

Weitere Schriften sind: » Die Abhandlung über die Vervollkommnung des Verstandes« (Univ.-Bibl. Nr. 2487). Der in holländischer Sprache abgefaßte Traktat » Über Gott«. » Der politische Traktat«, nicht vollendet (Univ.-Bibl. Nr. 4752/53). Endlich ein gleichfalls Fragment gebliebener » Abriß der hebräischen Sprachlehre« (1905 in hebräischer Übersetzung von Dr. Rubin in Krakau erschienen).

Auch wissenschaftlich hochinteressant und zum Teil wichtig für das richtige Verständnis der »Ethik« ist endlich der Briefwechsel mit größtenteils gelehrten Freunden. (Univ.-Bibl., s. o.)


Noch lange Zeit nach Spinozas Tod waren seine Schriften verfemt und sein Name geächtet. So wurde 1694 der Drucker einer holländischen Übersetzung, der sie weiten Kreisen zugänglich machte, in den »freien« Niederlanden auf mehrere Jahre zu Korrektionshaus verurteilt. Aber auf helle Köpfe übten sie große Anziehung, und durch sie sickerten Spinozistische Ideen mehr und mehr in die Wissenschaft und beeinflußten auch das öffentliche Leben. Die späteren Philosophen haben durch die Brillen gesehen, die Spinoza geschliffen, schrieb Heine geistreich.

In Deutschland war es besonders Lessing, der seinen Geist mit der Milch des Spinozismus nährte; ob er vollständig Spinozist war, was dessen Freund Mendelssohn leidenschaftlich bestritt, muß dahingestellt bleiben. – Der glaubenseifrige Jacobi selbst erklärte, es gäbe keine andere Philosophie als die Spinozas.

Wie stark Goethes Weltanschauung von Spinoza beeinflußt war, wissen wir aus »Wahrheit und Dichtung«. Im 14. Buch dieser Aufzeichnungen nennt er Spinoza den außerordentlichen Mann, dessen Geist auf seine ganze Denkweise großen Einfluß hatte, und sagt: »Nachdem ich mich in der Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die Ethik dieses Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wüßte ich keine Rechenschaft zu geben, genug, ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Noch weiteres führt er dort an, was ihn an Spinoza so sehr fesselte. – Nochmals kommt er am Anfang des 16. Buches auf Spinoza zurück und erzählt: »In unserer Bibliothek fand ich ein Büchlein, dessen Autor gegen jenen eigenen Denker heftig kämpfte, und um dabei recht wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenüber gesetzt hatte, mit der Unterschrift: » Signum reprobationis in vultu gerens«, daß er nämlich das Zeichen der Verwerfung und Verworfenheit im Angesicht trage. Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht leugnen; denn der Kupferstich war erbärmlich schlecht und eine vollkommene Fratze, wobei mir denn jene Gegner einfallen mußten, die irgend jemand, dem sie mißwollen, zuvörderst entstellen, und dann als ein Ungeheuer bekämpfen.« Indem er des weiteren auch über den Artikel »Spinoza« in Bayles Wörterbuch sein Unbehagen geäußert, fährt er fort: »Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß ich mich des einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.« – Spinoza war der philosophische Genius des »Olympiers«, der dessen Weltanschauung poetisch verklärte. Schön schreibt Heine in seinem Buch über die romantische Schule: »Die Lehre Spinoza hat sich aus der mathematischen Hülle entpuppt und umflattert uns als Goethesches Lied.« Und im Buch »Über Deutschland«: »Die mathematische Form gibt dem Spinoza ein herbes Äußere. Aber dieses ist wie die herbe Schale der Mandel; der Kern ist um so erfreulicher. Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe. Ein Wald von himmelhohen Gedanken, deren blühende Wipfel in wogender Bewegung sind, während die unerschütterlichen Baumstämme in der ewigen Erde wurzeln. Es ist ein gewisser Hauch in den Schriften des Spinoza, der unerklärlich. Man wird angeweht wie von den Lüften der Zukunft. Der Geist der hebräischen Propheten ruhte vielleicht noch auf ihrem späten Enkel.«

Der philosophische Proteus Schelling hat wenigstens in seiner früheren Periode den Spinozismus wie folgt gewürdigt: »Lange schon hatte sich der menschliche Geist (noch jugendlich kräftig und von den Göttern her frisch) in Mythologien und Dichtungen über den Ursprung der Welt verloren; Religionen ganzer Völker waren auf jenen Streit zwischen Geist und Materie gegründet, ehe ein glücklicher Genius – der erste Philosoph – die Begriffe fand, an welchen alle folgenden Zeitalter die beiden Enden unseres Wissens auffaßten und festhielten. Die größten Denker des Altertums wagten sich nicht über jenen Gegensatz hinaus. Plato noch stellt die Materie als ein anderes Gott gegenüber. Der erste, der Geist und Materie mit vollem Bewußtsein als Eines, Gedanke und Ausdehnung nur als Modifikationen (sollte richtiger Attribute lauten) desselben Prinzips ansah, war Spinoza. Sein System war der erste kühne Entwurf einer schöpferischen Einbildungskraft (? Erkenntniskraft wäre richtiger), der in der Idee des Unendlichen, rein als solchem, unmittelbar das Endliche begriff und dieses nur an jenem erkannte.«

Auch Hegel, der sich mehrfach recht beschränkt-gehässig über das System Spinozas und seinen Schöpfer selbst äußerte, fand doch auch wieder prächtige Worte der Anerkennung: »Spinoza ist Hauptpunkt der modernen Philosophie; entweder Spinozismus oder keine Philosophie.« – »Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein. Die Seele muß sich baden in diesem Äther der reinen Substanz.« – »Es gibt keine reinere und erhabenere Moral als Spinozas.«

Bei Schopenhauer, dessen Genialität einen starken Einschlag von Querköpfigkeit aufweist, macht sich gegenüber Spinoza meist die letztere Eigenschaft geltend. Und gerade er hätte zur Schätzung Spinozas besonderen Anlaß, denn seine originellsten und wertvollsten Gedanken sind aus Sätzen der Ethik hervorgekeimt. In »Die Welt als Wille und Vorstellung« Kap. 47 meint er, Spinoza sei, nachdem ihn über hundert Jahre hindurch unverdient Geringschätzung getroffen, durch die Reaktion im Pendelschwung der Meinung, im neunzehnten Jahrhundert wieder überschätzt worden. Er ist aber doch so gnädig, Spinoza als einen sehr großen Mann zu werten. Was soll man aber dazu sagen, daß Schopenhauer im 50. Kapitel nicht ansteht, zu schreiben, Spinoza habe den Juden nicht los werden können! Und womit begründet er das? Damit, daß nach Spinoza die Menschen ein weit größeres Recht auf die Tiere haben als die Tiere auf die Menschen. Es heißt doch aber dabei: »Ich bestreite nicht, daß die Tiere Empfindung haben, sondern nur, daß es deshalb verboten sein soll, sie zu unserem Nutzen zu gebrauchen und sie so zu behandeln, wie es uns am besten paßt.« Aber aus dieser rechtsphilosophischen Aufstellung liest Schopenhauer durchaus fälschlich eine Herzlosigkeit gegen die Tiere heraus, und die sei »ganz jüdisch«, während doch vielmehr die alttestamentliche wie die rabbinische Literatur überaus reich ist an humanen Aussprüchen und Gesetzen gegen die Tiere! (Siehe meine Schrift »Tierquälerei und Tierleben in der jüdischen Literatur.« Zürich 1880.) War doch Schopenhauer selbst kein Vegetarier, bei all seiner Schwärmerei für die Hindu in diesem Punkt.

Erwähnen wir noch die Stimme eines Theologen, allerdings nicht gewöhnlichen Schlags, Friedrich Schleiermacher, der Spinoza mit den begeisterten Worten feiert: »Opfert mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Universum war seine Liebe. Allein und unerreicht steht er da, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft.«

Zur Popularität gelangten Spinozas Werke in Deutschland erst durch deren Übersetzung von Berthold Auerbach (in fünf Bändchen, Stuttgart 1841). Deutsche Übersetzungen einzelner Werke waren schon früher vorhanden. Die Auerbachsche Übersetzung ist oft unbeholfen im Ausdruck, aber in der Wiedergabe der Gedanken weitaus korrekter als die spätere von J. H. v. Kirchmann.

Das Interesse weiterer Kreise für Spinoza wurde namentlich auch durch den Auerbachschen Roman »Spinoza« belebt; eine belletristische Jugendsünde dieses Schriftstellers. Ich teile zwar nicht die Meinung, daß Spinoza kein geeignetes Sujet zu epischer Behandlung in Romanform wäre. Es dürfte dieses sogar eine recht dankbare Aufgabe sein für eine Feder, die das Zeug dazu hat, diesen allerdings recht spröden Stoff dichterisch zu bewältigen. Das ist jedoch Auerbach so wenig gelungen wie anderen Bearbeitern neuerer Zeit.


Auf das »Kreuzige«! folgte das »Hosianna«! Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde auf dem Marktplatz im Haag eine Statue Spinozas errichtet, bei deren feierlicher Enthüllung von Berthold Auerbach eine Gedenkrede gehalten wurde mit dem Titel: » Spinoza de blyde Boodschapper der mondige Menschheet« (»Spinoza, der heilbringende Sendbote der mündigen Menschheit«).

Stuttgart, 1909.
J. Stern.

 

Theologisch-politischer Traktat.

Enthaltend
eine Reihe von Abhandlungen,

in welchen gezeigt wird, daß das freie Philosophieren nicht allein gestattet werden kann, ohne Gefahr für Religion und Bürgerfrieden, sondern daß dessen Verbot notwendig den Bürgerfrieden und die Religion gefährdet.

 

Daran erkennen wir, daß wir in Gott bleiben und Er in uns, daß Er uns von Seinem Geist gegeben hat.

1. Episte. Johannis, Kap. 4, V. 13.

 

Vorrede.

Wenn die Menschen alle ihre Angelegenheiten mit zuverlässiger Berechnung regeln könnten, oder wenn ihnen das Glück immer günstig wäre, so würden sie in keinerlei Aberglauben befangen sein. Weil sie aber oft in schwere Verlegenheiten kommen, in welchen sie sich nicht zu helfen wissen, und gewöhnlich in ihrem maßlosen Verlangen nach ungewissen Glücksgütern zwischen Hoffnung und Furcht kläglich hin und her taumeln, so ist ihr Geist meistens geneigt, alles zu glauben. Denn sobald derselbe im Zweifel befangen ist, läßt er sich von einem leichten Anstoß dahin oder dorthin treiben, und das um so leichter, je mehr er zwischen Hoffnung und Furcht schwankt, während er sonst nur allzu zuversichtlich, prahlerisch und aufgeblasen ist.

Dies kann meines Erachtens niemand verkennen, wiewohl ich glaube, daß die meisten sich selbst nicht kennen. Wer hätte unter den Menschen gelebt und nicht die Wahrnehmung gemacht, daß die meisten, so lange sie sich glücklich fühlen, wären sie auch noch so beschränkt, dennoch so sehr von Weisheit zu strotzen glauben, daß sie sich beleidigt fühlen, wenn man ihnen einen guten Rat geben wollte; wogegen sie im Unglück nicht wissen wohin, jeden Beliebigen um Rat anflehen und denselben befolgen, sei er auch noch so verkehrt, albern und abenteuerlich. Auch lassen sie sich alsdann von den bedeutungslosesten Umständen bewegen, Besseres zu hoffen oder Schlimmeres zu fürchten. Wenn ihnen nämlich, so lange sie in Furcht schweben, etwas zustößt, das die Erinnerung an ein glückliches oder unglückliches Ereignis wachruft, so meinen sie, es kündige ihnen das einen glücklichen oder unglücklichen Ausgang an und nennen es darum eine günstige oder ungünstige Vorbedeutung, möge es auch schon hundertmal getäuscht haben. Stößt ihnen vollends etwas Seltsames, scheinbar Wunderbares zu, so halten sie es für ein Wunderzeichen, das den Zorn der Götter oder des höchsten Wesens an kündigt und meinen – abergläubisch und irreligiös wie sie in der Regel sind – sie müßten die Gottheit durch Opfer und Gelübde versöhnen. Eine Menge solcher Dinge ersinnen sie, indem sie die Natur auf die sonderbarste Weise erklären, als ob sie mit ihnen selbst verrückt geworden sei.

Da nun die Sachen also stehen, so finden wir, daß vorzugsweise solche Menschen, welche nach unsicheren Glücksgütern recht heftiges Verlangen haben, jeder Art von Aberglauben zugethan sind und daß ferner so ziemlich alle Menschen, namentlich wenn sie in Gefahr schweben und sich nicht zu helfen wissen, mit Gebeten und weibischen Thränen die göttliche Hilfe erflehen. Die Vernunft, (die natürlich einen sichern Weg zu den begehrten eitlen Dingen nicht zu zeigen vermag,) nennen sie blind, die menschliche Weisheit eitel; die Ausgeburten ihrer Einbildungskraft dagegen, Träume und kindische Albernheiten, halten sie für göttliche Orakel und meinen sogar, Gott sei den Weisen abhold und habe seine Beschlüsse nicht in den Geist des Menschen, sondern in die Eingeweide der Tiere geschrieben und Narren, Irrsinnige, sogar Vögel verkündeten sie zufolge göttlicher Eingebung. So närrisch macht die Menschen die Furcht; sie ist es, die den Aberglauben erzeugt, nährt und begünstigt.

Wenn Jemand zu dem bereits Gesagten einzelne Beispiele zu haben wünscht, so denke er an Alexander den Großen, welcher damals erst vom Aberglauben ergriffen wurde und Wahrsager zu brauchen anfing, als er in den Engpässen von Cilicien zuerst das Schicksal fürchten lernte (s. Curtius, Buch V. Kapitel 4); nach der Besiegung des Darius aber hörte er auf, Zeichendeuter und Wahrsager zu befragen, bis er, durch der Zeiten Ungunst wiederum erschreckt, – als die Baktrier abgefallen waren und die Scythen zur Schlacht herausforderten, während er an einer Wunde erschöpft darniederlag, – »abermals (wie Curtius selbst Buch VII, Kap. 7 sagt) in den Aberglauben, das Spiel des ausgearteten Menschengeistes, rückfällig wurde und dem Aristander, welchem er seine Leichtgläubigkeit anvertraute, befahl, den Ausgang der Dinge durch Opfer zu erforschen.«

Solche Beispiele könnten noch vielfach angeführt werden, welche aufs deutlichste das Gesagte darthun, daß nämlich die Menschen nur so lange die Furcht währt sich vom Aberglauben ergreifen lassen; daß alles, was sie je in solch falscher Religiosität für verehrungswürdig hielten, nichts, anderes war als Einbildung und Wahnwitz, entsprungen aus einem trüben und furchtsamen Herzen; daß endlich die Wahrsager desto mehr das Volk beherrscht und den Fürsten Furcht eingeflößt haben, je bedrängter die Lage eines Staates war. Indessen gehe ich nicht weiter darauf ein, da ich es als bekannt voraussetze.

Aus der erörterten Ursache des Aberglaubens geht nun klar hervor, daß alle Menschen von Natur aus für den Aberglauben empfänglich sind, (wenn auch andere glauben, dies komme daher, weil alle Sterblichen nur eine unklare Vorstellung von Gott hätten). Es folgt daraus weiter, daß der Aberglaube sehr verschieden und auch sehr veränderlich sein muß, wie alle Hirngespinnste und Gebilde der Aufregung. Es folgt endlich, daß nur Hoffnung, Haß, Zorn oder Verschmitztheit den Aberglauben verteidigen können; natürlich, da er nicht aus der Vernunft, sondern bloß aus einem Affekt, und zwar einem sehr heftigen, entspringt. So leicht es daher ist, den Menschen jede Art von Aberglauben einzuflößen, so schwer ist es dagegen, es dahin zu bringen, daß sie in einem und demselben Aberglauben verharren. Ja, weil die große Menge immer gleich elend bleibt, bleibt sie nie lange demselben Aberglauben ergeben; vielmehr wird sie immer wieder von einem neuen Aberglauben angezogen, von welchem sie noch niemals getäuscht worden ist. Diese Unbeständigkeit war von je die Ursache vieler Unruhen und furchtbaren Kriege. Denn da (wie aus dem bereits Gesagten erhellt und auch Curtius Buch VI, Kap. 10 sehr gut bemerkt) »nichts die große Menge stärker beherrscht als der Aberglaube«, so läßt sich dieselbe leicht verleiten, aus religiösen Gründen bald ihre Fürsten wie Götter zu, verehren, bald sie zu verwünschen und als allgemeine Pest des Menschengeschlechts zu verabscheuen.

Solchem Übel vorzubeugen, hat man sich unsägliche Mühe gegeben, eine bestimmte Religion, ob wahre, ob falsche, durch Bräuche und gottesdienstliche Einrichtungen so auszuschmücken, daß sie für das Allerwichtigste gehalten und mit der höchsten Ehrerbietung von jedermann gehegt würde; was indes niemand besser gelungen ist als den Türken, die sogar jeden religiösen Meinungsstreit für Sünde halten und die Urteilskraft mit so viel Vorurteilen einnehmen, daß im Geiste nicht der kleinste Raum für die gesunde Vernunft oder auch nur für den Zweifel bleibt.

Wenn es nun auch wahr sein sollte, daß es einer monarchischen Regierung als bewährtes Geheimmittel der Regierungskunst gilt und ihr darum sehr daran gelegen ist, die Menschen im Irrtum zu lassen und die Furcht, welche sie im Zaume halten soll, mit dem schönen Namen Religion zu verhüllen, damit die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen als wäre sie ein Glück und es nicht für schmachvoll sondern für höchst ehrenvoll halten, Blut und Leben für eines Menschen Ruhmsucht zu opfern: so kann doch in einem freien Staat nichts Unglücklicheres ersonnen und versucht werden als dies, da es mit der allgemeinen Freiheit ganz und gar unvereinbar ist, die freie Meinung des Einzelnen durch Vorurteile befangen zu machen oder auf irgend welche Weise zu beschränken. Was aber jene Unruhen anbelangt, zu welchen die Religion den Beweggrund abgiebt, so entspringen sie ganz gewiß nur daraus, daß man spekulative Fragen durch Gesetze entscheiden will und daß gewisse Ansichten wie Verbrechen für strafbar erklärt und verfolgt werden, so daß die Verteidiger und Anhänger dieser Ansichten keineswegs dem Wohle des Staates, sondern vielmehr dem Haß und der Wut der Gegner geopfert werden. Würde das Staatsgesetz nur Thaten richten, Reden aber straffrei lassen, so könnten dergleichen Unruhen mit keinem Rechtsvorwand beschönigt werden und es würden somit Meinungsverschiedenheiten nicht zu Aufständen ausarten.

Da mir nun das seltene Glück zuteil geworden ist, in einem Staate zu leben, worin jedem die unbeschränkte Meinungsfreiheit und das Recht, Gott nach eigener Überzeugung zu verehren, zugestanden ist, und worin die Freiheit als das teuerste und köstlichste Gut geschätzt wird, so hielt ich es für kein undankbares noch unnützes Unternehmen, zu zeigen, daß diese Freiheit nicht bloß, gewährt werden kann ohne Nachteil für Religion und Bürgerfrieden, sondern daß sogar diese Freiheit nicht beeinträchtigt werden kann, ohne, daß der Bürgerfrieden und die Religion dadurch beeinträchtigt würden. Das ist es vorzugsweise, was ich in diesem Traktat zu zeigen mir vorgesetzt habe. Zu diesem Behufe mußte ich vor allem die wesentlichen Vorurteile über die Religion, nämlich die Spuren ehemaliger Knechtschaft darthun; sodann auch die Vorurteile über das Recht der höchsten Staatsgewalt, welches viele häufig mit schamloser Frechheit an sich zu reißen suchen, indem sie den von einem heidnischen Aberglauben befangenen Geist der Menge unter religiösem Vorwand darüber irreleiten, damit alles wieder in Knechtschaft versinke. Die Reihenfolge, in welcher das geschehen soll, will ich mit wenig Worten angeben; vorher aber will ich die Gründe darlegen, die mich zu dieser Schrift bewogen haben.

Oft mußte ich mich darüber wundern, wie Menschen, die sich rühmen, die christliche Religion zu bekennen, also die Liebe, die Freude, den Frieden, die Selbstbeherrschung und die Treue gegen jedermann, in höchst feindseliger Weise miteinander hadern und täglich den bittersten Haß gegeneinander auslassen, derart, daß ihr religiöses Bekenntnis weit mehr an solchem Benehmen als an jenen, Tugenden erkannt wird. Schon längst ist es soweit gekommen, daß sich Christen, Türken, Juden und Heiden durch kein anderes Merkmal unterscheiden, als durch die körperliche Beschaffenheit, durch die äußerliche Tracht, durch das Gotteshaus, welches sie besuchen und endlich durch die Glaubenssätze, denen sie huldigen und daß die einen auf die Worte dieses, die andern auf die Worte jenes Meisters schwören. Im übrigen ist der Lebenswandel aller der nämliche. Die Ursache dieses Übelstandes liegt für mich zweifellos darin, daß bei den Massen die Meinung herrschte, es gehöre notwendig zur Religion, daß die kirchlichen Ämter als Würden, der kirchliche Dienst als Einkommensquelle behandelt und die Geistlichen hoch in Ehren gehalten werden. Denn seitdem dieser Mißbrauch in der Kirche einzureißen begann, wurden bald auch die Unwürdigsten von der Sucht ergriffen, die heiligen Ämter zu verwalten; der Eifer, die göttliche Religion auszubreiten, artete so in schmutzige Habsucht und Ehrgeiz aus, der Tempel sank auf diese Weise zur Schaubühne herab, wo nicht Kirchenlehrer, sondern Redner sich hören ließen, welche nicht das Bedürfnis empfanden, das Volk zu belehren, sondern es zur Bewunderung hinzureißen, und Andersdenkende öffentlich durchzuhecheln; man lehrte nur Neues und Seltenes, was von der Menge sehr bewundert ward. Daraus mußte natürlich viel Wettstreit, Neid und Haß entstehen, der auch durch die Zeit nicht gedämpft wurde.

Kein Wunder daher, daß von der alten Religion nur die äußerlichen Gebräuche geblieben sind (mit welchen die Menge Gott mehr umschmeichelt als verehrt) und daß der Glaube nichts anderes mehr ist als Leichtgläubigkeit und Vorurteile, und was für Vorurteile! solche, die den vernünftigen Menschen zum Tiere herabwürdigen, indem sie ganz und gar verhindern, daß der Mensch von seinem freien Denken Gebrauch mache, um Wahres von Falschem zu unterscheiden, und die eigens dazu erdacht zu sein scheinen, das Licht des Verstandes auszulöschen. Die Frömmigkeit, o ewiger Gott! und die Religion besteht in albernen Geheimmitteln, und Menschen, welche die Vernunft geradezu verachten und das Denken, als wäre es von Natur aus verderbt, verwerfen und verabscheuen, werden schmählicherweise für gotterleuchtet gehalten. Hätten sie aber nur ein Fünkchen göttlichen Lichtes, so würden sie sich nicht so hochmutstoll geberden, sondern lernen, Gott vernünftig zu verehren und, wie jetzt durch Haß, vielmehr durch Liebe sich von andern auszeichnen; auch würden sie Andersdenkende nicht so feindselig verfolgen, sondern sie eher bemitleiden (wenn sie anders um deren Heil und nicht vielmehr um das eigene Glück besorgt wären). Hierzu kommt noch, daß, wenn sie irgend ein göttliches Licht, inne hätten, dies aus ihrer Lehre erhellen, müßte; aber ich sehe wohl, daß sie zwar unendliche Bewunderung für die überaus tiefen Geheimnisse der Bibel an den Tag legen, aber gelehrt haben sie nichts anderes als die Spekulationen der Aristoteliker und Platoniker, denen sie die Bibel angepaßt haben, um sich nicht des Heidentums verdächtig zu machen. Ihnen genügt es nicht, mit den Griechen unsinnig zu sein, auch die Propheten sollen mit denselben närrisch sein. Dies zeigt deutlich genug, daß sie von der Göttlichkeit der Bibel nicht eine leise Ahnung haben, und je eifriger sie deren Geheimnisse bewundern, desto mehr beweisen sie, daß sie nicht sowohl an die Bibel glauben, als vielmehr ihr blindlings zustimmen. Das letztere geht auch daraus hervor, daß die meisten den Grundsatz aufstellen, (gewissermaßen als Schlüssel zu deren Verständnis und Ermittelung ihres wahren Sinnes,) die Bibel sei an allen Stellen wahrhaft und göttlich. Also das, was erst aus dem Verständnis und der strengen Untersuchung der Bibel sich ergeben kann, was wir somit weit besser aus ihr selbst, die keiner menschlichen Erdichtung bedarf, lernen würden, das stellen sie von vornherein als Regel ihrer Auslegung auf.

Da ich nun solcherlei im Geiste erwog, nämlich daß das natürliche Licht der Erkenntnis nicht allein geringgeschätzt, sondern von vielen sogar als Quelle der Gottlosigkeit verdammt wird, daß menschliche Erdichtungen für göttliche Lehren gehalten werden und Leichtgläubigkeit als Glauben geschätzt wird; da ich ferner die Wahrnehmung machte, daß die kirchlichen und weltlichen Schulstreitigkeiten der Philosophen mit heftigster Leidenschaftlichkeit geführt werden, woraus denn wütender Haß und Feindseligkeiten, welche leicht zum Aufruhr führen, und noch allerlei entsteht, dessen Aufzählung hier zu weit führen würde: beschloß ich ernstlich, die Bibel von neuem mit unbefangenem und freiem Geiste zu prüfen und nichts von ihr zu behaupten oder als ihre Lehre anzuerkennen, als was sich aus ihr selbst ganz klar ergiebt. Mit diesem vorsichtigen Verfahren in der Auslegung der heiligen Schrift ausgerüstet, begann ich zunächst, meine Untersuchungen auf folgende Fragen zu richten: Was ist Prophezeiung? In welcher Weise hat sich Gott den Propheten geoffenbart? Weshalb waren diese von Gott auserwählt? etwa weil sie von Gott und Natur erhabene Gedanken gehabt haben oder bloß um ihrer Frömmigkeit willen? Nachdem ich mir hierüber klar geworden war, war es mir nicht schwer zu behaupten, daß die Autorität der Propheten nur in solchen Dingen Gewicht haben könne, welche den Lebenswandel und die wahre, Tugend betreffen, im übrigen aber ihre Ansichten uns wenig angehen. – Hierauf ging ich weiter und suchte zu ermitteln, welchem Umstand es zuzuschreiben sei, daß die Hebräer die Auserwählten Gottes genannt werden? Da ich aber keinen andern Grund entdecken konnte, als den, daß ihnen Gott ein gewisses Land der Erde ausgewählt hat, in welchem sie sicher und bequem wohnen konnten, so schloß ich daraus, daß die von Gott dem Moses geoffenbarten Gesetze nichts anderes gewesen sein können, als das Recht des hebräischen Staates allein, weshalb außer den Hebräern niemand verpflichtet war, diese Gesetze anzunehmen und auch diese nur während der Dauer ihres Reichs an sie gebunden waren.

Um weiter herauszubringen, ob aus der Bibel gefolgert werden könne, daß das natürliche Denken von Natur verderbt sei, untersuchte ich, ob die allgemeine Religion, d. h. das durch Propheten und Apostel dem ganzen Menschengeschlecht geoffenbarte Gesetz, von denjenigen verschieden wäre, welches die natürliche Einsicht lehrt; ferner, ob Wunder gegen die Ordnung der Natur geschehen seien und ob diese das Dasein Gottes und die göttliche Vorsehung mit größerer Sicherheit und Klarheit beweisen, als die Dinge, welche wir klar und deutlich aus ihren ersten Ursachen erkennen. Allein ich fand, daß in dem, was die Bibel ausdrücklich lehrt, nichts enthalten ist, was mit dem natürlichen Denken nicht übereinstimmte oder ihm gar widerstritte, und außerdem fand ich, daß die Propheten eigentlich nur ganz einfache Dinge gelehrt haben, welche jedermann leicht begreifen kann, und nur hinsichtlich der Ausdrucksweise und der Begründung ihrer Lehren sich auszeichneten, indem sie eines solchen Redeschmucks sich bedienten und solche Gründe angaben, welche geeignet waren, den Geist der Menge zur Ehrfurcht gegen Gott zu bewegen. So gewann ich die feste Überzeugung, daß die Bibel die Freiheit des Denkens gänzlich unangetastet läßt und mit der Philosophie nichts gemein hat, beide vielmehr auf ihren eigenen Füßen stehen. Um dieses aber unwiderleglich zu beweisen und den ganzen Gegenstand näher zu beleuchten, werde ich zeigen, in welcher Weise die Bibel ausgelegt werden müsse und ferner, daß alles, was wir von der Bibel und geistlichen Dingen wissen, aus ihr allein, nicht aber aus der natürlichen Einsicht geschöpft werden kann.

Hierauf wende ich mich zur Beleuchtung der Vorurteile, welche daraus entstanden sind, daß die (dem Aberglauben ergebene und das zeitlich Wandelbare mehr als das Ewige liebende) Menge die Bücher der Bibel mehr als das Wort Gottes selbst verehrt. Ich werde zeigen, daß das geoffenbarte Wort Gottes nicht in einer bestimmten Zahl von Büchern besteht, sondern in der einfachen Vorstellung, wie sie die Propheten vom göttlichen Geiste gehabt haben und welche dahin zielt, Gott mit ganzer Seele. gehorsam zu sein und Gerechtigkeit und Liebe zu pflegen. Auch werde ich zeigen, daß die Art, wie dies in der Bibel gelehrt wird, der Fassungskraft und Denkweise derer entsprach, welchen die Propheten und Apostel das Wort Gottes zu predigen pflegten, und zwar deshalb, damit es die Zuhörer ohne Widerstreben und mit ganzer Seele beherzigen.

Nachdem ich so die Grundlagen des Glaubens dargelegt, schließe ich, daß der Gegenstand des geoffenbarten Wissens nichts anderes ist als Gehorsam, und dieses also vom natürlichen Wissen sowohl dem Gegenstand wie den Grundlagen und Mitteln nach durchaus verschieden ist und nichts mit ihm gemein hat, vielmehr beherrscht jedes von beiden sein eigenes Reich ohne Widerstreben des andern, und keins braucht dem andern dienstbar zu sein.

Aus dem Gesagten, wie auch daraus, daß die Geister der Menschen sehr verschieden sind, dem diese jenem eine andere Ansicht mehr zusagt, den zum Lachen reizt, was jenen zur Andacht stimmt, ziehe ich den Schluß, daß jedem die Freiheit seiner Meinung und das Recht, die Grundlagen seines Glaubens nach eigener Überzeugung zu bestimmen, gelassen werden muß, und daß der Glaube eines jeden einzig und allein nach seinen Werken, je nachdem sie gut oder schlecht sind, beurteilt werden darf. Nur so werden alle Menschen von ganzem Herzen und mit freier Seele Gott gehorchen können, und wird Gerechtigkeit und Liebe von jedermann hochgehalten werden.

Nachdem ich auf diese Weise bewiesen habe, daß das geoffenbarte Gotteswort jedermann seine Freiheit läßt, schreite ich zum andern Teil der Untersuchung und zeige, daß diese Freiheit ohne jedwede Gefahr für den Bürgerfrieden und das Recht der obersten Staatsgewalt gewährt werden kann, sogar gewährt werden muß, ja daß sie ohne große Gefahr für den Bürgerfrieden und großen Nachteil für den ganzen Staat nicht aufgehoben werden kann. Um dies zu beweisen, gehe ich von dem natürlichen Recht des Einzelnen aus und behaupte, daß sich dasselbe ebenso weit erstreckt, als sich sein Wille und seine Macht erstreckt, und daß nach dem Naturrecht niemand gezwungen werden kann, nach der Überzeugung eines andern zu leben, sondern jeder Schutzherr seiner Freiheit ist. Weiter werde ich zeigen, daß niemand dieses Recht in Wirklichkeit aufgiebt, wenn er nicht auch die Macht, sich zu verteidigen, auf einen andern überträgt, und daß notwendig derjenige dieses Naturrecht unbedingt besitzt, auf welchen der andere sein Recht, nach eigenem Gutdünken zu leben, übertragen hat. Hieraus leite ich ab, daß diejenigen Personen, welche die höchste Staatsgewalt inne haben, das Recht zu allem haben, was in ihrer Macht steht und daß sie allein die Schirmherren des Rechts und der Freiheit sind, die andern aber in allen Dingen sich den Beschlüssen derselben zu fügen haben. Allein, da niemand der Macht der Selbstverteidigung sich soweit entäußern kann, daß er aufhörte, Mensch zu sein, so behaupte ich, daß niemand seines Naturrechts ganz beraubt werden kann, den Unterthanen vielmehr manches gleichsam als Naturrecht bleibt, nämlich solches, was ihnen ohne große Gefahr für den Staat nicht genommen werden kann. Daher wird es ihnen entweder stillschweigend oder auf Grund ausdrücklichen Vorbehalts von den Inhabern der Staatsgewalt zugestanden.

Nach diesen Betrachtungen gehe ich zum Staate der Hebräer über, welchen ich ausführlich beschreibe, um die Frage, aus welchem Grunde und durch wessen Beschluß die Religion Rechtskraft zu erhalten begann, und noch manches Wissenswerte nebenher, zu erörtern. Hernach werde ich zeigen, daß die Inhaber der höchsten Gewalten nicht bloß Schirmherrn und Ausleger des bürgerlichen, sondern auch des geistlichen Rechts sind und ihnen allein die Befugnis zusteht, zu bestimmen, was recht und was unrecht, was fromm und was gottlos sein soll. Schließlich aber behaupte ich, daß jene am besten dieses Recht wahren und die Regierung sichern können, wenn jedem erlaubt ist, zu denken was er will und zu sagen was er denkt.

Das, philosophischer Leser, ist es, was ich dir hiermit zur Prüfung darbiete, hoffend, es werde nicht ungünstig aufgenommen werden, in Anbetracht der Wichtigkeit und Nützlichkeit des Gegenstandes, sowohl des ganzen Werks wie der einzelnen Kapitel; über welche ich hier noch manches zu sagen hätte, das ich unterdrücke, damit diese Vorrede nicht zum Buch anwachse und weil es der Hauptsache nach den Philosophen ohnehin hinlänglich bekannt ist. Andern Leuten aber diesen Traktat zu empfehlen, liegt nicht in meiner Absicht, da ich keinen Grund zu hoffen habe, daß er ihnen in irgend einer Hinsicht gefallen werde. Ich weiß, wie zäh jene Vorurteile dem Geiste anhaften, welche unter dem Schein der Frömmigkeit eingeprägt worden sind; ich weiß ferner, daß die große Menge den Aberglauben ebensowenig aufgeben kann, als die Furcht; ich weiß endlich auch, daß die Menge in ihren Meinungen unerschütterlich und einer bessern Überzeugung nicht zugänglich ist, da sie nicht von der Vernunft, sondern von der Neigung sich zu Lob und Tadel hinreißen läßt. Die Menge also und alle, welche gleichen Seelenbewegungen wie die große Menge unterworfen ist, lade ich nicht ein, dieses zu lesen, vielmehr möchte ich lieber, daß sie dieses Buch gar nicht beachten, als daß sie es verkehrt auffassen (wie gewöhnlich alles) und dadurch lästig werden, indem sie, ohne sich selbst zu nützen, andern schaden, welche freier philosophieren würden, stünde ihnen nicht die Meinung im Wege, die Vernunft müsse die Magd der Theologie sein; denn diesen soll dieses Werk, wie ich zuversichtlich hoffe, zu großem Nutzen gereichen.

Da indessen viele vielleicht weder Muße noch Lust haben werden, alles zu lesen, so muß ich hier wie am Schluß dieses Traktats daran erinnern, daß ich nichts schreibe, was ich nicht der Prüfung und dem Urteil der obersten Gewalten meines Vaterlandes bereitwilligst unterwerfe. Finden sie, daß einiges von dem, was ich behaupte, den Gesetzen des Vaterlandes widerstreitet oder dem Gemeinwohl schadet, so will ich es nicht gesagt haben. Ich weiß, daß ich ein Mensch bin und irren kann; ich habe mich aber ernstlich befleißigt, nicht zu irren und war ganz besonders darauf bedacht, daß alles, was ich schreibe, mit den Gesetzen meines Vaterlandes, der Frömmigkeit und den guten Sitten, vollständig übereinstimme.

Erstes Kapitel.

Über die Prophetie.


Prophetie oder Offenbarung ist die von Gott den Menschen geoffenbarte sichere Erkenntnis einer Sache. Ein Prophet aber ist der, welcher das von Gott Geoffenbarte andern verdolmetscht, welche keine sichere Erkenntnis der von Gott geoffenbarten Dinge haben und daher die Offenbarungen bloß durch den Glauben annehmen können. Ein Prophet heißt nämlich bei den Hebräern נביא; nabi, d. h. Redner und Dolmetscher. In der Bibel aber wird das Wort immer von einem Dolmetscher Gottes gebraucht, was aus dem 2. B. Mose Kap. 7 V. 1 ersichtlich ist. Dort spricht Gott zu Moses: »Siehe, ich habe dich einen Gott gesetzt über Pharao und Aaron, dein Bruder, soll dein Prophet sein.« Das will sagen: Weil Aaron das, was du sprichst, dem Pharao verdolmetscht und also die Rolle eines Propheten spielt, so wirst du gleichsam der Gott des Pharao sein oder der, welcher die Stelle Gottes vertritt.

Von den Propheten soll im nächsten Kapitel die Rede sein, hier behandle ich die Prophetie. Aus der vorstehenden Definition derselben ergiebt sich, daß die natürliche Erkenntnis Prophetie heißen kann. Denn was wir durch hie natürliche Einsicht erkennen, hängt einzig und allein von der Erkenntnis Gottes und seinem ewigen Ratschluß ab. Weil aber diese natürliche Erkenntnis allen Menschen gemein ist, darum wird sie von der auf das Seltene und Übernatürliche erpichten und die Gaben der Natur geringschätzenden Menge nicht so hoch geschätzt; sie will daher überall, wo von prophetischer Erkenntnis die Rede ist, die natürliche Erkenntnis ausgeschlossen wissen. Gleichwohl aber kann diese mit demselben Recht wie jede andere, welche es immer sei, eine göttliche heißen, weil die Natur Gottes, soweit wir daran teilhaben, und Gottes Ratschluß uns dieselbe gewissermaßen eingiebt, und weil sie von jener Erkenntnis, welche alle die göttliche nennen, sich nur darin unterscheidet, daß die letztere sich über die Grenzen der natürlichen Erkenntnis erstreckt und die Gesetze der menschlichen Natur an und für sich nicht ihre Ursache sein können. Hinsichtlich der Gewißheit aber, welche der natürlichen Erkenntnis innewohnt, und der Quelle, aus welcher sie sich herleitet (nämlich Gott), steht sie in keiner Weise der prophetischen Erkenntnis nach; es müßte denn jemand behaupten oder vielmehr träumen wollen, die Propheten hätten zwar einen menschlichen Leib, aber keine menschliche Seele gehabt und ihre Wahrnehmungen und ihr Bewußtsein sei daher von ganz anderer Beschaffenheit gewesen als die unsrigen.

Indessen wenn auch das natürliche Wissen göttlich ist, so können doch die Verbreiter desselben nicht Propheten genannt werden. Denn was sie lehren, können auch andere Menschen mit ebensoviel Gewißheit und Selbständigkeit wie sie selbst erkennen und anerkennen, nicht nur auf Grund des bloßen Glaubens.

Da also unsere Seele schon allein dadurch, daß sie die Natur Gottes gegenständlich in sich enthält und an derselben teilhat, die Fähigkeit besitzt, sich Begriffe zu bilden, welche die Natur der Dinge enthüllen und den Gebrauch des Lebens lehren, so können wir billig die Natur der Seele in dieser Hinsicht als erste Ursache der göttlichen Offenbarung bezeichnen. Denn alles, was wir klar und deutlich erkennen, giebt wie gesagt die Idee und Natur Gottes uns ein, nicht zwar mit Worten, sondern auf eine Weise, die viel besser ist und der Natur der Seele mehr entspricht; wie ohne Zweifel jeder an sich selber erfahren hat, der die überzeugende Kraft der Vernunft gefühlt hat.

Dies Wenige mag hier über die natürliche Einsicht genügen, da meine Absicht vorzugsweise darauf gerichtet ist, von dem zu reden, was die Bibel allein betrifft. Ich wende mich daher zu den andern Ursachen und Mitteln, wodurch Gott den Menschen Dinge offenbart, welche über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis hinausgehen, oder auch nicht über sie hinausgehen. (Denn nichts hindert Gott, das, was wir durch die natürliche Einsicht erkennen, den Menschen auf andere Weise mitzuteilen.) Hierüber will ich mich nun ausführlicher verbreiten.

Es muß nun aber alles, was hierüber gesagt werden kann, aus der Bibel selbst geschöpft werden. Denn was anderes könnten wir wohl über Dinge sagen, die über die Grenzen unseres Denkens hinausgehen, als was uns von den Propheten selbst mündlich oder schriftlich mitgeteilt worden ist? Da wir nun meines Wissens heutzutage keine Propheten haben, so bleibt uns nichts anderes übrig, als die heiligen Schriften aufzuschlagen, welche uns von den Propheten hinterlassen worden sind. Dabei müssen wir uns aber hüten, daß wir nichts von solchen Dingen behaupten oder den Propheten selbst zuschreiben, was diese nicht selbst klar und deutlich ausgesprochen haben.

Hier ist nun besonders zu beachten, daß die Juden niemals der allgemeinen oder besonderen Mittelursachen Erwähnung thun und sich überhaupt gar nicht um sie kümmern, sondern aus Religiosität, Frömmigkeit oder Demut (wie man im Volke zu sagen pflegt) immer alles unmittelbar auf Gott beziehen. Haben sie z. B. im Handel Geld gewonnen, so sagen sie, Gott habe es ihnen verliehen; wünschen sie irgend etwas, so sagen sie, Gott habe ihr Herz darauf gerichtet; und denken sie etwas, so sagen sie ebenfalls, Gott habe es ihnen mitgeteilt. Aus diesem Grunde kann nicht alles, wovon es in der Bibel heißt, Gott habe es jemand gesagt, als Prophetie oder übernatürliche Erkenntnis angesehen werden, sondern bloß solches, wovon die Bibel ausdrücklich sagt, oder wo aus den Umständen der Erzählung folgt, daß es Prophetie oder Offenbarung gewesen sei.

Wenn wir nun die heilige Schrift durchblättern, so werden wir finden, daß alles, was Gott den Propheten geoffenbart, entweder in Worten, oder in Bildern, oder auf beiderlei Art, in Worten sowohl als in Bildern, geoffenbart wurde. Diese Worte und Bilder aber waren teils wirklich vorhandene, so daß der Prophet sich nicht bloß einbildete, sie zu hören oder zu sehen, teils waren es eingebildete, indem nämlich die Einbildungskraft des Propheten, auch im Wachen, in einen Zustand gesetzt wurde, wo es ihm deutlich vorkam, etwas zu hören oder zu sehen.

Mit wirklichen Worten hat Gott dem Moses die Gesetze geoffenbart, die er den Hebräern vorgeschrieben, wie aus 2. Buch Mose Kap. 25 V. 22 hervorgeht, wo Gott sagt: »Dort will ich dich erwarten und mit dir reden aus jenem Ort des Zeltes, der zwischen den beiden Cherubim ist.« Aus diesen Worten erhellt, daß Gott sich einer wirklichen Stimme bedient hat, indem Moses, so oft er wollte, Gott daselbst zum Sprechen bereit fand. Diese Stimme allein, mit welcher das Gesetz verkündet wurde, war eine wirkliche Stimme, wie ich gleich zeigen werde.

Die Stimme, mit welcher Gott den Samuel rief, würde ich ebenfalls für eine wirkliche Stimme halten, weil es im 1. Buch Samuelis Kap. 3 im letzten Vers heißt: »Und wieder erschien Gott dem Samuel zu Silo, denn Gott offenbarte sich dem Samuel in Silo, durch das Wort Gottes«; was wohl sagen will: die dem Samuel gewordene Erscheinung Gottes war nichts anderes, als daß Gott sich ihm durch das Wort geoffenbart, oder daß Samuel Gott reden hörte. Weil wir jedoch zwischen der Prophetie des Moses und der übrigen Propheten einen Unterschied machen müssen, so haben wir notgedrungen die von Samuel gehörte Stimme für eine eingebildete zu erklären; was auch daraus hervorgeht, daß sie der Stimme des Eli ähnlich war, welche Samuel am häufigsten hörte, die er daher auch mittelst der Einbildungskraft eher vernehmen konnte. Denn da ihn Gott dreimal rief, glaubte er jedesmal, Eli habe ihn gerufen. – Die Stimme, welche Abimelech hörte, war ebenfalls eine eingebildete; denn 1. Buch Mose Kap. 20, V. 6 heißt es: »Gott sprach zu ihm im Traume etc.« Also nicht im wachen Zustande, sondern nur im Traume, (wo die Einbildungskraft naturgemäß am ehesten geeignet ist, nicht vorhandene Dinge wahrzunehmen,) konnte er sich einbilden, den göttlichen Willen zu erfahren.

Die Worte der zehn Gebote sind nach der Meinung einiger Juden nicht von Gott gesprochen worden, sondern sie glauben, die Israeliten hätten bloß ein Geräusch ohne Worte gehört, während dessen Dauer die Gesetze der zehn Gebote nur innerlich von ihnen vernommen worden seien. Ich selbst war früher ebenfalls dieser Ansicht, weil ich fand, daß die Worte der zehn Gebote im zweiten Buche Mose von den Worten der zehn Gebote im fünften Buche Mose abweichen, woraus zu folgen scheint, (da doch Gott nur ein einziges Mal gesprochen hat,) daß die zehn Gebote nicht die eigentlichen Worte Gottes, sondern nur ihren Sinn enthalten. Will man indessen der Bibel keine Gewalt anthun, so muß man unbedingt zugeben, daß die Israeliten eine wirkliche Stimme gehört haben. Denn die Bibel sagt ausdrücklich im 5. Buche Mose Kap. 5, V. 4: »Von Angesicht zu Angesicht hat Gott mit euch geredet etc.«, d. h. wie zwei Menschen ihre Gedanken sich einander mitzuteilen pflegen, durch Vermittlung ihrer beiderseitigen Sinneswerkzeuge. Daher scheint die Annahme mehr der Bibel gemäß zu sein, daß Gott eine wirkliche Stimme geschaffen habe, mittelst welcher er die zehn Gebote geoffenbart. Warum aber das zweite Buch von dem fünften in Wort und Inhalt abweicht, darüber siehe das 8. Kapitel. Dessenungeachtet ist damit noch nicht jede Schwierigkeit gehoben; denn vernunftwidrig scheint auch die Annahme, daß ein geschaffenes Wesen, welches ebenso wie alle andern von Gott abhängig ist, das Wesen oder das Dasein Gottes thatsächlich oder mit Worten enthüllen soll. Heißt es ja in erster Person: »Ich bin Jehovah dein Gott etc.« Zwar wenn jemand mit dem Munde sagt: »Ich habe verstanden«, weiß jeder, daß der Geist, nicht der Mund des Sprechenden es verstanden hat; aber deswegen, weil der Mund des Sprechenden zu seiner Person gehört und auch der, an den das Wort gerichtet ist, ganz gut weiß, was Verstehen heißt und den Sinn des Sprechenden durch Vergleichung mit sich selbst leicht begreift. Die Juden aber kannten von Gott vorher nichts als den Namen und wollten mit ihm selbst reden, um sich über sein Dasein zu vergewissern; daher sehe ich nicht ein, wie ihrem Begehr Genüge geschehen sein soll durch ein geschaffenes Wesen, (welches zu Gott in keiner nähern Beziehung steht, als irgend ein anderes geschaffenes Wesen und zum Wesen Gottes nicht gehört,) welches sagt: »Ich bin Gott.« Wie, wenn Gott die Lippen des Moses – oder was sage ich Moses? irgend eines Tieres genötigt hätte, jene Worte hervorzubringen und zu sagen: »Ich bin Gott«, hätten sie sich dadurch etwa vom Dasein Gottes überzeugt? – Hierzu kommt, daß die Bibel selbst bestimmt zu sagen scheint, Gott selbst habe gesprochen (zu welchem Ende er vom Himmel auf den Berg Sinai herabgestiegen ist) und die Juden hätten ihn reden gehört und ihre Ältesten ihn sogar gesehen (siehe 2. Buch Mose Kap. 24). Nirgends enthält auch das dem Moses geoffenbarte Gesetz, welchem nichts hinzugefügt und von welchem nichts hinweggenommen werden darf und welches als Landesgesetz aufgestellt wurde, irgend eine Vorschrift, daß wir glauben sollen, Gott sei unkörperlich und habe weder Bild noch Gestalt; es lehrt nur, daß es einen Gott giebt und schreibt vor, an ihn zu glauben, ihn allein anzubeten, ihm kein Bild anzudichten und keins von ihm zu machen. Denn da sie Gottes Bild nicht gesehen hatten, konnten sie auch kein Bild machen, welches Gott, sondern jedenfalls nur ein solches, welches einem geschaffenen Wesen, das sie gesehen hatten, ähnlich gewesen wäre, und hätten sie Gott in einem solchem Bilde angebetet, so hätten sie nicht an Gott gedacht, sondern an das Ding, dem jenes Bild ähnlich war und diesem die Ehre und Anbetung angedeihen lassen, welche Gott gebührte. Die Bibel sagt sogar deutlich, Gott habe Gestalt und dieselbe sei dem Moses sichtbar geworden, wenn er Gott reden hörte, doch habe Moses von ihr bloß die Rückseite zu sehen bekommen. Ich zweifle darum nicht, daß hier irgend ein Geheimnis steckt, worüber ich mich später ausführlicher äußern werde. Hier will ich nur die Bibelstellen weiter verfolgen, welche die Mittel angeben, durch welche Gott den Menschen seine Ratschläge geoffenbart hat.

Daß die Offenbarung durch Gesichte allein erfolgt ist, erhellt aus dem 1. Buch der Chronik Kap. 22, wo Gott dem David seinen Zorn durch einen Engel kundgiebt, der ein Schwert in der Hand hält; ebenso dem Bileam. Zwar meinen Maimonides und andere, diese und alle andern Geschichten, welche von Engelserscheinungen handeln, wie jene des Manoah, Abraham, als er seinen Sohn opfern zu sollen glaubte u. s. f., hätten sich im Traume zugetragen, weil niemand mit offenen Augen einen Engel sehen könne. Aber das ist bloß leeres Geschwätz von Leuten, welche aristotelische Träumereien und ihre eigenen Erfindungen mit Gewalt aus der Bibel herauslesen wollen; ein höchst lächerliches Unterfangen in meinen Augen.

Dagegen hat Gott dem Josef seine künftige Herrschaft nicht in wirklichen Gesichten geoffenbart, sondern in solchen, die bloß in der Einbildung des Propheten vorhanden waren.

Durch Gesichte und Worte hat Gott dem Josua geoffenbart, daß er für die Israeliten kämpfen werde, indem er ihm einen Engel mit gezücktem Schwert sehen ließ, gleichsam als Heerführer, was er ihm auch mit Worten offenbarte und Josua vom Engel hörte. Auch dem Jesajah (wie im 6. Kapitel erzählt wird) wurde durch Gestalten dargestellt, daß Gottes Vorsehung das Volk verlasse. Er sah nämlich den dreimal heiligen Gott auf einem hohen Thron, das Volk Israel aber mit dem Schmutz der Sünden befleckt und gleichsam im Kot versunken, also von Gott sehr weit entfernt. Er verstand darunter den damals überaus elenden Zustand des Volkes; dessen künftigen Leiden aber wurden ihm durch Worte, welche Gott gesprochen zu haben schien, geoffenbart. Dergleichen Beispiele könnte ich noch viele anführen, doch halte ich sie für hinlänglich bekannt.

Das alles wird noch nachdrücklicher bestätigt durch die Stelle 4. Buch Mose Kap. 12, V. 6 und 7, welche also lautet: »Ist einer von euch ein Prophet Gottes, dem will ich mich in einem Gesicht offenbaren (d. h. durch Gestalten und Zeichen; denn von der Prophetie des Moses sagt er, sie sei Gesicht ohne Zeichen,) oder will mit ihm im Traume reden (d. h. nicht in wirklichen Worten und mit wirklicher Stimme). Aber nicht also (offenbare ich mich) dem Moses, von Mund zu Mund rede ich mit ihm und durch Gesichte, nicht aber in Rätseln, und das Bild Gottes schaut er (d. h. er schaut mich wie seines Gleichen und redet mit mir ohne Furcht, wie es im 2. Buch Mose Kap. 12 heißt). Darum unterliegt es keinem Zweifel, daß die andern Propheten eine wirkliche Stimme nicht gehört haben. Noch mehr wird das durch 5. Buch Mose Kap. 34, V. 10 bestätigt, wo es heißt: »Und es stand (eigentlich: stand auf) hinfort in Israel kein Prophet wie Moses, welchen Gott erkannt hat von Angesicht zu Angesicht«; was indessen auch nur von der Stimme zu verstehen ist, denn Gottes Angesichts hat auch Moses nie gesehen, 2. Buch Mose Kap. 33.

Außer diesen Mitteln finde ich in der heiligen Schrift keine, durch welche sich Gott den Menschen mitgeteilt hätte, und es dürfen somit, wie oben gezeigt, keine anderen erdichtet oder angenommen werden. Allerdings wissen wir bestimmt, daß sich Gott den Menschen unmittelbar mitteilen kann; denn ohne sinnliche Mittel in Anwendung zu bringen, teilt er unsrem Geiste seine Wesenheit mit. Allein ein. Mensch, der mit dem Geist allein etwas begreifen wollte, was in den Grundlagen unseres Denkens weder enthalten ist, noch von ihnen abgeleitet werden kann, müßte notwendig einen weit vortrefflicheren und vollkommneren Geist haben, als andere Menschen. Ich glaube aber nicht, daß irgend jemand einen solchen Grad der Vollkommenheit vor anderen erlangt hat, Christus allein ausgenommen, dem die göttlichen Ratschlüsse, welche die Menschen zum Heil führen, unmittelbar, ohne Worte oder Gesichte, geoffenbart worden sind, so daß Gott durch den Geist Christi sich den Aposteln geoffenbart hat, wie einst dem Moses durch die Vermittlung einer Stimme aus Luft. Die Stimme Christi kann daher wie jene, welche Moses hörte, Gottes Stimme genannt werden. Und in diesem Sinne können wir auch sagen, die Weisheit Gottes, das ist die Weisheit, welche die menschliche Weisheit überragt, habe in Christus menschliche Natur angenommen, und Christus sei der Weg des Heils gewesen.

Ich muß aber daran erinnern, daß ich hier keineswegs von dem rede, was einige Kirchen von Christus behaupten, und es auch nicht bestreite; ich gestehe vielmehr offen, daß ich nichts davon verstehe. Was ich soeben festgestellt habe, leite ich aus der Bibel selbst her. Ich habe aber nirgends gelesen, daß Gott Christus erschienen sei oder mit ihm gesprochen habe, sondern daß Gott sich den Aposteln durch Christus geoffenbart habe, daß er ferner der Weg des Heils sei und daß endlich das alte Gesetz durch einen Engel, nicht aber unmittelbar von Gott überliefert worden sei u. s. f. Wenn also Moses mit Gott von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mensch mit dem andern (d. h. durch Vermittlung der beiderseitigen Sinnesorgane), redete, so verkehrte dagegen Christus mit Gott von Geist zu Geist.

Ich stelle also den Satz auf, daß außer Christus niemand anders als mit Hilfe der Einbildungskraft, nämlich durch Worte und Bilder, göttliche Offenbarungen empfangen habe, und daß daher zum Prophezeien nicht etwa ein vollkommenerer Geist, als vielmehr eine lebhaftere Einbildungskraft gehört, was ich im folgenden Kapitel deutlicher zeigen werde. Hier ist noch zu erörtern, was die heilige Schrift unter dem Geist Gottes versteht, von dem sie sagt, daß er den Propheten eingeflößt worden sei oder daß sie aus ihm gesprochen hätten. Zu diesem Behufe ist zunächst die sprachliche Bedeutung des hebräischen Wortes רוח ruagh zu untersuchen, das gewöhnlich mit »Geist« übersetzt wird.

Das Wort רוח ruagh bedeutet bekanntlich im eigentlichen Sinne Wind, wird aber häufig zur Bezeichnung sehr vieler anderer Dinge gebraucht, die davon hergeleitet werden. 1. bezeichnet man damit den Hauch, wie Psalm 135, Vers 17: »Auch ist kein Geist in ihrem Munde.« – 2. die Seele oder den Odem, wie 1. Buch Samuelis Kap. 30, V. 12: »Und der Geist kehrte wieder in ihn zurück«, d. h. er atmete wieder. – 3. Davon leitet sich die weitere Bedeutung ab: Mut und Kraft, wie Josua Kap. 2, V. 11: »Seitdem ist kein Geist mehr in irgend einem Manne.« Ebenso Hesekiel Kap. 2, V. 2: »Und es kam in mich ein Geist (so viel als Kraft), welcher mich auf meine Füße stellte.« – 4. Hiervon wird die weitere Bedeutung abgeleitet: Fähigkeit und Tauglichkeit, wie Hiob Kap. 33, V. 8: »Gewiß, der Geist im Menschen ist es«, d. h. die Weisheit ist nicht schlechthin bei den Alten zu Hause, vielmehr weiß ich jetzt, daß sie von der Fähigkeit und Anlage jedes Menschen abhängt.« Ebenso 4. Buch Mose Kap. 27, V. 18: »Ein Mann, in welchem der Geist ist.« – 5. bezeichnet man damit die Gesinnung, wie 4. Buch Mose Kap. 14, V. 34: »Darum, daß ein anderer Geist in ihm ist,« d. h. eine andere Gesinnung oder Denkart. Ebenso Sprüche Salomos Kap. 1, V. 23: »Ich werde euch meinen Geist sagen« (d. h. meine Denkart). In diesem Sinne bezeichnet man damit auch den Willen, den Beschluß, den Trieb und das Verlangen, wie Hesekiel Kap. 2, V. 12: »Wohin der Geist (d. h. der Wille) zu gehen, da gingen sie hin.« Ebenso Jesajah Kap. 30, V. 1: »Und um auszugießen einen Erguß, aber nicht aus meinem Geiste« und Kap. 29, V. 10: »Weil Gott über sie ausgegossen einen Geist (d. h. einen Trieb) des Schlummers.« Und Buch der Richter Kap. 8, V. 3: »Da ward ihr Geist besänftigt,« d. h. ihr Verlangen. Ebenso Sprüche Salomos Kap. 16, V. 32: »Wer seinen Geist beherrscht (d. h. seinen Trieb), ist besser als wer eine Stadt erobert.« Ebendaselbst Kap. 25, V. 28: »Ein Mann, der seinen Geist nicht bezähmt.« Auch Jesajah Kap. 33, V. 11: »Euer Geist ist ein Feuer, welches euch verzehrt.« Sofern das Wort ruagh Seele bedeutet, wird es zur Bezeichnung aller Seelenbewegungen und seelischen Eigenschaften angewendet. So sagt man »hoher Geist« (für Stolz); »gebeugter Geist« (für Demut); »böser Geist« (für Haß oder Schwermut); »guter Geist« (für Güte); »Geist der Eifersucht«; Geist, (d. h, Trieb) der Unzucht«; »Geist der Weisheit, des Rats, der Tapferkeit« d. h. eine weise, kluge, tapfere Seele, oder die Gabe der Weisheit, des Rats, der Tapferkeit (denn die hebräische Sprache gebraucht lieber Hauptwörter als Eigenschaftswörter); »Geist des Wohlwollens« etc. – 6. bezeichnet das Wort den Geist oder Lebensgeist selbst, wie Prediger Salomos Kap. 3, V. 19: »Alle haben einen Geist« (d. h. Lebensgeist) und ebendaselbst Kap. 12, V. 7: »Und der Geist kehret zurück zu Gott.« – 7. endlich bezeichnet das Wort die Weltgegenden, (wegen der Winde, die daher wehen,) wie auch die Seiten eines Gegenstandes, welche den Weltgegenden zugekehrt sind. Siehe Hesekiel Kap. 37, V. 9 und Kap. 42, Verse 16, 17, 18, 19 u. s. f.

Es ist nun weiter zu beachten, daß häufig eine Sache auf Gott bezogen und von ihr gesagt wird, sie sei Gottes, aus folgenden Gründen: 1. Weil sie zu Gottes Wesen gehört und gleichsam einen Teil von Gott ausmacht, wie z. B. wenn es heißt: »die Macht Gottes«, »die Augen Gottes«. – 2. Weil sie in Gottes Macht steht und Gottes Geheiß vollzieht. So heißen die Himmel in der Bibel »die Himmel Gottes«, weil sie Gottes Wagen und Wohnung sind; Assyrien heißt die Geißel Gottes und Nebukadnezar der Knecht Gottes u. s. w. – 3. Weil sie Gott geweiht ist, wie »der Tempel Gottes«, »der Nasiräer Gottes«, »das Brot Gottes« u. s. f. – 4. Weil sie durch Propheten mitgeteilt und nicht durch natürliche Einsicht geoffenbart ist; das mosaische Gesetz heißt darum »Gesetz Gottes«. – 5. Um den höchsten Grad der betreffenden Sache auszudrücken; so die Berge Gottes«, d. h. die höchsten Berge; »der Schlaf Gottes«, d. h. der tiefste Schlaf. In diesem Sinne ist auch Amos Kap. 4, V. 11 zu erklären, wo Gott selbst also spricht: »Ich habe euch zerstört wie die Zerstörung Gottes Sodom und Gomorra (zerstört hat)«, d. h. wie jene merkwürdige Zerstörung; da nämlich Gott selber redet, kann die Stelle eigentlich nicht anders erklärt werden. Auch die natürliche Weisheit Salomos wird Weisheit Gottes genannt, d. h. göttliche, die gemeine überragende. In den Psalmen ist auch von »Zedern Gottes« die Rede, um ihre ungewöhnliche Größe auszudrücken. Und 1. Buch Samuelis Kap. 11, V. 7 heißt es, um eine sehr große Furcht zu bezeichnen: »Und es fiel die Furcht Gottes über das Volk«. In diesem Sinne wurde in der Regel alles auf Gott bezogen, was die Begriffe der Juden überstieg und dessen natürliche Ursachen man in jenen Zeiten nicht kannte. Darum nannte man den Sturm ein »Schelten Gottes«, Donner und Blitz »Pfeile Gottes«. Sie glaubten nämlich, Gott hielte die Winde in Höhlen eingeschlossen, welche sie Gottes Schatzkammern nannten; eine Ansicht, die sich von der heidnischen nur darin unterschied, daß nicht Äolus, sondern Gott als Beherrscher der Winde betrachtet wurde. Aus demselben Grunde heißen die Wunder Gottes Werke, d. h. erstaunliche Werke. In Wirklichkeit aber ist alles Natürliche Gottes Werk und besteht und wirkt nur durch die göttliche Macht. »In diesem Sinne nennt der Psalmist die Wunder in Ägypten Machtwerke Gottes, weil sie den Hebräern, welche dergleichen nicht erwartet hatten, in der höchsten Not den Weg der Rettung öffneten und von ihnen daher gewaltig bewundert wurden.

Da hiernach außerordentliche Erscheinungen der Natur Gottes Werke und außerordentlich große Bäume Gottes Bäume genannt werden, so kann es nicht Wunder nehmen, daß im 1. Buche Mose sehr starke Menschen von riesenhafter Größe Söhne Gottes genannt werden, obgleich sie gottlose Räuber und Frauenschänder gewesen. Die Alten, nicht bloß die Juden, sondern auch die Heiden, pflegten eben überhaupt alles, wodurch jemand andere Menschen übertraf, auf Gott zurückzuführen. So sagte Pharao von Josef, als er die Auslegung des Traumes vernommen hatte, daß der Geist Gottes in ihm sei; auch Nebukadnezar sagte zu Daniel, er habe den Geist der heiligen Götter. Auch bei den Römern war solches sehr gebräuchlich: von Dingen, welche sehr kunstvoll gefertigt waren, sagten sie, es sei mit göttlicher Hand gefertigt; welcher Ausdruck ins Hebräische übersetzt, lauten würde »von der Hand Gottes gefertigt«, wie den Kennern des Hebräischen bekannt ist.

Hienach können die Bibelstellen, in denen vom Geiste Gottes die Rede ist, leicht verstanden und erklärt werden. In manchen Stellen bezeichnet »Geist Gottes« oder »Geist Jehovahs« nicht anderes als einen sehr heftigen, trockenen und verderblichen Wind; wie in Jesaja Kap. 40, V. 7: »Der Geist Jehovahs hat ihn angeblasen«, d. h. ein sehr trockener und verderblicher Wind. Ähnlich 1. Buch Mose Kap. 1, V. 2: »Und der Geist Gottes (d. h. ein heftiger Wind) bewegte sich über dem Wasser.« – Weiter bezeichnet der Ausdruck einen hohen Mut; Gideons wie auch Simsons Mut heißt daher in der heiligen Schrift »Geist Gottes«, das will sagen: ein überaus kühner, vor nichts zurückschreckender Mut. Überhaupt jede außergewöhnliche Tugend oder Kraft wird »Geist« oder »Tugend Gottes« genannt; wie im 2. Buch Mose Kap. 31, V. 3: »Und ich werde ihn (nämlich Bezalel) mit dem Geist Gottes erfüllen,« d. h. (wie die Bibel selbst erklärt) mit ganz außergewöhnlichem Erfindungsgeist und Kunstgeschick. So auch Jesaja Kap. 11, V. 2: »Und auf ihm wird der Geist Gottes ruhen,« d. h. wie der Prophet, gemäß der in der heiligen Schrift sehr häufigen Sitte, gleich darauf durch die beigefügte Erläuterung selbst erklärt, die Tugend der Weisheit, des Rats, der Tapferkeit etc. So wird die Schwermut Sauls ein »böser Geist Gottes« genannt, womit eine sehr tiefe Schwermut gemeint ist. Haben ja die Knechte Sauls, welche dessen Schwermut Gottes Schwermut nannten, denselben veranlaßt, einen Tonkünstler kommen zu lassen, der ihn mit seinem Saitenspiel aufheitern sollte; was beweist, daß sie mit »Gottes Schwermut« eine natürliche Schwermut gemeint haben müssen. – Ferner wird mit »Geist Gottes« der Geist oder Lebensgeist des Menschen selbst bezeichnet, wie in Hiob Kap. 27, V. 3: »Und der Geist Gottes in meiner Nase«, was auf jene Stelle im 1. Buch Mose anspielt, wo es heißt, daß Gott dem Menschen den Lebensgeist durch die Nase eingeblasen habe. So auch sagt Hesekiel Kap. 37, V. 14, wo er den Toten prophezeit: »Und ich werde euch meinen Geist geben und ihr werdet leben«, d. h. ich werde euch das Leben wiedergeben. In diesem Sinne heißt es auch Hiob Kap. 34, V. 14: »Wenn er (nämlich Gott) wollte, würde er seinen Geist (d. h. den Lebensgeist, den er euch gegeben) und sein Leben wieder zu sich nehmen«. So ist auch 1. Buch Mose Kap. 6, V. 3 zu verstehen: »Nie mehr wird mein Geist im Menschen überlegen (oder eigentlich entscheiden), dieweil er Fleisch ist«, d. h. der Mensch wird in Zukunft mehr nach den Eingebungen des Fleisches und nicht des Geistes, den ich ihm zur Unterscheidung des Guten gegeben habe, handeln. Ebenso Psalm 51, Verse 12 und 13: »Ein reines Herz schaffe mir, o Gott, und einen schicklichen (d. h. gemäßigten) Geist (d. h. Trieb) erneuere in mir, verstoße mich nicht aus deinem Angesicht und deinen heiligen Geist nimm nicht von mir.« Gegen die Begierden des Fleisches ruft er die Hilfe Gottes an; den Geist aber, den der heilige Gott ihm gegeben, soll ihm Gott erhalten, bittet er, weil man glaubte, die Sünden hätten ihren Ursprung im Fleisch allein, wogegen der Geist nur zum Guten antreibe. – Weil die Bibel Gott wie ein menschliches Wesen zu schildern und ihm Geist, Seele, Affekte, wie auch einen Körper und Atem zuzuschreiben pflegt, mit Rücksicht auf die schwache Fassungskraft des Volkes, darum wird in der heiligen Schrift »Geist Gottes« auch oft gebraucht für Gottes Geist, Gottes Seele, Gottes Affekte, Gottes Kraft oder Gottes Odem. So sagt Jesaja Kap. 40, V. 13: »Wer hat beeinflußt den Geist (oder die Seele) Gottes?« d. h. Wer außer Gott selbst hätte den göttlichen Willen zu irgend etwas bestimmt? und in Kap. 63, V. 10: »Und sie erbitterten und betrübten seinen heiligen Geist«. Daher wird der Ausdruck auch gewöhnlich für das mosaische Gesetz gebraucht, weil dasselbe gleichsam die göttlichen Gedanken enthält, wie Jesaja selbst in demselben Kapitel V. 11 sagt: »Wo ist (jener), der seinen heiligen Geist unter sie brachte?«, nämlich das mosaische Gesetz, was aus dem ganzen Zusammenhang der Rede klar hervorgeht. Auch Nehemia Kap. 9, V. 20 sagt: »Und du hast ihnen deinen guten Geist (oder deinen guten Gedanken) gegeben, um sie verständig zu machen«, er spricht nämlich von der Zeit der Gesetzgebung; und hierauf spielt auch 5. Buch Mose Kap. 4, V. 6 an, wo Moses sagt: »Dieweil es (das Gesetz) eure Weisheit und Einsicht ist etc.« So auch Psalm 143, V. 10: »Dein guter Geist leitet mich auf ebenen Pfad«; d. h. deine uns geoffenbarten Gedanken führen mich auf den rechten Weg. – Wie bereits gesagt, bezeichnet der Ausdruck »Geist Gottes« auch den Odem Gottes, welcher in der heiligen Schrift Gott ebenso uneigentlich zugeschrieben wird, wie Geist, Seele oder Körper; so Psalm 33, V. 6. Desgleichen bezeichnet er die Macht, Kraft oder Tugend Gottes, wie Hiob Kap. 33, V. 4: »Der Geist Gottes hat mich gemacht«, d. h. die Kraft oder Macht Gottes, oder wenn man lieber will, der Ratschluß Gottes; denn der Psalmist drückt sich auch dichterisch aus und sagt z. B., auf Gottes Geheiß seien die Himmel entstanden und durch den Geist oder Hauch seines Mundes (d. h. durch seinen Beschluß, der gleichsam durch einen einzigen Hauch ausgesprochen wurde,) ihr ganzes Heer. Ebenso heißt es Psalm 139, V. 7: »Wohin soll ich gehen (daß ich wäre) außerhalb deines Geistes, oder wohin sollte ich fliehen (daß ich wäre) hinweg von deinem Angesicht?«, d. h. (wie aus den weiteren Ausführungen des Psalmisten erhellt) wohin sollte ich gehen können, um deiner Macht und Gegenwart entrückt zu sein? – Endlich wird der Ausdruck »Gottes Geist« in der heiligen Schrift auch auf die Gefühlsweisen Gottes angewendet, nämlich seine Güte und Barmherzigkeit; wie in Micha Kap. 2, V. 7: »Ist denn der Geist Gottes zu kurz? (d. h. Gottes Barmherzigkeit). Sind denn das (nämlich solche Gräuel) seine Werke?« Ebenso Sacharia Kap. 4, V. 6: »Nicht durch ein Heer, nicht durch Gewalt, sondern durch meinen Geist«, d. h. nur durch meine Barmherzigkeit. In diesem Sinne ist auch meines Erachtens V. 12 des 7. Kapitels desselben Propheten zu verstehen: »Und sie machten ihr Herz sicher, um nicht zu gehorchen dem Gesetz und den Vorschriften, welche Gott aus seinem Geiste (d. h. aus seiner Barmherzigkeit) durch die ersten Propheten gesendet hat«. In diesem Sinne sagt auch Haggai Kap. 2, V. 5: »Und mein Geist (soviel als meine Gnade) bleibt unter euch, fürchtet euch nicht«. Wenn indessen Jesaja Kap. 48, V. 16 sagt: »Aber nun hat mich Gott der Herr gesendet und sein Geist«, so kann dies sowohl von Gottes Gefühl und Barmherzigkeit, als auch von dem im Gesetz geoffenbarten göttlichen Willen verstanden werden. Er sagt nämlich: »Zu Anfang (d. h. da ich zuerst zu euch kam, um euch Gottes Zorn und sein über euch verhängtes Urteil zu verkünden) habe ich nicht im Verborgenen gesprochen, sondern von der Zeit an, wo dieses (Urteil verhängt) worden, bin ich dagewesen« (wie er selbst im 7. Kapitel bezeugt); jetzt aber bringe ich eine fröhliche Botschaft und bin von Gottes Barmherzigkeit gesendet, um eure Erlösung zu weissagen. Es kann aber auch, wie gesagt, von dem im Gesetz geoffenbarten Willen Gottes verstanden werden, indem derselbe nämlich schon durch den Spruch des Gesetzes 3. Buch Mose Kap. 19, V. 17 an sie ergangen war, sie zu warnen. Darum vermahnt er sie nicht mit denselben Bedingungen und in derselben Weise, wie gewöhnlich Moses, und endlich schließt er mit der Ankündigung ihrer Erlösung, wie ebenfalls von Moses geschehen. Übrigens scheint mir die erste Auslegung sinngemäßer zu sein.

Aus dem Vorstehenden – um endlich auf den Gegenstand meiner Abhandlung zurückzukommen – sind jene biblischen Ausdrücke wie: »Der Prophet besaß den Geist Gottes«, »Gott hat seinen Geist über die Menschen ausgegossen«, »die Menschen sind vom Geiste Gottes und vom heiligen Geist erfüllt worden« etc. klar verständlich. Sie bedeuten weiter nichts, als daß die Propheten durch besondere, außergewöhnliche Tugend sich auszeichneten und die Frömmigkeit mit seltener Seelenstärke übten; ferner, daß sie Gottes Gedanken und Urteilsspruch vernahmen. Denn wir haben gesehen, daß Geist im Hebräischen sowohl den Geist selbst als auch die Gedanken des Geistes bezeichnet und daß daher das Gesetz selbst Gottes Geist heißt, weil es seine Gedanken enthält. Mit gleichem Rechte konnte darum auch die Einbildungskraft Geist Gottes genannt werden, sofern nämlich die Ratschlüsse Gottes sich durch sie offenbarten, und von den Propheten konnte gesagt werden, sie besitzen den göttlichen Geist. Wiewohl nun der Geist Gottes und seine ewigen Gedanken auch in unsern Geist geschrieben sind und folglich auch wir den Geist Gottes empfangen (um mit der Bibel reden), so wird doch, wie bereits bemerkt, die natürliche Erkenntnis, die jedermann haben kann, von den Menschen nicht so hoch geschätzt, namentlich nicht von den Hebräern, die sich über alle andern Menschen erhaben dünkten und sie sogar zu verachten pflegen und demgemäß auch dies allen Menschen gemeinsame Wissen verachteten. – Auch darum sagte man von den Propheten, sie besitzen den Geist Gottes, weil die Menschen die Gründe der prophetischen Erkenntnis nicht kannten und sie daher anstaunten; wie alles Wunderbare wurde sie deswegen gewöhnlich auf Gott selbst zurückgeführt und Erkenntnis Gottes genannt.

Ohne Bedenken können wir mithin nunmehr behaupten, daß die Propheten durch die Einbildungskraft allein Gottes Offenbarungen empfangen haben, d. h. mittelst Worte oder Bilder, und zwar entweder wirklicher oder eingebildeter. Denn da wir in der Bibel keine andern Offenbarungsmittel neben diesen finden, so dürfen wir uns auch keine andern erdichten, wie schon bemerkt. Ich gestehe aber, daß ich nicht weiß, nach welchen Naturgesetzen dies geschehen ist. Ich könnte zwar wie manche sagen, es sei durch Gottes Macht geschehen; aber das wäre bloß leeres Geschwätz und nicht anders als wollte ich die Gestalt irgend eines Gegenstandes durch einen übersinnlichen Kunstausdruck erläutern; denn durch Gottes Macht ist alles geworden. Es ist sogar sicher, daß wir die Macht Gottes nur soweit nicht erkennen, als wir über die natürlichen Ursachen im Unwissenden sind, denn die Macht der Natur ist eben nichts anderes als die Macht Gottes selbst. Thörichterweise nehmen wir daher zu dieser Macht Gottes unsere Zuflucht, wenn wir die natürliche Ursache einer Sache, und das ist eben die Macht Gottes selbst, nicht wissen. – Übrigens ist es für unsere Untersuchung gar nicht nötig, die Ursachen der prophetischen Erkenntnis zu wissen, da wir hier, wie bereits bemerkt, nur die biblischen Urkunden untersuchen wollen, um daraus unsere Schlüsse zu ziehen, wie aus natürlichen Thatsachen; um die Ursachen dieser Urkunden haben wir uns vorläufig nicht zu kümmern.

Da hiernach die Propheten mit Hilfe ihrer Einbildungskraft die Offenbarungen Gottes empfangen haben, so unterliegt es keinem Zweifel, daß sie auch allerlei empfangen haben können, was über die Grenzen der natürlichen Erkenntnis hinausgeht, denn aus Worten und Bildern lassen sich viel mehr Vorstellungen bilden, als aus Grundvorstellungen und Begriffen, aus welchen sich unser gesamtes natürliches Wissen aufbaut.

Wir wissen nun, warum die Propheten fast alle ihre Offenbarungen in Gleichnissen und Rätseln empfangen und lehren und alles Geistige in sinnliche Ausdrücke kleiden: weil das nämlich der Einbildungskraft am meisten entspricht. Es kann uns nun auch nicht mehr auffallen, daß die Bibel oder die Propheten so uneigentlich und dunkel vom Geiste Gottes oder seinen Gedanken sprechen, wie im 4. Buch Mose Kap. 11, V. 17 oder im 1. Buch der Könige Kap. 22, V. 2 etc.; daß Gott ferner von Micha sitzend gesehen wurde, von Daniel aber wie ein Greis in weißen Kleidern, von Hesekiel hinwiederum als ein Feuer; daß die, welche bei Christus waren, den heiligen Geist als herabfahrende Taube, die Apostel aber als feurige Zungen und endlich Paulus nach seiner Bekehrung als großes Licht erblickten. Das alles entspricht durchaus den Vorstellungen, welche sich gewöhnliche Menschen von Gott und Geistern machen.

Weil nun die Einbildungskraft sowohl unbestimmt als auch veränderlich ist, darum blieben die Propheten nicht lange im Besitze der Prophetengabe; auch zeigte sich diese nicht häufig, sondern nur sehr selten, nämlich nur bei sehr wenig Menschen und auch bei diesen nur sehr selten.

Es fragt sich nun aber, woraus konnten die Propheten Gewißheit schöpfen über Dinge, die sie nur mit der Einbildungskraft wahrnahmen, nicht aber nach den sicheren Grundlagen des Denkens erkannten? Die Antwort darauf kann nur der Bibel selbst entnommen werden, da wir, wie gesagt, über solche Dinge nichts Gewisses wissen und sie aus ihren obersten Ursachen nicht ableiten können. Was nun die Bibel über die Gewißheit der prophetischen Erkenntnis lehrt, will ich im nächsten Kapitel zeigen, welches von den Propheten handeln soll.

Zweites Kapitel.

Über die Propheten.


Aus dem vorigen Kapitel geht hervor, wie ich schon erwähnt habe, daß die Propheten nicht etwa mit einem vorzüglicheren Geiste, sondern nur mit einer lebendigeren Einbildungskraft begabt gewesen sind, was auch die biblischen Erzählungen zur Genüge lehren. Was Salomo anbelangt, so hat er seine Zeitgenossen zwar an Weisheit, nicht aber durch die Prophetengabe überragt und auch die Weisen Heman, Darda und Chalchol waren keine Propheten. Dagegen waren gewöhnliche Bauern ohne jegliche Bildung, und selbst weibliche Personen wie Hagar, Abrahams Magd, im Besitze der Prophetengabe. Solches entspricht denn auch der Erfahrung wie der Vernunft. Menschen von starker Einbildungskraft sind zum reinbegrifflichen Denken weniger veranlagt, wie auch umgekehrt Menschen, die im reinbegrifflichen Denken stark und tüchtig ausgebildet sind, eine viel gemäßigtere Einbildungskraft besitzen; sie haben dieselbe in ihrer Gewalt und halten sie sozusagen im Zaume, daß sie das klare Denken nicht verwirre. Wer somit in den Büchern der Propheten Weisheit oder Kenntnis der natürlichen oder geistigen Dinge sucht, der ist auf ganz falschem Wege. Da sowohl unsere Zeit, als auch die Philosophie, wie nicht minder der Gegenstand selbst es erfordert, will ich das eingehend auseinandersetzen, unbekümmert darum, daß der Aberglaube darüber zetern wird, der am meisten gegen diejenigen aufgebracht ist, welche im Wissen und im Leben sich der reinen Wahrheit befleißigen. Leider ist es schon so weit gekommen, daß Leute, welche offen gestehen, von Gott keinen Begriff zu haben und ihn nur durch die erschaffenen Dinge (deren Ursachen sie nicht kennen) zu erkennen, sich nicht schämen, die Philosophen des Atheismus zu beschuldigen.

Um nun meinen Gegenstand in richtiger Ordnung zu behandeln, werde ich zeigen, daß die verschiedenen Prophezeiungen von einander abweichen, nicht bloß bezüglich der Einbildungskraft und Gemütsart der einzelnen Propheten, sondern auch in Bezug auf die Ansichten, von welchen sie erfüllt waren, und daß somit die Propheten durch die Prophetie keineswegs gelehrter wurden, wie ich bald ausführlicher zeigen werde. Zuvörderst jedoch will ich mich über die Gewißheit der prophetischen Erkenntnis aussprechen, weil das sowohl den Hauptgegenstand dieses Kapitels betrifft, als auch den Beweis, den ich führen will, unterstützt.

Da den Vorstellungen der Einbildungskraft ihrer Natur nach Gewißheit nicht innewoht wie jeder klaren und bestimmten Idee, vielmehr die Vernunft notwendig sich zur Einbildungskraft gesellen muß, wenn wir von dem, was uns diese vorspiegelt, überzeugt sein wollen, so folgt, daß der Prophetie an sich keine Gewißheit innewohnen kann, da sie von der bloßen Einbildungskraft abhängt, wie bereits gezeigt. Aus diesem Grunde hatten die Propheten Gewißheit über die ihnen gewordene göttliche Offenbarung nicht durch diese selbst, sondern durch irgendein Zeichen, wie Abraham beweist (s. 1. Buch Mose Kap. 15, V. 8), der, als er Gottes Verheißung vernommen hatte, um ein Zeichen bat. Wohl glaubte Abraham Gott, dennoch aber erbat er sich ein Zeichen, nicht aus Mißtrauen gegen Gott, sondern um sich zu vergewissern, daß die Verheißung wirklich von Gott komme. Noch bestimmter wird dies durch Gideon belegt, welcher zu Gott sagte: »Und gieb mir ein Zeichen, (damit ich weiß,) daß du mit mir sprichst«. S. Buch der Richter Kap. 6, V. 17. Auch zu Moses sagte Gott: »Und das diene dir als Zeichen, daß ich dich gesendet«. Auch Hiskias, der längst wußte, daß Jesaja ein Prophet war, forderte ein Zeichen, als ihm dieser seine Genesung prophetisch verkündigte.

Wir sehen also, daß die Propheten immer ein gewisses Zeichen gehabt haben, durch welches sie Gewißheit über ihre prophetischen Vorstellungen erlangten. Deswegen ermahnt auch Moses, von einem unbekannten Propheten ein Zeichen zu verlangen, nämlich das Eintreffen eines von diesem geweissagten künftigen Ereignisses. (S. 5. Buch Mose Kap. 18, letzten Vers.) In dieser Hinsicht steht also die Prophetie dem natürlichen Wissen nach, welches kein Zeichen nötig hat, sondern seiner Natur gemäß Gewißheit in sich schließt.

Aber auch diese prophetische Gewißheit war keine mathematische, sondern nur eine moralische. Es erhellt dies aus der Bibel selbst; im 5. Buch Mose Kap. 14 ermahnt nämlich Moses, daß ein Prophet, welcher neue Götter lehren wolle, zum Tode verurteilt werden solle, ungeachtet er seine Lehre durch Zeichen und Wunder bekräftigen mag; denn, fährt Moses fort, Gott thut auch Zeichen und Wunder, um das Volk zu versuchen. Auch Christus gab seinen Jüngern eine ähnliche Weisung, wie aus Matth. Kap. 24, V. 24 ersichtlich ist. Hesekiel Kap. 14, V. 8 lehrt sogar geradezu, daß Gott bisweilen die Menschen mit falschen Offenbarungen irreführe, denn er sagt: »Und wenn ein Prophet (nämlich ein falscher) sich täuscht und ein Wort redet, so habe ich Gott diesen Propheten getäuscht«; was auch Micha (s. 1. Buch der Könige Kap. 22, V. 21) von den Propheten Ahabs bezeugt.

Wenn es nun auch hiernach den Anschein hat, als wäre die Prophetie oder Offenbarung völlig zweifelhafter Art, so wohnt derselben gleichwohl, wie ich schon gesagt habe, viel Gewißheit inne. Denn die Frommen und Auserwählten täuscht Gott nie. Dem alten Sprichwort gemäß (s. 1. Buch Samuelis Kap. 24, V. 13), und wie auch die Geschichte Abigails und ihre Rede zeigt, gebraucht vielmehr Gott die Frommen zu Werkzeugen seiner Huld und die Schlechten zu Vollstreckern und Vermittlern seines Zorns; was auch deutlich der eben angeführte Fall des Micha beweist. Denn obgleich Gott beschlossen hatte, den Ahab durch die Propheten irrezuführen, so bediente er sich dazu doch nur falscher Propheten, dem frommen aber offenbarte er die Sache, wie sie war und hinderte ihn nicht, die Wahrheit kund zu thun. Dessenungeachtet kann die prophetische Gewißheit wie gesagt nur eine moralische gewesen sein, weil sich niemand vor Gott gerecht fühlen und rühmen kann, er sei ein Werkzeug der göttlichen Huld; was die Bibel selbst sagt und auch an und für sich einleuchtet. Hat doch Gottes Zorn den David verleitet, das Volk zu zählen, obgleich die Frömmigkeit Davids in der Bibel sattsam bezeugt ist.

Die ganze prophetische Gewißheit gründet sich hiernach auf dreierlei: 1. darauf, daß die Propheten den Gegenstand der Offenbarung mit ihrer Einbildungskraft ebenso lebhaft wahrnahmen, wie wir im wachen Zustande die wirklichen Dinge; 2. auf ein Zeichen; 3. und hauptsächlich darauf, daß die Gesinnung der Propheten nur dem Rechten und Guten zugewendet war. Zwar ist in der Bibel nicht überall von einem Zeichen die Rede, doch darf man annehmen, daß die Propheten stets ein Zeichen gehabt haben, zumal die Bibel nicht immer alle Bedingungen und Nebenumstände zu erzählen pflegt, (was schon viele bemerkt haben,) sondern manches als bekannt voraussetzt. Man kann übrigens auch zugeben, daß solche Propheten, welche nichts Neues verkündeten, sondern nur was im mosaischen Gesetz enthalten war, ein Zeichen nicht nötig hatten, weil das Gesetz Bestätigung gewährte. So wurde z. B. die Prophetie des Jeremia von der Zerstörung Jerusalems durch die Prophezeiungen anderer Propheten und die Drohungen des Gesetzes bestätigt und bedurfte daher keines Zeichens. Hananja dagegen, welcher entgegen allen Propheten die baldige Wiederherstellung des Staates prophezeite, hatte ein Zeichen nötig, weil sonst seine Prophezeiung solange zweifelhaft geblieben wäre, bis sie der Erfolg bestätigt hätte. S. Jerem. Kap. 28, V. 8.

Da hiernach die Gewißheit, welche die Zeichen den Propheten gewährten, keine mathematische war, (nämlich eine solche, die aus dem Begriff eines erkannten oder gesehenen Dinges mit Notwendigkeit folgt,) sondern lediglich eine moralische, und die Zeichen zu keinem andern Zweck gegeben wurden, als um den Propheten zu überzeugen, so folgt daraus, daß die Zeichen den Ansichten und Fähigkeiten der einzelnen Propheten angepaßt waren, derart, daß ein Zeichen, welches diesem Propheten über seine Prophetie Gewißheit gab, jenen, welcher andern Ansichten huldigte, nicht zu überzeugen vermochte; daher waren auch die Zeichen bei jedem Propheten wieder anders. Wie oben bemerkt, war gleicherweise auch die Offenbarung selbst bei jedem Propheten von besonderer Art, entsprechend der Gemütsart, der Einbildungskraft und den bereits angenommenen Ansichten des betreffenden Propheten. In Bezug auf die Gemütsart machte sich diese Verschiedenheit in folgender Weise geltend: War der Prophet von heiterer Gemütsart, so wurden ihm Siege, Frieden und was sonst die Menschen zur Freude stimmt, geoffenbart; denn heitere Menschen beschäftigen sich häufig in ihrer Einbildungskraft mit heiteren Vorstellungen. Einem Propheten von trauriger Gemütsart dagegen wurden Kriege, Strafgerichte und allerlei Unglück geoffenbart. So überhaupt je nachdem der Prophet mitleidig, freundlich, zornig, streng u. s. w. war, eignete er sich mehr für diese als für jene Offenbarungen. – Hinsichtlich der Beschaffenheit der Einbildungskraft trat die Verschiedenheit so zu Tage: War der Prophet ein Mann von Geschmack, so vernahm er die Gedanken Gottes ebenfalls in geschmackvoller Ausdrucksweise; war er aber unklar, in unklarer Ausdrucksweise. Das Gleiche war auch der Fall bei den Offenbarungen, welche durch Bilder geschahen: War der Prophet ein Landmann, so erblickte er Ochsen, Kühe u. s. f.; war er Soldat, so sah er Heerführer und Heerscharen; war er Hofmann, sah er einen königlichen Thron und dergleichen. – Endlich war auch die Prophetie je nach den verschiedenen Ansichten der einzelnen Propheten eine verschiedene: den Magiern (s. Matthäus Kap. 2), welche an die Hirngespinnste der Sterndeuter glaubten, wurde die Geburt Christi durch das Bild eines im Osten aufgegangenen Sterns geoffenbart. Den Wahrsagern des Nebukadnezar (s. Hesekiel Kap. 21, V. 26) wurde die Zerstörung Jerusalems durch die Eingeweide der Opfertiere geoffenbart; auch erfuhr sie derselbe König aus Orakeln und aus der Richtung der Pfeile, die er nach oben in die Luft schoß. Den Propheten endlich, welche an die menschliche Willensfreiheit und Selbstbestimmung glaubten, offenbarte sich Gott als ein Wesen, das auf die Handlungen der Menschen keinen Einfluß übt und dem die künftigen menschlichen Handlungen unbekannt seien. – Das alles will ich jetzt aus der Bibel selbst im einzelnen nachweisen.

Das erste geht hervor aus der Geschichte Elisa's, (s. 2. Buch der Könige Kap. 3, V. 15,) welcher, da er dem Jerobeam prophezeien sollte, ein Saitenspiel verlangte und den Gedanken Gottes erst erfahren konnte, nachdem er sich an der Musik des Saitenspiels ergötzt hatte. Dann erst verkündete er dem Jerobeam und seinen Gefährten erfreuliche Dinge, was vorher nicht geschehen konnte, weil er gegen den König aufgebracht war, und wer über jemand zornig ist, wohl Schlimmes, nicht aber Gutes über denselben sich vorzustellen geneigt ist. Wenn aber manche behaupten, Gott offenbare sich den Zornigen und Traurigen überhaupt nicht, so ist das eitel Träumerei; hat doch Gott dem auf Pharao erzürnten Moses jenes jammervolle Sterben der Erstgeborenen geoffenbart (s. 2. Buch Mose Kap. 11, V. 8), und zwar ohne die Anwendung eines Saitenspiels. Auch dem rasenden Kain hat sich Gott geoffenbart. Dem vor Zorn ungeduldigen Hesekiel sind die Trübsale und Widerspenstigkeit der Juden geoffenbart worden (s. Hesekiel Kap. 3, V. 14), und der tiefbetrübte und im höchsten Grade lebensüberdrüssige Jeremia prophezeite die Leiden der Juden; so daß Josia ihn nicht befragen wollte, sondern sich lieber an eine damals lebende Prophetin wendete, deren weiblicher Sinn für eine Offenbarung der göttlichen Barmherzigkeit eher geeignet war. (S. 2. Buch der Chronik, Kap. 34.) Auch Micha hat dem Ahab niemals etwas Gutes prophezeit, wie andere wahre Propheten, (was aus dem 1. Buch der Könige Kap. 20 erhellt,) sondern nur Schlimmes für sein ganzes Leben (s. 1. Buch der Könige Kap. 22, V. 7 und deutlicher im 2. Buch der Chronik Kap. 18, V. 7). Die Propheten waren also je nach ihrer Gemütsart mehr für diese als für jene Offenbarungen geeignet.

Ferner war auch die prophetische Ausdrucksweise verschieden und entsprach der Redeweise des betreffenden Propheten. Die Prophezeiungen des Hesekiel und Amos sind nicht in dem vornehmen Stil des Jesaja und Nahum, sondern in einem geringeren Stil abgefaßt. Kenner des Hebräischen können dies noch näher bestätigt finden, wenn sie mehrere Kapitel verschiedener Propheten, welche denselben Gegenstand behandeln, mit einander vergleichen; der große Unterschied in der Ausdrucksweise wird ihnen nicht entgehen. Man vergleiche z. B. den Hofmann Jesaia im 1. Kap. vom 11. bis 20. Vers mit dem 5. Kap. des Bauern Amos vom 21. bis 24. Vers. Ferner vergleiche man die Anordnung und den Inhalt der Prophetie des Jeremia, die er im 49. Kap. über Edom schrieb, mit der Anordnung und dem Inhalt des Obadja; oder Jesaja Kap. 40, V. 19 und 20 und Kap. 44, von Vers 8 an, mit Hosea Kap. 8, V. 6 und Kap. 13, V. 2. Und so giebt es noch viele Stellen. Richtig aufgefaßt, zeigen diese Stellen alle, daß Gott sich keiner eigenen Ausdrucksweise bedient, sondern je nach der Bildung und Fähigkeit des Propheten fein, gedrängt, streng, schmucklos, weitschweifig oder dunkel spricht.

Die prophetischen Gesichte und Zeichen waren gleichfalls verschieden, wenn sie auch einen und denselben Gegenstand darstellen wollten; denn dem Jesaja erschien die aus dem Tempel weichende göttliche Glorie anders als dem Hesekiel. Die Rabbinen meinen zwar, beide Erscheinungen wären ganz gleich gewesen, nur sei Hesekiel, als Bauer, über die Maßen erstaunt darüber gewesen, weshalb er sie mit allen Nebenumständen beschrieben habe. Indessen wenn sie das nicht aus beglaubigter Überlieferung haben, was ich nicht glauben kann, so ist es reine Erdichtung. Denn Jesaja sah Seraphim mit sechs Flügeln, Hesekiel aber Tiere mit vier Flügeln. Jesaja sah Gott in Gewändern und auf königlichem Throne sitzend, Hesekiel dagegen in Gestalt eines Feuers. Ohne Zweifel hat daher jeder von beiden Gott so gesehen, wie er ihn sich vorzustellen pflegte.

Die prophetischen Gesichte unterschieden sich ferner von einander nicht bloß in ihrem Wesen, sondern auch in der Deutlichkeit. Die Erscheinungen, welche Sacharia hatte, waren so unklar, daß er sie selbst ohne Erläuterung nicht verstehen konnte, was aus dem Bericht darüber hervorgeht, und Daniel konnte die seinigen auch mit der Erläuterung nicht verstehen. Der Grund davon lag nicht etwa in der Schwierigkeit des Offenbarungsgegenstandes, (betraf derselbe doch lediglich menschliche Angelegenheiten, welche über die Grenzen menschlichen Wissens nur hinausgehen, sofern sie der Zukunft angehören,) sondern bloß darin, daß die Einbildungskraft Daniels im wachen Zustande weniger gut zu prophezeien vermochte als im Traume. Dies erhellt auch daraus, daß er gleich bei Beginn der Offenbarung so bestürzt war, daß er beinahe an seiner Kraft verzweifelte; wegen solcher Schwäche seiner Einbildungs- und Körperkraft war die Erscheinung für ihn so dunkel, daß er sie trotz der Erklärung nicht verstehen konnte. Und hier ist daran zu erinnern, daß die Worte, welche Daniel gehört, nur eingebildete gewesen seien (was ich oben gezeigt habe); kein Wunder daher, daß ihm in seiner damaligen Bestürzung alle jene Worte so verworren und dunkel vorkamen, daß er hernach nichts davon verstehen konnte. Diejenigen aber, welche meinen, Gott habe dem Daniel die Sache nicht klar offenbaren wollen, scheinen die Worte des Engels nicht gelesen zu haben, welcher ausdrücklich sagt (s. Kap. 10, V. 14): »er sei gekommen, um Daniel wissen zu lassen, was seinem Volke in späteren Zeiten widerfahren werde«. Somit blieben jene Dinge nur deshalb dunkel, weil in jener Zeit niemand lebte, dessen Einbildungskraft für eine klare Offenbarung stark genug gewesen wäre. – Jene Propheten endlich, denen geoffenbart wurde, daß Gott den Elia von hinnen nehmen werde, wollten den Elisa überreden, daß jener an einen andern Ort gebracht worden sei, wo er von ihnen noch gefunden werden könnte; was sicherlich klar beweist, daß sie die Offenbarung Gottes nicht richtig verstanden hatten.

Es ist unnötig, dies noch weitläufiger zu beweisen; denn nichts geht aus der Bibel deutlicher hervor als das, daß Gott dem einen Propheten die Gabe der Prophetie in höherem Grade zuteil werden ließ, als dem andern. Sorgfältiger und umständlicher will ich dagegen zeigen, daß die Prophetie oder die prophetischen Erscheinungen auch gemäß den verschiedenen Meinungen, von welchen die Propheten eingenommen waren, verschieden waren, und daß die Propheten verschiedene, sogar widersprechende Meinungen hatten, wie auch verschiedene Vorurteile. (Ich spreche hier von rein spekulativen Dingen, denn über ihre Frömmigkeit und guten Sitten denke ich ganz anders.) Dieser Gegenstand ist für mich von großer Wichtigkeit, denn ich werde daraus die Folgerung ableiten, daß die Prophetie die Propheten nicht gelehrter gemacht, sondern sie in ihren vorgefaßten Meinungen belassen hat, und daß wir mithin nicht gehalten sind, in rein spekulativen Dingen ihnen zu glauben.

Mit merkwürdiger Übereilung hat man sich von jeher allgemein eingeredet, die Propheten hätten alles gewußt, was dem menschlichen Denken zugänglich ist. Und obgleich uns manche Bibelstellen deutlich genug erkennen lassen, daß die Propheten manches nicht gewußt haben, so sagt man lieber, man verstehe jene Bibelstellen nicht richtig, als daß man zugiebt, die Propheten hätten irgend etwas nicht gewußt; oder aber sucht man die Bibelworte in einer Weise zu verdrehen, daß sie eben sagen muß, was sie ganz und gar nicht sagen will. Wäre ein derartiges Verfahren irgend statthaft, so wäre es fürwahr um die ganze Bibel geschehen; denn wie könnte man irgend etwas aus der Bibel beweisen, wenn die unzweideutigsten Stellen zu den dunklen und unverständlichen verwiesen oder nach Belieben gedeutet werden dürften. So ist z. B. in der Bibel nichts klarer, als daß Josua und vielleicht auch der Verfasser seiner Geschichte geglaubt haben, die Sonne bewege sich um die Erde, während diese stille stehe, aber eine Zeitlang sei auch die Sonne stille gestanden. Gleichwohl wird jene Stelle von vielen, welche nicht zugeben wollen, daß am Himmel irgend welche Veränderung vorkommen könne, so ausgelegt, daß sie nichts Derartiges zu sagen scheint. Andere wieder, welche richtiger zu philosophieren gelernt haben, weil sie einsehen, daß sich die Erde bewegt, die Sonne aber stille steht oder sich nicht um die Erde bewegt, geben sich alle Mühe, eben dieses aus der Bibel herauszupressen, trotz des offenbaren Gegenteils. Ich kann darüber nur staunen, denn ich frage: Sind wir etwa zu glauben gehalten, daß der Kriegsmann Josua Astronomie verstand? oder daß er die Ursache des Wunders kennen mußte, andernfalls ihm das Wunder nicht hätte geoffenbart werden und das Sonnenlicht nicht länger als sonst über dem Horizonte hätte bleiben können? Das eine wie das andere ist in meinen Augen lächerlich. Viel lieber sage ich ganz offen: Josua hat die wahre Ursache des längeren Verweilens jenes Lichtes nicht gekannt, er wie alle seine Leute glaubten vielmehr, die Sonne bewege sich täglich um die Erde und sei nur an jenem Tage eine Zeitlang stille gestanden, weshalb der Tag länger als sonst andauerte; daran dachte er nicht, daß das viele Eis, womit damals die Luft geschwängert war (s. Josua Kap. 10, V. 11), eine ungewöhnlich starke Lichtbrechung bewirken konnte, oder etwas Ähnliches, worauf ich hier nicht eingehen will. Ebenso wurde auch dem Jesaja das Zeichen des zurückweichenden Schattens geoffenbart, nach seinen Begriffen infolge der zurückweichenden Sonne; denn auch er glaubte, die Sonne bewege sich und die Erde stehe stille; an Nebensonnen hat er sicherlich nicht im Traume gedacht. Das können wir ohne das geringste Bedenken behaupten, da das Zeichen tatsächlich geschehen und dem König von Jesaja verkündet werden konnte, ohne daß der Prophet dessen wahre Ursache kennen mußte.

Ein Gleiches gilt vom Bau Salomos, wenn anders derselbe von Gott geoffenbart worden ist, nämlich daß alle seine Maßverhältnisse nach den Begriffen und Meinungen Salomos ihm geoffenbart wurden. Denn da wir keineswegs zu glauben verpflichtet sind, Salomo sei ein Mathematiker gewesen, so dürfen wir auch behaupten, daß er das Verhältnis der Peripherie zum Durchmesser des Kreises nicht gewußt, sondern wie ein gewöhnlicher Arbeiter geglaubt hat, es sei wie 3 zu 1. Sollte aber die Annahme, wir verstünden den Bibeltext 1. Buch der Könige Kap. 7, V. 23 nicht, statthaft sein, so weiß ich beim Himmel nicht, was wir überhaupt in der Bibel verstehen können; wird doch daselbst der Bau ganz einfach und rein geschichtlich erzählt. Ich meine, wenn man annehmen darf, die Bibel habe es anders gemeint, aber aus irgend einem uns unbekannten Grunde so schreiben wollen, wie sie geschrieben, so wird damit nichts weniger als die ganze Bibel auf den Kopf gestellt; denn mit gleichem Rechte könnte dann jeder von allen Bibelstellen das Gleiche behaupten und die Folge wäre, daß alles Verkehrte und Schlechte, was menschliche Bosheit nur ersinnen kann, unter biblischer Autorität verteidigt und verübt werden dürfte.

Indessen ist meine Behauptung nicht im mindesten gottlos; denn wenn auch Salomo, Jesaja, Josua etc. Propheten waren, so waren sie doch Menschen und nichts Menschliches war ihnen fremd.

Den Begriffen des Noah gemäß wurde ihm geoffenbart, daß Gott das Menschengeschlecht vertilge, weil er nämlich nicht wußte, daß die Welt auch außerhalb Palästinas bewohnt sei. Nicht bloß in derartigen, sondern in noch viel wichtigeren Dingen konnten die Propheten, ihrer Frömmigkeit unbeschadet, unwissend sein und sie waren es auch in der That. Haben sie doch gar nichts Besonderes über die göttlichen Eigenschaften gelehrt, vielmehr hatten sie von Gott die gewöhnlichsten Begriffe und diesen waren auch ihre Offenbarungen angepaßt, wie ich jetzt durch zahlreiche Belege aus der Bibel zeigen werde; so daß man leicht einsehen wird, daß die Propheten nicht eigentlich wegen ihres erhabenen und vorzüglichen Geistes als vielmehr wegen ihrer Frömmigkeit und Vortrefflichkeit des Herzens gelobt und gepriesen werden.

Adam, der erste, dem sich Gott geoffenbart, wußte nicht, daß Gott allgegenwärtig und allwissend sei; denn er versteckte sich vor Gott und suchte seinen Fehltritt vor Gott wie einem Menschen gegenüber zu entschuldigen. So offenbarte sich ihm Gott auch seinen Begriffen gemäß, nämlich als ob er nicht überall sei und Adams Aufenthalt und Sünde nicht wüßte. Denn Adam hörte oder glaubte Gott zu hören, wie er im Garten lustwandelte, ihn rief und fragte, wo er sei, und später – als sich Adam schämte – ob er von dem verbotenen Baume gegessen habe. Adam kannte also keine andere Eigenschaft Gottes, als daß er der Schöpfer aller Dinge gewesen. – Ebenso offenbarte sich Gott dem Kain seinen Begriffen gemäß, nämlich als ob er die menschlichen Thaten nicht kennte; eine reinere Gotteserkenntnis hatte er auch in der That nicht nötig, um seine Sünde zu bereuen. – Dem Laban offenbarte sich Gott als der Gott Abrahams, weil jener glaubte, jedes Volk habe seinen eigenen Gott. S. 1. Buch Mose Kap. 31, V. 29. – Auch Abraham wußte nicht, daß Gott allgegenwärtig sei und alles vorauswisse; denn als er den Urteilspruch gegen die Sodomiter vernommen, bat er Gott, ihn nicht eher zu vollstrecken, als bis er wüßte, daß sämtliche Sodomiter jene Strafe verdient hätten; er sagte nämlich (s. 1. Buch Mose Kap. 18, V. 24): »Vielleicht werden fünfzig Gerechte in jener Stadt gefunden«. Und Gott selbst offenbarte sich ihm nicht anders, da er, wie Abraham in seiner Einbildungskraft meinte, also sprach: »Nun will ich herabsteigen und sehen, ob sie wirklich das gethan, dessen die schwere Klage, welche zu mir gekommen, sie beschuldigt, oder ob nicht, auf daß ich (den Sachverhalt) wisse.« Auch das göttliche Zeugnis über Abraham (s. hierüber 1. Buch Mose Kap. 18, V. 19) erwähnt bloß seinen Gehorsam und daß er die Seinigen zum Rechten und Guten ermahnt, nicht aber, daß er von Gott höhere Begriffe gehabt habe. – Moses hatte gleichfalls nicht hinlänglich erkannt, daß Gott allwissend sei und alle menschlichen Handlungen nach seinem Ratschluß lenke. Denn obgleich Gott ihm gesagt hatte (s. 2. Buch Mose Kap. 3, V. 18), daß ihm die Israeliten gehorchen würden, so zog er die Sache dennoch in Zweifel und erwiderte (s. 2. Buch Mose Kap. 4, V. 1): »Wie aber, wenn sie mir nicht glauben und mir nicht gehorchen?« Deswegen hat sich ihm Gott auch als ein Wesen geoffenbart, das an den menschlichen Handlungen unbeteiligt ist und die künftigen Thaten der Menschen nicht kennt. Er gab ihm nämlich zwei Zeichen und sagte (2. Buch Mose Kap. 4, V. 8): »Wenn es geschehen sollte, daß sie dem ersten Zeichen nicht glauben, so werden sie doch dem andern glauben; wenn sie aber auch dem andern nicht glauben, so nimm (alsdann) etwas Wasser aus dem Fluß etc.« Fürwahr, wer die Ansichten des Moses ohne Vorurteil erwägt, muß deutlich erkennen, daß er sich unter Gott ein Wesen vorstellte, welches ewig war, ist und ewig sein wird, weshalb er Gott mit dem Namen Jehovah bezeichnet, welcher im Hebräischen diese drei Zeiten des Seins ausdrückt; von Gottes Natur aber hat Moses nichts Anderes gelehrt, als daß Gott barmherzig, gnädig etc. und sehr eifervoll ist, wie aus zahlreichen Stellen des Pentateuch hervorgeht. Ferner glaubte und lehrte er, daß dieses Wesen von allen andern sich dadurch unterscheide, daß es durch kein Bild irgend eines sichtbaren Gegenstands dargestellt, noch auch gesehen werden könne – nicht sowohl wegen der Schwierigkeit des Gegenstands, als wegen des menschlichen Unvermögens – und daß dasselbe außerdem in bezug auf seine Macht einzig sei. Zwar giebt er zu, daß es Wesen gebe, welche (ohne Zweifel auf Gottes Anordnung und Befehl) Gottes Stelle vertreten, d. h. Wesen, welchen Gott Ansehen, Recht und Gewalt gegeben, die Völker zu regieren, über sie zu wachen und für sie zu sorgen; von dem Wesen aber, das jene zu verehren verpflichtet waren, lehrte er, es sei der höchste und oberste Gott oder (um den hebräischen Ausdruck zu gebrauchen) der Gott der Götter; deshalb sagt er in dem Lied (des 2. Buches Mose Kap. 15, V. 11): »Wer unter den Göttern ist dir gleich, Jehovah?«, und Jetro (Kap. 18, V. 11): »Nun weiß ich, daß Jehovah größer ist als alle Götter«, d. h. ich muß nun dem Moses zugeben, daß Jehovah größer ist als alle Götter und einzig an Macht. Indessen kann man zweifeln, ob Moses jene Wesen, welche Gottes Stelle vertraten, für Gottes Geschöpfe hielt, da er, so viel wir wissen, über deren Erschaffung und Ursprung nichts gesagt hat. Moses lehrte weiter, daß dieses Wesen den Zustand des Chaos (s. 1. Buch Mose Kap. 1, V. 2) in dieser sichtbaren Welt beseitigt habe und Ordnung darin werden ließ, der Natur den Samen verschiedener Arten einpflanzte, weshalb ihm über alles das höchste Recht und die höchste Gewalt zustehe. Zufolge diesem höchsten Recht und dieser höchsten Gewalt habe dieses Wesen das hebräische Volk für sich allein auserwählt (s. 5. Buch Mose Kap. 10, V. 14 und 15), wie auch ein bestimmtes Land auf der Erde (s. 5. Buch Mose Kap. 4, V. 19 und Kap. 32, V. 8 und 9), die andern Völker und Länder aber der Fürsorge der andern von ihm bestellten Götter überlassen; weshalb dieses Wesen der Gott Israels und der Gott Jerusalems (s. 2. Buch der Chronik Kap. 32, V. 19), die andern Götter aber die Götter der übrigen Völker genannt werden. Aus diesem Grunde glaubten auch die Juden, jenes Land, welches Gott sich auserwählt hatte, erfordere einen besonderen von dem Gottesdienst anderer Länder ganz verschiedenen Gottesdienst; ja es könne den Dienst anderer Götter, der sich für andere Länder eigne, nicht dulden. Glaubte man doch, daß jene Völker, welche der König von Assyrien in das Land der Juden führte, deshalb von Löwen zerrissen wurden, weil sie den Gottesdienst dieses Landes nicht kannten (s. 2. Buch der Könige Kap. 17, V. 25 und 26). Nach Aben Esras Ansicht sagte daher auch Jakob zu seinen Söhnen, als er in die Heimat reisen wollte, sie sollten sich auf einen neuen Gottesdienst vorbereiten und die fremden Götter, d. h. den Dienst der Götter ihres Aufenthaltsorts, ablegen (s. 1. Buch Mose Kap. 35, V. 2 und 3). Auch David, da er zu Saul sagte, er sei wegen dessen Nachstellungen gezwungen, außerhalb seines Vaterlandes zu leben, fügte hinzu, er sei von dem Erbteil Gottes vertrieben und zum Dienst fremder Götter gesendet (s. 1. Buch Samuelis Kap. 26, V. 19). Endlich glaubte Moses auch, jenes Wesen, nämlich Gott, habe seine Wohnung im Himmel (s. 5. Buch Mose Kap. 33, V. 27), welche Meinung bei den Heiden sehr verbreitet war.

Wenn wir nun die Offenbarungen des Moses genauer ins Auge fassen, so finden wir, daß sie diesen Meinungen entsprachen. Da er glaubte, mit der Natur Gottes seien solche Zustände vereinbar, nämlich Barmherzigkeit, Gnade etc., so offenbarte sich ihm Gott auch diesem Glauben gemäß und unter diesen Eigenschaften (s. 2. Buch Mose Kap. 34, V. 6 und 7, wo erzählt wird, in welcher Weise Gott dem Moses erschienen ist; auch die Verse 4 und 5 der Zehn Gebote). Weiter wird in Kap. 33, V. 18 berichtet, Moses habe Gott gebeten, daß er ihm die Gunst erweisen möge, Gott sehen zu dürfen; weil aber Moses, wie schon bemerkt, sich kein Bild von Gott in seiner Einbildungskraft gemacht hatte, Gott aber (wie schon öfters hervorgehoben) sich den Propheten nie anders als nach der Beschaffenheit ihrer Einbildungskraft offenbart, so ist ihm auch Gott nicht unter einem Bilde erschienen; und nach meiner Ansicht kam dies daher, weil Moses der Macht der Einbildungskraft widerstand. Denn andere Propheten, ein Jesaja, Hesekiel, Daniel etc., bezeugen, Gott gesehen zu haben. Aus diesem Grunde gab ihm auch Gott zur Antwort: »Du wirst mein Antlitz nicht sehen können«, und weil Moses glaubte, Gott sei sichtbar, d. h. die Sichtbarkeit widerspreche keiner Seite des göttlichen Wesens, (da er sonst nicht darum gebeten hätte,) so fügte. Gott hinzu: »denn kein Mensch kann mich sehen und leben«. Gott giebt also einen Grund an, welcher der Meinung des Moses entsprach; er sagt nicht, die Sichtbarkeit widerspreche dem göttlichen Wesen, wie es sich in der That verhält, sondern er sagt, daß es nicht geschehen könne wegen der menschlichen Schwäche.

Ferner, als Gott dem Moses offenbaren wollte, daß die Israeliten, da sie das Kalb angebetet hatten, den andern Völkern gleich geworden seien, sagte er Kap. 33, V. 2 und 3, er werde einen Engel senden, d. h. ein Wesen, welches an Stelle des höchsten Wesens mit der Führung der Israeliten beauftragt sein soll, er selbst aber wolle nicht unter ihnen sein. Denn unter diesen Umständen hatte Moses keinen Grund mehr für die Annahme, daß die Israeliten Gott lieber seien als andere Nationen, welche Gott ebenfalls der Leitung andrer Wesen oder Engel überwiesen hatte, wie aus V. 16 desselben Kapitels erhellt.

Endlich offenbarte sich Gott, als ob er vom Himmel auf den Berg herabstiege, weil der Glaube herrschte, Gott wohne im Himmel, und Moses selbst stieg auf den Berg, um mit Gott zu reden, was gar nicht nötig gewesen wäre, wenn er sich Gott ebenso leicht anderswo hätte vorstellen können.

Die Israeliten wußten von Gott beinahe gar nichts, obgleich er ihnen geoffenbart war; das zeigten sie mehr als genug, als sie wenige Tage darauf seine Verehrung und seinen Dienst auf ein Kalb übertrugen und in diesem jene Götter erblickten, die sie aus Ägypten herausgeführt. Es wäre in der That kaum glaublich, daß Menschen, welche an den Aberglauben der Ägypter gewöhnt, ungebildet und durch eine harte Sklaverei heruntergekommen waren, gesunde Begriffe von Gott gehabt haben sollten, oder daß Moses ihnen etwas anderes beigebracht haben sollte, als was den Lebenswandel betrifft; aber auch das that er nicht als Philosoph, so daß sie aus eigenem Antrieb einen guten Lebenswandel führten, sondern als Gesetzgeber, damit sie durch die Macht des Gesetzes dazu genötigt würden. Ein guter Lebenswandel oder das rechte Leben, der Dienst Gottes und die Liebe zu ihm, war ihnen daher mehr eine Knechtschaft, nicht aber die wahre Freiheit und eine Gnade und Gabe Gottes. Er befahl ihnen, Gott zu lieben und seine Gesetze zu beobachten, um Gott für die empfangenen Wohlthaten (wie die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei etc.) Dank zu bezeigen; sodann schreckte er sie durch Drohungen, falls sie diese Vorschriften übertreten sollten und verhieß ihnen dagegen viel Gutes, wenn sie dieselben beobachteten. Er belehrte sie also gerade wie Eltern ihre der Vernunft noch unzugänglichen Kinder und es ist demnach gewiß, daß sie die Vortrefflichkeit der Tugend und die wahre Glückseligkeit nicht gekannt haben.

Jona meinte dem Angesicht Gottes entfliehen zu können, was zu beweisen scheint, daß auch er glaubte, Gott habe die Leitung der andern Länder außerhalb Judäa andern von ihm zu Stellvertretern eingesetzten Mächten überwiesen.

Im ganzen Alten Testament hat niemand vernunftgemäßer von Gott gesprochen als Salomo, der an natürlicher Einsicht alle seine Zeitgenossen übertraf. Daher dünkte er sich auch über das Gesetz erhaben, (denn dieses ist nur für solche vorhanden, welche der Vernunft und Weisungen der natürlichen Einsicht entbehren,) und achtete alle Gesetze, welche den König betreffen und hauptsächlich aus drei bestanden (s. Sprüche Sal. Kap. 16, V. 23), gering, ja er übertrat sie sogar (worin er übrigens irrte, wie denn auch seine Lebensweise nicht eines Philosophen würdig war, indem er den Sinnenlüsten fröhnte). Er lehrte, daß alle Glücksgüter eitel seien (s. den Prediger Salomo) und daß das höchste Gut der Menschen die Erkenntnis, die härteste Strafe die Thorheit sei (s. Prediger Salomo Kap. 16, V. 23).

Kehren wir nun wieder zu den Propheten zurück, um ihre widersprechenden Ansichten kennen zu lernen. Schon die Rabbinen, welche uns die noch vorhandenen prophetischen Bücher hinterlassen haben, (wie im Traktat Sabbath Kap. 1, Blatt 13, Seite 2 erzählt wird,) fanden die Ansichten des Hesekiel so sehr im Widerspruch mit den Ansichten des Moses, daß sie schwankten, ob sie das Buch Hesekiel unter die kanonischen Bücher aufnehmen sollten, und sie hätten es auch sicherlich verborgen, wenn nicht ein gewisser Hananja sich anheischig gemacht hätte, es auszulegen, was er auch mit viel Mühe und Fleiß zustande gebracht haben soll (wie ebendaselbst mitgeteilt wird); doch weiß man nicht näher, wie er dies angefangen, ob durch einen schriftlichen Kommentar, der vielleicht verloren ging, oder durch Änderungen und Zuthaten aus eigenem Kopfe, (was sehr keck gewesen wäre). Mag er nun so oder anders verfahren sein, das 18. Kapitel wenigstens stimmt nicht zu Vers. 7 des 34. Kapitels im 2. Buche Mose, auch nicht zu Vers 18, Kapitel 32 des Jeremia u. s. f. – Samuel glaubte, daß Gott einen Beschluß, den er einmal gefaßt, niemals bereue (s. 1. Buch Samuelis Kap. 15, V. 29); denn er sagte zu Saul, der seine Sünde bereute, zu Gott beten und ihn um Verzeihung bitten wollte, Gott werde seinen Beschluß über ihn nicht abändern. Dem Jeremia aber wurde das Gegenteil geoffenbart (s. Kap. 18, V. 8 und 10), nämlich, daß Gott sowohl das Schlimme als auch das Gute, was er über ein Volk verhängt habe, zurücknimmt, wenn die Menschen von der Zeit an, da das Urteil ergangen, sich zum Besseren oder Schlimmeren ändern sollten. – Joel hinwiederum lehrt, Gott nehme bloß das Schlimme zurück (s. dessen Buch Kap. 2, V. 13). – Endlich geht aus 1. Buch Mose Kap. 4, V. 7 deutlich hervor, daß der Mensch seine sündigen Begierden überwinden und das Gute thun könne; denn dies wird dem Kain gesagt, der sie doch nicht überwunden hat, wie aus der biblischen Erzählung hervorgeht. LANG="de-AT"> » ut ex ipsa Scriptura et Josepho constat«. Auerbach und Kirchmann: »wie aus der Bibel und Josephus erhellt«. Was Josephus hier beweisen soll, ist unerfindlich, und daß Spinoza, der so oft betont, die Bibel müsse aus sich selbst erklärt werden, sich auf Josephus berufen soll, ist kaum glaublich. Ich halte das Wort » et Josepho« für eine spätere Randglosse, welche auf die Geschichte Josephs hinweisen wollte, die ebenfalls zeigt, daß der Mensch seine Begierden überwinden kann. Ich glaubte daher, die beiden Worte unübersetzt lassen zu sollen. Das Gleiche ergiebt sich offenbar aus dem angeführten Kapitel des Jeremia, da er sagt, Gott nehme das Schlimme wie das Gute, welches er über die Menschen verhängt hat, zurück, wenn die Menschen Sitten und Lebenswandel ändern wollen. Paulus hingegen lehrt nichts deutlicher, als daß die Menschen keinerlei Gewalt über die Begierden des Fleisches hätten, ohne besondere Berufung und Gnade Gottes (s. den Brief an die Römer Kap. 9, von V. 10 an); und wenn er Kap. 3, V. 5 und Kap. 6, V. 19 Gott Gerechtigkeit zuschreibt, so verbessert er sich dahin, daß er hier in menschlicher Weise und wegen der Schwachheit des Fleisches also spreche.

Aus dem Vorstehendem erhellt also zur Genüge das, was ich mir zu beweisen vorgesetzt habe, nämlich, daß Gott seine Offenbarungen der Fassungskraft und den Meinungen der Propheten anbequemt hat; ferner daß die Propheten in Dingen, welche bloß das spekulative Denken, nicht die Liebe und den Lebenswandel betreffen, unwissend sein konnten und in der That auch waren; endlich daß die Propheten widersprechende Meinungen gehabt haben. Weit entfernt daher, daß wir aus ihnen die Kenntnis der Natur oder des Geistes schöpfen können. Ich ziehe daraus den Schluß, daß wir den Propheten nichts anderes zu glauben verpflichtet sind, als den Zweck und das Wesen der Offenbarung; im übrigen steht es jedermann frei, zu glauben, was ihm beliebt. Die Offenbarung des Kain z. B. lehrt uns nur, daß Gott den Kain zu einem guten Lebenswandel ermahnt hat; das allein ist Ziel und Zweck dieser Offenbarung, nicht aber eine Belehrung über die Freiheit des Willens oder andere philosophische Fragen. Ungeachtet also die Worte dieser Ermahnung und ihre Begründung die Freiheit des Willens unzweideutig voraussetzen, so dürfen wir dennoch das Gegenteil annehmen, indem jene Worte und Gründe bloß den Begriffen des Kain angepaßt sind. Ebenso will die Offenbarung des Micha nur lehren, daß Gott dem Micha den wahren Ausgang des Kampfes Ahabs gegen Aram geoffenbart hat, weshalb wir auch nur das zu glauben gehalten sind; was aber sonst noch in jener Offenbarung enthalten ist, über den wahren und falschen Geist Gottes, über das himmlische Heer, das zu beiden Seiten Gottes stand und andere Nebenumstände, das alles geht uns nichts an, und jeder mag davon halten, was seiner eigenen Vernunft entspricht. Dasselbe gilt von den Gründen,, mit welchen Gott dem Hiob seine Allmacht beweist – vorausgesetzt, daß diese Offenbarung wirklich stattgefunden hat und der Autor eine wirkliche Begebenheit erzählt und nicht (wie manche glauben) seine Gedanken in geschichtlichem Gewande dargestellt hat – sie sind den Begriffen Hiobs angepaßt und bestimmt, ihn allein zu überzeugen, aber keineswegs allgemein geltende Gründe von zwingender Beweiskraft für jedermann. Nicht anders verhält es sich mit den Gründen, durch welche Christus die Pharisäer der Hartnäckigkeit und Unwissenheit überführt und seine Jünger zu einem tugendhaften Leben ermahnt; auch er hat seine Gründe den Meinungen und Grundlehren eines jeden anbequemt. Wenn er z. B. zu den Pharisäern sagt (Matth. Kap. 11, V. 26): »Und wenn der Satan den Satan austreibt, so ist er mit sich selbst uneins, wie mag demnach sein Reich bestehen?«, so wollte er bloß die Pharisäer mit ihren eigenen Grundlehren schlagen, aber nicht etwa lehren, daß es böse Geister oder ein Reich von bösen Geistern gebe. So auch wenn er zu den Jüngern sagt (Matth. Kap. 18, V. 10): »Sehet zu, daß ihr keinen von diesen Kleinen da verachtet, denn wahrlich ich sage euch, ihr Engel im Himmel etc.«, so wollte er damit nur lehren, daß sie nicht stolz sein und niemand verachten sollen; aber nichts von dem, was in der Begründung enthalten ist und nur zur besseren Überzeugung der Jünger dienen soll. Unbedingt läßt sich das Gleiche von den Gründen und Zeichen der Apostel behaupten, doch ist es nicht nötig, dies weitläufig auszuführen. Wollte ich überhaupt alle Bibelstellen anführen, welche nur mit Rücksicht auf die menschliche Vorstellungsweise oder die Begriffe eines Einzelnen geschrieben sind und zum großen Nachteil für die Philosophie als göttliche Lehren verteidigt werden, so müßte ich die Kürze, deren ich mich befleißige, weit überschreiten. Es mag daher bei den wenigen aber allgemein bekannten sein Bewenden haben; die übrigen seien der Erwägung des eifrigen Lesers überlassen.

Obgleich nun aber hauptsächlich nur das, was hier über die Propheten und die Prophetie abgehandelt wurde, zur eigentlichen Aufgabe, die ich mir vorgesetzt, nämlich der Trennung der Philosophie von der Theologie, gehört, so glaube ich doch, da ich einmal diese Frage im Allgemeinen behandelt habe, auch untersuchen zu sollen, ob die Gabe der Prophetie nur den Hebräern eigentümlich war, oder auch bei allen andern Völkern vorkam, und sodann, was von der Berufung der Hebräer zu halten sei. Dies bildet den Inhalt des nächsten Kapitels.

Drittes Kapitel.

Über die Berufung der Hebräer und ob die Gabe der Prophetie ihnen allein eigen gewesen.


Das wahre Glück und die echte Glückseligkeit besteht darin, daß man des Guten teilhaftig ist, nicht aber in dem Ruhm, daß man es allein genießen darf und andere Menschen davon ausgeschlossen sind. Denn wer sich deswegen für glücklicher hält, weil es ihm allein wohl ergeht, andern aber nicht, oder weil er glückseliger und vom Glück begünstigter ist als die andern, der kennt das wahre Glück und die wahre Glückseligkeit nicht, und die Freude, die er darüber empfindet, ist entweder eine kindische oder sie entspringt aus Neid und einem bösen Herzen. Besteht z. B. das wahre Glück und die echte Glückseligkeit in der Weisheit und Erkenntnis der Wahrheit, so kann für den Weisen der Umstand nichts dazu beitragen, daß er weiser ist als die übrigen oder daß sie die Wahrheit nicht kennen, da solches seine Weisheit, also sein wahres Glück, nicht im geringsten vermehrt. Wer sich also hierüber freut, der freut sich über das Übel eines andern, ist somit neidisch und schlecht und kennt weder die wahre Weisheit noch den Frieden eines rechten Lebens. Da nun die Bibel, um die Hebräer zum Gehorsam gegen das Gesetz zu ermahnen, von Gott sagt, er habe sie unter allen Völkern sich auserwählt (s. 5. Buch Mose Kap. 10, V. 15), er sei ihnen nahe, andern Völkern aber nicht (5. Buch Mose Kap. 4, V. 4 und 7), habe nur ihnen gerechte Gesetze gegeben (daselbst V. 8) und sich nur ihnen geoffenbart, andern nicht (daselbst V. 32 etc.), so redet sie zu ihnen ihren Begriffen gemäß, da sie, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde und von Moses selbst bezeugt wird (s. 5. Buch Mose Kap. 9, V. 6), die wahre Glückseligkeit nicht kannten. Denn ganz gewiß wären sie nicht weniger glückselig gewesen, wenn Gott alle Menschen ebenso wie sie zum Heil berufen hätte; Gott würde ihnen nicht weniger gnädig gewesen sein, wenn er andern Völkern so nahe wie ihnen gewesen wäre; ihre Gesetze wären nicht weniger gerecht und sie selbst nicht weniger weise gewesen, wenn diese Gesetze allen Menschen vorgeschrieben worden wären; die Wunder hätten Gottes Macht nicht minder bekundet, wenn sie auch um andrer Völker willen geschehen wären; die Hebräer wären endlich nicht minder verpflichtet gewesen, Gott zu verehren, wenn Gott alle diese Gaben unter alle Menschen ausgeteilt hätte. Wenn aber Gott zu Salomo sagt (s. 1. Buch der Könige Kap. 3, V. 12), daß niemand nach ihm jemals so weise sein werde wie er, so ist dies wohl nur eine Redensart, um dessen hohe Weisheit auszudrücken. Sei dem aber wie ihm wolle, so ist es unglaublich, daß Gott dem Salomo, um sein Glück zu vermehren, versprochen haben soll, er werde niemals jemand so viel Weisheit spenden; solches hätte weder die Erkenntnis Salomos vermehrt, noch hätte der kluge König Gott weniger für seine Gabe gedankt, wenn Gott gesagt hätte, er habe dieselbe Weisheit allen Menschen zugeteilt.

Wenn ich nun aber auch behaupte, daß Moses in den angeführten Stellen des Pentateuch mit den Hebräern nach ihren Begriffen geredet habe, so will ich doch nicht bestreiten, weder daß Gott jene Gesetze des Pentateuch ihnen allein vorgeschrieben hat, noch daß Gott nur mit ihnen geredet hat, noch auch daß die Hebräer Wunder gesehen haben, wie sie in solcher Zahl in keiner andern Nation geschehen sind. Was ich sagen will, ist, daß Moses die Hebräer auf eine solche Art und namentlich mit solchen Gründen ermahnen wollte, welche ihren kindischen Begriffen gemäß geeignet waren, sie zur Verehrung Gottes zu veranlassen. Ferner wollte ich zeigen, daß die Hebräer andere Völker weder an Wissen noch an Frömmigkeit, sondern in ganz anderer Hinsicht überragt haben, oder (um mit der Bibel nach den Begriffen der Hebräer zu reden) daß sie weder zu einem rechten Lebenswandel noch zu hohem Wissen von Gott auserwählt waren, obgleich sie oft dazu ermahnt wurden, sondern zu etwas ganz anderem. Was dies gewesen, will ich nun ordnungsgemäß vortragen.

Bevor ich beginne, will ich kurz erklären, was ich unter den Ausdrücken: Leitung Gottes, äußerer und innerer Beistand Gottes, Auserwählung Gottes, und Schicksal im Nachstehenden verstehe.

Unter Leitung Gottes verstehe ich feste und unabänderliche Ordnung der Natur oder die Verkettung der natürlichen Dinge. Schon oben habe ich gesagt und anderwärts näher ausgeführt, daß die allgemeinen Gesetze der Natur, nach welchen alles wird und geschieht, nichts anderes sind, als die ewigen Ratschlüsse Gottes, welche stets ewige Wahrheit und Notwendigkeit in sich schließen. Es ist daher ganz einerlei, ob wir sagen, alles geschieht nach den Gesetzen der Natur oder ob wir sagen alles werde von Gottes Ratschluß und Leitung geordnet. – Weil ferner die Macht aller natürlichen Dinge nichts anderes ist als eben die Macht Gottes selbst, durch welche allein alles wird und geschieht, so folgt, daß was immer der Mensch – der ja ebenfalls ein Teil der Natur ist – um seiner selbst willen, zu seiner Selbsterhaltung thut, und ebenso was die Natur ohne sein Zuthun ihm leistet, daß ihm das alles von der göttlichen Macht allein geleistet wird, welche bald durch die menschliche Natur selbst, bald durch äußere Dinge wirkt. Darum können wir ohne Anstand alles, was die menschliche Natur aus ihrer eigenen Macht zu ihrer Selbsterhaltung vollbringen, kann, den innern Beistand Gottes, und was außerdem durch die Macht äußerer Ursachen zum Nutzen des Menschen geschieht, den äußern Beistand Gottes nennen. – Daraus ergiebt sich nun auch unschwer, was unter Auserwählung Gottes zu verstehen ist. Da nämlich niemand anders handeln kann, als nach der bestimmten Ordnung der Natur, das ist nach der Leitung und dem Ratschluß Gottes, so folgt, daß jeder nur die Lebensweise sich wählt und nur das thut, wozu ihn Gott besonders beruft, der ihn zu dem betreffenden Werk oder der betreffenden Lebensweise aus andern erwählt. – Unter Schicksal endlich verstehe ich nichts anderes als die Leitung Gottes, soweit sie durch äußerliche und unvermutete Ursachen die menschlichen Angelegenheiten leitet. –

Nach diesen Vorbemerkungen kehren wir zu unserem Vorwurf zurück und wollen nun sehen, welchem Umstand es zuzuschreiben sei, daß das hebräische Volk das auserwählte Volk Gottes genannt wird. Wir werden darauf kommen, wenn wir folgendermaßen fortfahren.

Alles menschliche Verlangen, soweit solches statthaft ist, läßt sich auf drei Hauptarten zurückführen: die Dinge aus ihren ersten Ursachen zu begreifen; die Leidenschaften zu bezähmen oder eine tugendhafte Gesinnung sich anzueignen; und endlich sicher und gesund zu leben. Die Mittel, welche der ersten und zweiten Art unmittelbar dienen und als die nächsten und wirksamsten Ursachen betrachtet werden können, sind in der menschlichen Natur selbst enthalten, so daß deren Erwerbung hauptsächlich von unserer Macht oder den Gesetzen der menschlichen Natur allein ahhängt. Aus diesem Grunde läßt sich bestimmt behaupten, daß diese Gaben nicht einem einzelnen Volke eigentümlich, sondern von jeher Gemeingut des ganzen Menschengeschlechts gewesen seien; man müßte denn träumen wollen, die Natur hätte ehedem verschiedene Gattungen von Menschen geschaffen. Die Mittel hingegen, welche der Sicherheit des Lebens und der Erhaltung des Leibes dienen, liegen hauptsächlich in äußerlichen Dingen; sie werden darum Glücksgüter genannt, weil sie nämlich hauptsächlich von der uns unbekannten Leitung äußerer Ursachen abhängig sind, so daß hierin der Thor fast ebenso glücklich oder unglücklich sein kann wie der Kluge. Bei alldem kann auch zur Sicherheit des Lebens und zum Schutz gegen Angriffe von Menschen und Tieren die menschliche Leitung und Wachsamkeit viel beitragen. Vernunft und Erfahrung lehren, daß es kein besseres Mittel hierfür giebt, als eine Gesellschaft mit festen Gesetzen zu bilden, ein passendes Land einzunehmen und die Kräfte aller gleichsam in einen Körper, nämlich den gesellschaftlichen, zu vereinigen. Die Bildung und Erhaltung einer solchen Gesellschaft erfordert aber ein beträchtliches Maß von Geschick und Aufmerksamkeit, und darum wird eine solche Gesellschaft sicherer sein, längeren Bestand haben und weniger vom Glück abhängen, wenn sie von klugen und eifrigen Menschen gegründet und regiert wird; anderseits wird sie großenteils vom Glück abhängen und nicht so lange Bestand haben, wenn sie aus ungebildeten Menschen besteht. Besteht sie trotzdem lange, so verdankt sie das fremder Leitung, nicht der eigenen; und wenn sie sogar große Gefahren überwindet und ihre Angelegenheiten einen glücklichen Verlauf nehmen, so kann sie nicht anders als die göttliche Leitung (sofern nämlich Gott durch verborgene äußere Ursachen und nicht durch die menschliche Natur und den menschlichen Geist wirkt) bewundern und anbeten, da ihr damit etwas ganz Unerwartetes und Unvermutetes widerfährt, was in der That als ein Wunder gelten kann.

Die Völker unterscheiden sich also von einander nur durch ihre gesellschaftlichen Zustände und durch die Gesetze, unter welchen sie leben und regiert werden, und auch das hebräische Volk ist nicht wegen seiner besonderen Erkenntnis oder Seelenruhe von Gott aus andern Völkern auserwählt gewesen, sondern wegen seiner gesellschaftlichen Zustände und der glücklichen Umstände, durch welche es sein Reich erlangt und so viele Jahre erhalten hat. Dies ergiebt sich sehr deutlich aus der Bibel selbst; wer sie auch nur oberflächlich durchblättert, sieht klar, daß die Hebräer nur darin andere Völker übertrafen, daß sie die Angelegenheiten, welche die Sicherheit des Lebens betreffen, glücklich zustande gebracht und große Gefahren überwunden haben, und zwar hauptsächlich durch Gottes äußern Beistand, während sie in andern Dingen den übrigen Völkern gleich waren und auch Gott allen Völkern in gleicher Weise gnädig war.

In Bezug auf die Erkenntnis ist es ausgemacht, (wie schon im vorigen Kapitel gezeigt,) daß die Hebräer von Gott und Natur sehr gewöhnliche Begriffe hatten; daher können sie nicht bezüglich ihrer höheren Erkenntnis von Gott auserwählt gewesen sein. Aber auch ebensowenig wegen ihres tugendhaften und besseren Lebenswandels; denn auch hierin standen sie mit andern Völkern auf gleicher Stufe und nur einzelne Personen waren auserwählt. Ihre Auserwählung und Berufung bestand also nur in dem zeitlichen Glück und den Vorteilen ihres Staatswesens. Wir finden auch nirgends, daß Gott den Erzvätern oder ihren Nachfolgern etwas anderes als dies verheißen hätte; im Gegenteil wird im Gesetz nichts anderes für den Gehorsam verheißen, als andauerndes Glück des Staates und andere Annehmlichkeiten des Lebens, wogegen ihnen für Ungehorsam und Bundesbruch der Untergang des Reichs und schwere Leiden in Aussicht gestellt werden. Kein Wunder, ist doch der Zweck der ganzen Gesellschaft und des Reichs kein anderer, (was aus dem Gesagten erhellt und später eingehender gezeigt werden soll,) als die Sicherheit und Bequemlichkeit des Lebens. Nun kann aber ein Staat nur Bestand haben durch Gesetze, denen jeder gehorcht; wollten dagegen alle Glieder eines Gemeinwesens sich von den Gesetzen lossagen, so würden sie ebendadurch das Gemeinwesen auflösen und dem Staat den Untergang bereiten. Es konnte somit dem Gemeinwesen der Hebräer für treue Beobachtung der Gesetze nichts anderes verheißen werden, als Sicherheit und Bequemlichkeit des Lebens, und umgekehrt konnte ihnen für ihren Ungehorsam keine sicherere Strafe verkündigt werden, als Zerstörung des Reichs und andere Übel, sowohl allgemeine, welche die Zerstörung des Reichs überhaupt nach sich zieht, als auch besondere, welche für die Hebräer die Zerstörung ihres Reichs herbeiführen mußte; worüber jedoch hier nicht ausführlicher gesprochen zu werden braucht.

Dies nur füge ich hinzu, daß auch die Gesetze des Alten Testaments nur den Juden geoffenbart und vorgeschrieben gewesen sind, denn da sie Gott zur Gründung eines besonderen Gemeinwesens und eines besonderen Staates auserwählte, mußten sie notwendig auch ganz besondere Gesetze haben. Ob aber Gott auch andern Völkern besondere Gesetze vorgeschrieben und ihren Gesetzgebern sich prophetisch geoffenbart hat, d. h. unter solchen Eigenschaften, unter welchen sie sich Gott vorzustellen pflegten, kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten. Aus der Bibel selbst erhellt wenigstens soviel, daß auch andere Völker durch Gottes äußere Leitung Staaten und besondere Gesetze gehabt haben; zum Beweis will ich nur zwei Bibelstellen anführen. Im 1. Buch Mose Kap. 14, V. 18, 19 und 20 wird berichtet, daß Melchisedek König von Jerusalem und Priester des höchsten Gottes gewesen sei und den Abraham, gemäß priesterlichem Brauch (s. 4. Buch Mose Kap. 6, V. 23) gesegnet habe, und daß Gottes Liebling Abraham seinerseits ihm als Priester Gottes den zehnten Teil seiner ganzen Beute gegeben habe. Das zeigt zur Genüge, daß Gott, ehe er das israelitische Volk gründete, Könige und Priester in Jerusalem eingesetzt und ihnen Bräuche und Gesetze vorgeschrieben hatte; ob freilich auf prophetische Weise, bin ich wie gesagt ungewiß, doch glaube ich wenigstens annehmen zu dürfen, daß Abraham während seines dortigen Aufenthalts gewissenhaft nach diesen Gesetzen gelebt hat. Dem Abraham waren nämlich von Gott keinerlei Bräuche vorgeschrieben, nichtsdestoweniger heißt es im 1. Buch Mose Kap. 26, V. 5, Abraham habe den Gottesdienst, die Vorschriften, Einrichtungen und Gesetze Gottes beobachtet, was ohne Zweifel von dem Gottesdienst, den Vorschriften, Einrichtungen und Gesetzen des Königs Melchisedek zu verstehen ist. – Maleachi Kap. 1, V. 10 und 11 rügt die Juden mit folgenden Worten: »Wer ist unter euch, der die Pforten (nämlich meines Tempels) schlösse, damit auf meinen Altar nicht vergeblich Feuer gebracht werde, an euch habe ich kein Wohlgefallen etc. Denn von Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang ist mein Name groß unter den Völkern, und überall wird mir Weihrauch und reines Opfer dargebracht; denn mein Name ist groß unter den Völkern, spricht der Gott der Heerscharen.« Diese Worte, welche, wenn man ihnen nicht Gewalt anthun will, sich nur auf die damalige Zeit beziehen können, bezeugen hinlänglich, daß die Juden damals von Gott nicht mehr als andere Völker geliebt wurden, ja daß in jener Zeit Gott sich andern Völkern mehr durch Wunder kund that als den Juden, die damals ohne Wunder ihren Staat zum Teil wieder erlangt hatten; sogar daß die Völker religiöse Einrichtungen und gottesdienstliche Bräuche hatten, durch welche sie Gott wohlgefällig waren.

Ich lasse nun aber dies beiseite, da es meinem Zweck genügt, den Nachweis geführt zu haben, daß die Auserwählung der Juden sich auf nichts andres bezog, als auf ihr zeitliches leibliches Glück und ihre Freiheit; oder mit andern Worten auf ihren Staat und die Mittel und Wege, wodurch sie denselben erlangt haben und folglich auch auf die Gesetze, soweit solche zur Erhaltung ihres besonderen Staates notwendig waren, wie auch auf die Art, wie diese Gesetze geoffenbart wurden; daß die Juden aber in andern Dingen und in dem, worin diese wahre Glückseligkeit des Menschen besteht, allen Völkern gleich waren. Wenn daher in der Bibel (s. 5. Buch Mose Kap. 4, V. 7) gesagt wird, daß keinem andern Volk seine Götter so nahe gewesen seien wie Gott den Juden, so ist dies nur von ihrem Staat und auch nur von jener Zeit zu verstehen, wo so viele Wunder unter ihnen geschehen sind etc.; denn in Bezug auf Erkenntnis und Tugend, das ist in Bezug auf die Glückseligkeit ist Gott allen Völkern in gleicher Weise gnädig, wie bereits gesagt und durch die Vernunft selbst bewiesen worden, was aber auch aus der Bibel selbst zur Genüge hervorgeht. Sagt doch der Psalmist in Psalm 145, V. 18: »Gott ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Wahrheit anrufen«, und in demselben Psalm V. 9: »Gütig ist Gott gegen alle und seine Barmherzigkeit (erstreckt sich) auf alle, die er geschaffen«. In Psalm 33, V. 15 wird auch ausdrücklich gesagt, daß Gott allen das gleiche Erkenntnisvermögen gegeben habe; die Worte lauten: »Er bildet ihr Herz auf gleiche Weise«. Das Herz wurde nämlich von den Hebräern für den Sitz des Lebens und des Denkens gehalten, was sattsam bekannt ist. Ferner geht aus Hiob Kap. 28, V. 28 hervor, daß Gott dem ganzen Menschengeschlecht das Gesetz vorgeschrieben, Gott zu ehren und sich schlechter Werke zu enthalten oder Gutes zu thun; daher war Hiob, obzwar ein Heide, Gott der liebste von allen Menschen, weil er alle an Frömmigkeit und Religion überragte. Weiter erhellt aus Jona Kap. 4, V. 2 aufs deutlichste, daß Gott nicht bloß den Juden, sondern allen Menschen gnädig, barmherzig, langmütig und reich an Güte sei und das verhängte Übel zurücknehme. Denn Jona sagt: »Deshalb beschloß ich, nach Tarsis zu fliehen, weil ich weiß (nämlich aus den Worten des Moses im 2. Buch Mose Kap. 34, V. 6), daß du Gott gnädig, barmherzig etc. seist und daher den heidnischen Ninivitern vergeben werdest.« Wir können also den Schluß ziehen, (da Gott allen Völkern gleich gnädig ist und die Hebräer nur in Bezug auf Gemeinwesen und Staat von Gott auserwählt waren,) daß jeder einzelne Jude für sich allein betrachtet, nicht als Glied des jüdischen Staates, keine Gabe Gottes vor andern voraus habe und daß zwischen ihm und einem Heiden kein Unterschied sei.

Da es sich nun also verhält, daß Gott allen gleich gnädig, barmherzig etc. ist, und das Amt des Propheten nicht sowohl darin bestand, die besonderen Gesetze seines Vaterlandes, als vielmehr die wahre Tugend zu lehren und die Menschen über sie zu ermahnen, so ist es kein Zweifel, daß alle Völker Propheten gehabt haben und die prophetische Gabe den Hebräern nicht eigentümlich gewesen ist. Dies bestätigt auch thatsächlich die weltliche wie die heilige Geschichte. Und obgleich aus den heiligen Geschichten des alten Testaments nicht hervorgeht, daß andere Völker so viele Propheten wie die Hebräer gehabt haben, und sogar nirgends gesagt wird, daß ein heidnischer Prophet den andern Völkern ausdrücklich geschickt worden sei, so hat dies keine Bedeutung, da die Hebräer nur auf die Aufzeichnung ihrer eigenen Geschichte, nicht auch anderer Völker, bedacht waren. Es genügt daher, daß nach dem alten Testament auch Heiden und Unbeschnittene wie Noah, Henoch, Abimelech, Bileam etc. prophezeit haben, ferner daß die hebräischen Propheten nicht bloß zu ihrem Volke, sondern auch zu vielen andern Völkern von Gott gesendet worden sind. Hesekiel z. B. hat allen damals bekannten Völkern geweissagt; Obadja sogar, soviel wir wissen, nur den Idumäern; Jona war vorzugsweise den Bewohnern Ninivehs Prophet. Jesaja klagt und weissagt über die Trübsale und besingt die Wiederherstellung nicht bloß der Juden, sondern auch anderer Völker; denn er sagt Kap. 16, V. 9: »Darum will ich mit Thränen Jaeser beweinen« und in Kap. 19 weissagt er den Ägyptern zuerst ihre Leiden und hernach ihre Wiederherstellung (s. die Verse 19, 20, 21 und 25 desselben Kapitels). Er sagt nämlich, Gott werde ihnen einen Erlöser senden, der sie befreien wird und Gott werde sich ihnen kund thun und die Ägypter werden Gott mit Opfern und Gaben ehren; schließlich nennt er dieses Volk: »Ägypten, das gesegnete Volk Gottes«; das sind Stellen, welche sehr zu beachten sind. Endlich wird Jeremia Prophet der Völker überhaupt, nicht bloß Prophet des hebräischen Stammes genannt (s. Kap. 1, V. 5). Auch er beweint weissagend die Leiden der Völker und weissagt ihre Wiederherstellung; denn er sagt Kap. 48, V. 31 von den Moabitern: »Darum muß ich über Moab heulen und über ganz Moab wehklagen etc.« und V. 36: »Darum tobt mein Herz über Moab wie eine Pauke«. Schließlich weissagt er ihnen ihre Wiederherstellung wie auch die Wiederherstellung der Ägypter, Ammoniter und Elamiter.

Unzweifelhaft haben also auch andere Völker ihre Propheten gehabt so gut wie die Juden, welche ihnen selbst und auch den Juden weissagten. Zwar die Bibel berichtet nur von Bileam allein, daß ihm die Zukunft der Juden und anderer Völker geoffenbart worden sei; doch ist nicht anzunehmen, daß Bileam bloß bei jenem Anlaß prophezeit habe, da aus jener Erzählung selbst deutlich hervorgeht, daß er schon lange vorher durch seine Prophetie und andere göttliche Gaben berühmt war. Sagt doch Balak, da er ihn beruft (4. Buch Mose Kap. 22, V. 6): »weil ich weiß, daß gesegnet ist, wen du segnest, und verflucht ist, wen du verfluchst«. Bileam besaß also ebendieselbe Eigenschaft, welche Gott dem Abraham verliehen hatte (s. 1. Buch Mose Kap. 12, V. 3). Auch hat Bileam, als ein Mann, dem prophetische Erscheinungen nichts seltenes waren, den Boten geantwortet, sie möchten bei ihm bleiben, bis ihm der Wille Gottes geoffenbart würde. Beim Prophezeien, d. h. wenn er die wahrhaftigen Gedanken Gottes verkündete, pflegte er von sich zu sagen: »Spruch dessen, der die Worte Gottes hört und kennt das Wissen (oder den Gedanken und das Vorherwissen) des Höchsten, der schaut die Erscheinung des Allmächtigen, niederfallend, doch mit enthüllten Augen«. Nachdem er endlich die Hebräer auf Gottes Geheiß gesegnet hatte, begann er (gewohnheitsgemäß), andern Völkern zu prophezeien und ihre künftigen Schicksale zu verkünden. Alles das beweist mehr als genug, daß er immer Prophet gewesen oder auch sonst noch prophezeit hat, und daß er (was hier besonders hervorzuheben ist) das gehabt hat, was die Propheten vornehmlich von der Wahrheit ihrer Prophetie überzeugte, nämlich eine dem Rechten und Guten zugewendete Seele. Denn nicht wenn er wollte segnete oder verfluchte er, wie Balak glaubte, sondern wen Gott segnen oder fluchen wollte; wie er denn dem Balak antwortet: »Auch wenn mir Balak so viel Silber und Gold geben wollte, als sein Haus fassen könnte, so könnte ich doch nicht den Befehl Gottes überschreiten und nach eigenem Gutdünken Gutes oder Böses thun; nur was Gott redet werde ich reden«. Wenn ihm aber Gott zürnte, als er unterwegs war, so war dies auch mit Moses der Fall, als er auf Gottes Befehl nach Ägypten reiste (s. 2. Buch Mose Kap. 4, V. 24); wenn er Geld für seine Prophezeiung annahm, so that dies auch Samuel (s. 1. Buch Sam. Kap. 9, V. 2 und 8); und wenn er irgendwie gesündigt hat (s. 2. Brief Petri Kap. 2, V. 15 und 16 und Brief Judä V. 11), so »ist niemand so gerecht, daß er immer Gutes thäte und niemals sündigte« (s. Prediger Sal. Kap. 7, V. 20). Bileams Worte mußten in der That bei Gott großes Gewicht gehabt haben und seine Macht zu verfluchen muß sehr groß gewesen sein, da es in der Bibel so häufig vorkommt, daß Gottes Barmherzigkeit gegen Israel damit bewiesen wird, daß Gott auf Bileam nicht hören wollte und seinen Fluch in Segen verwandelt hat (s. 5. Buch Mose Kap. 23, V. 6; Josua Kap. 24, V. 10; Nehemia Kap. 13, V. 2). Er war also ohne Zweifel Gott sehr angenehm, denn die Worte und Verwünschungen der Gottlosen haben auf Gott keinen Einfluß. – Bileam war sonach ein wahrer Prophet und wenn er dennoch von Josua (Kap. 13, V. 22) »Wahrsager« oder »Augur« genannt wird, so ist es sicher, daß diese Benennung auch in gutem Sinne zu nehmen ist und daß diejenigen, welche die Heiden Auguren oder Wahrsager zu nennen pflegten, echte Propheten gewesen sind; diejenigen freilich, welche die Bibel öfters anklagt und verdammt, waren falsche Wahrsager, welche die Heiden ebenso betrogen haben, wie die falschen Propheten die Juden, was auch aus andern Bibelstellen sattsam sich ergiebt.

Wir dürfen also den Schluß ziehen, daß die Gabe der Prophetie kein besonderer Vorzug der Juden gewesen, sondern bei allen Völkern vorgekommen ist. Die Pharisäer freilich versichern im Gegenteil sehr eifrig, diese göttliche Gabe sei ihrem Volke allein eigentümlich gewesen, andere Völker hätten die Zukunft vermöge irgend einer ich weiß nicht welcher teuflischen Kraft (auf welche Einfälle käme nicht der Aberglaube) vorhergesagt. Hauptsächlich berufen sie sich dabei auf die Stelle im Alten Testament (2. Buch Mose Kap. 33, V. 16), wo Moses zu Gott sagt: »Woran soll aber erkannt werden, daß ich und dein Volk Gunst gesunden in deinen Augen? Gewiß dadurch, daß du mit uns gehest und ich und dein Volk gesondert sind von jedem andern Volke auf der Oberfläche der Erde«. Aus dieser Stelle wollen sie beweisen, daß Moses Gott gebeten habe, den Juden gegenwärtig zu sein und sich ihnen prophetisch zu offenbaren, diese Gunst aber keinem andern Volke zu gewähren. Lächerlich fürwahr, daß Moses den Heiden die Gegenwart Gottes mißgönnte und so etwas von Gott zu erbitten gewagt haben soll! Die Sache verhält sich aber so. Nachdem Moses den widerspenstigen Sinn und Geist seines Volkes kennen gelernt hatte, war es ihm klar, daß die Hebräer ohne großartige Wunder und ohne besonderen äußerlichen Beistand Gottes das begonnene Werk nicht würden vollenden können und sogar unfehlbar zu Grunde gehen müßten ohne solche Hilfe; darum bat er Gott um seinen besonderen Beistand, um gewiß zu sein, daß sie Gott erhalten wolle. Denn so sagt er Kap. 34, V. 9: »Wenn ich Gunst gefunden in deinen Augen, o Herr, so möge der Herr, ich flehe darum, unter uns wandeln, da dieses Volk ein hartnäckiges Volk etc.« Der Grund also, weshalb er Gott um seinen besonderen äußerlichen Beistand bittet, ist die Hartnäckigkeit des Volkes. Noch deutlicher zeigt die Antwort Gottes, daß Moses um weiter nichts als um diesen äußern Beistand Gottes gebeten habe; Gott antwortet nämlich sogleich (V. 20 desselben Kapitels): »Siehe, ich schließe einen Bund, vor deinem ganzen Volk will ich Wunder vollbringen, wie sie auf der ganzen Erde und unter allen Völkern nie gesehen wurden etc.« Moses spricht hier also bloß von der Erwählung der Hebräer, wie ich sie erklärt habe, sonst hat er von Gott nichts verlangt.

Indessen finde ich in dem Briefe Pauli an die Römer eine Stelle, die ich mehr beanstande. In Kap. 3, V. 1 und 2 scheint Paulus das Gegenteil von meiner Ansicht zu lehren; er sagt nämlich: »Welches ist also der Vorzug des Juden? oder welchen Nutzen hat die Beschneidung? einen großen in jedem Fall. Der vornehmste ist, daß ihm die Aussprüche Gottes anvertraut worden sind«. Fassen wir aber die Lehre ins Auge, welche hier Paulus hauptsächlich darlegen will, so finden wir nichts, was meiner Ansicht widerspricht, im Gegenteil lehrt Paulus ganz dasselbe. Denn er sagt im 29. Vers desselben Kapitels, daß Gott sowohl der Juden wie der Heiden Gott sei, und im Kap. 2, V. 25 und 26: »Wenn der Beschnittene vom Gesetz abtrünnig wird, so wird die Beschneidung zur Vorhaut werden, und umgekehrt, wenn der Unbeschnittene die Vorschriften des Gesetzes beobachtet, so wird ihm die Vorhaut als Beschneidung angerechnet«. Weiter sagt er Kap. 4, V. 9, alle in gleicher Weise, Juden wie Heiden, stehen unter der Sünde und ohne Befehl und Gesetz gebe es keine Sünde. Hieraus geht also aufs klarste hervor, daß das Gesetz allen ohne Unterschied (wie schon oben aus Hiob Kap. 28, V. 28 erwiesen worden) geoffenbart worden ist und alle unter demselben gelebt haben; ich meine das Gesetz, welches lediglich die wahre Tugend betrifft, nicht aber jenes, welches nach den Verhältnissen und der Beschaffenheit irgend eines einzelnen Staates aufgestellt und dem Geist eines einzelnen Volkes angepaßt wurde. Weiter schließt Paulus daraus, daß Gott aller Völker Gott, d. h. allen in gleicher Weise gnädig ist, und alle ohne Unterschied unter dem Gesetze und der Sünde waren, daß Gott allen Völkern seinen Christus gesandt habe, um alle zumal aus der Knechtschaft der Sünde zu befreien, auf daß sie fortan nicht durch den Zwang des Gesetzes, sondern durch festen Entschluß des Willens das Gute thuen. Somit lehrt Paulus ganz genau das, was ich behaupte. Wenn er dennoch sagt: »Nur den Juden sind Gottes Worte anvertraut gewesen«, so ist dies entweder so zu verstehen, daß die Gesetze nur ihnen auch schriftlich anvertraut waren, den andern Völkern aber bloß durch Offenbarung und im Innern, oder aber muß man annehmen, Paulus habe (um die etwaigen Einwände der Juden zu entkräften,) den Begriffen und Meinungen gemäß, die damals bei den Juden gang und gäbe waren, geantwortet; denn nach dem, was er teils gesehen, teils gehört hatte, war er Grieche mit den Griechen und Jude mit den Juden.

Es erübrigt nur noch, auf einige Gegengründe zu antworten, welche für die Ansicht geltend gemacht werden, daß die Auserwählung der Hebräer nicht bloß eine zeitliche, auf ihren Staat allein bezügliche, sondern eine ewige gewesen sei. Wir sehen, sagt man, daß die Juden, die nach dem Untergang ihres Staates schon so viele Jahre allenthalben zerstreut und von allen Völkern abgesondert leben, noch immer vorhanden sind, was bei keinem andern Volke vorgekommen ist. Ferner, daß die heilige Schrift an vielen Stellen zu lehren scheint, daß sich Gott die Juden für alle Zeiten auserwählt hat und sie also die Auserwählten Gottes bleiben, obschon sie ihres Reichs verlustig gingen. Es sind vorzugsweise folgende Stellen, welche diese ewige Auserwählung sehr deutlich lehren sollen: 1. Jeremia Kap. 32, V. 36, wo der Prophet bezeugt, daß der Samen Israels für ewige Zeiten das Volk Gottes bleiben werde, indem er sie nämlich mit der festen Ordnung des Himmels und der Natur vergleicht. 2. Hesekiel Kap. 20, V. 32 etc., wo der Prophet zu sagen scheint, daß Gott die Juden, obgleich sie geflissentlich den Dienst Gottes verlassen wollten, wieder sammeln werde, aus allen Ländern, wohin sie zerstreut worden, und sie in die Wüste der Völker führen werde, wie er ihre Vorfahren in die Wüste Ägyptens geführt, von wo er sie endlich, nachdem die Aufrührerischen und Abtrünnigen ausgeschieden, zum Berge seiner Heiligkeit führen werde, wo das ganze Haus Israel ihm dienen werde. Noch andere Stellen werden gewöhnlich angeführt, namentlich von den Pharisäern, ich hoffe jedoch allen zu genügen, wenn ich auf diese beiden erwidere.

Diese Erwiderung wird mir nicht schwer werden, wenn ich aus der Bibel beweise, daß Gott die Hebräer nicht auf ewige Zeiten auserwählt hat, sondern nur unter den Bedingungen, unter welchen er früher die Kananiter auserwählt hatte, welche ebenfalls, wie oben gezeigt, Priester hatten, die Gott eifrig dienten und gleichwohl wegen ihrer Üppigkeit, Nachlässigkeit und Abgötterei von Gott verworfen wurden. Moses ermahnt nämlich im 3. Buch Mose Kap. 18, V. 27 und 28 die Israeliten, sich nicht durch Blutschande zu beflecken wie die Kananiter, damit sie das Land nicht ausspeie, wie es die Völker ausgespien hat, welche jene Gegenden bewohnten. Und im 5. Buch Mose Kap. 8, V. 19 und 20 bedroht er sie ausdrücklich mit gänzlichem Untergang, indem er sagt: »Ich bezeuge euch heute, daß ihr gänzlich untergehen werdet, wie die Völker, welche Gott euretwegen hat untergehen lassen, so werdet ihr untergehen«. Derartige Stellen finden sich im Gesetze mehrfach, welche ausdrücklich sagen, daß Gott das hebräische Volk nicht unbedingt und nicht für alle Zeiten auserwählt hat. Wenn ihnen aber die Propheten einen neuen und ewigen Bund der Gotteserkenntnis, Liebe und Gnade weissagen, so ist leicht einzusehen, daß diese Verheißung nur den Frommen gegeben ist; heißt es doch in dem eben angeführten Kapitel des Hesekiel ausdrücklich, daß Gott die Aufrührer und Abtrünnigen von ihnen aussondern werde, und ebenso heißt es in Zephanja Kap. 3, V. 12 und 13, daß Gott die Hochmütigen aus ihrer Mitte nehmen und die Armen übrig lassen werde. Da nun diese Auserwählung die wahre Tugend betrifft, so kann sie nicht bloß den frommen Juden versprochen sein, während alle andern Frommen davon ausgeschlossen sind; vielmehr muß angenommen werden, daß die wahren Propheten der Heiden, – daß alle Völker solche hatten, ist oben gezeigt worden – den Rechtschaffenen in ihrem Volke dasselbe verheißen und sie damit getröstet haben. Daher ist dieser ewige Bund der Gotteserkenntnis und Liebe ein allgemeiner, wie gleichfalls aus Zephanja Kap. 3, V. 10 und 11 aufs klarste hervorgeht, und es kann sonach hierin keinerlei Unterschied zwischen Juden und Heiden zugegeben werden, wie denn den Juden überhaupt keine andere Erwählung ausschließlich eigen war, als jene einzige, die wir oben namhaft gemacht.

Daß die Propheten, wenn sie von jener Auserwählung sprechen, die sich bloß auf die echte Tugend bezieht, vieles von Opfern und andern gottesdienstlichen Bräuchen wie auch vom Wiederaufbau des Tempels und der Stadt Jerusalem einmischten, erklärt sich daraus, daß sie nach der Art und Weise der Prophetie geistige Dinge in solchen Bildern ausdrücken wollten; zugleich wollten sie den Juden, deren Propheten sie waren, die Wiederherstellung ihres Staates und Tempels, welche in der Zeit des Cyrus erwartet wurde, ankündigen. Heutzutage haben daher die Juden nichts voraus, was sie sich andern Völkern gegenüber zuschreiben könnten. Was aber den Umstand betrifft, daß sie trotz jahrelanger Zerstreuung und ohne eigenen Staat sich erhalten haben, so kann man sich darüber nicht wundern, wenn man bedenkt, daß sie sich von allen Völkern in einer Weise absonderten, welche ihnen den Haß aller Völker zuziehen mußte; und zwar bestand diese Absonderung nicht bloß in äußerlichen Brauchen, welche denen anderer Völker schnurstracks entgegen sind, sondern auch im Zeichen der Beschneidung, die sie gewissenhaft beobachten. Daß der Haß der Völker es ist, welcher sie vorzugsweise erhält, das hat die Erfahrung gelehrt. Als der König von Spanien einst gegen die Juden mit Zwang vorging und ihnen die Wahl ließ, entweder die Staatsreligion anzunehmen oder in die Verbannung zu gehen, nahmen sehr viele Juden die Religion der Päpste an. Da nun diesen, welche die Staatsreligion annahmen, alle Rechte der eingeborenen Spanier gewährt und sie für alle Ehrenstellen tauglich erklärt wurden, vermischten sie sich bald dergestalt mit den Spaniern, daß nach kurzer Zeit keine Spur und kein Andenken ihrer Herkunft mehr vorhanden war. Das Gegenteil war bei denen der Fall, welche der König von Portugal zwang, die Religion seines Landes anzunehmen; diese blieben auch nach ihrer Bekehrung zur Staatsreligion von den übrigen Einwohnern stets abgesondert: ganz natürlich, weil ihnen die Fähigkeit, Ehrenstellen zu bekleiden, nicht zuerkannt wurde.

Das Zeichen der Beschneidung ist meines Erachtens in dieser Hinsicht von so großem Belang, daß ich glauben möchte, es allein sei fähig, dieses Volk für alle Zeiten zu erhalten; ja ich halte es für sehr möglich, daß die Juden, vorausgesetzt, daß die Grundlagen ihrer Religion sie nicht verweichlichen, wenn einmal die Gelegenheit günstig sein sollte – die menschlichen Verhältnisse sind ja dein Wechsel unterworfen – ihr ehemaliges Reich wieder aufrichten werden und Gott sie wieder von neuem erwählen werde. Ein merkwürdiges Beispiel der Art haben wir an den Chinesen, welche ebenfalls ein gewisses Zeichen am Kopfe sehr gewissenhaft bewahren und sich dadurch von allen andern unterscheiden. So getrennt haben sie sich Jahrtausende erhalten, so daß sie dem Alter nach alle übrigen Völker überragen. Auch sie haben ihr Reich nicht immer behauptet, allein sie haben es schon einmal wieder erlangt, nachdem sie es verloren hatten und ohne Zweifel werden sie es auch wiederum erlangen, wenn die Tartaren durch Üppigkeit des Reichtums und durch Bequemlichkeit mehr und mehr erschlaffen werden.

Will übrigens jemand die Meinung verteidigen, daß die Juden aus dem oder jenem Grunde von Gott für alle Zeiten auserwählt seien, so will ich ihm nichts in den Weg legen, wenn er nur zugiebt, daß diese Erwählung – mag sie nun eine zeitliche oder ewige sein – soweit sie den Juden eigentümlich ist, sich nur auf ihren Staat und leibliche Annehmlichkeiten bezieht (da sich nur dadurch ein Volk vom andern unterscheiden kann); daß aber in Bezug auf die Erkenntnis und die echte Tugend kein Volk vom andern sich unterscheidet und folglich auch in dieser Hinsicht kein Volk vor einem andern von Gott auserwählt ist.

Viertes Kapitel.

Über das göttliche Gesetz.


Das Wort Gesetz an und für sich bezeichnet etwas, demzufolge jede Persönlichkeit, entweder alle oder einige derselben Gattung, auf eine und dieselbe feste und bestimmte Weise handelt; diese aber hängt entweder von der Notwendigkeit oder von dem menschlichen Willen ab. Ein Gesetz, das von der Notwendigkeit abhängt, ist ein solches, welches aus der Natur der Sache selbst oder aus ihrer Definition mit Notwendigkeit folgt. Ein Gesetz aber, das vom menschlichen Willen abhängt und eigentlich Recht genannt wird, ist ein solches, welches die Menschen sich oder anderen vorschreiben, um sicher und angenehm zu leben oder zu irgend einem andern Zweck. So z. B. ist es ein allgemeines aus der Naturnotwendigkeit folgendes Gesetz aller Körper, daß jeder Körper, der mit einem anderen kleineren zusammenstößt, so viel von seiner Bewegung verliert, als er dem andern davon mitteilt. Ebenso ist es ein aus der menschlichen Natur notwendig folgendes Gesetz, daß der Mensch, sobald er sich irgend einer Sache erinnert, sich alsbald auch anderer Sachen erinnert, welche mit jener Ähnlichkeit haben, oder welche gleichzeitig mit ihr wahrgenommen wurden. Dagegen hängt es vom menschlichen Willen ab, daß die Menschen etwas von ihrem Naturrecht freiwillig oder gezwungen aufgeben und an eine bestimmte Lebensweise sich binden.

Wenn ich nun auch unbedingt zugebe, daß alles durch allgemein geltende Naturgesetze bestimmt wird, nach einer gewissen und bestimmten Art zu sein und zu wirken, so sage ich dennoch, daß die Gesetze letzterer Art vom menschlichen Willen abhängig sind: 1. weil der Mensch selbst, soweit er ein Teil der Natur ist, auch einen Teil der Naturkraft ausmacht. Was also aus der Notwendigkeit der menschlichen Natur folgt, d. h. aus der Natur sofern sie als bestimmt durch die menschliche Natur gedacht wird, das folgt, obgleich notwendig, dennoch aus der menschlichen Macht. Daher ist es vollkommen richtig, wenn man sagt, daß die Aufstellung solcher Gesetze vom menschlichen Willen abhängt, weil sie vorzugsweise von der Macht des menschlichen Geistes in dem Sinne abhängt, daß der menschliche Geist, soweit er die Dinge unter dem Gesichtspunkte des Wahren und Falschen begreift, auch ohne diese Gesetze klar gedacht werden kann, keineswegs aber ohne daß ihm ein notwendiges Gesetz, wie ich es eben definiert, bei der Aufstellung jener Gesetze zu Grunde liegt. – 2. habe ich auch deswegen gesagt, daß diese Gesetze vom menschlichen Willen abhängig sind, weil wir die Dinge nach ihren nächsten Ursachen definieren und erläutern müssen, indem die Betrachtung derselben unter dem Gesichtspunkt des Schicksals und der allgemeinen Verkettung der Ursachen zu nichts führt, wenn es sich darum handelt, uns richtige und klar geordnete Gedanken über die Einzeldinge zu bilden. Dazu kommt noch, daß wir die allgemeine Reihenfolge und Verkettung der Dinge, d. h. die Art und Weise, wie die Dinge in Wirklichkeit geordnet und verkettet sind, gar nicht kennen, weshalb es für das praktische Leben besser, ja notwendig ist, die Dinge als möglich zu betrachten. So viel über das Gesetz an und für sich.

Nun wird aber das Wort Gesetz, wie es scheint durch Übertragung auch auf andere Dinge angewendet und man versteht gemeiniglich darunter nichts anderes als einen Befehl, welchen die Menschen befolgen oder mißachten können, weil derselbe der menschlichen Macht gewisse Grenzen zieht, über welche sie hinausstrebt und nichts gebietet, was die Kräfte übersteigt. Hiernach scheint das Wort Gesetz noch besonders so definiert werden zu können: Das Gesetz ist die Lebensweise, welche ein Mensch sich oder andern zu einem gewissen Zwecke vorschreibt.

Weil nun aber der wahre Zweck der Gesetze nur wenigen Menschen einzuleuchten pflegt, die meisten dagegen fast ganz unfähig sind, denselben zu erfassen und nichts weniger als vernunftgemäß leben, so haben die Gesetzgeber, um alle in gleicher Weise zu verpflichten, weislich einen andern Zweck angegeben, der von jenem, welcher aus der Natur der Gesetze mit Notwendigkeit folgt, sehr verschieden ist. Sie versprachen nämlich denen, welche die Gesetze beherzigen, solche Dinge, welche die Menge sehr liebt, und drohten denen, welche sie verletzen, mit Dingen, welche sie sehr fürchtet. Auf diese Weise suchten sie die Menge, wie Pferde durch die Zügel, so gut als möglich im Zaume zu halten. Daher kommt es, daß unter Gesetz meistens die Lebensweise verstanden wurde, welche den Menschen durch den Befehl anderer Menschen vorgeschrieben wird, und daß man dementsprechend von solchen, die das Gesetz befolgen, sagt, sie leben unter den Gesetzen, und daß dieselben zu dienen scheinen. In der That, wer jedem das seine giebt, weil er den Galgen fürchtet, der handelt gezwungen durch den Befehl eines andern und die Furcht vor einem angedrohten Übel, und kann nicht gerecht genannt werden. Wer dagegen jedem das seine giebt, weil er den wahren Grund der Gesetze und ihre Notwendigkeit begreift, der handelt nach festem Entschlusse und aus eigenem, nicht fremdem Antrieb und verdient daher gerecht genannt zu werden. Ich glaube, daß dies auch Paulus im Sinne hat, wenn er sagt, daß diejenigen, welche unter dem Gesetze leben, durch das Gesetz nicht gerechtfertigt werden können. Denn die Gerechtigkeit ist nach der gebräuchlichen Definition der feste und beharrliche Wille, jedem das seine zu geben. Daher sagt Salomo in den Sprüchen Kap. 21, V. 15, der Gerechte freue sich, wenn Gericht geübt wird, die Schlechten aber ängstigen sich.

Da also das Gesetz nichts anderes ist, als die Lebensweise, welche die Menschen zu einem gewissen Zweck sich oder andern vorschreiben, so scheint das Gesetz in ein göttliches und ein menschliches zu zerfallen. Unter dem menschlichen Gesetz verstehe ich die Lebensweise, welche bloß den Schutz des Lebens und des Gemeinwesens bezweckt, unter dem göttlichen Gesetz dasjenige, welches nur das höchste Gut, nämlich die wahre Erkenntnis und Liebe Gottes betrifft. Der Grund, weswegen ich dieses Gesetz ein göttliches nenne, beruht auf der Natur des höchsten Gutes, die ich kurz und so klar als möglich darthun will.

Da der bessere Teil unseres Wesens die Erkenntnis ist, so müssen wir ohne Zweifel vor allem diese nach Kräften zu vervollkommnen suchen, wenn wir wahrhaft unser Bestes anstreben wollen; denn in der Vollkommenheit unserer Erkenntnis kann allein unser höchstes Gut bestehen. Da ferner unser ganzes Wissen und die Gewißheit, die in Wahrheit allen Zweifel hebt, von der Erkenntnis Gottes allein abhängt, weil ohne Gott nichts sein und begriffen werden kann, und weil man über das zweifeln kann, solange man keine klare und bestimmte Idee von Gott hat, so folgt, daß unser höchstes Gut und unsere Vollkommenheit von der Erkenntnis Gottes allein abhängt u. s. f.

Da ferner ohne Gott nichts sein und begriffen werden kann, so muß jegliches Ding in der Natur den Begriff Gottes in Bezug auf sein Wesen und seine Vollkommenheit in sich schließen und ausdrücken. Je mehr wir sonach die natürlichen Dinge erkennen, desto größer und vollkommner wird auch unsere Gotteserkenntnis; oder (weil die Erkenntnis einer Wirkung durch ihre Ursache nichts anderes ist, als die Erkenntnis einer Eigenschaft der Ursache) je mehr wir die natürlichen Dinge erkennen, desto vollkommener erkennen wir das Wesen Gottes (der die Ursache aller Dinge ist). Unsere ganze Erkenntnis oder mit andern Worten unser höchstes Gut hängt nicht bloß von der Erkenntnis Gottes ab, sondern besteht durchaus in dieser. Dies ergiebt sich auch daraus, daß der Mensch um so vollkommner ist, je besser und vollkommener die Sache ist, die er vor allen andern liebt, und umgekehrt; derjenige muß daher der vollkommenste und der höchsten Glückseligkeit am meisten teilhaftig sein, der die reingeistige Erkenntnis Gottes, des vollkommensten Wesens, über alles liebt und sich derselben am meisten erfreut.

Unser höchstes Gut und unsere Glückseligkeit läuft sonach auf die Erkenntnis und Liebe Gottes hinaus. Daher können die Mittel, welche dieser Zweck aller menschlichen Handlungen, nämlich Gott selbst, sofern dessen Idee in uns ist, erfordert, Befehle Gottes genannt werden, weil sie gleichsam von Gott selbst, sofern er unserem Geiste innewohnt, uns vorgeschrieben sind, und darum heißt die Lebensweise, welche diesem Zweck entspricht, ganz richtig das göttliche Gesetz. – Was für Mittel das aber sind und welche Lebensweise es ist, die dieses Ziel erfordert, und wie sich daraus allgemeine Grundsätze für ein gutes Gemeinwesen und Vorschriften für den Verkehr mit den Menschen ergeben, das gehört in die allgemeine Ethik. Hier will ich nur in der Behandlung des göttlichen Gesetzes überhaupt fortfahren.

Wenn nach dem Vorstehenden die Liebe zu Gott das höchste Glück des Menschen ist, die Glückseligkeit, der letzte Zweck und das Endziel aller menschlichen Handlungen, so ist es klar, daß nur derjenige das göttliche Gesetz befolgt, der Gott zu lieben trachtet, nicht aus Furcht vor Strafe oder aus Liebe zu andern Dingen, wie Vergnügungen, Ruhm u. s. f., sondern bloß darum, weil er Gott erkennt oder weil er weiß, daß die Erkenntnis und Liebe Gottes das höchste Gut ist. Der Hauptinhalt des göttlichen Gesetzes und dessen oberstes Gebot ist sonach, Gott als das höchste Gut zu lieben und zwar, wie bereits bemerkt, nicht aus Furcht vor irgend einer Strafe oder einem Übel, noch aus Liebe zu einer andern Sache, an der wir uns erfreuen möchten. Denn in der Idee Gottes selbst ist die Wahrheit enthalten, daß Gott unser höchstes Gut ist oder daß die Erkenntnis und Liebe Gottes der letzte Zweck ist, auf welchen alle unsere Handlungen gerichtet sein müssen. Der sinnliche Mensch aber kann das nicht einsehen und es kommt ihm thöricht vor, weil er eine zu dürftige Erkenntnis Gottes hat und weil er in diesem höchsten Gute nichts findet, das er mit Händen greifen und essen könnte oder was die Sinnlichkeit zu erregen vermag, welche die Hauptquelle seiner Freuden ist, da es einzig im Wissen und reinen Denken besteht. Wer aber die Einsicht erlangt hat, daß es nichts höheres giebt als die Erkenntnis und einen gesunden Geist, wird es zweifellos als das vorzüglichste schätzen.

Damit habe ich erklärt, worin das göttliche Gesetz vorzugsweise besteht und auch was menschliche Gesetze seien; zu letzteren gehören alle diejenigen Gesetze, welche einen andern Zweck verfolgen, es wäre denn, daß sie auf Offenbarung beruhen, denn auch unter diesem Gesichtspunkt werden die Dinge auf Gott bezogen (wie ich oben gezeigt) und in diesem Sinne kann auch das mosaische Gesetz, obgleich es kein allgemeines, sondern hauptsächlich auf den Geist eines einzelnen Volkes berechnet und zu dessen Erhaltung bestimmt war, dennoch Gesetz Gottes oder göttliches Gesetz heißen, sofern wir nämlich glauben, daß es prophetischer Offenbarung entstammt.

Wenn wir nun das Wesen des natürlichen göttlichen Gesetzes näher betrachten, so werden wir finden: 1. daß es ein allgemeines, d. h. für alle Menschen in gleicher Weise giltig ist; da es aus der allgemeinen menschlichen Natur abgeleitet worden ist. – 2. daß es den Glauben an Geschichten irgend welcher Art nicht nötig hat; denn da dieses natürliche göttliche Gesetz aus der Betrachtung der Menschennatur sich von selbst ergiebt, so ist klar, daß wir es ebensowohl in Adam wie in jedem andern Menschen, und ebensowohl in einem Menschen, der unter Menschen lebt, wie in einem Einsiedler erkennen können. Auch kann der Glaube an Geschichten, mag derselbe auch ein unerschütterlicher sein, uns die Erkenntnis Gottes nicht gewähren und folglich auch nicht die Liebe zu Gott, welche aus der Gotteserkenntnis entspringt. Die Erkenntnis Gottes muß vielmehr aus allgemein anerkannten Begriffen, die ihre Gewißheit in sich selbst tragen, geschöpft werden. Weit entfernt daher, daß der Glaube an Geschichten ein notwendiges Erfordernis wäre, um unser höchstes Gut zu erlangen. Indessen will ich doch nicht bestreiten, daß das Lesen solcher Geschichten in Bezug auf das bürgerliche Leben recht nützlich ist, wenn auch der Glaube an sie die Erkenntnis und Liebe Gottes uns nicht einzuflößen vermag. Denn je besser wir die Sitten und Verhältnisse der Menschen, die in ihren Handlungen am klarsten zu Tage treten, beobachten und kennen lernen, desto sicherer können wir unter ihnen leben und desto eher vermögen wir unsere Handlungen und unser Leben ihrer Denkart, soweit dies die Vernunft erheischt, anzupassen. – 3. sehen wir, daß dieses natürliche göttliche Gesetz keine frommen Bräuche nötig hat, d. h. Handlungen, welche an sich selbst gleichgültig sind und nur zufolge gewisser Einrichtungen gut heißen, oder welche ein zur Glückseligkeit notwendiges Gut sinnbildlich darstellen, oder wenn man lieber will Handlungen, deren Grund die menschliche Fassungskraft übersteigt. Denn die natürliche Einsicht erfordert keine Dinge, die mit ihr nichts zu schaffen haben, sondern nur was wir als gut oder als Mittel für unsere Glückseligkeit klar zu erkennen vermögen. Dinge aber, die bloß auf Grund von Befehlen oder Einrichtungen gut sind, oder nur darum, weil sie ein gewisses Gut sinnbildlich darstellen, können unsere Erkenntnis nicht vervollkommnen; sie sind bloße Schatten und können nicht zu den Handlungen gezählt werden, welche gleichsam Sprößlinge und Früchte der Erkenntnis und des gesunden Denkens sind. Dies braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. – 4. endlich sehen wir, daß der höchste Lohn des göttlichen Gesetzes das Gesetz selbst ist, nämlich Gott erkennen und ihn aus wahrer Freiheit und mit ganzer und standhafter Seele lieben; die höchste Strafe dagegen der Mangel dieses Gutes und die Knechtschaft der Sinnlichkeit, oder eine schwankende, wetterwendische Seele.

Nach diesen Auseinandersetzungen haben wir weiter zu untersuchen: 1. ob wir nach der natürlichen Einsicht uns Gott als einen Gesetzgeber oder Fürsten denken können, welcher dem Menschen Gesetze vorschreibt. – 2. was die heilige Schrift von der natürlichen Einsicht und von diesem natürlichen Gesetze lehrt. – 3. zu welchem Zweck die religiösen Gebräuche ehemals eingeführt wurden. – 4. endlich, was von der Kenntnis der heiligen Geschichten und dem Glauben an sie zu halten sei. – Die beiden ersten Punkte sollen noch in diesem Kapitel, die beiden andern im folgenden behandelt werden.

Die Beantwortung der ersten Frage ergiebt sich leicht aus der Natur des göttlichen Willens, welcher sich von dem göttlichen Denken nur in unserer Auffassung unterscheidet. Mit andern Worten, der göttliche Wille und das göttliche Denken sind in Wahrheit an sich ein und dasselbe, der Unterschied besteht lediglich in unserem Geiste, indem wir zwischen beiden unterscheiden, je nachdem wir das göttliche Denken ins Auge fassen. Wenn wir z. B. an der Natur eines Dreiecks nur das beachten, daß es in der göttlichen Natur von Ewigkeit als ewige Wahrheit enthalten ist, so sagen wir, Gott habe die Idee eines Dreiecks oder Gott erkenne die Natur eines Dreiecks. Wenn wir aber weiter noch bedenken, daß die Natur des Dreiecks auf diese Weise in der göttlichen Natur enthalten ist bloß vermöge der Notwendigkeit der göttlichen Natur, aber nicht vermöge der Notwendigkeit des Wesens und der Natur des Dreiecks, ja daß die Notwendigkeit des Wesens und der Eigenschaften des Dreiecks, sofern sie auch als ewige Wahrheiten aufgefaßt werden, lediglich von der Notwendigkeit der göttlichen Natur und des göttlichen Denkens abhängt, nicht aber von der Natur des Dreiecks, so nennen wir das, was wir vorher das göttliche Denken genannt haben, den Willen oder den Ratschluß Gottes. In Bezug auf Gott selbst ist es daher ganz gleich, ob wir sagen, Gott habe von Ewigkeit her beschlossen und gewollt, daß die drei Winkel eines Dreiecks zwei rechten Winkel gleich seien, oder ob wir sagen, Gott habe dieses erkannt. Daraus folgt, daß was Gott bejaht oder verneint, immer eine ewige Notwendigkeit oder Wahrheit enthält.

Wenn also z. B. Gott zu Adam gesprochen hat, er wolle nicht, daß Adam von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen esse, so läge ein Widerspruch darin, daß Adam von jenem Baume habe essen können; indem es unmöglich gewesen wäre, daß Adam davon aß, da jener göttliche Befehl eine ewige Notwendigkeit und Wahrheit enthalten mußte. Wenn daher die Bibel gleichwohl erzählt, Gott habe es Adam verboten und dieser habe dennoch davon gegessen, so muß man notgedrungen annehmen, Gott habe dem Adam nur das Übel offenbart, das ihn ganz gewiß treffen werde, wenn er von jenem Baume essen würde, aber nicht, daß jenes Übel notwendig eintreffen müsse. Daher kam es auch, daß Adam jene Offenbarung nicht als ewige und notwendige Wahrheit aufgefaßt hat, sondern als Gesetz, d. h. als eine Verordnung, auf welche ein Vorteil oder ein Nachteil folgt, nicht aus der Notwendigkeit und Natur der begangenen That, sondern bloß nach dem Belieben und dem unbedingten Befehl eines Herrschers. Also war diese Offenbarung nur in Bezug auf Adam allein und nur zufolge seiner mangelhaften Erkenntnis ein Gesetz und Gott war für ihn gleichsam Gesetzgeber oder Fürst.

Aus dem gleichen Grunde, nämlich wegen mangelhafter Erkenntnis, waren die zehn Gebote nur in Bezug auf die Hebräer Gesetz. Weil sie nämlich das Dasein Gottes und die ewige Wahrheit nicht kannten, mußten sie dasjenige, was ihnen in den zehn Geboten geoffenbart wurde, nämlich daß Gott existiert und daß er allein anzubeten ist, als ein Gesetz auffassen. Hätte Gott unmittelbar, ohne Anwendung körperlicher Mittel mit ihnen geredet, so würden sie es nicht als Gebot, sondern als ewige Wahrheit aufgefaßt haben.

Was ich hier über die Israeliten und Adam gesagt habe, gilt von sämtlichen Propheten, welche im Namen Gottes Gesetze geschrieben haben; auch sie haben die göttlichen Ratschlüsse nicht vollkommen, als ewige Wahrheit, aufgefaßt. So muß z. B. von Moses selbst angenommen werden, daß er aus der Offenbarung oder aus den ihm geoffenbarten Grundgedanken die Art und Weise erkannt hat, wie das israelitische Volk am besten in einem gewissen Laude vereint werden und ein vollständiges Gemeinwesen oder einen Staat bilden, wie nicht minder die Art und Weise, wie sein Volk am besten zum Gehorsam bewogen werden könne; es ist ihm aber nicht bekannt gewesen oder geoffenbart worden, weder daß jene Art und Weise die beste war, noch daß durch den Gehorsam des gesamten in jenem Lande vereinigten Volkes das angestrebte Ziel notwendig erreicht werden mußte. Darum hat er das alles nicht als ewige Wahrheiten, sondern als Befehle und Verordnungen aufgefaßt und als Gesetze Gottes vorgeschrieben. So kam es, daß er sich Gott als barmherzigen, gerechten etc. Führer, Gesetzgeber oder König vorstellte, während doch das alles Eigenschaften der menschlichen Natur allein sind, welche von der göttlichen Natur ganz und gar ferngehalten werden müssen.

Indessen gilt dies nur von den Propheten, die im Namen Gottes Gesetze vorgeschrieben haben, nicht aber von Christus. Denn von Christus muß man annehmen, daß er die Dinge in ihrer wahren Gestalt und vollkommen erkannt hat, obgleich auch er wie es scheint im Namen Gottes Gesetze niedergeschrieben hat. Denn Christus war nicht sowohl Prophet, als vielmehr der Mund Gottes, indem Gott durch den Geist Christi (wie im 1. Kapitel gezeigt worden) wie ehedem durch Engel, nämlich durch eine erschaffene Stimme, durch Gesichte u. s. f., dem Menschengeschlecht mehreres geoffenbart hat. Es wäre deshalb ebenso ungereimt, zu behaupten, Gott habe seine Offenbarungen den Meinungen Christi angepaßt, als wenn man behauptete, Gott habe ehedem seine Offenbarungen den Meinungen der Engel, d. h. der geschaffenen Stimme oder Gesichte, angepaßt, um den Propheten mitzuteilen, was er ihnen offenbaren wollte. Nichts Thörichteres könnte aufgestellt werden, zumal Christus nicht bloß zur Belehrung der Juden allein, sondern des ganzen Menschengeschlechts gesandt war; weshalb es nicht genügt hätte, wenn sein Geist bloß den Meinungen der Juden angepaßt gewesen wäre, sondern er mußte den allen Menschen gemeinsamen Meinungen und Überzeugungen, d. h. den allgemein menschlichen und wahren Begriffen angepaßt sein. Schon daraus, daß Gott sich Christus oder seinem Geiste unmittelbar geoffenbart hat, und nicht wie den Propheten durch Worte oder Bilder, ergiebt sich mit Gewißheit, daß Christus die geoffenbarten Dinge in voller Wahrheit erfaßt oder begriffen hat; denn nur dann wird etwas erkannt, wenn es mit klarem Geiste ohne Worte und Bilder erfaßt wird. Christus hat also die geoffenbarten Dinge in Wahrheit und vollkommen erfaßt; wenn er sie daher jemals als Gesetze vorgeschrieben hat, so that er dies wegen der Unwissenheit und Verstocktheit des Volkes. Er handelte also hierin wie Gott selbst, da er sich dem Geist des Volkes anpaßte, und daher kommt es, daß er, obzwar seine Reden etwas deutlicher sind als die der andern Propheten, dennoch dunkel und häufig durch Gleichnisse die geoffenbarten Dinge gelehrt hat, namentlich wenn er mit Leuten redete, denen es noch nicht gegeben war, das Himmelreich zu verstehen (s. Matthäus Kap. 13, V. 10 etc.). Solchen dagegen, welchen es gegeben war, die Geheimnisse des Himmels zu verstehen, hat er die Dinge ohne Zweifel als ewige Wahrheiten gelehrt, aber nicht als Gesetze vorgeschrieben; auf diese Weise befreite er sie von der Knechtschaft des Gesetzes, und befestigte und bestätigte dennoch das Gesetz nur noch mehr und schrieb es ihnen tief in das Herz. Dies scheint auch Paulus an einigen Stellen anzudeuten, nämlich im Brief an die Römer Kap. 7, V. 6 und Kap. 3, V. 28. Aber auch er will nicht offen reden, sondern spricht, wie er selbst im Kap. 3, V. 5 und Kap. 6, V. 19 desselben Briefes sagt, auf menschliche Weise. Ausdrücklich sagt er dies, wenn er Gott gerecht nennt und ihm, unzweifelhaft ebenfalls der menschlichen Schwachheit wegen, Barmherzigkeit, Gnade, Zorn u. s. w. zuschreibt und seine Worte dem Geist des Volkes oder (wie er selbst im ersten Korintherbrief Kap. 3, V. 1 und 2 sich ausdrückt) der fleischlichen Menschen anpaßt. Denn im Römerbrief Kap. 9, V. 18 lehrt er bestimmt, daß der Zorn Gottes und seine Barmherzigkeit nicht von den Werken der Menschen, sondern einzig und allein von der Berufung, d. h. dem Willen Gottes abhängen; ferner daß durch Werke des Gesetzes niemand gerecht werde, sondern allein durch den Glauben (s. Römerbrief Kap. 3, V. 28), worunter er sicherlich nichts anderes versteht, als die volle Zustimmung des Geistes; endlich lehrt er, daß niemand selig werden kann, der nicht den Geist Christi in sich hat (s. Römerbrief Kap. 8, V. 9), durch welchen man nämlich die Gesetze Gottes als ewige Wahrheiten erfaßt.

Wir können hiernach behaupten, daß Gott nur mit Rücksicht auf die Fassungskraft der Menge und bloß wegen deren mangelhafter Denkfähigkeit als Gesetzgeber oder Fürst geschildert und gerecht, barmherzig u. s. f. genannt wird; daß er aber in Wahrheit zufolge der Notwendigkeit seiner Natur und seiner Vollkommenheit allein handelt und alles leitet, und daß seine Befehle und Willensentschließungen ewige Wahrheiten sind und stets mit Notwendigkeit erfolgen.

Damit wäre der erste Punkt, den ich zu erörtern mir vorgenommen, erledigt. Wir schreiten nun zum zweiten und wollen die heilige Schrift durchblättern, um zu erfahren, was sie über die natürliche Einsicht und über dieses göttliche Gesetz lehrt.

Das erste, was uns hier begegnet, ist die Geschichte des ersten Menschen, worin erzählt wird, Gott habe dem Adam verboten, von der Frucht am Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Es soll das wohl heißen, Gott habe dem Adam befohlen, das Gute zu thun und um des Guten willen nach demselben zu streben, nicht weil es dem Bösen entgegengesetzt ist; mit andern Worten, er solle nach dem Guten streben aus Liebe zum Guten, nicht aus Furcht vor einem Übel. Denn wie bereits gezeigt wurde, handelt derjenige aus freier Überzeugung, der das Gute aus reiner Erkenntnis und Liebe des Guten thut; wer es aber thut aus Furcht vor einem Übel, der steht unter dem Zwang jenes Übels, handelt knechtisch und lebt unter der Herrschaft eines andern. Diese eine Vorschrift, welche Gott dem Adam erteilte, umfaßt somit das ganze natürliche göttliche Gesetz und stimmt vollständig mit dem Gebot der natürlichen Einsicht überein. Die ganze Erzählung oder Parabel vom ersten Menschen ließe sich daher unschwer nach diesem Grundgedanken erklären; doch ziehe ich es vor, darüber hinwegzugehen, weil ich erstens nicht mit Bestimmtheit behaupten kann, daß meine Auslegung dem Sinn des Verfassers entspricht, und weil zweitens die meisten nicht zugeben wollen, daß diese Erzählung eine Parabel ist, sondern fest behaupten, es sei eine wirkliche Geschichte.

Es wird also besser sein, andere Bibelstellen anzuführen, und zwar besonders solche, die von jemand herrühren, der aus natürlicher Erleuchtung, in welcher er alle seine Zeitgenossen überragte, gesprochen hat, und dessen Sprüche vom Volk ebenso heilig gehalten werden wie die der Propheten; Salomo meine ich, dem in der Bibel nicht sowohl Prophetie und Frömmigkeit, als vielmehr Klugheit und Weisheit nachgerühmt wird. Er nun nennt in seinen Sprüchen die menschliche Erkenntnis die Quelle des wahren Lebens und läßt das Unglück allein in der Thorheit bestehen. In Kap. 16, V. 23 sagt er: »Eine Quelle des Lebens (ist) der Verstand seinem Herrn Ein Hebräismus, d. h. eine der hebräischen Sprache eigentümliche Ausdrucksweise. Sowohl von einer Sache als auch von einer Eigenschaft, die jemand besitzt, wird gesagt, er sei der Herr derselben. So heißt der Vogel im Hebräischen »Herr der Flügel«, weil er Flügel besitzt; der Verständige heißt Herr des Verstandes, weil er Weisheit besitzt. (Anmerkung des Verfassers.) und die Strafe der Thoren ist die Thorheit.« Hierbei ist zu bemerken, daß im Hebräischen unter »Leben« schlechtweg das wahre Leben zu verstehen ist, was aus 5. Buch Mose Kap. 30, V. 19 erhellt. Die Frucht der Erkenntnis besteht also lediglich in der richtigen Lebensweise, die Strafe lediglich darin, daß man derselben nicht teilhaftig ist, was vollständig mit dem übereinstimmt, was unter Punkt 4 über das natürliche göttliche Gesetz bemerkt worden.

Ausdrücklich wird nun aber auch von jenem Weisen gelehrt, daß diese Quelle des Lebens oder die Erkenntnis allein, wie schon gezeigt, den Weisen Gesetze vorschreibt. Er sagt nämlich in Kap. 13, V. 24: »Das Gesetz des Weisen (ist) die Quelle des Lebens«, d. h., wie aus der eben angeführten Stelle erhellt, die Erkenntnis. Weiter lehrt er Kap. 3, V. 13 mit ausdrücklichen Worten, daß die Erkenntnis den Menschen selig und glücklich macht und die wahre Seelenruhe gewährt. Er sagt nämlich: »Selig ist der Mensch, der Weisheit findet und der Menschensohn, welcher Einsicht erlangt hat.« Der Grund ist, (wie er V. 16 und 17 fortfährt,) weil »sie unmittelbar Länge der Tage Ein Hebräismus, welcher Leben bedeutet. (Anmerkung des Verfassers.) verleiht, mittelbar Reichtum und Ehre; ihre Wege (welche eben die Weisheit zeigt) sind lieblich und alle ihre Pfade Frieden.« Somit leben auch nach der Ansicht Salomos nur die Weisen mit friedlicher und standhafter Seele; anders als die Gottlosen, deren Gemüt vom Kampf der Leidenschaften beunruhigt wird und die daher (wie auch Jesaja Kap. 50, V. 20 sagt) weder Frieden noch Ruhe haben.

Namentlich aber ist schließlich aus den Sprüchen Salomos eine Stelle im 2. Kapitel anzuführen, welche unsere Ansicht aufs deutlichste bestätigt. Er beginnt nämlich daselbst im 3. Vers: »Denn wenn du die Klugheit anrufen und der Einsicht deine Stimme geben wirst etc., so wirst du die Furcht Gottes verstehen und das Wissen Gottes (oder vielmehr die Liebe, denn das Wort » jada« bedeutet beides) wirst du finden. Denn (man beachte wohl!) Gott giebt Weisheit, aus seinem Munde (strömt) Wissen und Einsicht.« Mit diesen Worten sagt er aufs deutlichste, erstens, daß die Weisheit allein oder die Erkenntnis uns lehrt, Gott weislich zu fürchten, d. h. ihn mit wahrer Ergebenheit zu verehren. Ferner lehrt er, daß Weisheit und Wissen aus dem Munde Gottes fließt und daß Gott sie verleiht. Dasselbe habe ich oben gezeigt, nämlich daß unsere Erkenntnis und unser Wissen lediglich von der Idee oder der Erkenntnis, die wir von Gott haben, abhängt, daraus entspringt und durch sie vollkommen wird. Im 9. Vers fährt er weiter fort zu lehren, daß dieses Wissen die wahre Ethik und Politik enthält und daß beide sich daraus ableiten: »Dann wirst du verstehen Gerechtigkeit und Gericht und Redlichkeit (und) jeden geraden Pfad«. Damit nicht zufrieden fährt er fort: »Wenn die Weisheit einzieht in dein Herz und Erkenntnis dir lieblich schmecken wird, so wird deine Vorsicht dich bewachen und deine Klugheit מזמה » mesimah« bedeutet eigentlich: Nachdenken, Überlegung, Aufmerksamkeit. (Anmerkung des Verfassers.) dich behüten.« Das alles paßt genau auf das natürliche Wissen; denn aus ihm lernt man die Ethik und wahre Tugend, sobald man die Erkenntnis der Dinge erlangt und den Vorzug des Wissens gekostet hat. Daher hängt auch nach Salomos Ansicht das Glück und die Ruhe dessen, der die natürliche Erkenntnis ausbildet, nicht von der Macht des Schicksals (oder vom äußerlichen Beistande Gottes) ab, sondern vorzugsweise von der innern Vortrefflichkeit (oder vom innern Beistand Gottes), weil er nämlich durch Aufmerksamkeit, Thätigkeit und richtige Überlegung sich zu erhalten weiß.

Schließlich darf hier auch eine Stelle im Römerbrief Kap. 1, V. 20 nicht übergangen werden, wo Paulus (nach der Übersetzung des Tremellius aus dem syrischen Text) folgendes sagt: »Das verborgene Wesen Gottes wird aus den Grundlagen der Welt in seinen Geschöpfen durch die Erkenntnis begriffen, wie auch seine Kraft und Göttlichkeit, welche in Ewigkeit währt, also daß ihnen keine Ausflucht bleibt.« Damit sagt er deutlich genug, daß jeder mit seiner natürlichen Einsicht die Kraft Gottes und seine ewige Göttlichkeit klar erkennen und daraus erfahren und folgern kann, was er erstreben und was er meiden soll. Daher zieht er auch den Schluß, daß niemand eine Ausflucht hat und sich durch Unwissenheit entschuldigen kann, was ganz gewiß nicht der Fall wäre, wenn hier von einer übernatürlichen Erleuchtung die Rede wäre, oder von den leiblichen Leiden Christi und seiner Auferstehung etc. Daher fährt er auch bald darauf im 24. Vers fort: »Deshalb hat Gott sie hingegeben den unreinen Begierden ihres Herzens« und so fort bis zu Ende des Kapitels, wo er die Nachteile der Unwissenheit beschreibt und sie gleichsam als Strafe der Unwissenheit aufzählt, ganz in Übereinstimmung mit dem bereits angeführten salomonischen Spruch Kap. 16, V. 22: »Die Strafe der Thorheit ist Thorheit«. Es ist daher kein Wunder, daß Paulus sagt, die Übelthäter hätten keine Entschuldigung. Denn wie einer sät, so erntet er, die Folgen des Bösen sind wieder Böses, wenn es nicht auf verständige Weise wieder gut gemacht wird, und die Folgen des Guten sind wieder Gutes, wenn es von fester Gesinnung begleitet wird.

Die Bibel empfiehlt somit unbedingt die natürliche Erkenntnis und das natürliche göttliche Gesetz. Damit habe ich den Gegenstand dieses Kapitels erledigt.

Fünftes Kapitel.

Über den Grund der religiösen Gebräuche, und über den Glauben an die Geschichte, wiefern und wem er nötig sei.


Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, daß das göttliche Gesetz, welches den Menschen das echte Glück verleiht und das rechte Leben lehrt, Gemeingut aller Menschen ist; es wurde sogar aus der menschlichen Natur dergestalt abgeleitet, daß man annehmen kann, es sei dem menschlichen Geiste angeboren und gleichsam eingeschrieben. Da nun die religiösen Gebräuche, wenigstens die im Alten Testament, nur für die Hebräer angeordnet und nur für ihren Staat berechnet waren, so daß die meisten nur von dem ganzen Volk, nicht aber von jedem Einzelnen geübt werden konnten, so ist es gewiß, daß sie keinen Bestandteil des göttlichen Gesetzes ausmachen und daher auch zur Glückseligkeit und Tugend nichts beitragen; vielmehr betrafen sie bloß die Auserwählung der Hebräer, nämlich (nach unserer Ausführung im 3. Kapitel) ihre zeitliche leibliche Wohlfahrt und die Sicherheit ihres Staats, und sie konnten daher nur solange dieser Staat bestand von Wert sein. Wenn sie nun im Alten Testament auf ein Gesetz Gottes zurückgeführt werden, so geschah dies nur deshalb, weil sie durch die Offenbarung oder auf Grund geoffenbarter Lehren angeordnet worden sind. – Da aber die triftigsten Gründe bei den Theologen gewöhnlichen Schlags nicht hoch angeschlagen werden, so will ich das, was ich soeben aufgestellt, auch durch die Autorität der Bibel bestätigen und überdies, um es noch deutlicher zu machen, zeigen, warum und wie die religiösen Gebräuche zur Befestigung und Erhaltung des jüdischen Staats gedient haben.

Jesaja lehrt nichts deutlicher, als daß das göttliche Gesetz im eigentlichen Sinne des Worts jenes allgemeine Gesetz bezeichnet, welches in einer vernünftigen Lebensweise besteht, nicht aber die religiösen Gebräuche. Denn im 1. Kapitel, im 10. Vers, fordert er sein Volk auf, das göttliche Gesetz von ihm zu hören. Von demselben schließt er zuvörderst alle Arten von Opfern und Festen aus, sodann lehrt er das Gesetz selbst (s. V. 16 und 17) und faßt es in wenigen Worten zusammen, nämlich: Reinigung der Seele, Tugendhaftigkeit und Güte der Gesinnung und Handlungen wie auch Hilfeleistung den Armen.

Ein ebenso klarer Beleg ist die Psalmstelle Kap. 40, V. 7 und 9, wo der Psalmist Gott folgendermaßen anredet: »Opfer und Gabe hast du nicht begehrt; Ohren hast du mir gebohrt Eine Redensart, welche die Fähigkeit zu vernehmen bezeichnet. (Anmerkung des Verfassers.); Brandopfer und Sühnopfer hast du nicht verlangt; deinen Willen, mein Gott, will ich befolgen, denn dein Gesetz ist in meinen Eingeweiden.« Er nennt also nur das Gesetz ein göttliches, welches seinen Eingeweiden oder seinem Geiste eingeschrieben ist und schließt die religiösen Gebräuche davon aus, da sie bloß zufolge besonderer Verordnung, nicht aber von Natur aus gut und deswegen dem Geiste nicht eingeschrieben sind. Außer diesen Stellen giebt es in der Bibel noch andere, welche das bezeugen; doch genügt wohl die Anführung dieser beiden.

Daß nun aber die religiösen Gebräuche zur Glückseligkeit nichts beitragen, sondern bloß die zeitliche Wohlfahrt des Staats bezwecken, geht ebenfalls aus der Bibel selbst hervor, welche für deren Beobachtung nur leibliche Vorteile und Annehmlichkeiten verheißt, dagegen die Glückseligkeit nur für die Befolgung des allgemeinen göttlichen Gesetzes. In den sogenannten fünf Büchern Mose wird, wie oben schon bemerkt, nichts anderes verheißen, als dieses zeitliche Glück, nämlich Ehren, Ruhm, Siege, Reichtümer, Freude, Gesundheit. Zwar enthalten jene fünf Bücher neben den religiösen Gebräuchen auch viele Sittenlehren, aber nicht als solche, die für alle Menschen giltig sind, sondern als Vorschriften, welche in erster Linie der Fassungskraft und dem Geiste des hebräischen Volkes allein angepaßt sind und deshalb auch bloß die Wohlfahrt seines Staats bezwecken. So z. B. erteilt Moses das Verbot des Tötens und des Diebstahls nicht als Lehrer oder Prophet, sondern als Gesetzgeber und Herrscher; denn er begründet dasselbe nicht mit der Vernunft, sondern setzt eine Strafe darauf; Strafen aber können und müssen je nach dem Geiste der einzelnen Völker verschieden sein, was die Erfahrung zur Genüge lehrt. So auch hat Moses bei dem Verbot des Ehebruchs nur die Wohlfahrt des Gemeinwesens und Staats ins Auge gefaßt. Hätte er dasselbe als Sittenlehre erteilen wollen, die nicht bloß die staatliche Wohlfahrt, sondern die Seelenruhe und die wahre menschliche Glückseligkeit fördert, so hätte er nicht bloß die äußere Handlung, sondern auch die innere Gesinnung verdammt; wie Christus that, der nur allgemeine Lehren erteilte (s. Matth. Kap. 5, V. 28) und deswegen auch geistige Belohnung versprach, nicht leibliche, wie Moses. Denn Christus ist, wie ich schon gesagt habe, nicht gesendet worden, den Staat zu erhalten und Gesetze zu erlassen, sondern das allgemeine Gesetz zu lehren. Hieraus kann man leicht entnehmen, daß Christus das mosaische Gesetz keineswegs aufgehoben hat, da Christus überhaupt keine neuen Gesetze im Staate einführen wollte; vielmehr ließ er es sich ganz besonders angelegen sein, die Sittengesetze zu lehren und sie von den Staatsgesetzen zu trennen, und zwar that er dies namentlich wegen der Unwissenheit der Pharisäer, welche glaubten, daß derjenige selig lebe, der die Staatsgesetze oder das mosaische Gesetz aufrecht hält, während dieses doch wie gesagt nur politisch begründet war und nicht sowohl zur Belehrung als zur Nötigung der Hebräer dienen sollte.

Wir wollen nun wieder zu unserem Vorwurf zurückkehren und andere Bibelstellen anführen, welche für die religiösen Gebräuche nur leibliche Vorteile, die Glückseligkeit aber nur für das allgemeine göttliche Gesetz verheißen. Unter den Propheten hat das keiner klarer gelehrt als Jesaja. Im 58. Kapitel verdammt er die Heuchelei und empfiehlt die Freiheit des Menschen selbst und die Liebe gegen den Nebenmenschen, dafür verspricht er folgendes: »Dann wird hervorbrechen wie das Morgenrot dein Licht und deine Genesung wird in Bälde aufblühen, vor dir wird deine Gerechtigkeit wandeln und die Herrlichkeit Gottes wird dich versammeln Ein Hebräismus, der »Sterben« bezeichnet. »Zu seinen Vätern versammelt werden« bedeutet sterben. S. 1. Buch Mose Kap. 49, V. 29 und 33. (Anmerkung des Verfassers.) etc.« Hierauf empfiehlt er auch den Sabbath, für dessen gewissenhafte Beobachtung er folgendes verspricht: »Dann wirst du dich mit Gott ergötzen Das heißt soviel als: anständig ergötzen; wie man auch im Niederländischen sagt: Met Godt, en met eere (Mit Gott und mit Ehre). (Anmerkung des Verfassers.) und ich werde dich reiten Es bedeutet »herrschen«, wie man ein Pferd am Zügel hält. (Anmerkung des Verfassers.) lassen auf den Höhen der Erde und dich essen lassen das Erbe deines Vaters Jakob, wie der Mund Jehovahs gesprochen.« Wir sehen also, daß der Prophet für Freiheit und Liebe einen gesunden Geist im gesunden Körper und Gottes Herrlichkeit auch nach dem Tode verspricht, für die religiösen Gebräuche dagegen nichts als Sicherheit des Staats, Gedeihen und leibliches Glück. – Im 15. und 24. Psalm werden gar keine religiösen Gebräuche, sondern nur sittliche Lehren aufgeführt, weil nämlich diese Psalmen nur von der Glückseligkeit handeln, obzwar von ihr gleichnisweise gesprochen wird. Denn unzweifelhaft ist daselbst unter dem Berge Gottes, seinen Zelten und deren Bewohnung, die Glückseligkeit und Seelenruhe zu verstehen, aber nicht der Berg Jerusalem oder die Stiftshütte des Moses, da diese Orte von niemand bewohnt, sondern nur von Personen aus dem Stamme Levi verwaltet wurden. – Ferner versprechen auch alle im vorigen Kapitel angeführten salomonischen Sprüche die wahre Seligkeit nur für die Pflege der Erkenntnis und Weisheit, weil nämlich nur durch sie die Furcht Gottes erkannt und die Erkenntnis Gottes gefunden wird.

Daß aber die Hebräer nach der Zerstörung ihres Reiches nicht verpflichtet sind, die religiösen Gebräuche zu beobachten, erhellt aus Jeremia, der in der Weissagung über die Zerstörung Jerusalems, die er in Bälde hereinbrechen sieht, sagt: »Gott liebt nur diejenigen, welche wissen und erkennen, daß er Barmherzigkeit, Gericht und Gerechtigkeit in der Welt übt; deswegen werden in Zukunft nur die, welche solches einsehen, des Lobes würdig erachtet werden« (s. Kap. 9, V. 23), womit er sagen will, daß Gott nach der Zerstörung Jerusalems nichts besonderes von den Juden verlange, sondern in Zukunft nur die Beobachtung des für jedermann geltenden natürlichen Gesetzes erwarte. – Auch das Neue Testament bestätigt das vollauf; denn es werden darin, wie schon bemerkt, nur die Sittengesetze gelehrt und für sie wird das Himmelreich versprochen, dagegen wurden die religiösen Gebräuche von den Aposteln aufgehoben, als man das Evangelium auch andern Völkern, die unter andern Staatsgesetzen lebten, zu verkünden begann. Die Pharisäer freilich hielten auch nach dem Untergang des Staats diese religiösen Gebräuche oder doch einen großen Teil derselben aufrecht; sie thaten das aber mehr aus Gegnerschaft gegen das Christentum, als um Gott zu gefallen. Denn als sie nach der ersten Zerstörung Jerusalems in die babylonische Gefangenschaft geführt wurden, hörten sie sofort auf, die religiösen Gebräuche zu beobachten; denn damals hatten sie sich, so viel ich weiß, noch nicht in Sekten gespalten; ja sie sagten sich vom ganzen mosaischen Gesetze los, gaben das vaterländische Recht als gänzlich überflüssig der Vergessenheit Preis und fingen an, sich mit andern Völkern zu vermischen, wie wir aus Esra und Nehemia zur Genüge erfahren. Es ist daher kein Zweifel, daß die Juden nach Auflösung ihres Staats an das mosaische Gesetz ebensowenig gebunden waren als vor der Errichtung ihres staatlichen Gemeinwesens. Vor dem Auszug aus Ägypten, als sie noch unter andern Völkern lebten, hatten sie keine besonderen Gesetze und waren keinem andern Gesetz unterworfen, als dem natürlichen und auch ohne Zweifel den Gesetzen des Staats, in welchem sie lebten, soweit dieselben zu dem natürlichen göttlichen Gesetz in keinem Widerspruch standen. Wenn gleichwohl die Erzväter Gott Opfer dargebracht haben, so thaten sie das meiner Meinung nach, um ihren von Kindheit auf an Opfer gewöhnten Geist mehr zur Andacht anzuregen; denn von den Tagen des Enos an waren alle Menschen an Opfer gewöhnt, so daß sie durch diese besonders zur Andacht angeregt wurden. Also nicht auf Grund irgend eines von Gott anbefohlenen Gesetzes oder infolge einer Belehrung über die allgemeinen Grundlagen des göttlichen Gesetzes haben die Erzväter Gott Opfer dargebracht, sondern bloß, weil es damals gebräuchlich war. Wenn sie es aber dennoch auf Befehl eines andern thaten, so kann das kein anderer Befehl gewesen sein, als das Gesetz des Staats, in welchem sie lebten und dem auch sie gehorchen mußten (wie ich soeben und auch bereits im 3. Kapitel bei Erwähnung des Melchisedek hervorgehoben habe).

So hätte ich also meine Ansicht durch die Autorität der Bibel bestätigt und es erübrigt nur noch, zu zeigen, auf welche Weise und wiefern die religiösen Gebräuche zur Erhaltung und Befestigung des Hebräerstaates dienten. Es soll das so kurz als möglich mit allgemeinen Sätzen geschehen.

Die menschliche Gemeinschaft ist nicht bloß zum Schutz vor Feinden, sondern auch zur Herstellung vieler nützlichen Dinge gut und sogar höchst notwendig. Denn würden die Menschen einander nicht wechselseitig Hilfe leisten, so hätten sie weder Geschick noch Zeit genug, sich zu ernähren und zu erhalten. Denn nicht jeder ist zu jedem Werk brauchbar und der Einzelne wäre daher nicht einmal imstande, sich das anzuschaffen, was er selbst notwendig braucht. Kraft und Zeit, sage ich, würde dem Einzelnen fehlen, wenn er ackern, säen, ernten, mahlen, kochen, weben, nähen und noch viele andere zum Leben nötige Arbeiten verrichten müßte; um von den Künsten und Wissenschaften zu schweigen, welche nicht minder zur Vervollkommnung der menschlichen Natur und zur Glückseligkeit höchst notwendig sind. Wir sehen daher, daß Menschen, welche im barbarischen Zustand ohne staatliche Gemeinschaft leben, ein elendes fast tierisches Leben führen und daß sie auch das Wenige, was sie haben und das noch armselig und plump genug beschaffen ist, nicht ohne wechselseitige Hilfeleistung, sie sei, welche sie wolle, zustande bringen.

Wenn nun die Menschen von Natur so beschaffen wären, daß sie nichts anderes begehren würden, als was die reine Vernunft eingiebt, so würde die Gemeinschaft keine Gesetze brauchen, sondern es würde vollständig genügen, den Menschen die wahren Sittengesetze zu lehren, damit sie aus eigenem Antrieb und freier Seele das wahrhaft Nützliche thun. Die menschliche Natur aber ist ganz anders beschaffen. Ihren Nutzen suchen sie zwar alle, aber nicht von der gesunden Vernunft geleitet, sondern von Begierden und Leidenschaften angetrieben (ohne Rücksicht auf die Zukunft und andere Dinge) verlangen sie gewisse Dinge und halten dieselben für nützlich. Daher kommt es, daß keine Gemeinschaft bestehen kann ohne Regierung und Gewalt und folglich auch nicht ohne Gesetze, welche die Begierden der Menschen und ihren zügellosen Ungestüm mäßigen und einschränken.

Indessen unterwirft sich die menschliche Natur doch nicht unbedingt der Gewalt. »Maßlose Herrschaft hat niemand lange behauptet, nur die gemäßigte ist von Dauer«, wie Seneca der Tragiker sagt. Denn solange die Menschen bloß aus Furcht handeln, thun sie das, wozu sie ganz und gar keine Lust haben und nehmen keine Rücksicht auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit dessen, was geschehen muß, sondern sind nur darauf bedacht, sich nicht den Tod oder eine Strafe zuzuziehen. Ja sie können nicht umhin, sich über ein Unglück oder ein Übel des Herrschers zu freuen, wiewohl dasselbe auch ihnen selbst zum großen Nachteil gereicht, und ihm alles Böse zu wünschen und zuzufügen, soweit sie vermögen. Auch ist den Menschen nichts unerträglicher, als ihresgleichen dienen und sich von ihnen regieren lassen zu müssen, und endlich ist nichts schwerer, als den Menschen die Freiheit zu nehmen, nachdem sie ihnen einmal erteilt worden ist.

Hieraus folgt erstens, daß entweder die ganze Gesellschaft womöglich die Regierung innehaben muß, so daß alle nur sich selbst, aber keiner seines Gleichen unterworfen wäre; oder daß, wenn wenige Personen oder eine die Regierung inne hat, diese vor der gewöhnlichen Menschennatur etwas voraushaben, oder doch vorauszuhaben das Volk nach Kräften zu überzeugen suchen muß. Weiter folgt, daß die Gesetze in jedem Staat so beschaffen sein müssen, daß die Menschen nicht sowohl durch Furcht, als vielmehr durch Hoffnung auf einen recht heftig begehrten Vorteil zur Unterwerfung veranlaßt werden müssen, denn nur auf diese Weise erfüllt jeder willig seine Pflicht. Weil endlich der Gehorsam darin besteht, daß man die Gesetze lediglich wegen der Autorität der Regierung befolgt, so folgt daraus, daß in einem Gemeinwesen, wo die ganze Gesellschaft regiert und die Gesetze auf Grund allgemeiner Zustimmung erlassen werden, von Gehorsam keine Rede sein kann und daß das Volk gleich frei bleibt, ob die Gesetze vermehrt oder vermindert werden, weil es nicht nach der Autorität eines andern, sondern nach der eigenen Bestimmung handelt. Das Gegenteil ist der Fall, wo ein Einziger die Regierung unbeschränkt innehat; da vollziehen alle die Gesetze der Regierung auf Grund der Autorität eines Einzelnen. Einer solchen Regierung ist es darum schwer, etwa nötige neue Gesetze anzuordnen, wenn das Volk nicht von Anfang an zum Gehorsam erzogen wurde, und die einmal zugestandene Freiheit wieder rückgängig zu machen.

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen kehren wir zum Staate der Hebräer zurück. Diese waren, als sie aus Ägypten gezogen waren, an kein Gesetz irgend eines Volkes mehr gebunden und es stand ihnen daher frei, neue Gesetze nach Gutdünken zu erlassen oder ein neues Recht zu gründen, und einen Staat, in jeder beliebigen Gegend, und Länder in Besitz zu nehmen, welche sie wollten. Indessen waren sie zu nichts weniger fähig, als zur Anordnung weiser Gesetze und zur Einrichtung einer allgemeinen Volksregierung; denn fast alle waren ungebildeten Geistes und durch harte Knechtschaft heruntergekommen. Die Regierung mußte daher von einem Einzelnen geführt werden, der die andern befehligte, der mit Gewalt sie nötigen konnte, ihnen Gesetze vorschrieb und dieselben später auslegte. Diese Regierung konnte Moses auch leicht innehaben, weil er an göttlicher Tugend die andern überragte und das Volk überzeugte, daß er solche besaß und dies durch viele Zeugnisse bewies (s. 1. Buch Mose Kap. 14, letzten Vers und Kap. 19, V. 9). Er hat also durch die göttliche Kraft, die ihn erfüllte, Gesetze aufgestellt und dem Volke vorgeschrieben, dabei aber war er sehr beflissen, daß das Volk weniger aus Furcht als aus freiem Antrieb seine Pflicht erfüllte. Zwei Umstände haben ihn noch besonders zu diesem Verfahren veranlaßt: der widerspenstige Sinn des Volkes (der sich durch Gewalt allein nicht zwingen ließ) und der bevorstehende Krieg. Wenn dieser einen glücklichen Ausgang haben sollte, mußten die Krieger mehr aufgemuntert, als durch Strafen und Drohungen erschreckt werden; denn auf diese Weise beeifert sich jeder, durch Mut und Seelengröße sich auszuzeichnen und denkt nicht bloß, wie er die Strafe vermeide.

Aus diesem Grunde nun führte Moses durch göttliche Kraft und auf göttlichen Befehl die Religion im Staate ein, damit das Volk weniger aus Furcht, als aus Ergebenheit seine Pflicht erfüllte. Sodann beeinflußte er dasselbe durch Wohlthaten und versprach ihm im Namen Gottes allerlei für die Zukunft. Auch erließ er keine allzu strengen Gesetze; was jeder leicht bestätigen kann, der sie aufmerksam prüft, namentlich wenn er die Umstände ins Auge faßt, die zur Verurteilung eines Angeschuldigten erforderlich waren.

Damit endlich das Volk, das sein eigener Gesetzgeber nicht sein konnte, vom Munde des Herrschers abhängig sei, gestattete er diesen an die Knechtschaft gewöhnten Menschen überhaupt keine beliebigen Handlungen. Bei allem, was das Volk that, war es verpflichtet, an das Gesetz zu denken, und Gebote zu erfüllen, die allein von dem Gutdünken des Gesetzgebers abhängen. Nicht nach freiem Belieben, sondern nach einem festen und bestimmten gesetzlichen Befehl durfte es ackern, säen und ernten. Ebenso durfte es nicht essen, sich nicht ankleiden, nicht Haupt oder Bart scheren, keine Lustbarkeiten begehen, überhaupt nichts thun, als nach den in den Gesetzen vorgeschriebenen Geboten und Verordnungen. Damit nicht genug, mußten sie auch an den Thürpfosten, an den Händen und zwischen den Augen gewisse Zeichen haben, die sie beständig zum Gehorsam ermahnten.

Dies also war der Zweck der religiösen Gebräuche; sie sollten bewirken, daß die Menschen nichts aus eigenem Willen, sondern alles auf Befehl eines andern thäten, und in That und Gedanken unaufhörlich sich ihrer völligen Unselbständigkeit und Abhängigkeit von einander bewußt wären.

Aus alledem erhellt sonnenklar, daß die religiösen Gebräuche zur Glückseligkeit nichts beitragen und daß die, welche im Alten Testament enthalten sind, ja das ganze mosaische Gesetz, nur auf den Hebräerstaat und folglich bloß auf leibliche Vorteile berechnet waren.

Was nun die religiösen Gebräuche der Christen betrifft, nämlich die Taufe, das Abendmahl, die Feste, die äußerlichen Gebote und was sonst noch in der ganzen Christenheit eingeführt ist und immer eingeführt war, so sind sie, falls sie überhaupt von Christus oder den Aposteln eingesetzt worden sind, (was mir bis jetzt noch nicht feststeht,) nur als äußerliche Zeichen der allgemeinen Kirche eingesetzt worden, nicht aber als Dinge, welche zur Seligkeit etwas beitragen, oder etwas Heiliges in sich enthalten. Sind daher diese religiösen Gebräuche zwar nicht um der Regierung willen eingesetzt worden, so haben sie doch nur die Bedeutung eines äußerlichen Bandes für die christliche Religionsgesellschaft, und daher sind Personen, welche nicht unter Christen leben, nicht an sie gebunden; ja wer in einem Staate lebt, in welchem die christliche Religion verboten ist, ist verpflichtet, sich dieser religiösen Gebräuche zu enthalten und kann dessenungeachtet selig leben. Ein Beispiel liefert das japanische Reich; dort ist die christliche Religion verboten und die dort wohnenden Niederländer müssen sich auf Anordnung der ostindischen Gesellschaft aller äußerlichen gottesdienstlichen Handlungen enthalten.

Ich brauche dies wohl nicht auch noch mit andern Autoritäten zu stützen, und obgleich es mir leicht wäre, es aus den Grundlehren des Neuen Testaments abzuleiten und überdies mit deutlichen Aussprüchen zu beweisen, so unterlasse ich es dennoch, da es mich zu anderem drängt. Ich wende mich also zu einem Gegenstand, den ich als zweiten Punkt in diesem Kapitel zu behandeln mir vorgenommen, nämlich für wen und wiefern der Glaube an die biblischen Geschichten notwendig ist. Auf folgende Weise hoffe ich, solches mit der natürlichen Einsicht zu ermitteln.

Wenn jemand will, daß andere Leute etwas, das seine Wahrheit nicht in sich selbst trägt, glauben oder nicht glauben, so muß er, um sie dazu zu bewegen, seine Behauptung aus Zugestandenem ableiten und sie entweder durch die Erfahrung oder durch die Vernunft überzeugen, d. h. entweder durch sinnlich wahrnehmbare Thatsachen oder durch unbestreitbare, ihre Wahrheit in sich selbst tragende Sätze (Axiome). Ist nun die Erfahrung nicht derart, daß sie einen klaren und unzweideutigen Einblick gewährt, so kann sie zwar den Menschen zu einer bestimmten Annahme bewegen, aber sie wird doch den Geist nicht so kräftig überzeugen und dessen Nebel zerstreuen, wie eine aus unbestreitbaren Sätzen oder aus der bloßen Denkkraft und ihren Gesetzen abgeleitete Lehre, namentlich wenn es sich um geistige Dinge handelt, die nicht in die Sinne fallen. Eine solche Ableitung aus reinen Gedankenwahrheiten erfordert aber in der Regel eine mannigfache Verkettung von Begriffen, dazu noch die größte Vorsicht, Scharfsinn im Nachdenken und große Anstrengung, lauter Eigenschaften, welche nur selten beisammen angetroffen werden. Deshalb wollen die Menschen lieber durch die Erfahrung belehrt sein, als alle ihre Ansichten aus wenigen Axiomen ableiten und miteinander richtig verknüpfen.

Will darum jemand einem ganzen Volke, oder gar dem ganzen Menschengeschlecht eine Lehre beibringen, die jeder verstehen soll, so muß er seinen Gegenstand einzig und allein mit der Erfahrung belegen und seine Gründe und Definitionen der Fassungskraft des gewöhnlichen Volkes, welchem die meisten Menschen angehören, ganz bedeutend anpassen, er darf sie aber nicht philosophisch verknüpfen, noch darf er Definitionen geben, welche die bessere Verknüpfung der Gründe bezwecken; andernfalls wird er nur für Gelehrte schreiben, mit andern Worten: er wird nur von sehr wenigen Menschen verstanden werden können. Da nun die ganze Bibel für ein ganzes Volk in erster Linie, in zweiter für das ganze Menschengeschlecht geoffenbart worden ist, so muß notwendig ihr Inhalt der Fassungskraft der großen Volksmasse außerordentlich angepaßt und bloß durch die Erfahrung bestätigt werden. Ich will die Sache deutlicher auseinandersetzen.

Die rein spekulativen Lehren, welche die Bibel enthält, sind folgende: Es giebt einen Gott oder ein Wesen, welches alles geschaffen hat, alles mit größter Weisheit leitet und erhält und für die Menschen sorgt, nämlich für solche, die fromm und angemessen leben; denn die übrigen sucht er mit vielen Strafen heim und sondert sie von den Guten ab. – Diese Lehren belegt die Bibel lediglich mit der Erfahrung, nämlich mit den Geschichten, die sie erzählt und worüber sie keinerlei Definitionen giebt, vielmehr paßt sie alle Worte und Gründe der Fassungskraft des gewöhnlichen Volkes an. Denn obgleich die Erfahrung keinen klaren Begriff von diesen Dingen geben, noch lehren kann, was Gott ist und in welcher Weise er alles erhält und leitet und für die Menschen sorgt, so kann sie doch die Menschen insoweit darüber belehren und erleuchten, als erforderlich ist, um ihren Herzen Gehorsam und Demut einzuprägen.

Daraus ergiebt sich nun, wie ich denke, sehr deutlich, für wen und inwiefern der Glaube an die biblischen Geschichten nötig ist. Aus den vorstehenden Erläuterungen folgt nämlich aufs klarste, daß die Kenntnis dieser Geschichten und der Glaube daran für das gewöhnliche Volk, dessen Geist nicht fähig ist, die Dinge klar und bestimmt zu fassen, höchst notwendig ist. Es folgt weiter: Wer diese Geschichten leugnet, weil er an keinen Gott und keine Vorsehung glaubt, ist gottlos. Wer aber diese Geschichten nicht weiß und gleichwohl durch die natürliche Einsicht das Dasein Gottes und die andern erwähnten Lehren kennt und den rechten Lebenswandel führt, der ist ganz und gar selig, ja seliger als das gewöhnliche Volk, weil er neben dem wahren Glauben auch noch einen klaren und bestimmten Begriff davon hat. Es folgt endlich: Wer diese biblischen Geschichten nicht weiß und auch durch die natürliche Einsicht nichts kennt, ist, wenn auch nicht gerade gottlos oder verstockt, so doch kein rechter Mensch, ja er streift an das Tier und besitzt keine Gabe Gottes.

Es ist hier aber noch folgendes zu bemerken: Wenn ich sage, die Kenntnis der biblischen Geschichten sei dem gewöhnlichen Volk höchst notwendig, so meine ich damit nicht sämtliche in der Bibel enthaltenen Geschichten, sondern bloß die wichtigsten, welche allein und ohne die andern die gedachten Lehren recht deutlich beweisen und auf die Herzen der Menschen einen sehr starken Eindruck machen. Wären alle biblischen Geschichten zur Bekräftigung jener Lehren nötig, so daß erst aus der Gesamtbetrachtung sämtlicher in der Bibel enthaltenen Erzählungen ein Schluß gezogen werden könnte, so wäre es gewiß eine Aufgabe, die das allgemeine menschliche Begriffsvermögen, nicht bloß das gewöhnlicher Menschen übersteigt, in diesen Geschichten den Beweis für jene Lehren zu finden und die rechten Schlußfolgerungen zu ziehen. Denn wer vermöchte so viele Geschichten mit einemmal zu überblicken und noch dazu die vielen Nebenumstände und die Untergedanken, die er aus so vielen verschiedenen Geschichten zu folgern hätte. Ich für meine Person kann mir nicht einreden, daß jene Personen, die uns die Bibel in der Gestalt, in welcher wir sie besitzen, hinterlassen haben, einen solchen Riesengeist besessen haben, daß sie imstande gewesen wären, ein derartiges Beweismaterial zu bewältigen. Noch viel weniger kann ich glauben, daß man jene biblischen Lehren nicht soll verstehen können, wenn man von den Zwistigkeiten Isaaks, dem Rat Ahitophels an Absalom, dem Bürgerkrieg zwischen den Reichen Juda und Israel und andern Berichten dieser Art nichts weiß; oder daß den ersten Juden, die zu Mose Zeiten lebten, die biblische Lehre nicht ebenso leicht aus Geschichten hätte bewiesen werden können, als den Juden, welche zu Esras Zeit lebten. Doch hierüber später ausführlicher.

Das gewöhnliche Volk braucht also nur diejenigen Geschichten zu wissen, welche besonders geeignet sind, seinen Sinn zum Gehorsam und zur Demut zu bewegen. Das Volk selbst aber ist nicht befähigt, sich ein Urteil darüber zu bilden, da es sich weit mehr für die Erzählung selbst und den eigentümlichen und unerwarteten Ausgang der Begebenheiten interessiert, als für das, was die Erzählung lehrt. Daher ist es nicht genug, wenn das Volk diese Geschichten liest, sondern es braucht auch Geistliche oder Diener der Kirche, die seiner geistigen Schwäche zu Hilfe kommen.

Um jedoch von meinem Gegenstand nicht abzuschweifen, gelange ich zu dem Schluß, um den es mir hier besonders zu thun ist, nämlich daß der Glaube an Geschichten, welcher Art sie auch immer sein mögen, zu dem göttlichen Gesetze nicht gehört, und daß er weder die Menschen durch sich allein selig macht, noch einen andern Wert hat, als die in ihm enthaltene Lehre zu unterstützen, in welcher Hinsicht allein eine Geschichte vor der andern den Vorzug verdienen mag. Der Vorzug, den die im Alten und Neuen Testament enthaltenen Erzählungen vor andern weltlichen Erzählungen, und unter jenen selbst die einen vor den andern haben, beruht lediglich in den heilsamen Lehren, die aus ihnen folgen. Wer daher die biblischen Geschichten liest und an alles glaubt, aber nicht auf die Lehren achtet, welche die Bibel durch sie erteilen will, und seinen Lebenswandel nicht dadurch bessert, so ist es geradeso als ob er den Koran oder die von Dichtern verfaßten Schauspiele oder nur gewöhnliche Berichte mit der Aufmerksamkeit gewöhnlicher Menschen liest. Umgekehrt wer von jenen Geschichten gar nichts weiß und dennoch die heilsamen Lehren kennt und die rechte Lebensweise führt, ist, wie schon bemerkt, unbedingt selig und hat in Wahrheit Christi Geist in sich.

Die Juden haben freilich eine ganz andere Meinung. Sie behaupten, der wahre Glaube und die wahre Lebensweise helfen zur Seligkeit nichts, so lange sie die Menschen nur aus der natürlichen Vernunft schöpfen, nicht aber als Lehren, die dem Moses prophetisch geoffenbart wurden, anerkennen. Dies wagt Maimonides offen zu versichern, indem er im Abschnitt über die Könige Kapitel 8, Gesetz 11 schreibt: »Jeder, der die sieben Gebote Die Juden glauben, Gott habe dem Noah sieben Gebote gegeben und alle Völker seien verpflichtet, dieselben zu beobachten. Nur den Hebräern habe Gott außer diesen noch viele andere gegeben, um sie seliger als andere Völker zu machen. (Anmerkung des Verfassers.) annimmt und sie gewissenhaft beobachtet, gehört zu den Frommen der heidnischen Völker und ist ein Erbe der zukünftigen Welt; nämlich wenn er sie deswegen annimmt und befolgt, weil sie Gott im Gesetze vorgeschrieben und uns durch Moses geoffenbart hat, daß sie einst den Söhnen Noahs vorgeschrieben wurden. Wer sie aber nur befolgt, weil ihn seine Vernunft dazu bewogen hat, ist kein Eingesessener Die Rabbinen unterscheiden zwischen einem »gerechten Fremdling« ( ger zedek) und einem »eingesessenen Fremdling« ( ger toschab). Ein »gerechter Fremdling« ist ein Heide, der die jüdische Religion vollständig annimmt, also ein Proselyt; ein »eingesessener Fremdling« ein Heide, der unter Juden wohnt, aber nur die sieben noachidischen Gebote hält. und gehört nicht zu den Frommen und Weisen der heidnischen Völker.« Das sind die eigenen Worte des Maimonides, denen Rabbi Josef, Sohn des Schem Tob, in seinem » Kebod Elohim« oder »Herrlichkeit Gottes« betitelten Buche beifügt: Obwohl Aristoteles (der nach des Verfassers Meinung die beste Ethik geschrieben hat und den er über alle Philosophen stellt) nichts übergangen hat, was die wahre Ethik betrifft und was auch in seiner eigenen Ethik enthalten ist, so konnte ihm das doch zur Seligkeit nichts nützen, weil er seine Lehren nicht als prophetisch geoffenbarte göttliche Lehren erkennt, sondern als bloße Vorschriften der Vernunft. – Daß aber das alles die reinste Einbildung ist und weder in der Vernunft noch in der biblischen Autorität irgend einen Anhalt hat, sieht wohl jeder verständige Leser von selbst ein; weshalb es zu dessen Widerlegung genügt, es angeführt zu haben. Ebensowenig liegt es in meiner Absicht, die Ansicht derer zu widerlegen, welche behaupten, die natürliche Vernunft könne nichts Gesundes über dasjenige lehren, was die wahre Seligkeit betrifft. Wie wollen sie denn das mit der Vernunft beweisen, da sie sich selbst keine gesunde Vernunft zutrauen? Wenn sie aber etwas über die Vernunft zu besitzen sich rühmen, so ist das nichts als Einbildung und weit unter der Vernunft, wie schon ihr gewöhnlicher Lebenswandel genugsam bekundet. Doch darüber sind alle weiteren Worte überflüssig.

Nur das möchte ich noch hinzufügen, daß jeder aus seinen Werken erkannt werden kann. Wer also reichliche Früchte trägt, ich meine unter diesen Früchten Liebe, Freudigkeit, Friedfertigkeit, Langmut, Güte, Wohlthätigkeit, Treue, Sanftmut, Mäßigkeit, für den ist (wie Paulus im Brief an die Galater Kap. 5, V. 22 sagt) das Gesetz nicht gegeben, er ist, mag er durch die Vernunft oder durch die Bibel belehrt sein, in Wahrheit von Gott belehrt und ganz und gar selig.

Damit ist alles erledigt, was ich über das göttliche Gesetz zu sagen mir vorgenommen habe.

Sechstes Kapitel.

Über die Wunder.


Wie man dasjenige Wissen, welches die menschliche Denkkraft übersteigt, ein göttliches nennt, so pflegt man auch einen Vorgang, dessen Ursache gemeiniglich unbekannt ist, göttlich oder ein Werk Gottes zu nennen. Denn der gewöhnliche Mensch glaubt, Gottes Macht und Vorsehung zeige sich am deutlichsten, wenn in der Natur etwas geschieht, was ungewöhnlich ist und der Meinung, die er sich aus den alltäglichen Vorgängen über die Natur gebildet hat, nicht entspricht; besonders dann, wenn dieser Vorgang gewinnbringend oder vorteilhaft für ihn ist. Das Volk glaubt deshalb, das Dasein Gottes könne nicht deutlicher bewiesen werden, als wenn die Natur – wie es sich einbildet – ihre Ordnung nicht einhält, und es meint daher, derjenige glaube nicht an Gott oder wenigstens an die göttliche Vorsehung, der die Dinge und die Wunder durch natürliche Ursachen erklärt oder zu begreifen sucht. Mau meint nämlich, Gott wirke nicht, solange die Natur nach gewohnter Ordnung wirkt, und umgekehrt sei die Macht der Natur und die natürlichen Ursachen solange unthätig, solange Gott wirkt. Sie stellen sich also zwei von einander getrennte Mächte vor, die Macht Gottes und die Macht der natürlichen Dinge, welche letztere von Gott nur auf gewisse Weise beeinflußt oder (wie heutzutage die meisten annehmen) geschaffen sei. Sie wissen aber selber gar nicht, was sie unter beiden und was sie unter Gott und unter Natur verstehen; sondern stellen sich die Macht Gottes als eine Art Herrschaft irgend einer königlichen Majestät, die der Natur als eine Kraft oder einen Anstoß vor. Daher nennt das Volk die außergewöhnlichen Werke der Natur Wunder, oder Werke Gottes, und will, teils aus Frömmigkeit, teils aus Lust am Widerspruch denen gegenüber, welche die Naturwissenschaften pflegen, nichts von den natürlichen Ursachen der Dinge wissen, sondern verlangt nur solche Dinge zu hören, welche es am wenigsten versteht und daher am meisten bewundert. Weil nämlich die Menge nur dann sich getrieben fühlt, Gott anzubeten und alles auf seine Herrschaft und seinen Willen zu beziehen, wenn sie die natürlichen Ursachen hinwegdenkt und die Dinge außerhalb der Naturordnung vorstellt, darum bewundert sie die Macht Gottes nicht mehr, als wenn sie sich die Macht der Natur gleichsam von Gott bezwungen denkt.

Es scheint sich das von den ersten Juden herzuschreiben, welche ihre Wunder erzählten in der Absicht, die Heiden ihrer Zeit, welche sichtbare Götter, Sonne, Mond, Erde, Wasser, Luft u. s. f. anbeteten, zu widerlegen und ihnen zu beweisen, daß diese Götter schwach und unbeständig oder veränderlich wären und unter der Herrschaft eines unsichtbaren Gottes ständen, wobei sie ihnen zugleich zu zeigen suchten, daß die ganze Natur von der Macht des Gottes, den sie anbeteten, zu ihrem Vorteil gelenkt werde. Dies gefiel den Leuten so gut, daß sie bis auf diese Zeit nicht aufhörten, Wunder zu erdichten, damit man von ihnen glauben sollte, sie seien Gott lieber als alle andern Menschen und nur um ihretwillen habe Gott alles geschaffen und leite alles fortwährend. Was maßt sich die Thorheit der Menge nicht alles an, dadurch daß sie weder von Gott noch von der Natur den kleinsten gesunden Begriff hat, göttliches Wollen mit menschlichem verwechselt und sich die Natur so beschränkt vorstellt, daß sie den Menschen für ihren Mittelpunkt hält.

Die Meinungen und Vorurteile der Menge über Natur und Wunder hätte ich damit ausführlich genug erörtert. Um aber den Gegenstand des Weiteren ordnungsgemäß zu beleuchten, will ich nun zeigen:

  1. daß nichts wider die Natur geschieht, sondern daß dieselbe für alle Zeiten eine feste, unabänderliche Ordnung einhält; zugleich, was unter Wunder zu verstehen ist;

  2. daß wir aus den Wundern weder das Wesen noch das Dasein und demzufolge auch nicht die Vorsehung Gottes erkennen können, alles das vielmehr weit besser aus der festen und unabänderlichen Ordnung der Natur erkannt wird;

  3. will ich an einigen Beispielen aus der Bibel zeigen, daß die Bibel selbst unter Gottes Befehl, Gottes Willen und demgemäß auch unter Vorsehung nichts anderes versteht, als eben die Naturordnung selbst, die aus ihren ewigen Gesetzen notwendig folgt;

  4. endlich will ich die Auslegung der biblischen Wunder und anderes, was über die Wundererzählungen zu bemerken ist, behandeln.

Das ist es vorzugsweise, was zum Gegenstand dieses Kapitels gehört und meines Erachtens außerdem für den Zweck dieses ganzen Buches von großem Belang ist.

Der erste Satz ergiebt sich leicht aus dem, was im 4. Kapitel über das göttliche Gesetz ausgeführt wurde, wonach alles, was Gott will oder bestimmt, ewige Notwendigkeit und Wahrheit in sich schließt. Wir haben dort gesehen, daß das Denken Gottes und das Wollen Gottes eins und dasselbe sind und daß wir daher eins und dasselbe behaupten, ob wir sagen, Gott will etwas, oder Gott erkennt etwas; mit derselben Notwendigkeit, mit der aus der göttlichen Natur und Vollkommenheit folgt, daß Gott eine Sache, so wie sie ist, erkennt, folgt deshalb auch, daß Gott diese Sache, so wie sie ist, will. Da aber alles nur nach göttlichem Beschluß notwendig wahr ist, so folgt aufs klarste, daß die allgemeinen Naturgesetze reine göttliche Beschlüsse sind, die aus der Notwendigkeit und Vollkommenheit der göttlichen Natur folgen. Wenn also in der Natur etwas geschehen würde, das mit ihren allgemeinen Gesetzen in Widerspruch steht, so würde das mit dem Beschluß, dem Denken und der Natur Gottes ebenfalls im Widerspruch stehen; oder wenn jemand behaupten will, Gott thue etwas gegen die Naturgesetze, so muß er notgedrungen auch behaupten, Gott thue etwas gegen seine eigene Natur, was höchst widersinnig ist. Es könnte dies auch leicht daraus bewiesen werden, daß die Macht der Natur die göttliche Macht und Kraft selbst ist und die göttliche Macht das eigentliche Wesen Gottes ist; doch will ich hier nicht näher daraus entgehen.

Es geschieht also in der Natur Ich verstehe hier unter Natur nicht bloß den sinnlichen Stoff und seine Bewegungsformen, sondern außer dem sinnlichen Stoff noch vieles andere. (Anmerkung des Verfassers.) nichts, was mit ihren allgemeinen Gesetzen in Widerspruch steht, aber auch nichts, was mit denselben nicht übereinstimmte oder aus denselben nicht folgte. Denn alles, was geschieht, geschieht durch den Willen und ewigen Ratschluß Gottes, d. h. wie gesagt, alles was geschieht, geschieht nach Gesetzen und Regeln, welche ewige Notwendigkeit und Wahrheit in sich schließen. Die Natur beobachtet diese Gesetze und Regeln, welche ewige Notwendigkeit und Wahrheit in sich schließen, ob sie uns gleich nicht alle bekannt sind, dennoch immer, und hält daher eine feste und unveränderliche Ordnung ein. Nie wird ein gesunder Verstand auf den Gedanken kommen, der Natur eine beschränkte Macht und Kraft beizulegen und von ihren Gesetzen zu behaupten, sie seien nur für einzelnes, nicht aber für alles passend. Denn wenn die Kraft und Macht der Natur die Kraft und Macht Gottes selbst ist, die Gesetze und Regeln der Natur aber die göttlichen Beschlüsse selbst, so müssen wir durchaus annehmen, daß die Macht der Natur unbegrenzt ist und ihre Gesetze so umfassend sind, daß sie sich auf alles, was auch vom göttlichen Denken selbst erkannt wird, erstrecken. Denn was anderes müßte man sonst annehmen, als daß Gott die Natur so ohnmächtig geschaffen und ihr so dürftige Gesetze und Regeln gegeben hat, daß er ihr häufig von neuem zu Hilfe kommen muß, wenn er sie erhalten und die Dinge nach seinem Wunsch geschehen lassen will; eine gewiß höchst unvernünftige Annahme.

Daraus aber, daß in der Natur nichts geschieht, was nicht aus ihren Gesetzen folgt, daß ihre Gesetze auf alles, was auch vom göttlichen Denken selbst erkannt wird, sich erstrecken, und daß die Natur eine feste, unwandelbare Ordnung einhält, folgt aufs klarste, daß das Wort Wunder nur in Bezug auf die menschliche Einsicht einen Sinn hat und nichts anderes bezeichnet als ein Werk, dessen natürliche Ursache wir nicht durch das Beispiel eines andern bekannten Dinges erklären können, oder daß wenigstens der es nicht kann, der es als Wunder beschreibt oder erzählt. Ich könnte zwar sagen, ein Wunder ist etwas, dessen Ursache nicht aus den durch die natürliche Einsicht erforschten Naturgesetzen erklärt werden kann. Da aber die Wunder dem Begriffsvermögen des gewöhnlichen Volkes wegen geschehen sind, welches von den Grundgesetzen der natürlichen Dinge gar keine Kenntnis hatte, so ist es gewiß, daß die Alten alles für ein Wunder gehalten haben, was sie nicht ebenso erklären konnten, wie die Menge die natürlichen Dinge zu erklären pflegt, nämlich dadurch, daß sie sich eines andern ähnlichen Falls erinnert, den sie sich ohne Verwunderung vorzustellen pflegt. Denn die Menge bildet sich ein, eine Sache vollständig zu verstehen, wenn sie sich über dieselbe nicht verwundert. Die Alten und beinahe alle Menschen bis auf die Gegenwart hatten kein anderes Kennzeichen für ein Wunder als dieses und darum wird ohne Zweifel in der Bibel so manches als ein Wunder erzählt, dessen Ursachen mit bekannten Naturgesetzen leicht erklärt werden können. Schon oben im 2. Kapitel habe ich das angedeutet, als vom Stillstand der Sonne zu Josuas Zeiten und von ihrem Zurückweichen zu Ahas' Zeiten die Rede war; doch soll hierüber bald ausführlicher abgehandelt werden, wenn die Erklärung der Wunder, die ich zugesagt habe, an die Reihe kommt.

Vorerst wollen wir zum zweiten Punkt übergehen und zeigen, daß wir weder Gottes Wesen, noch Dasein, noch Vorsehung aus den Wundern zu erkennen vermögen, sondern im Gegenteil weit besser aus der festen und unveränderlichen Ordnung der Natur. Dies zu beweisen, fahre ich folgendermaßen fort.

Da das Dasein Gottes nicht an und für sich gewiß ist, so muß dasselbe notwendig aus Begriffen gefolgert werden, deren Wahrheit so fest und unerschütterlich ist, daß es keine Macht geben kann und keine denkbar ist, welche sie ändern könnte. Uns wenigstens müssen sie von der Zeit an, wo wir das Dasein Gottes aus ihnen schließen, so erscheinen, wenn wir dasselbe aus ihnen derart schließen wollen, daß jede Ungewißheit des Zweifels wegfällt. Denn wenn wir denken könnten, daß diese Begriffe von irgend einer Macht, welche es auch immer sei, verändert werden könnten, so würden wir ihre Wahrheit bezweifeln und demzufolge auch die Wahrheit dessen, was wir aus ihnen gefolgert, nämlich das Dasein Gottes, und es gäbe überhaupt über keinen Gegenstand eine Gewißheit. Ferner wissen wir, daß was mit der Natur übereinstimmt oder im Widerspruch steht, auch mit ihren Gesetzen übereinstimmen oder in Widerspruch stehen muß. Wenn es also denkbar wäre, daß in der Natur durch irgend welche Macht etwas geschehen könnte, das mit der Natur im Widerspruch steht, so müßte das auch mit jenen Hauptbegriffen im Widerspruch stehen. Wir müßten es also entweder als widersinnig verwerfen, oder müßten wir an jenen Hauptbegriffen (wie bereits gezeigt) und demzufolge auch an Gott und an allem Wissen überhaupt zweifeln. Weit entfernt also, daß die Wunder, sofern wir darunter ein mit der Ordnung der Natur im Widerspruch stehendes Werk verstehen, uns das Dasein Gottes beweisen, sind sie im Gegenteil geeignet, uns daran zweifeln zu lassen; da wir ohne sie vollständig darüber gewiß sein können, sofern wir nämlich wissen, daß alles einer gewissen, unabänderlichen Ordnung der Natur folgt.

Gesetzt aber auch, ein Wunder sei etwas, was durch natürliche Ursachen nicht erklärt werden kann, so kann dies einen doppelten Sinn haben; entweder soll damit gesagt sein, es liegen zwar natürliche Ursachen zu Grunde, aber sie können von der menschlichen Erkenntnis nicht ergründet werden, oder aber daß keine andere Ursache als Gott oder der Wille Gottes dafür angenommen wird. Da nun aber alles, was durch natürliche Ursachen geschieht, ebenfalls nur durch Gottes Macht und Willen geschieht, so läuft dies schließlich doch wieder darauf hinaus, daß ein Wunder, mag es natürliche Ursachen haben oder nicht, ein Werk sei, das nicht ursächlich erklärt werden könne, oder mit andern Worten ein Werk, das die menschliche Fassungskraft übersteigt. Aus einem Werk aber, und vollends aus einem, das unsere Fassungskraft übersteigt, können wir keine Erkenntnis schöpfen. Denn was wir klar und deutlich erkennen, das muß entweder durch sich selbst oder durch ein anderes, das durch sich selbst klar und bestimmt erkannt wird, sich uns offenbaren. Also können wir aus einem Wunder oder einem unsere Fassungskraft übersteigenden Werk weder das Dasein Gottes, noch überhaupt irgend etwas von Gott oder der Natur erfahren, sondern umgekehrt, weil wir wissen, daß von Gott alles bestimmt und angeordnet ist und die Werke der Natur aus Gottes Wesen sich ergeben, die Gesetze der Natur aber Gottes ewige Beschlüsse und Willensäußerungen sind, so muß unbedingt gefolgert werden, daß wir Gott und seinen Willen um so besser erkennen, je besser wir die natürlichen Dinge erkennen und je klarer wir einsehen, wie sie von ihrer ersten Ursache abhängen und nach ewigen Naturgesetzen wirken.

Somit können hinsichtlich unserer Erkenntnis mit weit größerem Rechte die Werke, welche wir klar und deutlich verstehen, Gottes Werke heißen und auf den göttlichen Willen bezogen werden, als diejenigen, welche wir gar nicht verstehen, wenn auch diese auf die Einbildungskraft einen tiefen Eindruck machen und die Menschen zur Bewunderung hinreißen; weil nur diejenigen Werke der Natur, die wir klar und deutlich verstehen, erhabenere Gedanken über Gott eingeben und Gottes Willen und Beschlüsse sehr deutlich ankündigen. Diejenigen sind also thatsächlich unsinnig, welche zum Willen Gottes ihre Zuflucht nehmen, sobald sie etwas nicht begreifen; fürwahr! eine lächerliche Art, seine Unwissenheit einzugestehen.

Ich sage ferner: wenn wir indessen aus den Wundern auch etwas folgern könnten, so könnte doch auf keine Weise das Dasein Gottes aus ihnen gefolgert werden. Denn da das Wunder ein begrenztes Werk ist und nur eine gewisse begrenzte Macht ausdrückt, so ist es gewiß, daß wir aus einer solchen Wirkung nicht auf das Dasein einer Ursache schließen können, deren Macht unbegrenzt ist, sondern höchstens auf eine Ursache, deren Macht größer ist. Ich sage höchstens; denn es kann auch aus vielen zusammenwirkenden Ursachen irgend ein Werk entstehen, dessen Kraft und Macht zwar kleiner ist als die Macht aller seiner Ursachen zusammen, aber viel größer als die Macht jeder einzelnen Ursache. Weil aber die Gesetze der Natur (wie schon gezeigt) sich ins Unendliche ausdehnen und unter einem gewissen Gesichtspunkt der Ewigkeit von uns begriffen werden, und die Natur ihnen gemäß nach bestimmter und unwandelbarer Ordnung fortwirkt, so bekunden sie uns insofern auf gewisse Weise die Unendlichkeit, Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes.

Wir ziehen also den Schluß, daß wir durch Wunder Gott, sein Dasein und seine Vorsehung nicht zu erkennen vermögen, sondern daß wir das viel besser aus der festen und unwandelbaren Naturordnung folgern können. Bei dieser Schlußfolgerung gebrauche ich das Wort Wunder von einem Werk, welches die menschliche Fassungskraft übersteigt oder wenigstens zu übersteigen scheint. Wenn es dagegen ein Werk bezeichnen soll, das die Ordnung der Natur stört oder durchbricht, oder mit ihren Gesetzen im Widerspruch steht, so könnte es (wie bereits gezeigt) nicht nur keine Gotteserkenntnis gewähren, sondern es würde sogar die Gotteserkenntnis, zu welcher wir auf natürlichem Wege gelangt sind, benehmen und uns über Gott und alles zweifeln lassen.

Ich lasse hier auch keinen Unterschied gelten zwischen einem widernatürlichen und einem übernatürlichen Werke (das ist, wie manche sich ausdrücken, ein Werk, welches mit der Natur zwar nicht im Widerspruch steht, aber von ihr auch nicht hervorgebracht oder bewirkt werden kann). Denn da ein Wunder nicht außer der Natur, sondern in der Natur selbst geschieht – wenn es auch als übernatürlich bezeichnet wird – so muß es doch notwendig die Ordnung der Natur durchbrechen, von der wir wissen, daß sie sonst überall nach Gottes Ratschluß eine feste und unveränderliche ist. Geschähe also in der Natur etwas, was aus ihren Gesetzen sich nicht ergiebt, so müßte das notwendig mit der Ordnung, welche Gott für alle Zeiten durch allgemeine Naturgesetze der Natur auferlegt hat, im Widerspruch stehen, und es würde daher auch wider die Natur und ihre Gesetze sein und der Glaube daran würde uns an allem zweifeln machen und zum Atheismus führen. – Damit glaube ich den zweiten Satz mit hinlänglich starken Gründen bewiesen zu haben und wir können aus ihnen wiederholt den Schluß ziehen, daß sowohl ein widernatürliches als auch ein übernatürliches Wunder der reinste Unsinn ist; weshalb unter Wunder in der heiligen Schrift wie gesagt nichts anderes verstanden werden kann, als ein Werk der Natur, das die menschliche Fassungskraft übersteigt oder zu übersteigen scheint.

Bevor ich zum dritten Punkt übergehe, will ich diese meine Ansicht, nämlich daß wir Gott nicht aus den Wundern erkennen können, durch die Autorität der Bibel unterstützen. Sie lehrt es zwar nirgends ausdrücklich, doch kann es leicht aus ihr gefolgert werden, namentlich daraus, daß Moses (5. Buch Mose Kap. 13) lehrt, man solle einen falschen Propheten, auch wenn er Wunder thut, dennoch zum Tode verurteilen. Er sagt nämlich: »Und (wenn auch) das Zeichen und Wunder, das er dir geweissagt etc., so sollst du (dennoch) den Worten dieses Propheten nicht glauben etc., weil der Herr euer Gott euch versucht etc. Jener Prophet (also) soll mit dem Tode bestraft werden.« Daraus folgt deutlich, daß Wunder auch von falschen Propheten verrichtet werden können, und daß Menschen, die nicht in der wahren Erkenntnis und Liebe Gottes recht fest sind, aus Wundern ebenso leicht falsche Götter wie den wahren Gott annehmen können. Denn er fügt hinzu: »Dieweil Jehovah euer Gott euch versucht, um zu wissen, ob ihr ihn liebet mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele.« – Ferner haben die Israeliten aus so vielen Wundern sich doch keinen gesunden Begriff von Gott bilden können, wie die Erfahrung selbst gezeigt hat. Denn als sie sich einbildeten, Moses sei von ihnen gegangen, haben sie von Aaron eine sichtbare Gottheit verlangt, und ein Kalb, o Schmach! war die Gottesidee, die sie sich aus so vielen Wundern gebildet hatten. – Assaph, der so viele Wunder gehört hatte, zweifelte an der Vorsehung Gottes und wäre beinahe vom rechten Weg abgewichen, wenn er nicht schließlich doch noch die wahre Seligkeit erkannt hätte (s. Psalm 73). – Auch Salomo, zu dessen Zeiten die Angelegenheiten der Juden in höchster Blüte standen, kommt auf die Vermutung, daß alles durch Zufall geschieht. S. Prediger Sal. Kap. 3, V. 19, 20 und 21 und Kap. 9, V. 2 und 3 etc. – Endlich auch waren fast alle Propheten sehr darüber im Dunkeln, wie die Ordnung der Natur und das Schicksal der Menschen mit den Begriffen, die sie sich von der Vorsehung Gottes gebildet hatten, zu vereinbaren wären. Die Philosophen dagegen, die nicht aus Wundern, sondern aus klaren Begriffen ihr Wissen zu schöpfen suchen, waren sich immer sehr klar hierüber; nämlich solche Philosophen, welche das wahre Glück in Tugend und Seelenruhe allein erblicken und einsehen, daß die Natur nicht ihnen, sondern umgekehrt sie der Natur gehorchen müssen; weil sie nämlich genau wissen, daß Gott die Natur so leitet, wie es ihre allgemeinen Gesetze, nicht aber wie es die besonderen Gesetze der menschlichen Natur verlangen, und Gott daher nicht bloß auf das Menschengeschlecht, sondern auf die ganze Natur Rücksicht nimmt.

Auch die Bibel selbst bestätigt es hienach, daß die Wunder einen wahren Begriff von Gott nicht geben und die Vorsehung Gottes nicht deutlich lehren. – Wenn es nun aber in der Bibel öfters heißt, Gott habe Wunder gethan, um sich den Menschen kund zu thun, wie z. B. im 2. Buch Mose Kap. 10, V. 2, wonach Gott die Ägypter getäuscht und seine Zeichen gegeben habe, damit die Israeliten erkennen, daß er Gott sei, so folgt daraus noch nicht, daß die Wunder das wirklich lehren, sondern nur, daß die Juden solche Meinungen gehabt haben, daß sie durch jene Wunder leicht überzeugt werden konnten. Schon oben im 2. Kapitel habe ich klar gezeigt, daß die Gründe, welche die Propheten gebrauchen oder welche aus der Offenbarung gebildet werden, nicht aus allgemeinen, für alle Menschen geltenden Begriffen hergeholt werden, sondern aus Begriffen, welche trotz ihrer Unvernünftigkeit zugestanden werden mußten und aus den Meinungen derer, welchen die Offenbarung zuteil wurde oder welche der heilige Geist überzeugen wollte; es wurde dort mit vielen Beispielen belegt, besonders auch mit dem des Paulus, der unter Griechen ein Grieche und unter Juden ein Jude war.

Wenn nun aber auch jene Wunder die Ägypter und Juden auf Grund der ihnen zugestandenen Meinungen überzeugten, so konnten sie doch keine wahre Idee und Erkenntnis von Gott geben, sondern sie nur zu dem Eingeständnis bringen, daß es ein göttliches Wesen gebe, das mächtiger sei als alle ihnen bekannten Wesen, und das für die Hebräer, denen damals alles über Erwarten glücklich verlief, mehr als für alle andern Menschen Sorge trage; nicht aber daß Gott für alle Menschen in gleicher Weise sorge, was nur die Philosophie lehren kann. Die Juden und alle, welche die Vorsehung Gottes nur aus dem schwankenden Stand der menschlichen Angelegenheiten und dem ungleichen Schicksal der Menschen erkannt haben, bildeten sich daher ein, die Juden wären Gott lieber gewesen als andere Menschen, ob sie gleich die übrigen Menschen an wahrer menschlicher Vollkommenheit keineswegs übertrafen, was schon im 3. Kapitel gezeigt worden.

Ich komme nun zum dritten Satz und will aus der Bibel nachweisen, daß die Beschlüsse und Gebote Gottes, und demzufolge auch die Vorsehung, in Wirklichkeit nichts anderes sind als die Ordnung der Natur. Ich will nämlich zeigen, daß die Bibel, wenn sie sagt, das oder jenes sei von Gott oder vom Willen Gottes geschehen, in Wirklichkeit das nicht anders meint, als daß es den Gesetzen und der Ordnung der Natur gemäß geschehen sei, nicht aber, wie die Menge glaubt, daß die Natur so lange aufgehört habe zu wirken, oder daß ihre Ordnung eine zeitlang durchbrochen worden sei. Indessen lehrt die Bibel solches, was nicht ihre Lehre betrifft, nicht eben geradezu, da es nicht ihre Sache ist, die Dinge nach ihren natürlichen Ursachen zu erklären oder rein spekulative Lehren zu erteilen (wie ich in der Abhandlung über das göttliche Gesetz gezeigt habe). Daher muß ich das, was hier bewiesen werden soll, aus einigen biblischen Geschichten, welche zufällig weitläufiger und mit vielen Nebenumständen erzählt werden, durch Folgerung ableiten; es sollen deshalb einige solche Geschichten angeführt werden.

Im 1. Buche Samuelis Kap. 9, V. 15 und 16 wird erzählt, daß Gott dem Samuel offenbarte, daß er ihm den Saul schicken werde. Aber Gott schickte ihn keineswegs zu Samuel so, wie Menschen einen zum andern schicken, sondern diese Sendung Gottes ist nichts anders gewesen als die Ordnung der Natur selbst. Saul suchte nämlich die Eselinnen, welche er verloren hatte (wie im angeführten Kapitel angegeben wird) und als er schon zu überlegen anfing, ob er nicht ohne dieselben nach Hause zurückkehren solle, ließ er sich von seinem Diener raten, den Samuel zu hören, um von ihm zu erfahren, wo er sie finden könne. In der ganzen Erzählung steht nirgends, daß Saul einen andern Befehl Gottes, den Samuel zu hören, erhalten hätte, als diesen natürlichen. – In Psalm 105, V. 24 heißt es, Gott habe das Herz der Ägypter verändert, daß sie die Israeliten haßten. Auch diese Veränderung war eine sehr natürliche, wie aus 2. Buche Mose Kap. 1 erhellt, woselbst der nicht unerhebliche Grund angegeben wird, der sie bewog, die Israeliten zu Sklaven zu machen. – Im 1. Buch Mose Kap. 9, V. 13 sagt Gott zu Noah, er werde seinen Bogen in die Wolke legen; welche göttliche Handlung gleichfalls nichts anderes ist, als die Brechung und Zurückwerfung der Sonnenstrahlen in den Wassertropfen. – In Psalm 147, V. 18 wird das natürliche Wesen und die natürliche Wärme des Windes, durch welche der Reif und der Schnee schmelzen, Gottes Wort genannt; und im 15. Vers heißen Wind und Kälte der Spruch und das Wort Gottes. – Wind und Feuer heißen im Psalm 104, V. 4 Boten und Diener Gottes, und viel dergleichen findet sich noch in der Bibel, was aufs klarste beweist, daß unter Gottes Beschluß, Befehl, Spruch und Wort nichts anderes gemeint ist, als das Wirken und die Ordnung der Natur. Daher unterliegt es keinem Zweifel, daß alles, was in der Bibel erzählt wird, auf natürliche Weise geschehen ist und nur auf Gott zurückgeführt wird, weil, wie schon gezeigt, es nicht Sache der Bibel ist, die Dinge nach ihren natürlichen Ursachen zu erklären, sondern nur solche Dinge, welche auf die Einbildungskraft einen tiefen Eindruck machen, zu erzählen, und zwar in einer Methode und einem Stil, der am besten geeignet ist, Bewunderung zu erwecken und so den Herzen des Volkes Ergebung einzuflößen.

Wenn nun wiederum manches in der heiligen Schrift gefunden wird, wovon wir die Ursachen nicht angeben können, und das außerhalb, ja gegen die Naturordnung geschehen zu sein scheint, so muß uns dergleichen nicht aufstoßen; wir haben vielmehr bestimmt anzunehmen, daß das, was sich in Wirklichkeit zugetragen hat, auf natürlichem Wege geschehen ist. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß bei den Wundern viele Nebenumstände vorkamen, obgleich solche nicht überall berichtet werden, besonders wenn sie im dichterischen Stil dargestellt sind; diese Nebenumstände der Wunder, sage ich, zeigen deutlich, daß diese natürliche Ursachen erfordern. So z. B. mußte Moses Asche in die Luft streuen, damit die Ägypter mit der Krätze behaftet würden (s. 2. Buch Mose Kap. 9, V. 10). Die Heuschrecken kamen ebenfalls durch einen natürlichen Befehl Gottes, nämlich durch einen Tag und Nacht unausgesetzt wehenden Ostwind, in die Gegend von Ägypten, und verließen es wieder durch einen heftigen Westwind (s. 2. Buch Mose Kap. 10, V. 14 und 19). Durch einen gleichen göttlichen Befehl öffnete das Meer den Juden einen Weg (s. 2. Buch Mose Kap. 14, V. 21), nämlich durch den Südostwind, der die ganze Nacht heftig wehte. Als ferner Elisa den Knaben, der für tot gehalten wurde, auferweckte, mußte er sich einigemal auf den Knaben legen, bis der Knabe allmählich warm wurde und dann die Augen öffnete (s. 2. Buch der Könige Kap. 4, V. 34 und 35). So werden auch im Evangelium Johannis Kap. 9 einige Umstände berichtet, welche Christus angewendet hat, um den Blinden zu heilen, und noch vieles dieser Art findet sich in der Bibel, woraus zur Genüge hervorgeht, daß die Wunder einen ganz andern Befehl Gottes erfordern, als einen göttlichen Machtspruch, wie man zu sagen pflegt. Man muß also annehmen, daß, wenn auch die Nebenumstände der Wunder und ihre natürlichen Ursachen nicht immer und nicht vollständig erwähnt werden, die Wunder dennoch nicht ohne solche geschehen sind. Das geht auch aus 2. Buch Mose Kap. 14, V. 27 hervor, wo nur erzählt wird, daß das Meer auf einen bloßen Wink des Moses wieder anschwoll, von einem Winde aber nichts erwähnt wird. Im Liede dagegen (Kap. 15, V. 10) heißt es, dies sei dadurch geschehen, daß Gott mit seinem Winde (d. h. mit einem sehr starken Winde) geblasen hat. In der Erzählung ist dieser Umstand ausgelassen und das Wunder erscheint dadurch größer.

Es könnte nun aber vielleicht jemand den Einwand erheben, daß wir in der Bibel doch wiederum sehr vieles finden, was auf keine Weise durch natürliche Ursachen erklärlich scheint, wie daß menschliche Sünden und menschliche Gebete die Ursachen von Überschwemmungen oder von der Fruchtbarkeit der Erde sein können, oder daß der Glaube die Blinden heilen kann und anderes dieser Art, worüber die Bibel berichtet. Allein hierauf glaube ich schon geantwortet zu haben, indem ich gezeigt habe, daß die Bibel die Dinge nicht auf ihre nächsten Ursachen zurückführt, sondern sie nur in einer Ordnung und mit Redewendungen berichtet, welche besonders geeignet sind, die Menschen und namentlich das gewöhnliche Volk zur Ergebenheit zu führen. Deshalb redet die Bibel über Gott und andere Dinge höchst uneigentlich, weil sie nämlich nicht die Vernunft überzeugen, sondern auf die menschliche Phantasie oder Einbildungskraft einwirken und sie einnehmen will. Wenn die Bibel die Zerstörung eines Reiches so erzählen würde, wie politische Geschichtschreiber es thun, so würde das auf das Volk keinen Eindruck machen; einen großen dagegen, wenn sie alles dichterisch schildert und auf Gott zurückführt, wie sie es zu machen pflegt. Wenn also die Bibel berichtet, die Erde sei wegen der menschlichen Sünden unfruchtbar gewesen oder Blinde seien durch den Glauben geheilt worden, so darf uns das nicht mehr überraschen, als wenn sie berichtet, daß Gott über die menschlichen Sünden zürne, sich betrübe, verheißene und erwiesene Wohlthaten bereue, oder daß Gott durch den Anblick eines Zeichens sich einer Verheißung erinnere und vieles andere, das entweder dichterisch ausgedrückt, oder nach den Ansichten und Vorurteilen des Schreibers dargestellt ist.

Wir können also ausnahmslos behaupten, daß alle wirklichen Ereignisse, von denen die Bibel berichtet, wie alles nach den Gesetzen der Natur sich zugetragen haben müssen; sollte sich in der Bibel aber etwas finden, worüber man den unumstößlichen Beweis führen kann, daß es mit den Naturgesetzen im Widerspruch steht, oder nicht aus ihnen abgeleitet werden kann, so muß man entschieden annehmen, daß es von entweihenden Händen der heiligen Schrift hinzugefügt worden sei. Denn was gegen die Natur ist, ist auch gegen die Vernunft, und was gegen die Vernunft ist, ist unsinnig und somit zu verwerfen.

Es ist nun noch einiges Wenige über die Erklärung der Wunder zu bemerken oder vielmehr zu wiederholen, (denn die Hauptsache ist schon gesagt), und mit dem einen und andern Beispiel zu belegen, was ich als vierten Punkt zu behandeln versprochen habe. Ich will dies deshalb thun, damit niemand durch falsche Erklärung eines Wunders voreilig annehme, er habe in der Bibel etwas gefunden, was der natürlichen Vernunft widerspricht.

Es kommt sehr selten vor, daß Menschen eine Begebenheit so einfach, wie sie sich zugetragen hat, erzählen, ohne daß sie dem Bericht etwas von ihrer persönlichen Auffassung beimischen. Sogar werden sie häufig, wenn sie etwas neues sehen oder hören, von ihren vorgefaßten Meinungen, wenn sie nicht sehr auf der Hut sind, in einem solchen Grade voreingenommen, daß das, was sie sehen oder erzählen hören, in ihrem Kopf eine ganz andere Gestalt annimmt; namentlich dann, wenn das betreffende Ereignis die Begriffe des Erzählers oder Zuhörers übersteigt und am meisten, wenn er ein Interesse daran hat, daß sich die Sache auf irgend eine Weise zugetragen hat. Daher kommt es, daß in Chroniken und Geschichtswerken mehr die Ansichten der Verfasser als die eigentlichen Begebenheiten zu Tage treten und daß ein und derselbe Fall, wenn zwei Menschen von verschiedenen Ansichten denselben erzählen, oft so verschieden berichtet wird, daß sie von zweierlei Begebenheiten zu reden scheinen; es ist daher auch häufig nicht sehr schwer, aus den Geschichten allein die Ansichten der Chronisten und Geschichtschreiber zu ermitteln. Zur Bestätigung dessen könnte ich viele Beispiele anführen, sowohl von Philosophen, welche über Naturgeschichte geschrieben haben, als auch von Chronisten. Ich halte das aber für überflüssig und beschränke mich auf die Anführung eines einzigen Falls aus der biblischen Geschichte; über die andern mag sich der Leser sein eigenes Urteil bilden.

Zu Josuas Zeiten glaubten die Hebräer, (wie schon oben erwähnt,) wie heute noch das gewöhnliche Volk, die Sonne bewege sich in ihrem Tageslauf, wie der Ausdruck lautet, die Erde aber stehe still. Dieser angenommenen Meinung paßten sie das Wunder an, das sich bei ihrem Kampf gegen jene fünf Könige zutrug. Sie erzählten daher nicht schlicht: jener Tag war außergewöhnlich lang, sondern: Sonne und Mond standen still oder hielten in ihrem Lauf inne. Damit konnten sie auch in den damaligen Zeiten die Heiden, welche die Sonne anbeteten, überzeugen und ihnen durch die Erfahrung beweisen, daß die Sonne unter der Macht eines andern höheren Wesens stehe, auf dessen Wink sie ihre natürliche Ordnung zu ändern gezwungen sei. Also teils aus religiösem Interesse, teils ihren vorgefaßten Meinungen zufolge haben sie die Sache ganz anders, als wie sie sich in Wirklichkeit zutrug, aufgefaßt und erzählt.

Um also die biblischen Wunder zu erklären und aus den Berichten darüber den wahren Sachverhalt herauszufinden, muß man die Meinungen der Personen kennen, die sie zuerst erzählt haben und derer, die sie uns schriftlich hinterlassen haben, und diese ihre Meinungen müssen von den sinnlichen Wahrnehmungen, die sie gehabt haben konnten, unterschieden werden; andernfalls würden wir ihre Meinungen und Urteile mit dem Wunder selbst, wie es sich wirklich zugetragen hat, vermengen. Doch nicht bloß hierzu ist es gut, ihre Meinungen zu kennen, sondern es bewahrt uns auch davor, Vorgänge, die überhaupt bloß in der Einbildung wahrgenommen wurden und lediglich prophetische Gesichte waren, mit wirklichen Begebenheiten zu verwechseln. Denn allerlei wird als wirkliche Thatsache in der Bibel erzählt und daher auch allgemein dafür gehalten, was eigentlich bloße Vorstellung und Einbildung war; so z. B. daß Gott (das höchste Wesen) vom Himmel herabgestiegen sei (s. 2. Buch Mose Kap. 19, V. 28, und 5. Buch Mose Kap. 5, V. 28) und der Berg Sinai darum geraucht habe, weil Gott, in Feuer gehüllt, auf ihn herabkam; oder daß Elias in einem feurigen Wagen und mit feurigen Pferden zum Himmel gefahren sei. Das alles waren im Grunde nichts als Bilder der Einbildungskraft, wie sie den Meinungen derer entsprachen, die sie uns als das überliefert haben, wofür sie dieselben hielten, nämlich als wirkliche Begebenheiten. Denn wer nur ein wenig heller denkt als das gewöhnliche Volk, der weiß, daß Gott keine rechte und linke Hand hat, sich weder bewegt noch ausruht, und auch nicht an einem bestimmten Ort, sondern durchaus unendlich ist und daß er alle Vollkommenheiten in sich vereinigt. Dieses, sage ich, wissen alle, welche nach den Begriffen des reinen Verstandes sich ihr Urteil bilden und nicht nach den Eindrücken, welche die Einbildungskraft von den äußern Sinnen empfängt, wie gewöhnlich das Volk, das sich deshalb Gott als körperlich vorstellt, wie einen königlichen Machthaber, dessen Thron auf der Himmelswölbung gedacht wird, über den Sternen, deren Entfernung von der Erde man für gering hält. Solchen und ähnlichen Meinungen entsprechen (wie gesagt) sehr viele in der Bibel erzählte Vorfälle und daher brauchen die Philosophen sie nicht für wirkliche Begebenheiten zu halten.

Schließlich ist auch, um zu ermitteln, wie der wahre Hergang bei den Wundern war, die Kenntnis der Redensarten und bildlichen Ausdrücke in der hebräischen Sprache vonnöten. Wer darauf nicht sein Augenmerk hat, wird der Bibel viele Wunder andichten, an welche die biblischen Erzähler selbst nie gedacht haben, und er wird daher nicht bloß die Begebenheiten und Wunder anders auffassen, als wie sie sich zugetragen haben, sondern auch die Meinung der Verfasser der heiligen Schrift gänzlich mißverstehen. Sacharia z. B. sagt im 14. Kap., 7. V., wo er von einem künftigen Krieg redet: »Es wird sein ein einziger Tag, Gott allein bekannt, (denn er wird) nicht Tag und nicht Nacht sein, aber zur Abendzeit wird Licht sein«. Mit diesen Worten scheint er ein großes Wunder anzukündigen, während er damit weiter nichts sagen will, als daß den ganzen Tag über die Schlacht schwankend und der Ausgang Gott allein bekannt sein wird, daß sie aber gegen Abend den Sieg gewinnen werden. Denn mit solchen Redensarten pflegten die Propheten die Siege und Niederlagen der Völker zu weissagen und zu beschreiben. – Ähnliches findet sich bei Jesaja, der im 13. Kapitel die Zerstörung Babylons folgendermaßen schildert: »Denn die Sterne des Himmels und seine Gestirne werden nicht mit ihrem Lichte leuchten, die Sonne wird bei ihrem Aufgang sich verfinstern und der Mond den Glanz seines Lichtes nicht ausstrahlen«. Dies hält doch wohl sicherlich niemand für ein wirkliches Ereignis, das sich bei der Zerstörung jenes Reiches zutrug; so wenig als das, was der Prophet kurz darauf hinzufügt: »Darum will ich den Himmel erzittern lassen und die Erde soll von ihrer Stelle gerückt werden«. Ebenso sagt Jesaja im letzten Vers des 48. Kapitels, wo er den Juden verkünden will, daß sie aus Babylon nach Jerusalem wohlbehalten zurückkehren und unterwegs keinen Durst leiden werden: »Und sie haben keinen Durst gelitten, er führte sie durch die Wüste und ließ ihnen Wasser aus den Felsen fließen; er schlug den Stein und es flossen die Wasser hervor.« Mit diesen Worten, sage ich, will er nichts anderes sagen, als daß die Juden in der Wüste Quellen finden werden, was oft vorkommt, mit welchen sie ihren Durst stillen werden. Denn als sie mit Bewilligung des Cyrus nach Jerusalem zogen, sind ihnen bekanntlich dergleichen Wunder nicht geschehen.

Dergleichen begegnet uns in der heiligen Schrift vieles, was bloß bei den Juden gebräuchliche Redensarten waren. Es ist unnötig, alles im einzelnen anzuführen; nur im allgemeinen sei bemerkt, daß die Hebräer gewohnt waren, mit solchen Redensarten nicht bloß ihre Reden auszuschmücken, sondern auch hauptsächlich, sich auf gottergebene Weise auszudrücken. Aus diesem Grunde findet sich auch in der heiligen Schrift, daß »Gott segnen« gesagt wird statt » fluchen« (s. 1. Buch der Könige Kap. 21, V. 10 und Job Kap. 2, V. 9), und aus dem gleichen Grunde bezogen sie alles auf Gott. Daher scheint die Bibel lauter Wunder zu berichten, wo sie von allernatürlichsten Dingen spricht, wovon ich schon oben etliche Beispiele angeführt habe. Wenn also die Bibel sagt, Gott habe das Herz Pharaos verhärtet, so will sie offenbar nichts anderes damit sagen, als daß Pharao verstockt gewesen, und wenn sie sagt, Gott habe die Fenster des Himmels geöffnet, so will sie bloß ausdrücken, daß es stark geregnet hat, und dergleichen mehr.

Wenn man daher dies fest im Auge behält und noch dazu bedenkt, daß vieles sehr kurz, ohne alle Nebenumstände, und beinahe verstümmelt erzählt wird, so wird man in der Bibel fast gar nichts finden, wovon sich beweisen ließe, daß es der natürlichen Vernunft widerspricht; im Gegenteil wird dadurch vieles scheinbar Dunkle bei einigem Nachdenken aufgehellt und leicht erklärt werden können.

Damit glaube ich das, was ich beweisen wollte, deutlich genug bewiesen zu haben. Bevor ich jedoch dieses Kapitel beschließe, will ich mich noch über etwas hierher Gehöriges erklären, nämlich darüber, daß ich hier bei den Wundern nach einer ganz andern Methode verfahren bin als bei der Prophetie. Von dieser habe ich nichts behauptet, als was ich aus den in der heiligen Schrift geoffenbarten Grundlehren ableiten konnte; hier dagegen habe ich das Hauptsächlichste lediglich aus den Grundsätzen gefolgert, die aus der natürlichen Vernunft geschöpft sind. Es geschah dies indessen aus reiflicher Überlegung: Die Prophetie übersteigt das menschliche Begriffsvermögen und ist eine rein theologische Frage; ich konnte daher über ihr eigentliches Wesen nichts behaupten und überhaupt nichts von ihr wissen, als was aus den geoffenbarten Grundlehren hervorgeht. Dort also war ich genötigt, eine Geschichte der Prophetie zusammenzustellen und daraus einzelne Lehrsätze zu bilden, die mich über das Wesen der Prophetie und ihre Eigenschaften so gut als möglich belehrten. Hier dagegen, bei den Wundern, handelt es sich um eine rein philosophische Frage (nämlich ob man zugeben kann, daß in der Natur etwas geschieht, was mit ihren Gesetzen im Widerspruch steht oder nicht aus ihnen abgeleitet werden kann). Da war ein solches Verfahren nicht nötig, im Gegenteil hielt ich es für geratener, diese Untersuchung aus den Grundsätzen zu entwickeln, die aus der natürlichen Vernunft geschöpft sind. Ich sage, ich hielt es für geratener; denn allerdings hätte ich sie auch aus den Lehrsätzen und Grundlehren der Bibel allein lösen können; was ich nun kurz zeigen will, damit es jedermann einleuchtend sei.

Von der Natur im allgemeinen versichert die Bibel an einzelnen Stellen, daß sie eine feste und unveränderliche Ordnung beobachte; so in Psalm 148, V. 6 und Jeremia Kap. 21, V. 35 und 36. Außerdem lehrt der Philosoph in seinem Prediger Kap. 1, V. 10 aufs deutlichste, daß nichts neues in der Natur geschehe, und in den Versen 11 und 12 sagt er, dieses erläuternd: wenn auch manchmal etwas geschehe, was neu zu sein scheint, so sei dies in Wirklichkeit nichts neues, sondern in früheren Jahrhunderten, die in Vergessenheit geraten sind, schon dagewesen. Denn, wie er selbst sagt, das Geschlecht der Gegenwart hat keine Erinnerung für die Geschlechter der Vergangenheit, und die künftigen Geschlechter werden für das Geschlecht der Gegenwart kein Gedächtnis haben. Ferner sagt er Kap. 3, V. 11, Gott habe alles zu seiner Zeit recht geordnet, und V. 14 sagt er, er wisse wohl, daß was Gott mache, in Ewigkeit bleiben wird, und ihm nichts hinzugefügt und nichts genommen werden könne.

Das alles lehrt aufs deutlichste, daß die Natur eine feste, unveränderliche Ordnung bewahrt, daß Gott in allen Jahrhunderten, bekannten und unbekannten, derselbe gewesen, und daß die Naturgesetze so vollkommen und furchtbar sind, daß ihnen weder hinzugefügt noch weggenommen werden kann, die Wunder aber nur der menschlichen Unwissenheit etwas neues zu sein scheinen. Dies wird also in der Bibel ausdrücklich gelehrt, aber nirgends, daß in der Natur etwas geschehe, was mit ihren Gesetzen im Widerspruch stünde oder nicht aus ihnen abzuleiten wäre; daher darf man solches der Bibel auch nicht andichten. Hierzu kommt noch, daß Wunder Ursachen und Nebenumstände erfordern (wie schon gezeigt) und nicht aus ich weiß nicht welcher königlichen Macht, die das Volk Gott beilegt, folgen, sondern aus der göttlichen Macht und dem göttlichen Beschluß, das heißt, (wie ebenfalls aus der Bibel nachgewiesen wurde,) aus den Gesetzen der Natur und ihrer Ordnung; endlich, daß Wunder auch von Betrügern verrichtet werden können, wovon man sich durch 5. Buch Mose Kap. 13, und Matthäus Kap. 24, V. 24 überzeugen kann. Es erhellt ferner aus dem Vorstehenden aufs klarste, daß die Wunder natürliche Ereignisse waren und daher so zu erklären sind, daß sie weder als etwas neues (um mit Salomo zu reden) noch der Natur Widersprechendes erscheinen, sondern womöglich als gewöhnliche Naturereignisse, wie solche sehr häufig vorkommen, und damit sich jedermann die Wunder auf solche Weise erklären kann, habe ich einige der heiligen Schrift entlehnte Regeln angegeben.

Wenn ich nun aber auch sage, daß die Bibel dieses lehrt, so meine ich das nicht so, als ob diese Lehre zu den Lehren gehörte, die zur Glückseligkeit notwendig sind, sondern nur daß die Propheten die Wunder ebenso wie ich aufgefaßt haben. Es steht daher jedem frei, davon zu halten, was ihm zur Förderung der Gottesverehrung und der innigen Hingebung an die Religion als das bessere erscheint. So denkt auch Josephus, der am Schluß des 2. Buches seiner Altertümer schreibt: »Niemand aber stoße sich an das Wort Wunder, wenn ältere, harmlose Leute glauben, der Weg der Rettung sei durch das Meer gegangen, ob durch den göttlichen Willen oder von selbst. Auch den Gefährten des Alexander, Königs von Macedonien, hat sich einst das Pamphylische Meer zerteilt. Weil nämlich ein andrer Weg nicht vorhanden war, gewährte es ihnen den Durchgang nach dem Willen Gottes, damit die Macht der Perser gestürzt würde. Dies bestätigen alle, welche die Thaten Alexanders des Großen beschrieben haben. Es mag also jeder davon denken, was ihm gut dünkt.« Das sind die Worte des Josephus und dessen Ansicht über den Wunderglauben.

Siebentes Kapitel.

Über die Auslegung der Bibel.


Aus aller Leute Mund kann man hören, daß die heilige Schrift das Wort Gottes ist, welches den Menschen die wahre Glückseligkeit oder den Weg des Heils lehrt; indessen denken sie über die Sache selbst ganz anders. Denn die gewöhnlichen Menschen trachten, so scheint es wenigstens, nach nichts weniger, als nach einem der heiligen Schrift entsprechenden Leben, vielmehr sehen wir, daß fast alle ihre Hirngespinnste für Gottes Wort ausgeben und nur darauf bedacht sind, unter dem Deckmantel der Religion andere Leute zu zwingen, daß sie denken wie sie selbst. Wir sehen, sage ich, daß die Theologen größtenteils sich alle Mühe geben, ihre Erdichtungen und Wünsche aus der heiligen Schrift herauszupressen und hinter der göttlichen Autorität zu verschanzen. Bei nichts gehen sie mit so wenig Gewissenhaftigkeit und so viel Oberflächlichkeit zu Werke als bei der Erklärung der Bibel oder der Gedanken des heiligen Geistes, und die einzige Sorge, die sie dabei haben, ist nicht etwa die, daß sie dem heiligen Geist einen Irrtum andichten und von dem Weg des Heils abirren könnten, sondern nur, daß sie nicht von andern des Irrtums überführt werden, wodurch ihr Ansehen untergraben und die Achtung vor ihnen beeinträchtigt würde. Wenn die Menschen das, was sie mit Worten von der Bibel bezeugen, auch aufrichtig denken würden, so müßten sie einen ganz andern Lebenswandel führen, sie hätten nicht unter so viel Meinungszwiespalt zu leiden, könnten nicht so gehässig einander bekämpfen, nicht mit so blindem, unbesonnenem Eifer die heilige Schrift auslegen und Neues in der Religion aushecken; sie würden im Gegenteil nicht wagen, eine Lehre als biblisch anzuerkennen, die nicht in der Bibel selbst ganz deutlich enthalten ist. Endlich auch würden jene Ruchlosen, die sich nicht gescheut haben, die Bibel an vielen Stellen zu fälschen, sich vor solchem Frevel gehütet und ihre entweihenden Hände davon gelassen haben. Aber Ehrgeiz und Niedertracht brachten es soweit, daß nicht die Beobachtung der Lehren des heiligen Geistes als Religion gilt, sondern das Bekennen menschlicher Hirngespinnste, so daß die Religion nicht in der Liebe sich bethätigt, sondern darin, daß man Zwietracht unter den Menschen ausstreut und erbitterten Haß ausbreitet, den sie mit dem falschen Namen eines göttlichen Eifers und frommen Feuers bemänteln. Mit solcher Schlechtigkeit verband sich noch der Aberglaube, der die Menschen lehrte, Vernunft und Natur zu verachten und nur was mit diesen beiden im Widerspruch steht, zu bewundern und zu verehren. Ist es da ein Wunder, daß man die Bibel, um sie recht bewundern und verehren zu können, auf eine Weise auszulegen suchte, daß sie mit Vernunft und Natur in möglichst grellem Widerspruch zu stehen scheint, daß man von tiefen Geheimnissen träumt, die in der heiligen Schrift verborgen sein sollen, und sich ungeheure Mühe giebt, dieselben, d. h. den Unsinn, zu ergründen, wobei man das Vernünftige und Nützliche vernachlässigt. Da wird denn alles, was sie in solchem Aberwitz aussinnen, dem heiligen Geiste zugeschrieben und mit aller Macht und Leidenschaftlichkeit zu verteidigen versucht. Denn es liegt in der Natur des Menschen, daß er, was er mit der reinen Vernunft begreift, auch nur mit der Vernunft verteidigt, was er aber aus Leidenschaft glaubt, auch mit Leidenschaft verteidigt.

Um nun aus diesem Wirrwarr loszukommen, den Geist von den theologischen Vorurteilen zu befreien und der leichtsinnigen Verwechslung menschlicher Erdichtungen mit göttlichen Lehren zu begegnen, müssen wir von der wahren Methode der Bibelerklärung handeln und dieselbe gründlich darlegen; denn wenn man sich über diese nicht klar ist, so kann man nicht mit Gewißheit wissen, was die Bibel oder was der heilige Geist lehren will. Um es nun kurz zusammenzufassen, sage ich, daß die Methode der Bibelerklärung nicht verschieden ist von der Methode der Naturerklärung, vielmehr mit dieser ganz zusammenfällt. Denn wie die Methode der Naturerklärung hauptsächlich darin besteht, daß man eine Naturgeschichte zusammenstellt, um daraus, als aus sicheren Thatsachen, die Naturgesetze zu folgern, ebenso ist es zur Bibelerklärung nötig, eine streng sachliche Geschichte derselben auszuarbeiten, um daraus, als aus sicheren Thatsachen und Grundlagen, die Meinung der biblischen Schriftsteller in richtigen Folgerungen abzuleiten. Auf diese Weise wird jeder (wenn er nämlich zur Erklärung der Bibel und zur Behandlung ihres Inhalts keine andern Grundlagen und Thatsachen zuläßt, als nur solche, die aus der Bibel selbst und ihrer Geschichte entnommen sind) ohne Gefahr eines Irrtums zum Ziele gelangen und über alles, was unsere Begriffe übersteigt, sich ebenso sicher eine Ansicht bilden können, wie über das, was wir mit der natürlichen Vernunft erkennen. – Damit aber klar erhelle, daß dieser Weg nicht bloß ein sicherer, sondern sogar der einzige ist und der Methode der Naturerklärung völlig entspricht, ist zu bemerken, daß die Bibel sehr häufig von Dingen handelt, die aus den Grundsätzen der natürlichen Vernunft nicht abgeleitet werden können. Denn Geschichten und Offenbarungen machen den größten Teil der Bibel aus, die Geschichten aber enthalten hauptsächlich Wunder, d. h. (wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde) Erzählungen außergewöhnlicher Naturereignisse, den Meinungen und Urteilen der Geschichtschreiber, welche sie abgefaßt haben, angepaßt. Ebenso sind die Offenbarungen den Meinungen der Propheten angepaßt, wie im 2. Kapitel gezeigt wurde, und diese übersteigen in der That die menschlichen Begriffe. Daher muß die Kenntnis von allen diesen Dingen, d. h. von fast allen in der Bibel enthaltenen Dingen, aus der Bibel allein geschöpft werden, wie die Kenntnis der Natur aus der Natur allein.

Was nun die Sittenlehren betrifft, welche die Bibel gleichfalls enthält, so können sie allerdings aus allgemeinen Wahrheiten gefolgert werden; allein daß die Bibel dieselben lehrt, die aus allgemeinen Wahrheiten folgen, kann doch nur durch die Bibel selbst bewiesen werden. Ja wenn wir die Göttlichkeit der Bibel ohne Vorurteil bezeugen wollen, so können wir diese einzig und allein deswegen behaupten, weil wir die Überzeugung gewonnen haben, daß die Bibel die wahre Sittenlehre enthält. Haben wir doch oben gesehen, daß die Gewißheit der Prophezeiungen sich auch nur daraus ergiebt, daß die Gesinnung der Propheten dem Rechten und Guten zugewendet war, und auch wir müssen davon überzeugt sein, wenn wir ihnen Glauben schenken sollen. Daß aber die Göttlichkeit Gottes nicht aus Wundern bewiesen werden kann, habe ich bereits gezeigt, abgesehen davon, daß auch falsche Propheten Wunder thun konnten. Die Göttlichkeit der Bibel kann sich also nur daraus ergeben, daß sie die wahre Tugend lehrt, und dies läßt sich auch aus der Bibel allein nachweisen. Wäre das nicht der Fall, so könnten wir die Bibel nicht ohne großes Vorurteil anerkennen und ihre Göttlichkeit bekennen. Es muß also unsere ganze Kenntnis der Bibel aus ihr allein geschöpft werden. – Schließlich ist noch in Erwägung zu ziehen, daß die Bibel über die Dinge, von denen sie spricht, keine Definitionen giebt, so wenig wie die Natur. So wie daher aus den verschiedenen Vorgängen in der Natur die Definitionen der Naturkräfte gefolgert werden müssen, ebenso können die Definitionen der biblischen Gegenstände nur aus den verschiedenen Erzählungen, die uns in der Bibel über einen und denselben Gegenstand begegnen, gefolgert werden.

Die Hauptregel der Bibelauslegung lautet daher: Man darf der Bibel keine Lehre zuschreiben, die sich nicht klar und deutlich aus der Geschichte der Bibel ergiebt.

Wir haben nun aber davon zu reden, wie die Geschichte der Bibel beschaffen sein und was sie hauptsächlich enthalten muß.

Erstens muß sie die Natur und die Eigentümlichkeiten der Sprache beleuchten, in welcher die biblischen Schriften geschrieben wurden und welche ihre Verfasser zu reden pflegten. Dadurch werden wir den verschiedenen Sinn, welchen eine Rede nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben kann, ausfindig machen können. Da nun sämtliche alttestamentlichen wie neutestamentlichen Schriftsteller Hebräer gewesen sind, so ist natürlich eine Geschichte der hebräischen Sprache vor allem nötig, nicht bloß zum Verständnis der Schriften des Alten Testaments, die in dieser Sprache geschrieben sind, sondern auch des Neuen; denn obgleich diese in andern Sprachen verbreitet sind, so haben sie doch hebräische Färbung.

Zweitens muß eine Geschichte der Bibel die Aussprüche jedes Buches sammeln und sie nach Rubriken gruppieren, damit wir alles, was über einen und denselben Gegenstand vorkommt, bequem bei einander haben. Hierbei muß sie hervorheben, was zweideutig oder dunkel ist, wie auch Stellen, die einander zu widersprechen scheinen. Dunkel oder klar nenne ich hier solche Aussprüche, deren Sinn aus dem Zusammenhang der Rede schwer oder leicht verständlich ist. Denn hier handelt es sich lediglich um den Sinn einer Rede, nicht um ihre innere Wahrheit. Man muß sich sogar ganz besonders in Acht nehmen, so lange man bloß nach dem Sinn der Bibel forscht, daß man sich dabei nicht von seinen eigenen auf den Grundlagen der natürlichen Erkenntnis beruhenden Erwägungen (geschweige von Vorurteilen) verleiten läßt. Wenn der wahre Sinn einer Stelle nicht mit der Wahrheit ihres Inhalts verwechselt werden soll, so darf derselbe nur aus dem Sprachgebrauch und aus Erwägungen auf rein biblischem Standpunkt ermittelt werden. Der größeren Deutlichkeit halber will ich das an einem Beispiel erläutern. Die Aussprüche des Moses, daß »Gott ein Feuer« und daß »Gott ein eifervoller Gott ist«, sind vollständig klar, solange wir nichts anderes wissen wollen, als was diese Worte bedeuten. Deshalb rechne ich sie zu den klaren, obgleich sie in Hinsicht auf Wahrheit und Vernunft sehr dunkel sind. Allein, wiewohl ihr buchstäblicher Sinn mit der natürlichen Vernunft im Widerspruch steht, so muß dennoch dieser Sinn, der buchstäbliche nämlich, als der richtige angesehen werden, wenn er nicht auch den der Geschichte der Bibel entnommenen Grundsätzen und Hauptlehren widerstreitet. Umgekehrt müßten diese Aussprüche, wenn es sich wirklich ergeben sollte, daß sie nach ihrer buchstäblichen Auffassung den der Bibel entnommenen Grundsätzen widersprechen, auch dann anders (nämlich bildlich) ausgelegt werden, wenn ihr buchstäblicher Sinn mit der Vernunft vollkommen übereinstimmen würde. Um also zu erfahren, ob Moses geglaubt hat, Gott sei ein Feuer oder nicht, darf man ja nicht aus der Übereinstimmung oder dem Widerspruch eines solchen Glaubens mit der Vernunft einen Schluß ziehen, sondern bloß aus andern Aussprüchen von Moses selbst. Da nämlich Moses an vielen Stellen auch deutlich lehrt, daß Gott keine Ähnlichkeit habe mit sichtbaren Dingen, die am Himmel, auf der Erde oder im Wasser sind, so ist man zu dem Schluß genötigt, daß entweder der eine Ausspruch, oder die andern alle bildlich aufzufassen sind. Nun darf man aber vom buchstäblichen Sinn so wenig als möglich abgehen; daher haben wir zu untersuchen, ob der vereinzelte Ausspruch »Gott ist ein Feuer« nicht etwa einen andern Sinn als den buchstäblichen zuläßt, d. h. ob das Wort Feuer nicht auch etwas andres als das gewöhnliche Feuer bezeichnet. Ergiebt sich dies aus dem Sprachgebrauch nicht, so kann dieser Ausspruch auch nicht anders ausgelegt werden, mag er mit der Vernunft noch so sehr im Widerspruch stehen; umgekehrt müßten alsdann die andern entgegenstehenden Aussprüche, so sehr sie mit der Vernunft übereinstimmen, mit dem einen in Einklang gesetzt werden. Ließe sich auch das nicht, dem Sprachgebrauch gemäß, bewerkstelligen, so wäre eben der eine Ausspruch mit den andern überhaupt unvereinbar und wir müssen die Sache dahingestellt sein lassen und uns eines Urteils darüber enthalten. In der That wird aber das Wort Feuer für Zorn und Eifersucht gebraucht (s. Hiob Kap. 31, V. 12). Daher lassen sich diese Aussprüche des Moses ganz gut mit einander vereinigen, indem wir berechtigt sind, anzunehmen, daß die beiden Aussprüche »Gott ist ein Feuer« und »Gott ist eifervoll« eins und dasselbe bedeuten. Da ferner Moses deutlich lehrt, daß Gott eifervoll, aber nirgends, daß er von Leidenschaften und Gemütsbewegungen frei ist, so können wir überzeugt sein, daß Moses dies wirklich glaubte oder wenigstens lehren wollte, so sehr auch dieser Ausspruch nach unserer Ansicht der Vernunft widerstreitet. Denn es ist wie gesagt ganz unstatthaft, den Sinn der Bibel zu verdrehen, um ihn mit den Eingebungen unsrer Vernunft und den Ansichten, welchen wir huldigen, in Einklang zu setzen; das Verständnis der ganzen Bibel kann nur aus ihr allein geschöpft werden.

Drittens endlich muß die Geschichte der Bibel über das Schicksal sämtlicher prophetischen Bücher Nachricht geben, soweit dasselbe heutigen Tags noch ermittelt werden kann. Zunächst über Leben, Sitten und Beschäftigung des Verfassers eines jeden Buches, wer er gewesen, bei welcher Veranlassung, zu welcher Zeit, für wen und in welcher Sprache er geschrieben. Sodann über das Schicksal der einzelnen Bücher selbst: wie man das betreffende Buch zuerst erhalten hat und in wessen Hände es gekommen sei, ferner über die verschiedenen Lesarten, die von ihm vorhanden sind und welche Personen beschlossen haben, es unter die heiligen Bücher aufzunehmen, endlich auch, wie alle Bücher, die uns für heilig gelten, zu einem Ganzen vereinigt wurden. Das alles, sage ich, muß eine Geschichte der Bibel enthalten. Denn um zu wissen, welche Aussprüche als Gesetze und welche als Sittenlehren aufgestellt werden, muß man das Leben, die Sitten und die Beschäftigung der Verfasser kennen. Dazu kommt noch der Umstand, daß man die Worte von jemand um so leichter auslegen kann, je genauer man weiß, wie er leibte und lebte. Um ferner die ewigen Lehren nicht mit solchen zu verwechseln, die nur zu gewissen Zeiten oder nur einzelnen Menschen von Nutzen waren, muß man wissen, bei welcher Veranlassung, zu welcher Zeit und für welches Volk oder Zeitalter die Lehren alle geschrieben worden sind. Endlich muß man auch die übrigen Umstände wissen, die ich erwähnt habe, um außer der Autorschaft eines jeden Buches auch noch zu erfahren, ob es von fälschenden Händen hat verunstaltet werden können oder nicht; ob sich Irrtümer eingeschlichen haben und ob sie von kundigen und glaubwürdigen Männern verbessert worden sind. Alles das zu wissen ist von größter Wichtigkeit, damit wir nicht in blindem Eifer alles für bare Münze nehmen, was uns geboten wird, sondern nur was gewiß ist und nicht bezweifelt werden kann.

Erst wenn wir eine solche Geschichte der Bibel besitzen und uns fest vornehmen, nur solche Lehren als unzweifelhaft prophetische zu betrachten, die aus dieser Geschichte folgen oder mit aller Bestimmtheit aus ihr gefolgert werden können, erst dann ist es Zeit, daß wir uns anschicken, den Sinn der Propheten und des heiligen Geistes zu erforschen. Auch hierzu ist eine Methode und Ordnung erforderlich, derjenigen ähnlich, welche bei der Erklärung der Natur aus ihrer Geschichte in Anwendung kam. Bei der Forschung über die Naturerscheinungen suchen wir vor allem das Allgemeinste, der ganzen Natur Gemeinsame zu ergründen, nämlich Bewegung und Ruhe, und ihre Gesetze und Regeln, welche die Natur stets beobachtet und durch welche sie ununterbrochen wirkt, und von diesen schreiten wir allmählich zum minder Allgemeinen fort. Ganz ebenso muß aus der Geschichte der Bibel zuerst erforscht werden, was das Allgemeinste, was Grundlage und Untergrund der ganzen Bibel ist, und was darin als ewige, und allen Sterblichen höchst heilsame Lehre von sämtlichen Propheten empfohlen wird. Dahin gehört z. B., daß es einen einzigen und allmächtigen Gott giebt, der allein angebetet werden darf, der für alle Wesen sorgt und diejenigen besonders liebt, welche ihn anbeten und den Nebenmenschen wie sich selbst lieben u. s. f. Dieses und ähnliches, sage ich, lehrt die Bibel überall so klar und so deutlich, daß kein Mensch über den Sinn der Bibel in diesem Betreff jemals im Zweifel war. Was aber Gott ist und in welcher Weise er alle Dinge sieht und sich um sie bekümmert, dieses und ähnliches lehrt die Bibel nicht ausdrücklich und als ewige Wahrheit; vielmehr haben die Propheten selbst darüber sehr verschieden gedacht, wie oben gezeigt wurde. Darum kann über derlei Dinge eine Lehre des heiligen Geistes nicht aufgestellt werden, auch wenn man sich mit der natürlichen Vernunft sehr wohl eine bestimmte Ansicht darüber bilden kann.

Hat man nun die allgemeine Lehre der Bibel richtig erforscht, so schreitet man zu andern Dingen fort, welche minder allgemein, aber doch den gewöhnlichen Lebenswandel betreffen und aus jener allgemeinen Lehre wie Bäche herausfließen. Dahin gehören alle besondern äußerlichen Handlungen wahrer Tugend, die bloß bei gewissen Veranlassungen geübt werden können. Das Dunkle oder Zweideutige, das hierbei in der Bibel vorkommt, ist mit der allgemeinen Lehre der Bibel aufzuhellen und klar zu stellen, und bei etwa vorkommenden Widersprüchen wäre zu erwägen, bei welcher Gelegenheit, zu welcher Zeit und für wen die betreffenden Stellen geschrieben wurden. Wenn z. B. Christus sagt: »Selig sind die Traurigen, denn sie werden Trost empfangen«, so wissen wir aus diesen Worten allein noch nicht, welche Traurigen er im Sinne hat. Da er aber später lehrt, daß wir um kein Ding Sorge tragen sollen, außer um das Reich Gottes und dessen Gerechtigkeit, was er als höchstes Gut empfiehlt (s. Matth. Kap. 6, V. 33), so folgt daraus, daß er unter den Traurigen niemand anders versteht, als Menschen, welche traurig sind, weil das Reich Gottes und die Gerechtigkeit von den Menschen vernachlässigt wird; denn hierüber sind nur solche Menschen betrübt, welche das Reich Gottes oder die Tugend allein lieben, andere Güter aber gänzlich verachten.

Ebenso verhält es sich mit einem andern Ausspruch Christi, welcher lautet: »Aber dem, der dich auf den rechten Backen schlägt, sollst du auch den linken darbieten u. s. f.« Hätte Christus solches als Gesetzgeber den Richtern als Richtschnur gegeben, so würde er mit dieser Vorschrift das mosaische Gesetz umgestoßen haben, wogegen er sich aber ganz deutlich ausspricht (s. Matth. Kap. 5, V. 17). Wir müssen daher darauf achten, wer das gesagt hat, zu wem und wann er es gesagt hat. Gesagt hat es Christus, der nicht als Gesetzgeber Gesetze erließ, sondern als Lehrer Lehren erteilte; da er (wie oben gezeigt) nicht sowohl das äußerliche Handeln als vielmehr die Gesinnung bessern wollte; und er hat dieses Wort zu unterdrückten Menschen gesagt, die in einem verderbten Staat lebten, wo die Gerechtigkeit gänzlich vernachlässigt wurde und dessen baldigen Untergang er voraussah. – Ganz dasselbe, was hier Christus mit Rücksicht auf den baldigen Untergang der Stadt lehrt, hat auch Jeremia zur Zeit der ersten Zerstörung Jerusalems, also unter ähnlichen Zeitverhältnissen, gelehrt (s. Klagelieder Kap. 3, Buchstabe Tet und Jod). Da die Propheten also nur in Zeiten der Bedrückung dieses lehrten, niemals aber ein derartiges Gesetz erlassen wurde, vielmehr Moses (der nicht in Zeiten der Unterdrückung geschrieben hat, sondern wohlgemerkt! einen guten Staat zu begründen bemüht war) angeordnet hat, Auge mit Auge zu sühnen, obgleich auch er Rache und Haß gegen den Nebenmenschen verdammt hat, so können wir aus diesen Grundlehren der Bibel allein die Folgerung ziehen, daß die in Rede stehende Lehre von Christus und Jeremia, daß man ein Unrecht sich gefallen lassen und den Schlechten in allen Dingen nachgeben soll, nur am Platze ist in Ländern, in denen die Gerechtigkeit vernachlässigt wird und in Zeiten der Bedrückung, keineswegs in einem ordentlichen Staat. In einem ordentlichen Staat, in welchem die Gerechtigkeit gehandhabt wird, ist vielmehr jeder, der sich als ein Gerechter benehmen will, verpflichtet, ein ihm geschehenes Unrecht vor den Richter zu bringen (s. 3. Buch Mose Kap. 5, V. 1), nicht aus Rachsucht (s. 3. Buch Mose Kap. 19, V. 17 und 18), sondern in der Absicht, die Gerechtigkeit und die Gesetze des Vaterlandes zu schützen und den Schlechten in der Schlechtigkeit keinen Vorschub zu leisten. Das alles stimmt mit der natürlichen Vernunft vollständig überein.

Ich könnte noch viel solche Beispiele anführen, doch dürften die vorstehenden meine Meinung und den Nutzen der angegebenen Methode zur Genüge klar gemacht haben und darauf allein kommt es mir hier an.

Indessen habe ich bisher nur über das richtige Verständnis solcher biblischen Aussprüche Anweisung gegeben, welche den Lebenswandel betreffen und daher leichter zu verstehen sind; denn hierüber herrscht in Wirklichkeit kein Gegensatz unter den biblischen Schriftstellern. Dagegen können andere Stellen, die in der Bibel vorkommen und. rein spekulativer Art sind, nicht so leicht ergründet werden, der Weg zu ihnen ist enger. Denn da die Propheten in spekulativen Dingen (wie schon gezeigt) verschiedene Ansichten hatten und die Darstellung der Begebenheiten den Vorurteilen je des betreffenden Zeitalters stark angepaßt ist, so können wir durchaus nicht den Sinn des einen Propheten aus deutlicheren Stellen bei einem andern Propheten folgern oder erklären, wenn es nicht ganz feststeht, daß beide eine gleiche Ansicht gehabt haben. Daher will ich in Kürze auseinandersetzen, wie man in solchen Fällen den Sinn der Propheten durch die Geschichte der Bibel finden kann.

Auch hier muß mit dem Allgemeinsten begonnen werden, indem man zuvörderst aus den deutlichsten Aussprüchen der Bibel sich darüber zu unterrichten sucht, was Prophetie oder Offenbarung ist und worin sie hauptsächlich besteht, ferner was ein Wunder ist, und so weiter zu den gewöhnlichsten Dingen. Von da muß zu den Meinungen jedes einzelnen Propheten geschritten werden und von hier wiederum geht man weiter, um den Sinn jeder Offenbarung oder Prophetie, jeder Geschichte und jedes Wunders im Einzelnen zu ermitteln. Welche Vorsicht hierbei nötig ist, damit man nicht den Sinn der Propheten und Geschichtschreiber mit dem Sinn des heiligen Geistes und mit der Wirklichkeit verwechsele, habe ich oben an der geeigneten Stelle an vielen Beispielen gezeigt, weshalb ein näheres Eingehen darauf hier nicht nötig ist. Nur das eine habe ich noch über den Sinn der Offenbarungen zu bemerken, daß wir mit dieser Methode nur das Verständnis von dem erlangen können, was die Propheten wirklich gesehen oder gehört haben, keineswegs aber was sie mit ihren Sinnbildern bezeichnen oder darstellen wollten. Darüber können wir nur Vermutungen haben, etwas Sicheres läßt sich darüber aus der Bibel nicht folgern.

Die Art und Weise der Bibelauslegung hätten wir damit angegeben und dabei zugleich bewiesen, daß dies der einzig sichere Weg ist, ihren wahren Sinn zu ergründen. Ich gebe zwar zu, daß diejenigen noch mehr Gewißheit darüber haben – vorausgesetzt daß es solche giebt – die im Besitze einer von den Propheten selbst herrührenden sicheren Überlieferung oder wahren Auslegung sind, wie die Pharisäer sich einbilden, oder die einen Priester haben, der über die Auslegung der Bibel nicht irren kann, wie die römischen Katholiken sich rühmen. Da wir aber über diese Tradition selbst ebensowenig Gewißheit haben können, wie über die Autorität des Papstes, so können wir auch auf diese Behauptungen nichts Sicheres bauen. Diese haben schon die ältesten Christen, jene schon die ältesten jüdischen Sekten geleugnet. Bedenkt man vollends die Reihe von Jahren, (um von andern Dingen zu schweigen,) welche jene Überlieferung nach der Annahme der Pharisäer, die es von ihren Rabbinen haben, von Moses an durchlaufen hat, so muß man sie als falsch bezeichnen, was ich an einem andern Ort zeigen will. Eine solche Überlieferung muß uns daher sehr verdächtig sein. Zwar müssen wir auch bei unserer Methode eine gewisse Überlieferung der Juden als unverfälscht annehmen, nämlich die sprachliche Bedeutung der hebräischen Wörter, die wir von ihnen empfangen haben; allein wir sind berechtigt, jene Überlieferung zu bezweifeln, diese nicht. Denn niemand konnte es jemals von Nutzen sein, die Bedeutung eines Worts zu ändern, wohl aber nicht selten den Sinn einer Rede. Auch hätte jenes nur äußerst schwer geschehen können; denn wer die Bedeutung eines Worts ändern wollte, müßte auch alle Schriftsteller, die in jener Sprache geschrieben und das betreffende Wort in seiner angenommenen Bedeutung gebraucht haben, nach dem Geist und Sinn jedes einzelnen erklären, oder er könnte nur mit größter Behutsamkeit seine Fälschung ausführen. Ferner wird die Sprache nicht bloß von den Gelehrten, sondern auch vom Volk erhalten, der Sinn der Reden aber und die Bücher bloß von den Gelehrten; daher ist es gut denkbar, daß die Gelehrten den Sinn einer Rede in einem recht seltenen Buche, das sie im Besitze hatten, ändern oder fälschen konnten, nicht aber die Bedeutung der Wörter. Hierzu kommt noch, daß jemand, der die Bedeutung eines Worts, an die er gewöhnt ist, mit einer andern vertauschen will, es nur äußerst schwer zustande brächte, im Sprechen und Schreiben das Wort stets in der neuen Bedeutung anzuwenden. Aus diesen und andern Gründen dürfen wir uns überzeugt halten, daß es niemand einfallen konnte, eine Sprache zu verfälschen, wohl aber häufig den Sinn eines Schriftstellers, entweder durch Änderung des Textes oder durch verkehrte Auslegung.

Wenn nun diese unsere Methode (die sich auf den Grundsatz gründet, daß das Verständnis der Bibel aus ihr allein geschöpft werden muß) die einzig richtige ist, so muß man überall, wo sie uns im Stich läßt, die Hoffnung auf richtiges Verständnis der Bibel gänzlich aufgeben. Ich will nun aber ihre Schwierigkeiten oder ihre Unzulänglichkeit für ein vollständiges und sicheres Verständnis der heiligen Schriften näher beleuchten.

Eine große Schwierigkeit erwächst bei dieser Methode hauptsächlich daraus, daß sie eine genaue Kenntnis der hebräischen Sprache erfordert. Woher sollen wir die bekommen? Die alten hebräischen Sprachgelehrten haben über die Grundregeln und die Lehre dieser Sprache der Nachwelt nichts hinterlassen; wenigstens besitzen wir nichts von ihnen, kein Wörterbuch, keine Grammatik und keine Rhetorik. Das hebräische Volk hat allen Schmuck, alle Zierde verloren, (nach so viel erlittenen Niederlagen und Verfolgungen kein Wunder); nur einzelne Bruchstücke seiner Sprache und Litteratur sind ihm erhalten worden. Fast alle Namen von Früchten, Vögeln, Fischen und vielen andern Dingen sind durch der Zeiten Ungunst verloren gegangen. Ferner ist die Bedeutung vieler in der Bibel vorkommenden Namen und Wörter teils ganz unbekannt, teils zweifelhaft, so daß darüber gestritten wird. Dies alles, wie auch besonders eine Lehre von den Redensarten dieser Sprache, vermissen wir, denn die Redensarten und Ausdrucksweisen, die dem hebräischen Volk eigentümlich waren, hat die zerstörende Macht der Zeit in der Erinnerung der Menschen beinahe ganz verwischt. Deshalb werden wir nicht immer, wie wir gern möchten, die verschiedenen Bedeutungen, die jede Rede nach dem Sprachgebrauch haben könnte, herausbringen können, und wir werden vielen Reden begegnen, deren Sinn ganz dunkel und unverständlich bleiben wird, wenn auch ihre Wörter im einzelnen genau bekannt sind.

Zu diesem Mißstand, daß wir eine vollständige Geschichte der hebräischen Sprache nicht haben können, gesellt sich noch der weitere, daß aus dem Bau und der Natur dieser Sprache so viel Doppelsinnigkeit entspringt, daß es ganz unmöglich ist, eine Methode zu finden, durch welche sich der wahre Sinn aller Reden in der Bibel mit Sicherheit ermitteln ließe. Denn neben den allen Sprachen gemeinsamen Ursachen des Doppelsinns sind in dieser Sprache noch besondere vorhanden, deren Anführung ich der Mühe wert erachte.

Erstens entspringt in der Bibel häufig Doppelsinn und Dunkelheit aus dem Umstand, daß die verschiedenen Buchstaben eines Sprachwerkzeugs oft mit einander vertauscht werden. Die Hebräer teilen nämlich das ganze Alphabet in fünf Klassen, nach den fünf Sprachwerkzeugen, nämlich Lippen, Zunge, Zähne, Gaumen und Kehle. Z. B. אחעה Alpha, Ghet, Hgain, He Diese Benennung bezw. Schreibart der Namen hebräischer Buchstaben, welche der üblichen nicht ganz entspricht, hat ein philologisches Interesse, indem daran ersichtlich ist, wie die spanischen Juden zu Spinoza's Zeit die betreffenden hebräischen Buchstaben nannten, resp. aussprachen. Aus diesem Grunde habe ich hier und im folgenden die Schreibart des Originals beibehalten. (Anmerkung des Übersetzers.) werden Kehlbuchstaben genannt und sie werden ohne den geringsten Unterschied – mir wenigstens ist keiner bekannt – einer für den andern gebraucht. So wird אל el, was »zu« bedeutet, häufig für על hgal gesetzt, was »über« bedeutet, und so umgekehrt. Daher kommt es, daß alle Teile einer Rede öfters entweder doppelsinnig oder als Wörter ohne Bedeutung erscheinen.

Eine weitere Ursache des Doppelsinns in den Reden ist die mannigfaltige Bedeutung der Bindewörter und Beiwörter. Z. B. mit ן vau wird abwechslungsweise bald eine Verbindung, bald eine Trennung ausgedrückt; es heißt: »und«, »aber«, »weil«, »jedoch«, »alsdann«. Ebenso hat כי ki sieben oder acht Bedeutungen, nämlich: »weil«, »obgleich«, »wenn«, »da«, »wie«, »denn«, »Verbrennung« u. s. f. Und so beinahe alle Partikeln.

Eine dritte Quelle vielen Doppelsinns ist der Umstand, daß dem Zeitwort im Indikativ mehrere besondere Zeitformen fehlen, nämlich das Präsens, das Präteritum imperfectum, das Plusquamperfectum und das Futurum perfectum und andere in andern Sprachen sehr gebräuchliche Zeitformen; im Imperativ und Infinitiv fehlen außer dem Präsens sämtliche Zeiten; für den Subjunktiv giebt es gar keine Zeitform. Zwar können alle diese fehlenden Tempus- und Modusformen nach gewissen aus den Grundgesetzen der Sprache abgeleiteten Regeln leicht, ja mit großer Feinheit ausgedrückt werden; allein die ältesten Schriftsteller haben dieselben ganz außer Acht gelassen und gebrauchen durcheinander das Futurum für das Präsens und Präteritum, und umgekehrt das Präteritum für das Futurum, ferner den Indikativ für den Imperativ und Subjunktiv, infolge dessen ihre Reden viel Zweideutiges enthalten.

Außer diesen drei Ursachen des Doppelsinns in der hebräischen Sprache sind noch zwei weitere hervorzuheben, deren jede noch viel belangreicher ist. Die erste besteht darin, daß die Hebräer keine Buchstaben für die Vokale haben; die zweite darin, daß sie die Satzteile nicht durch Interpunktionszeichen zu trennen pflegten und dies auch sonstwie nicht ausdrückten oder andeuteten. Zwar werden gewöhnlich beide, Vokalbuchstaben und Interpunktionszeichen, durch Punkte und Accentzeichen ergänzt, doch können wir uns auf diese nicht verlassen, da sie in viel späterer Zeit von Leuten erfunden und eingeführt wurden, deren Autorität wir nicht gelten lassen können. Die Alten selbst haben ohne Punkte (d. h. ohne Vokal- und Accentzeichen) geschrieben (was durch zahlreiche Zeugnisse feststeht), die Späteren haben beides hinzugefügt, so wie sie die Bibel auszulegen für gut fanden. Daher sind die jetzt vorhandenen Accente und Punkte bloße Auslegung der Neueren und verdienen nicht mehr Glauben und Autorität, als andere Erklärungen gewöhnlicher Autoren. Wem dies unbekannt ist, der kann sich nicht denken, wie man den Verfasser des Hebräerbriefes entschuldigen kann, daß er in Kap. 11, V. 21 den Text im 1. Buch Mose Kap. 47, V. 31 ganz anders ausgelegt hat, als er im punktierten hebräischen Text lautet. Als ob der Apostel den Sinn der Bibel von den Punktisten hätte lernen müssen! Mir wenigstens scheint es, daß der Fehler auf Seiten der Punktisten ist. Ich will die zwei verschiedenen Auslegungen anführen, damit jeder sich ein Urteil darüber bilden und zugleich sehen kann, daß diese Verschiedenheit lediglich dem Mangel an Vokalzeichen zuzuschreiben ist. Die Punktisten haben die Stelle mit ihren Punkten so ausgelegt: »Und Israel beugte sich über« oder (wenn man den Buchstaben ע Hgain in den Buchstaben des gleichen Sprachwerkzeugs א Aleph verwandelt) »gegen den Kopf des Bettes«. Der Verfasser des Hebräerbriefes dagegen: »Und Israel beugte sich über den Kopf des Stabes«, indem er nämlich ַַמַטֶּה matte liest, statt מִטָּה mitta, wie andere lesen; ein Unterschied, der bloß von den Vokalzeichen herrührt. Da nun aber in jener Erzählung nur von dem Alter Jakobs die Rede ist, nicht wie im folgenden von seiner Krankheit, so ist es viel wahrscheinlicher, daß der Erzähler sagen wollte, Jakob habe sich über den Kopf des Stabes (dessen Greise von hohem Alter zur Stütze bedürfen) als über den Kopf des Bettes gebeugt, zumal auch bei dieser Auslegung eine Vertauschung der Buchstaben nicht angenommen zu werden braucht. – Mit diesem Beispiel habe ich nicht bloß die Stelle im Hebräerbrief mit dem Text in der Genesis in Einklang bringen, sondern auch hauptsächlich zeigen wollen, wie unzuverlässig unsere heutigen Punkte und Accente seien. Wer also die Bibel ohne Voreingenommenheit auslegen will, muß an denselben zweifeln und auf eigene Hand prüfen.

Bei dieser Beschaffenheit und Natur der hebräischen Sprache (um wieder auf unsern eigentlichen Gegenstand zurückzukommen) muß, wie jeder leicht ermessen kann, so viel Doppelsinn entstehen, daß es keine Methode geben kann, mit welcher überall Bestimmtheit in der Auslegung zu erreichen wäre. Vergebens hoffen wir, durch gegenseitige Vergleichung der Reden (nach unserer obigen Auseinandersetzung der einzige Weg zur Ermittlung der wahren Bedeutung unter den vielen, welche nach dem Sprachgebrauch möglich sind) dies bewerkstelligen zu können; da einerseits bei solcher Vergleichung nur in einzelnen Fällen die eine Rede durch die andere aufgehellt werden kann, indem ja kein Prophet beim Niederschreiben einer Stelle beabsichtigt hat, die Worte eines andern oder auch seine eigenen Worte in einer andern Stelle zu erläutern; anderseits der Sinn des einen Propheten oder Apostels etc. nicht aus dem Sinn eines andern gefolgert werden kann; bloß in Dingen, die den Lebenswandel betreffen, ist dies statthaft, wie bereits klar gezeigt wurde, nicht aber wo von spekulativen Dingen die Rede ist, oder wo über Wunder oder Begebenheiten berichtet wird.

Ich könnte diese meine Behauptung, daß in den heiligen Schriften viele unerklärbare Stellen vorkommen, an einigen Beispielen nachweisen; doch will ich jetzt lieber darauf verzichten und zu anderem übergehen, was noch erörtert werden muß, nämlich zu den weiteren Schwierigkeiten und Mängeln in der wahren Methode der Bibelauslegung.

Eine weitere Schwierigkeit in dieser Methode erwächst daraus, daß sie eine Geschichte dessen erfordert, was mit jedem Buch in der Bibel von seiner Entstehung an sich zugetragen hat; darüber wissen wir aber nur sehr wenig. Bei vielen Büchern kennen wir entweder die Verfasser oder (wenn man lieber will) die Personen, welche sie niederschrieben, gar nicht, oder wir sind über sie in Zweifel, wie ich im folgenden ausführlich zeigen werde. Ferner wissen wir weder, bei welchem Anlaß, noch auch zu welcher Zeit diese von unbekannter Hand herrührenden Bücher geschrieben worden sind. Ebensowenig wissen wir, in welche Hände alle diese Bücher geraten sind, in welchen Exemplaren ihre verschiedenen Lesarten vorkommen und ob es nicht auch noch weitere Lesarten gegeben hat. Wie wichtig es aber ist, das alles zu wissen, habe ich an geeigneter Stelle kurz angegeben; indessen habe ich dort absichtlich einiges ausgelassen, was hier in Betracht zu ziehen ist.

Lesen wir ein Buch, das unglaubliche und unbegreifliche Dinge enthält oder in recht dunklen Ausdrücken abgefaßt ist, und wir kennen weder seinen Verfasser noch Zeit und Anlaß seines Entstehens, so werden wir uns vergebens bemühen, über seinen wahren Sinn Gewißheit zu erlangen. Denn da wir von allen diesen Dingen keine Kenntnis haben, so können wir auch nicht wissen, was der Verfasser beabsichtigte oder beabsichtigen konnte. Sind uns dagegen diese Dinge genau bekannt, so haben wir einen genau abgegrenzten Vorstellungskreis, so daß wir uns von keinem Vorurteil einnehmen lassen und weder über den Verfasser noch über den, für welchen er schrieb, mehr oder weniger als recht ist denken, und bei allen Dingen im Auge behalten, was der Verfasser im Sinn haben konnte, oder was Zeit und Anlaß erheischte.

Ich denke, daß dies jedermann einleuchten wird. Denn wie oft kommt es vor, daß wir Geschichten, die einander sehr ähnlich sehen, in verschiedenen Büchern lesen und dieselben doch ganz verschieden beurteilen, weil wir nämlich auch von ihren Verfassern verschiedene Vorstellungen haben. So entsinne ich mich, in früherer Zeit in einem Buche von einem Mann gelesen zu haben, welcher der rasende Roland hieß und auf einem geflügelten Ungeheuer durch die Luft zu reiten pflegte, in jede Gegend flog, die ihm beliebte, ganz allein eine Menge Menschen und Riesen niedermetzelte und dergleichen Phantasiestücke mehr, welche, vernünftig betrachtet, durchaus unbegreiflich sind. Eine ganz ähnliche Geschichte hatte ich bei Ovid über Perseus gelesen, und eine ähnliche wiederum in den Büchern der Richter und Könige über Simson (welcher allein und ohne Waffen tausende von Menschen niedermetzelte) und über Elias, der durch die Luft flog und mit feurigen Pferden auf feurigem Wagen gen Himmel fuhr. Diese Geschichten, sage ich, sind einander ganz ähnlich und doch bilden wir uns über jede ein besonderes Urteil. Der erste, urteilen wir, wollte bloß ein Märchen schreiben; der zweite politische Vorgänge; der dritte heilige Dinge. Dieses verschiedene Urteil hat aber nur in den verschiedenen Meinungen seinen Grund, die wir von den Verfassern dieser Geschichten hegen. Es ist also klar, daß wir vor allen Dingen die Verfasser kennen müssen, wenn wir Schriften von dunklem oder unbegreiflichem Inhalt auslegen wollen.

Aus gleichen Gründen sind wir bei dunklen Geschichten nur dann imstande, unter verschiedenen Lesarten die richtige herauszufinden, wenn wir wissen, welche Personen die Exemplare besessen haben, in welchen diese verschiedenen Lesarten vorkommen, und ferner, ob nicht noch manche andere Lesarten in Exemplaren von Männern von größerer Autorität vorhanden gewesen sind.

Endlich ist bei manchen biblischen Büchern noch ein weiterer Übelstand vorhanden, der ihre Auslegung nach unserer Methode erschwert: daß wir sie nicht mehr in der Sprache besitzen, in welcher sie ursprünglich geschrieben waren. Denn das Evangelium Matthäi und ohne Zweifel auch der Hebräerbrief waren nach allgemeiner Annahme im Originaltext hebräisch abgefaßt, derselbe ist aber nicht mehr vorhanden. Vom Buche Hiob ist es zweifelhaft, in welcher Sprache es niedergeschrieben worden ist. Aben Hezra versichert in seinem Kommentar, es sei aus einer andern Sprache ins Hebräische übersetzt worden und das sei die Ursache, weshalb es so viel dunkle Stellen enthalte. Über die apokryphischen Bücher sage ich nichts, da sie von ganz anderer Bedeutung sind.

Alle diese aufgeführten Schwierigkeiten hat also die Methode der Bibelauslegung aus ihrer eigenen Geschichte, soweit wir eine solche haben können. Ich halte dieselben für so groß, daß ich ohne Bedenken behaupte, in den meisten Stellen der Bibel kennen wir den wahren Sinn entweder gar nicht, oder doch nur vermutungsweise. Anderseits muß indessen hier nochmals hervorgehoben werden, daß alle diese Schwierigkeiten dem Verständnis der Propheten nur insoweit im Wege sind, als es sich um unbegreifliche Dinge und um Erlebnisse der Einbildungskraft handelt, nicht aber um Dinge, die wir mit der Vernunft erfassen und von denen wir uns leicht einen klaren Begriff bilden können. Denn Dinge, die ihrer Natur nach leicht begriffen werden, können niemals so dunkel ausgedrückt werden, daß man sie nicht leicht verstehen könnte; wie das Sprichwort sagt: Dem Verständigen genügt ein Wort. Euklid, der nur höchst einfache und sehr verständliche Dinge geschrieben hat, wird in jeder Sprache leicht von jedermann verstanden. Denn um seinen Sinn zu treffen und über seine wahre Meinung Gewißheit zu erlangen, braucht man die Sprache, in welcher er geschrieben hat, nicht vollständig zu kennen, es genügt eine oberflächliche, ja schülerhafte Kenntnis derselben; auch braucht man weder über Leben, Beschäftigung und Sitten des Verfassers etwas zu wissen, noch in welcher Sprache, für wen und wann er geschrieben hat, noch die Schicksale des Buches oder seine verschiedenen Lesarten, und ebensowenig, welche Personen seine Annahme beschlossen haben. Was hier von Euklid gesagt ist, gilt von jedem andern Schriftsteller, der über Dinge schrieb, die durch sich selbst verständlich sind. Darum ist die Annahme gerechtfertigt, daß wir bei Sittenlehren den Sinn der Bibel aus ihrer Geschichte, die wir haben können, leicht erraten und über ihre wahre Meinung Gewißheit erlangen können. Denn die Lehren der wahren Frömmigkeit werden mit den gebräuchlichsten Worten ausgedrückt, weil sie allgemein giltig, einfach und leicht verständlich sind, und weil ferner das wahre Heil und die wahre Glückseligkeit in der wahren Seelenruhe besteht, diese wahre Seelenruhe aber nur durch vollständig klare Erkenntnis erworben wird. Es folgt also aufs deutlichste, daß wir über den Sinn der Bibel in Dingen, die zum Heil und zur Seligkeit notwendig sind, Gewißheit erlangen können; deshalb brauchen wir auch um alles übrige nicht allzusehr bekümmert zu sein, da es doch zum größten Teil mit der Vernunft und Erkenntnis nicht erfaßt werden kann und also weit mehr seltsam als nützlich ist.

Damit glaube ich die wahre Methode der Bibelauslegung genau angegeben und meine Ansicht darüber genau dargelegt zu haben. Unzweifelhaft hat bereits jeder Leser bemerkt, daß diese Methode keine andere Erleuchtung erheischt als die der natürlichen Vernunft. Denn das Wesen und der Vorzug dieser Erleuchtung besteht hauptsächlich in der Ableitung und Folgerung des Unbekannten aus dem Bekannten oder als bekannt Vorausgesetzten durch richtige Schlußfolgerung, und etwas anderes verlangt meine Methode nicht. Und wenn ich auch zugeben muß, daß diese Methode nicht ausreicht, um über alles, was in der Bibel vorkommt, sichere Aufklärung zu geben, so liegt doch die Schuld nicht an der Methode selbst, sondern es rührt dies daher, daß der Weg, den sie als den wahren und richtigen zeigt, bis heute noch niemals gepflegt und von niemand betreten worden war, weshalb er im Laufe der Zeit sehr beschwerlich und unwegsam geworden ist, wie aus den von mir dargelegten Schwierigkeiten aufs deutlichste erhellen wird.

Es sind nun aber auch die gegnerischen Ansichten zu untersuchen. Zunächst die Ansicht derjenigen, welche behaupten, die natürliche Vernunft besitze nicht die Fähigkeit, die Bibel auszulegen, sondern dazu sei eine übernatürliche Erleuchtung unbedingt erforderlich. Was aber das für eine Erleuchtung sein soll, das zu erklären, überlasse ich jenen selbst. Ich für meine Person kann mir die Sache nicht anders denken, als daß jene Leute mit ziemlich dunklen Ausdrücken ebenfalls zu verstehen geben wollten, daß sie über den wahren Sinn der Bibel in vielen Fällen im Zweifel seien. Denn wenn man ihre Erklärungen genau besieht, so enthalten sie ganz und gar nichts Übernatürliches, ja im Grunde nichts als bloße Vermutungen. Man vergleiche sie doch nur mit der Erklärung derer, welche offen gestehen, daß sie keine andere Erleuchtung hätten, als die natürliche und man wird finden, daß sie diesen ganz ähnlich sind, daß sie rein menschlich, durch langes Nachdenken ersonnen und mit Mühe gefunden wurden. Wenn sie aber sagen, daß die natürliche Erleuchtung dazu nicht ausreicht, so ist das offenbar falsch aus doppeltem Grunde. Erstens haben wir bereits gesehen, daß die Schwierigkeit in der Bibelauslegung keineswegs von dem Unvermögen der natürlichen Erleuchtung herrührt, sondern von der Nachlässigkeit (um nicht zu sagen Schlechtigkeit) jener Menschen, welche es versäumt haben, eine Geschichte der Bibel abzufassen, zu einer Zeit, wo dies noch möglich war. Zweitens aber soll dieses übernatürliche Licht (wie alle einräumen, so viel ich weiß) ein göttliches Geschenk sein, das nur den Gläubigen verliehen ist. Nun haben aber die Propheten und Apostel nicht bloß den Gläubigen, sondern auch und hauptsächlich den Ungläubigen und Schlechten gepredigt, welche also ebenfalls fähig gewesen sein mußten, den Sinn der Propheten und Apostel zu verstehen; andernfalls müßten uns die Propheten und Apostel wie Leute vorkommen, die kleinen Kindern vorgepredigt haben, nicht vernunftbegabten Männern. Auch Moses hätte seine Gesetze vergebens vorgeschrieben, wenn sie nur von Gläubigen hätten verstanden werden können; denn diese bedürfen keines Gesetzes. Denjenigen also, welche zum Verständnis der Propheten und Apostel ein übernatürliches Licht brauchen, fehlt eben, wie es scheint, das natürliche Licht, und ich bin weit entfernt, zu glauben, daß solche Leute ein übernatürliches göttliches Geschenk besäßen.

Eine ganz andere Ansicht hat Maimonides. Er meint, jede Bibelstelle sei verschiedener, ja sogar entgegengesetzter Deutungen fähig, und wir könnten erst dann von einer Stelle mit Sicherheit behaupten, daß wir ihren wahren Sinn erfaßt hätten, wenn wir bestimmt wissen, daß die betreffende Stelle nach unserer Auslegung nichts enthalte, was mit der Vernunft nicht übereinstimmt oder ihr gar widerspricht. Denn fände sich, daß die Stelle nach ihrem Wortsinn der Vernunft widerspricht, so müßte sie nach seiner Meinung anders ausgelegt werden, wenn sie auch noch so klar sein sollte. Dies behauptet er klar und deutlich im Buche More Nebuchim Teil 2, Kap. 25 mit folgenden Worten: »Wisse, daß ich nicht deswegen zu sagen mich scheue, die Welt sei von Ewigkeit her, weil die Stellen der Bibel über die Schöpfung der Welt dem entgegenstehen. Denn es giebt nicht mehr Stellen, welche lehren, die Welt sei geschaffen, als Stellen, welche lehren, Gott sei körperlich. Auch sind die Zugänge zur Deutung jener Stellen, welche von der Schöpfung der Welt handeln, uns weder verschlossen, noch versperrt, sondern wir hätten sie deuten können, wie dort, wo wir Gott die Körperlichkeit absprachen. Vielleicht wäre dies sogar noch leichter gegangen und wir hätten, um die Ewigkeit der Welt behaupten zu können, die betreffenden Stellen weit bequemer umdeuten können, als die andern Stellen, um Gott, gelobt sei er, die Körperlichkeit abzusprechen. Wenn ich aber dies dennoch nicht thue und es auch nicht glaube (nämlich daß die Welt ewig wäre), so hat das zweierlei Ursachen: Erstens, weil die Unkörperlichkeit Gottes klar bewiesen ist, weshalb alle Stellen, die im buchstäblichen Sinne damit im Widerspruch stehen, umgedeutet werden müssen. Denn in diesem Falle müssen sie notwendig eine Deutung (eine andere als die buchstäbliche) zulassen. Für die Ewigkeit der Welt dagegen ist kein Beweis geliefert worden; es ist also nicht nötig, der Bibel Gewalt anzuthun und die betreffenden Stellen umzudeuten um einer Meinung willen, die uns zwar einleuchtet, die wir aber doch vielleicht wieder mit der entgegengesetzten vertauschen, wenn irgend ein Grund dafür sprechen sollte. Die zweite Ursache ist, weil der Glaube an die Unkörperlichkeit Gottes mit den Grundlehren des Gesetzes nicht im Widerspruch steht u. s. f. Dagegen zerstört der Glaube an die Ewigkeit der Welt im Sinn des Aristoteles das Gesetz von Grund aus u. s. f.«

Das sind die Worte des Maimonides, aus welchen klar ersichtlich ist, was ich oben gesagt. Denn wenn er von der Ewigkeit der Welt durch die Vernunft überzeugt gewesen wäre, so hätte er kein Bedenken getragen, die Bibel zu drehen und zu deuten, bis sie scheinbar dasselbe lehren würde; ja er wäre sofort überzeugt gewesen, daß die Bibel die Ewigkeit der Welt habe lehren wollen, so deutlich sie überall das Gegenteil lehrt. Er konnte sich also von dem wahren Sinn einer Bibelstelle, bei aller Klarheit derselben, nicht für überzeugt halten, so lange ihm die Wahrheit der Sache selbst zweifelhaft war oder nicht ganz fest stand. Denn so lange uns die Wahrheit einer Sache nicht fest steht, können wir nicht wissen, ob die Sache mit der Vernunft übereinstimmt oder im Widerspruch mit ihr steht, und folglich können wir auch so lange nicht wissen, ob der buchstäbliche Sinn wahr oder falsch sei.

Wäre diese Ansicht richtig, so würde ich unbedingt zugeben, daß wir zur Bibelauslegung neben der natürlichen Erleuchtung noch eine andere nötig haben. Denn beinahe der ganze Inhalt der Bibel kann nicht aus Grundsätzen, die auf der natürlichen Vernunft beruhen, abgeleitet werden (wie schon gezeigt); somit können wir uns von der Wahrheit desselben durch die Beweiskraft der natürlichen Vernunft nicht überzeugen und folglich auch nicht von dem wahren Sinn oder der wahren Bedeutung der Bibel, sondern es wäre dazu eine andere Erleuchtung nötig. Es würde, wenn diese Ansicht wahr wäre, weiter folgen, daß die Menge, welche nur sehr selten von Beweisen etwas wissen will und auch keine Zeit hat, sich damit zu befassen, in Bezug auf die Bibel sich nur auf die Autorität und die Zeugnisse der Philosophen verlassen könne und demzufolge annehmen müsse, daß die Philosophen in der Auslegung der Bibel nicht irren könnten. Es wäre dies fürwahr eine ganz neue Kirchen-Autorität und ein neues Priester- oder Papsttum, das vom Volk mehr verlacht als verehrt würde. – Nun erfordert zwar auch unsere Methode die Kenntnis der hebräischen Sprache, womit sich zu befassen die Menge ebenfalls keine Zeit hat; trotzdem kann ein solcher Einwand gegen uns nicht erhoben werden. Denn das Volk der Juden und Heiden, welchem einst die Propheten und Apostel gepredigt und für welches sie geschrieben haben, verstand die Sprache der Propheten und Apostel. Den Sinn ihrer Worte hat es daher sehr wohl begriffen, aber keineswegs die Gründe dessen, was sie lehrten und die sie nach der Meinung des Maimonides gleichfalls hätten wissen müssen, um den Sinn der Propheten begreifen zu können. Es folgt daher aus unserer Methode nicht, daß das Volk sich mit dem Zeugnis der Ausleger beruhigen müsse. Denn ich weise auf ein Volk hin, dem die Sprache der Propheten und Apostel geläufig war; Maimonides aber wird auf kein Volk hinweisen können, das die Gründe der Dinge begreift und den Sinn der Propheten daraus erkennt. Was aber das heutige Volk betrifft, so habe ich schon gezeigt, daß alles, was zur Glückseligkeit nötig ist, in jeder Sprache leicht verstanden werden kann, auch wenn man dessen Begründung nicht weiß, weil es das alltägliche und praktische Leben betrifft. Dieses Verständnis befriedigt das Volk, nicht aber das Zeugnis der Ausleger; in allem übrigen aber geht es ihm ganz wie den Gelehrten selbst.

Ich will indessen zur Ansicht des Maimonides zurückkehren, um sie noch genauer zu untersuchen. Er muß einmal voraussetzen, daß die Propheten in allen Dingen miteinander übereinstimmten und große Philosophen und Theologen waren, da er meint, sie hätten aus der Wahrheit einer Sache ihre Schlüsse gezogen. Daß dies falsch ist, habe ich im zweiten Kapitel nachgewiesen. Ferner muß er voraussetzen, daß der Sinn der Bibel nicht aus ihr selbst sich ergeben könne. Denn da die Wahrheit der Sache sich nicht aus der Bibel selbst ergiebt, (indem sie keine Beweisführungen enthält, noch über die Dinge, über welche sie redet, Definitionen giebt und auf ihre ersten Ursachen zurückführt,) so kann nach der Ansicht des Maimonides der Sinn der Bibel aus ihr selbst sich weder ergeben noch ermittelt werden. Daß das gleichfalls falsch ist, erhellt aus dem vorliegenden Kapitel. Denn ich habe mit Gründen und Beispielen nachgewiesen, daß der Sinn der Bibel aus ihr selbst sich ergiebt und auch aus ihr selbst ermittelt werden kann, auch wo sie von Dingen redet, die auf der natürlichen Vernunft beruhen. Er setzt endlich noch voraus, daß es uns erlaubt wäre, die Worte der Bibel unsern vorgefaßten Meinungen gemäß zu deuten und zu drehen, und den Wortsinn, auch den klarsten und unzweideutigsten, zu verleugnen und in irgend einen andern zu verkehren. Daß ein solches Verfahren über die Grenzen des Erlaubten hinausgeht und eine Verwegenheit ist, abgesehen davon, daß sie dem, was in diesem Kapitel und in früheren bewiesen wurde, schnurstracks zuwiderläuft, muß jedermann einsehen. – Aber selbst diese weitgehende Freiheit zugestanden: was richtet er denn damit aus? Gar nichts. Denn da das, was die Bibel enthält, größtenteils gar nicht bewiesen werden kann, so können wir ihren Sinn auf diese Weise auch nicht ergründen; er kann also nach dieser Regel überhaupt weder gedeutet noch ausgelegt werden. Schlägt man dagegen unsere Methode ein, so kann man sich vieles dieser Art erklären und mit Sicherheit darüber sprechen, wie bereits durch Gründe und tatsächlich gezeigt wurde. Was aber seiner Natur nach begreiflich ist, davon kann der Sinn leicht aus dem Text selbst ermittelt werden, wie wir ebenfalls schon gezeigt haben. Daher ist die Methode des Maimonides ganz und gar wertlos. Dazu kommt noch, daß sie sowohl dem Volk beim schlichten Lesen der Bibel, wie denen, welche eine andere Methode befolgen, jede Gewißheit über den Sinn der Bibel ganz und gar benimmt. Deshalb verwerfe ich diese Ansicht des Maimonides als schädlich, wertlos und widersinnig.

Was ferner die Überlieferung der Pharisäer anbelangt, so wurde schon früher bemerkt, daß die Pharisäer selbst darüber keine Gewißheit hatten. Die Autorität der römischen Priester aber müßte sich auf ein Zeugnis von größerem Gewicht stützen; das allein ist der Grund, weshalb ich sie verwerfe. Denn würde diese Autorität aus der Bibel selbst ebenso bestimmt nachzuweisen sein, wie die der ehemaligen jüdischen Priester, so würde ich kein Gewicht darauf legen, daß es unter den römischen Priestern auch Ketzer und schlechte Menschen gegeben hat. Gab es doch auch unter den ehemaligen jüdischen Priestern Ketzer und schlechte Menschen, welche das Priesteramt durch verwerfliche Mittel erlangt hatten, und dennoch bildeten sie auf Anordnung der Bibel die oberste Behörde in Sachen der Gesetzesauslegung. S. 5. Buch Mose Im Original ist Exod. zitiert; offenbar fehlerhaft, indem es Deut. heißen muß, wo sich die beiden Stellen, welche Spinoza meint, finden. (Anmerkung des Übersetzers.) Kap. 17, V. 11 und 12 und Kap. 33, V. 10, und Maleachi Kap. 2, V. 8. Da aber die römischen Priester ein solches Zeugnis nicht aufweisen, so bleibt ihre Autorität sehr verdächtig. Damit aber niemand von dem Priestertum der Hebräer den Trugschluß ziehe, daß folglich auch die katholische Religion ein Priestertum nötig hat, bemerke ich folgendes: Die mosaischen Gesetze, welche das öffentliche Recht des Landes bildeten, bedurften notwendig zu ihrer Aufrechthaltung einer öffentlichen Autorität. Denn wenn es jedem frei stünde, das öffentliche Recht nach seinem Gutdünken auszulegen, so könnte kein Staat bestehen, sondern er würde zerfallen und das öffentliche Recht wäre nur ein Privatrecht. Ganz anders verhält es sich mit der Religion. Denn da sie nicht eigentlich in äußerlichen Handlungen, sondern in der Einfalt und Wahrhaftigkeit der Seele besteht, so gehört sie nicht dem öffentlichen Recht und der öffentlichen Autorität an. Denn die Einfalt und Wahrhaftigkeit der Seele wird den Menschen nicht durch die Macht der Gesetze, noch durch die öffentliche Autorität eingeflößt, wie denn überhaupt niemand mit Gewalt oder durch Gesetze gezwungen werden kann, selig zu werden. Dazu gehört vielmehr eine gütige, brüderliche Ermahnung, eine gute Erziehung und vor allem eigenes, freies Urteil. Da also das unbeschränkte Recht der freien Meinung auch in der Religion einem jeden zusteht und es sich nicht denken läßt, daß jemand dieses Recht aufgeben könne, so muß auch jedermann das unbeschränkte Recht und die höchste Autorität besitzen, über die Religion frei zu denken und folglich auch, sich dieselbe zu deuten und auszulegen. Denn aus keinem andern Grunde hat die Obrigkeit die höchste Autorität in der Auslegung der Gesetze und das entscheidende Urteil in öffentlichen Angelegenheiten, als weil es sich dabei um das öffentliche Recht handelt. Aus eben diesem Grunde aber muß jedermann selbst die höchste Autorität besitzen, die Religion auszulegen und über sie zu urteilen; weil es sich nämlich hierbei um das Recht des Einzelnen handelt. Weit entfernt also, daß man von der priesterlichen Autorität bei den Hebräern in der Auslegung der Landesgesetze auf die Autorität des römischen Priestertums im Auslegen der Religion einen Schluß ziehen könnte, läßt sich im Gegenteil viel leichter aus demselben schließen, daß jeder in eigner Person diese Autorität besitzt.

Wir können auch hieran sehen, daß unsere Methode der Bibelauslegung die beste ist. Denn wenn jeder selbst die höchste Autorität besitzt, sich die Bibel auszulegen, so kann es auch bei der Bibelauslegung keinen andern Wegweiser geben als die natürliche Vernunft, welche ein Gemeingut aller Menschen ist, also weder eine übernatürliche Erleuchtung, noch eine äußere Autorität. Denn sie darf dann nicht so schwierig sein, daß sie nur von recht scharfsinnigen Philosophen gehandhabt werden kann, sondern muß für das natürliche und allgemeine Denkvermögen der Menschen passen, was bei unserer Methode nachgewiesenermaßen der Fall ist. Denn wir haben gesehen, daß die Schwierigkeiten, welche sie hat, von menschlicher Nachlässigkeit herrühren, aber nicht in ihrem Wesen begründet sind.

Achtes Kapitel.

In demselben wird gezeigt, daß die fünf Bücher Mose, wie auch die Bücher Josua, Richter, Ruth, Samuelis und der Könige, nicht von diesen Personen selbst geschrieben sind. Ferner wird untersucht, ob diese Bücher von mehreren Verfassern herrühren oder bloß von einem einzelnen, und von wem.


Das vorige Kapitel handelte von den Grundlagen und Hauptregeln zum Verständnis der biblischen Schriften, und es wurde gezeigt, daß dieselben in nichts anderem bestehen, als in einer unverfälschten Geschichte dieser Schriften. Es wurde ferner gezeigt, daß diese Geschichte, obgleich sie ein unumgängliches Bedürfnis ist, von den Alten vernachlässigt wurde, oder, wenn sie je geschrieben oder mündlich überliefert worden sein sollte, durch die Ungunst der Zeiten verloren ging, womit zugleich ein guter Teil der Grundlagen und Hauptregeln zum Verständnis der biblischen Schriften verloren ging. Es ließe sich dieser Verlust eher verschmerzen, wenn sich die Späteren innerhalb der richtigen Grenzen gehalten und das Wenige, das sie mündlich empfangen oder schriftlich vorgefunden hatten, mit gewissenhafter Treue ihren Nachkommen überliefert, aber nichts Neues aus eigenem Kopfe ausgeheckt hätten. So aber ist die Geschichte der Bibel nicht bloß unvollständig geblieben, sondern auch gefälscht worden. Mit andern Worten: es läßt sich auf das, was uns erhalten blieb, nicht bloß keine vollständige Geschichte der Bibel aufbauen, sondern auch keine zuverlässige.

Es ist nun meine Absicht, diese Grundlagen zum Verständnis der Bibel zu verbessern, um nicht bloß mit vereinzelten, sondern mit den allgemeinen Vorurteilen der Theologie aufzuräumen. Übrigens fürchte ich, mit diesem Versuch schon zu spät zu kommen. Denn bereits ist es schon so weit gekommen, daß die Menschen hier von keiner Berichtigung hören wollen, sondern was sie einmal unter dem Schein der Religion angenommen haben, hartnäckig verteidigen, und daß der Vernunft, wie es scheint, nirgends ein Plätzchen eingeräumt wird, außer von verhältnismäßig sehr wenigen Leuten. In solchem Umfang haben sich diese Vorurteile der Geister der Menschen bemächtigt. Trotzdem will ich mir die Mühe nicht verdrießen lassen und nicht nachlassen, einen Versuch zu machen, da dennoch kein Grund vorhanden ist, an der Sache ganz und gar zu verzweifeln.

Um nun den Gegenstand ordnungsgemäß zu behandeln, werde ich mit den Vorurteilen in Bezug auf die wirklichen Verfasser der heiligen Schriften beginnen und zwar in erster Linie vom Verfasser des Pentateuch reden, für welchen man fast allgemein den Moses gehalten hat, und die Pharisäer behaupteten das so hartnäckig, daß sie jeden für einen Ketzer erklärten, der dieser Meinung nicht unbedingt beipflichtete. Aben Hezra, ein Mann von freierem Geiste und bedeutender Gelehrsamkeit, unter allen, die ich gelesen, der erste, der an diesem Vorurteil Anstoß nahm, hat es deswegen nicht gewagt, seine Ansicht offen zu entwickeln, sondern hat sie nur mit dunklen Worten angedeutet. Ich nehme keinen Anstand, dieselben aufzuhellen und die Sache zu verdeutlichen.

Die Worte des Aben Hezra stehen in seinem Kommentar zum 5. Buch Mose und lauten: » Jenseits des Jordans etc. Wenn du das Geheimnis der Zwölf verstehst, auch ›Und Moses schrieb das Gesetz nieder‹, ferner ›Der Kananiter war damals im Lande‹, weiter ›Auf dem Berge Gottes wird er sich offenbaren‹, endlich auch ›Siehe sein Bett war ein eisernes Bett‹, dann wirst du die Wahrheit erkennen.«

Mit diesen wenigen Worten deutet er an und liefert zugleich den Beweis, daß es nicht Moses gewesen, der den Pentateuch geschrieben, sondern jemand anders, der viel später gelebt, und daß das Buch, welches Moses wirklich geschrieben, ein ganz anderes gewesen. Dieses, sage ich, will er beweisen, indem er 1. seine Bemerkung an die Stelle in der Vorrede des 5. Buches Mose knüpft, welche zeigt, daß Moses dieselbe nicht geschrieben habe, da er den Jordan nicht überschritten hat. – 2. bemerkt er, daß das eigentliche Buch des Moses vollständig und sehr ausführlich auf die Fläche eines einzigen Altars geschrieben wurde, (s. 5. Buch Mose Kap. 27 und Josua Kap. 8, V. 37 u. s. f.,) der nach dem Bericht der Rabbinen aus nur zwölf Steinen bestand; woraus folgt, daß das eigentliche Buch des Moses von viel geringerem Umfang war als der Pentateuch. Dies hat nach meiner Meinung der Verfasser durch »das Geheimnis der Zwölf« andeuten wollen; wenn er nicht etwa jene zwölf Verwünschungen gemeint hat, welche in dem eben angeführten Kapitel des 5. Buches Mose stehen; in welchem Falle er vielleicht geglaubt hat, sie seien nicht im Gesetzbuch enthalten gewesen, indem Moses zu dem geschriebenen Gesetze hin den Leviten befohlen habe, diese Verwünschungen feierlich vorzutragen, um das Volk durch diese Beschwörung zur Beobachtung der geschriebenen Gesetze anzuspornen. Möglich auch, daß er das letzte Kapitel des 5. Buches Mose, das vom Tode des Moses handelt, und aus zwölf Versen besteht, gemeint hat. Doch ist es unnötig, diese und andere Vermutungen, hier näher zu prüfen. – 3. bemerkt er, daß es im 5. Buche Mose Kap. 31, V. 6 heißt: »Und Moses schrieb das Gesetz nieder«, welche Worte nicht von Moses selbst herrühren können, sondern von einem andern, der die Thaten und Schriften des Moses beschreibt. – 4. macht er auf die Stelle 1. Buch Mose Kap. 12, V. 6 aufmerksam, wo der Erzähler berichtet, daß Abraham das Land der Kananiter durchwanderte und hinzufügt, der Kananiter sei zu jener Zeit in diesem Lande gewesen; womit er die Zeit, in welcher er dies schrieb, deutlich von jener Zeit ausschließt. Diese Worte müssen also geschrieben worden sein, als Moses schon gestorben war und die Kananiter schon vertrieben waren und diese Landstriche nicht mehr besaßen. Dies deutet auch derselbe Aben Hezra in seinem Kommentar zu dieser Stelle an. Er sagt: »Es scheint, daß Kanaan (Noahs Enkel) das Kananiterland von einem andern, der es vor ihm in Besitz hatte, erobert hat. Ist dies jedoch nicht der Fall gewesen, so steckt hier ein Geheimnis; wer es errät, der schweige.« Das heißt: Wenn Kanaan diese Länder erst erobern mußte, so wird der Sinn sein: Der Kananiter war damals schon in diesem Lande; indem er nämlich eine frühere Zeit ausschließt, in welcher das Land von einem andern Volk bewohnt wurde. War aber Kanaan der erste, der diese Gegenden bewohnt hat, (was aus dem 10. Kapitel des 1. Buches Mose folgt,) so schließt der Text damit die Gegenwart aus, nämlich die Zeit des Erzählers, und diese kann nicht die Zeit des Moses gewesen sein, in welcher die Kananiter jene Gegenden noch besaßen. Das ist das Geheimnis, das Aben Hezra zu verschweigen empfiehlt. – 5. bemerkt er, daß im 1. Buch Mose Kap. 22, V. 14 der Berg Moria Berg Gottes genannt wird, welchen Namen derselbe erst erhielt, als er zum Bau des Tempels geweiht war; zur Zeit des Moses aber war der Berg noch nicht dazu erwählt, denn Moses führt noch keinen von Gott erwählten Ort an, im Gegenteil weissagt er, Gott werde einst irgend einen Ort wählen, auf welchen der Name Gottes gelegt werden würde. – 6. endlich bemerkt er, daß der Erzählung von Og, dem König von Basan, im 3. Kapitel des 5. Buch Mose folgende Stelle eingeschoben ist: »Nur Og, König von Basan, blieb von den andern Riesen Das hebräische Wortם֨אפך rephaim bedeutet die Verdammten, scheint aber auch ein Eigenname gewesen zu sein, nach 1. Buch der Chronik Kap. 20. Ich glaube daher, daß es hier eine Familie bezeichnet. (Anmerkung des Verfassers.) übrig, siehe sein Bett war ein eisernes Bett, es ist ganz bestimmt dasselbe (Bett), das in Rabat der Söhne Ammons, neun Ellen lang u. s. f.« Dieses Einschiebsel zeigt sehr deutlich, daß der Verfasser dieser Bücher lange nach Moses gelebt hat; denn so drückt sich nur jemand aus, der Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählt und auf einzelne Überbleibsel hinweist, um seine Geschichte zu beglaubigen. Ohne Zweifel ist dieses Bett erst in den Zeiten Davids entdeckt worden, der diese Stadt eroberte, wie im 2. Buche Samuelis Kap. 12, V. 30 erzählt wird. – Aber nicht bloß hier, sondern auch etwas weiter unten hat derselbe Erzähler den Worten des Moses etwas eingeschaltet, nämlich: »Jair, der Sohn des Manasse, nahm den ganzen Gerichtsbezirk Argob ein bis zu der Grenze von Gesurita und Maachatita und er nannte diese Ortschaften samt Basan nach seinem Namen Dörfer des Jair bis auf diesen Tag«. Dieses, sage ich, fügt der Erzähler bei, um die Worte des Moses zu erläutern, welche lauten: »Und das übrige Gilead und ganz Basan, das Königreich des Og, gab ich dem halben Stamm Manasse, den ganzen Gerichtsbezirk Argob unter dem ganzen Basan, derselbe wird das Land der Riesen genannt.« Die jüdischen Zeitgenossen dieses Erzählers wußten ohne Zweifel, welche Dörfer im Stamme Juda die Dörfer Jairs waren, die Namen des Gerichtsbezirks Argob und des Landes der Riesen kannten sie aber nicht; er mußte daher erklären, welche Ortschaften es waren, die vor Zeiten so hießen, und zugleich den Grund angeben, weshalb sie zu seiner Zeit den Namen des Jair führten, der vom Stamme Juda, nicht vom Stamme Manasse war (s. 1. Buch der Chronik Kap. 2, V. 21 und 23).

Damit habe ich die Bemerkung des Aben Hezra erläutert und zugleich die Stellen im Pentateuch, die er zur Bekräftigung seiner Ansicht anführt. Derselbe hat aber weder alle Stellen noch die wichtigsten erwähnt, da noch viele Stellen, und zwar Stellen von größerer Bedeutung, aus diesen Büchern zu erwähnen übrig sind, nämlich:

Erstens. Der Verfasser dieser Bücher spricht nicht bloß von Moses in der dritten Person, sondern bezeugt auch vielerlei über ihn. So heißt es z. B.: »Gott sprach zu Moses«. – »Gott redete mit Moses von Angesicht zu Angesicht«. – »Moses war der demütigste unter allen Menschen« (4. Buch Mose Kap. 12, V. 3). – »Moses wurde gegen die Heerführer vom Zorn ergriffen« (4. Buch Mose Kap. 31, V. 14). – »Moses der göttliche Mann« (5. Buch Mose Kap. 33, V. 1). – »Moses, der Knecht Gottes, starb. Nie war in Israel ein Prophet wie Moses u. s. f.« – Im 5. Buch Mose dagegen, wo das Gesetz, welches Moses dem Volke erläutert und das er niedergeschrieben hatte, mitgeteilt wird, redet Moses und erzählt seine Thaten in erster Person, z. B. »Gott sprach zu mir« (5. Buch Mose Kap. 2, V. 1 und 17 u. s. f.), »Ich bat Gott etc.« Nur am Schluß des Buches, nachdem die eigenen Worte des Moses mitgeteilt sind, fährt der Verfasser wieder fort, von Moses in dritter Person zu reden und erzählt, wie Moses dieses Gesetz (das er nämlich erläutert hatte) dem Volke schriftlich übergeben, es von neuem ermahnt und dann sein Leben beschlossen hat. Alles dieses, nämlich die Art, wie der Verfasser von Moses spricht, was er von ihm bezeugt und der Zusammenhang der ganzen Erzählung lassen die Überzeugung gewinnen, daß diese Bücher nicht von Moses selbst, sondern von jemand anders geschrieben sein müssen.

Zweitens ist hervorzuheben, daß in dieser Erzählung nicht bloß berichtet wird, wie Moses starb, begraben und von den Israeliten dreißig Tage lang betrauert wurde, sondern sogar zwischen Moses und andern Propheten, die nach ihm gelebt, ein Vergleich gezogen und von Moses gesagt wird, er habe sie alle übertroffen: »Nie war«, sagt er, »in Israel ein Prophet wie Moses, welchen Gott erkannt hat von Angesicht zu Angesicht«. Ein solches Zeugnis konnte wahrlich Moses selbst sich nicht ausstellen und ebensowenig konnte es ihm von jemand, der unmittelbar auf ihn folgte, ausgestellt werden, sondern nur von jemand, der viele Jahrhunderte später lebte, zumal ja der Verfasser von einer vergangenen Zeit redet, nämlich: »Nie war ein Prophet etc.« Ebenso sagt er von seinem Grab: »Niemand kannte dasselbe bis auf den heutigen Tag.«

Drittens. Mehrere Ortschaften werden nicht mit den Namen benannt, die sie zu Mose Lebzeiten führten, sondern mit andern, die sie viel später erhielten. So heißt es von Abraham: »Er verfolgte sie (die Feinde) bis nach Dan« (s. 1. Buch Mose Kap. 14, V. 14). Diesen Namen aber hat jene Stadt erst lange nach dem Tode Josuas erhalten (s. Buch der Richter Kap. 18, V. 29).

Viertens wird die Erzählung manchmal über die Lebzeiten des Moses ausgedehnt. So im 2. Buch Mose Kap. 16, V. 34, wo berichtet wird, daß die Kinder Israels die Mannaspeise vierzig Jahre lang gegessen hätten, bis sie in ein bewohntes Land kamen, bis sie an die Grenzen des Landes Kanaan kamen; also bis zu der Zeit, worüber im Buche Josua Kap. 5, V. 12 berichtet wird. – Ferner heißt es im 1. Buche Mose Kap. 36, V. 31: »Das sind die Könige, welche in Edom regiert haben, bevor ein König in Israel regierte«. Offenbar führt hier der Erzähler die Könige auf, welche die Idumäer hatten, bevor sie David unterjochte und Statthalter in Idumäa einsetzte (s. 2. Buch Samuelis Kap. 8, V. 14).

Aus dem allen erhellt sonnenklar, daß der Pentateuch nicht von Moses geschrieben wurde, sondern von einem andern, und zwar von jemand, der viele Jahrhunderte nach Moses gelebt hat.

Betrachten wir nun aber, wenn es dem Leser genehm ist, auch noch die Bücher, welche wirklich von Moses geschrieben sind und im Pentateuch zitiert werden; denn auch aus ihnen wird sich ergeben, daß was Moses geschrieben, etwas ganz anderes war als der Pentateuch.

Erstens geht aus 2. Buch Mose Kap. 17, V. 14 hervor, daß Moses auf Gottes Geheiß den Krieg gegen Amalek beschrieben hat, doch erfahren wir aus jenem Kapitel selbst nicht, in welchem Buche dies geschehen ist. Nun wird aber im 4. Buche Mose Kap. 21, V. 12 ein Buch zitiert, welches »Buch der Kriege Gottes« hieß und dieses Buch enthielt ohne Zweifel die Beschreibung des Amalekiterkriegs und wohl auch den Bericht über die Lagerstätten (welchen der Verfasser des Pentateuch nach 4. Buch Mose Kap. 33, V. 2 ebenfalls von Moses geschrieben sein läßt). –Wir wissen ferner aus 2. Buch Mose Kap. 24, B. 4 und 7 von einem andern Buche, welches »Buch des Bundes« ספר sepher bedeutet im Hebräischen häufig auch einen Brief oder eine Urkunde. (Anmerkung des Verfassers.) betitelt war und das er den Israeliten vorlas, als sie erstmals mit Gott einen Bund geschlossen hatten. Doch konnte dieses Buch oder dieser Brief nur sehr wenig enthalten, nämlich die Gesetze oder Befehle Gottes, welche im 2. Buch Mose von Kap. 20, V. 22 bis Kap. 24 enthalten sind; was jeder zugeben wird, der dieses Kapitel unbefangen liest und ein gesundes Urteil hat. Es wird nämlich daselbst berichtet, Moses habe, als er sah, daß das Volk bereit war, mit Gott einen Bund zu schließen, sofort die Reden und Gebote Gottes niedergeschrieben und am folgenden Morgen dem gesamten Volke, nach einigen vorausgegangenen religiösen Übungen, die Bedingungen des zu schließenden Bundes vorgelesen. Nachdem dieselben verlesen und, woran nicht zu zweifeln, vom ganzen Volke verstanden waren, verpflichtete sich das Volk einmütig zu denselben. Aus der kurzen Zeit nun, in welcher dieses Buch geschrieben wurde, wie auch daraus, daß es sich um einen zu schließenden Bund handelte, läßt sich folgern, daß das Buch nichts weiter enthalten hat, als das Wenige, das hier erwähnt worden. – Es ist endlich auch bekannt, daß Moses im vierzigsten Jahre nach dem Auszug aus Ägypten alle Gesetze, die er gegeben, erklärt (s. 5. Buch Mose Kap. 1, V. 5) und das Volk von neuem auf dieselben verpflichtet hat (s. 5. Buch Mose Kap. 29, V. 14), worauf er ein Buch geschrieben hat, welches diese Gesetze samt ihrer Erklärung und diesem neuen Bund enthielt (s. 5. Buch Mose Kap. 31, V. 9). Dieses Buch hieß »Buch des Gesetzes Gottes« und es wurde später durch Josua erweitert, indem dieser den Bericht über den Bund beifügte, den das Volk zu seiner Zeit mit Gott zum dritten Male schloß und durch welchen es sich aufs neue verpflichtete (s. Josua Kap. 24, V. 25 und 26). Da wir nun aber kein Buch besitzen, welches diesen Bund des Moses samt dem des Josua enthält, so muß man notwendig zugeben, daß dasselbe verloren gegangen; wenn man nicht mit dem chaldäischen Paraphrasten Jonathan in unsinniger Weise die Worte der Bibel beliebig verdrehen will. Jonathan hat nämlich der gedachten Schwierigkeit wegen die Bibel verfälscht, statt daß er seine Unwissenheit eingestand. Denn die Worte des Buches Josua (s. Kap. 24, V. 26): »Und Josua schrieb diese Worte in das Buch des Gesetzes Gottes« übersetzt er ins Chaldäische so: »Und Josua schrieb diese Worte und verwahrte sie mit dem Buche des Gesetzes Gottes«. Was soll man mit Leuten anfangen, die nichts sehen, als was sie sehen wollen? Was, sage ich, heißt das anders, als die echte Bibel verwerfen und eine neue aus eigenem Gehirn aushecken? Wir unsererseits folgern vielmehr, daß dieses Buch des Gesetzes Gottes, welches Moses geschrieben hat, nicht der Pentateuch gewesen ist, sondern ein ganz anderes, und daß der Verfasser des Pentateuch das Buch des Moses dem Pentateuch am passenden Ort einverleibte. Dies ergiebt sich aufs deutlichste sowohl aus dem Bisherigen wie aus dem Folgenden.

In der bereits angeführten Stelle des 5. Buches Mose nämlich, wo erzählt wird, daß Moses das Buch des Gesetzes geschrieben habe, fügt der Erzähler hinzu, Moses habe dasselbe den Priestern übergeben und ihnen befohlen, dasselbe zu einer gewissen Zeit dem ganzen Volke vorzulesen. Es muß demnach dieses Buch von weit geringerem Umfang gewesen sein, als der Pentateuch, da es in einer einzigen Versammlung so verlesen werden konnte, daß es jedermann verständlich war. – Es darf hier auch der Umstand nicht unerwähnt bleiben, daß Moses nur von einem einzigen Buche unter allen, die er geschrieben hatte, befohlen hat, es sorgfältig aufzubewahren und zu hüten, nämlich eben von dem Buche, welches das zweite Bündnis samt dem Liede (das Moses später ebenfalls niederschrieb, damit es das ganze Volk auswendig lerne) enthielt. Weil er nämlich mit dem ersten Bündnis bloß die dabei Anwesenden verpflichtet hatte, mit dem zweiten Bündnis aber auch ihre Nachkommenschaft (s. 5. Buch Mose Kap. 29, V. 14 und 15), darum befahl er, das Buch dieses zweiten Bundes für kommende Jahrhunderte sorgfältig aufzubewahren, und daneben auch, wie gesagt, das Lied, welches sich hauptsächlich auf künftige Zeiten bezieht.

Da nun nicht erwiesen ist, daß Moses außer diesen Büchern auch noch andere geschrieben hat; da er ferner nur das Buch des Gesetzes samt dem Liede für die Nachwelt sorgfältig aufzubewahren befohlen hat; da endlich viele Stellen im Pentateuch gar nicht von Moses herrühren können: so folgt, daß die Behauptung, Moses sei der Verfasser des Pentateuch, aller Grundlage entbehrt und gegen alle Vernunft ist.

Vielleicht fragt nun aber hier jemand: Soll wohl Moses außer diesen Gesetzen nicht auch noch andere geschrieben haben, da sie ihm doch zuerst geoffenbart wurden? Mit andern Worten: Soll Moses in der That in dem Zeitraume von vierzig Jahren von allen Gesetzen, die er gegeben, nur die wenigen niedergeschrieben haben, von denen ich sagte, daß sie im Buch des ersten Bundes enthalten seien? Hierauf ist folgendes zu antworten: Gesetzt auch, die Annahme erscheine vernunftgemäß, daß Moses zur selben Zeit und an selbem Ort, wo er seine Gesetze erlassen hat, dieselben auch niedergeschrieben habe, so bestreite ich doch, daß wir das als sicher annehmen dürfen. Wir haben ja oben gesehen, daß man über solche Dinge nur dann etwas behaupten darf, wenn es aus der Bibel selbst erwiesen ist oder aus ihren Grundlagen sich als richtige Folgerung ergiebt; aber nicht bloß darum, weil es vernunftgemäß erscheint. Übrigens zwingt uns die Vernunft gar nicht, diese Behauptung aufzustellen, da möglicherweise die Ältesten jene Gebote des Moses dem Volke schriftlich mitgeteilt haben, welche der Erzähler später gesammelt und seiner Erzählung vom Leben des Moses eingeschaltet hat.

So viel über die fünf Bücher Mose; es ist nun Zeit, auch die andern Bücher zu untersuchen.

Von dem Buche Josua kann aus gleichen Gründen behauptet werden, daß es nicht von Josua selbst geschrieben ist. Es kann nicht Josua selbst, sondern muß ein anderer sein, der von Josua bezeugt, daß sein Ruf über die ganze Erde verbreitet war (s. Kap. 7, V. 1), daß er nichts von dem unterlassen hat, was Moses befohlen (s. Kap. 8, letzten Vers und Kap. 11, V. 15), daß er, alt geworden, das ganze Volk zur Versammlung berufen und bald darauf den Geist aufgegeben hat. Auch wird manches darin erzählt, was sich erst nach Josuas Tode zutrug. Es wird erzählt, daß nach seinem Tode die Israeliten Gott verehrt hätten, so lange die Ältesten lebten, die ihn gekannt. Ferner heißt es im 16. Kap., V. 10, daß (Ephraim und Manasse) den Kananiter nicht vertrieben hätten, die zu Gazer wohnten, sondern (wird beigefügt) daß der Kananiter unter Ephraim gewohnt habe bis auf diesen Tag und zinspflichtig gewesen sei. Es ist das Gleiche, was im Buch der Richter Kap. 1 erzählt wird, und auch die Redensart »bis auf diesen Tag« zeigt, daß der Verfasser etwas aus alter Zeit erzählt. Ähnlich verhält es sich mit der Stelle Kap. 15, Schlußvers, die von den Söhnen Judas handelt, und mit dem Bericht über Kaleb, von V. 15 an im gleichen Kapitel. Auch jene Begebenheit, welche im 22. Kapitel von V. 10 an erzählt wird, von den dritthalb Stämmen, die einen Altar jenseits des Jordans bauten, scheint sich nach Josuas Tode ereignet zu haben, da Josua in der ganzen Erzählung nicht erwähnt wird; das Volk allein beratschlagt, ob ein Krieg geführt werden soll, sendet Gesandte aus, erwartet ihre Antwort und faßt seinen Beschluß. Aus Kap. 10, V. 14 folgt endlich augenscheinlich, daß dieses Buch viele hundert Jahre nach Josua geschrieben wurde, denn es wird da bezeugt, daß kein anderer Tag wie dieser jemals gewesen, weder vorher noch nachher, wo Gott (so) einem Menschen gehorcht hätte etc.« – Hat Josua jemals ein Buch geschrieben, so war es gewiß jenes, welches in derselben Erzählung Kap. 10, V. 13 zitiert wird.

Vom Buch der Richter wird wohl kein Mensch von gesundem Verstande sich einreden wollen, daß es von den Richtern selbst geschrieben sei; zeigt doch schon das Schlußwort der ganzen Geschichte, in Kap. 21, daß das ganze Buch von einem einzigen Erzähler geschrieben ist. Auch erinnert der Verfasser wiederholt daran, daß in jenen Zeiten kein König in Israel war, was zweifellos auf eine Abfassungszeit schließen läßt, in welcher bereits Könige die Herrschaft inne hatten.

Bei den Büchern Samuelis haben wir gleichfalls keinen Grund, uns lange aufzuhalten, da die Geschichte weit über sein Leben fortgeführt wird. Nur das möchte ich bemerken, daß auch dieses Buch viele Jahrhunderte nach Samuel geschrieben ist. Denn im ersten der beiden Bücher Kap. 9, V. 6 erinnert der Erzähler in einer Parenthese: »In früheren Zeiten sagte man in Israel, wenn man ging, um Gott zu befragen: Komm, laß uns zum Seher gehen. Denn den Propheten von heute nannte man damals Seher.«

Die Bücher der Könige endlich sind, wie aus ihnen selbst hervorgeht, ein Auszug aus mehreren Büchern, nämlich dem Buche von den Thaten Salomos (s. 1. Buch der Könige Kap. 11, V. 5), der Chronik der Könige von Juda (s. ebenda Kap. 14, V. 19 und 29) und der Chronik der Könige von Israel.

Wir schließen also, daß alle Bücher, mit denen wir uns bis hierher beschäftigt haben, später verfaßt, und die darin enthaltenen Begebenheiten als längst vergangene erzählt werden.

Wenn wir nun den Zusammenhang wie den Stoff aller dieser Bücher prüfen, so merken wir leicht, daß sie sämtlich von einem und demselben Geschichtschreiber geschrieben sind, welcher die alte Geschichte der Juden von Anfang an bis zur ersten Zerstörung Jerusalems zu schreiben beabsichtigt hat. Denn schon aus dem Zusammenhang, in welchem diese Bücher miteinander stehen, können wir entnehmen, daß sie eine Erzählung eines Geschichtschreibers enthalten. Nachdem er mit der Geschichte des Moses fertig ist, beginnt er die Geschichte des Josua mit folgendem Übergang: »Und es geschah, als Moses der Knecht Gottes gestorben war, daß Gott zu Josua sprach etc.« Auf gleiche Weise verbindet er die Geschichte Josuas, die mit dessen Tod endigt, mit dem Anfang der Geschichte der Richter, nämlich: »Und es geschah, als Josua gestorben war, daß die Kinder Israels Gott fragten etc.« Mit diesem Buche verknüpft er das Buch Ruth als Anhang durch die Worte: »Und es geschah in jenen Tagen, da die Richter Recht sprachen, daß Hungersnot war in jenem Lande«. Auf ähnliche Weise wird diesem Buche das erste Buch Samuelis angefügt, nach dessen Schluß er mit dem gewohnten Übergang das zweite beginnt; mit diesem verbindet er, noch ehe die Geschichte Davids beendigt ist, das erste Buch der Könige, wo er mit der Fortsetzung der Geschichte Davids anhebt, und diesem wird das zweite Buch der Könige mit der gleichen Verbindungsformel angeschlossen.

Auch aus dem Zusammenhang und der Reihenfolge der Erzählungen ersieht man, daß diese Bücher von einem einzigen Geschichtschreiber herrühren, der einen bestimmten Zweck im Auge gehabt hat. Er beginnt mit der Erzählung des ersten Ursprungs des hebräischen Volkes; hierauf berichtet er ordnungsgemäß, bei welcher Gelegenheit und zu welcher Zeit Moses Gesetze gegeben und vieles vorausgesagt hat; sodann wie die Hebräer, den Weissagungen des Moses gemäß, das verheißene Land (s. 5. Buch Mose Kap. 7) eroberten, aber, nachdem sie dasselbe in Besitz hatten, die Gesetze übertraten (s. 5. Buch Mose Kap. 31, V. 16), was viel Unglück für sie zur Folge hatte. Er erzählt weiter, wie die Hebräer Könige wählen wollten (s. 5. Buch Mose Kap. 17, V. 14), welche gleichfalls, je nachdem sie die Gesetze beobachteten, glücklich oder unglücklich regierten (s. 5. Buch Mose Kap. 28, V. 36 und letzten Vers), und erzählt schließlich, wie das Reich unterging, ganz wie Moses es vorhergesagt. Über alles Übrige aber, was zur Treue gegen das Gesetz nichts beiträgt, schweigt er entweder ganz, oder er verweist den Leser auf andere Geschichtschreiber. So verfolgen also alle diese Bücher die eine Absicht, nämlich die Worte und Gebote des Moses zu lehren und durch den Verlauf der Begebenheiten zu bestätigen.

Aus diesen drei Umständen also, nämlich aus der Gleichartigkeit des Stoffs dieser Bücher, aus ihrem Zusammenhang und aus ihrer viele Jahrhunderte nach den erzählten Begebenheiten erfolgten Abfassung, haben wir, wie gesagt, den Schluß zu ziehen, daß sie alle einen und denselben Geschichtschreiber zum Verfasser haben.

Wer dies nun aber gewesen sei, kann ich nicht mit solcher Bestimmtheit nachweisen; ich vermute jedoch, daß es Esra selbst gewesen. Zu dieser Vermutung führen mich manche triftige Gründe. Der Geschichtschreiber, der, wie wir wissen, eine und dieselbe Person war, führt die Geschichte fort bis zur Befreiung des Jojachin und fügt hinzu, derselbe habe an der Tafel des Königs gespeist sein ganzes Leben lang (das heißt entweder während des ganzen Lebens des Jojachin oder des Sohnes Nebukadnezars, denn der Sinn ist völlig zweideutig); er kann somit nicht vor Esra gelebt haben. Nun weiß aber die Bibel von keinem andern, der damals lebte, als bloß von Esra (s. Esra Kap. 7, V. 10), daß er seinen Fleiß auf die Erforschung und Ausschmückung des Gesetzes Gottes verwendete und ein gewandter Schriftsteller (daselbst V. 6) im mosaischen Gesetze gewesen sei. Daher kann ich nur Esra als Verfasser dieser Bücher vermuten. Aus dem angeführten Zeugnis über Esra ersehen wir ferner, daß derselbe seinen Fleiß nicht bloß auf die Erforschung des Gesetzes Gottes verwendet hat, sondern auch auf dessen Vervollständigung. Auch in Nehemia Kap. 8, V. 9 heißt es: »Sie lasen das Buch des Gesetzes Gottes mit seiner Auslegung und richteten ihr Nachdenken darauf und verstanden die Schrift«. Da aber im 5. Buche Mose nicht bloß das Buch des mosaischen Gesetzes oder dessen größter Teil enthalten ist, sondern noch viele Zusätze zu dessen näherer Erläuterung darin vorkommen, so vermute ich, daß das 5. Buch Mose eben jenes Buch des Gesetzes Gottes gewesen sei, das Esra geschrieben, ausgeschmückt und erläutert hat und das sie damals lasen.

Dafür nun, daß im fünften Buche Mose viele Zusätze als Einschaltung zum besseren Verständnis enthalten seien, habe ich schon oben, wo die Stelle des Aben Hezra erklärt wurde, zwei Beispiele angeführt; es finden sich aber noch mehrere dieser Art. So z. B. in Kap. 2, V. 12: »Und in Seïr wohnten die Horiter vormals, aber die Söhne Esaus hatten sie vertrieben und aus ihrem Angesicht vertilgt und wohnten nun an ihrer Stelle, so wie Israel gethan im Lande seines Erbteils, welches Gott ihm gegeben.« Damit erklärt er nämlich den 3. und 4. Vers desselben Kapitels und sagt, daß die Söhne Esaus den Berg Seïr, der ihnen nach den angeführten Versen als Erbteil zugefallen war, nicht unbewohnt vorgefunden und besetzt hatten, sondern daß sie ihn erobert und die Horiter, die ihn früher bewohnt, von da, ebenso wie die Israeliten nach Mose Tod die Kananiter, vertrieben und ausgerottet haben. – So sind auch den Worten des Moses im 10. Kapitel die Verse 6, 7, 8 und 9 als Einschiebsel beigefügt. Denn niemand kann verkennen, daß V. 8, welcher beginnt: »In jener Zeit sonderte Gott den Stamm Levi ab« sich auf den 5. Vers beziehen muß, nicht aber auf den Tod Arons. Esra scheint dies aus keinem andren Grunde eingeschoben zu haben, als weil Moses in dieser Erzählung vom Kalbe, welches das Volk anbetete, gesagt hatte (s. Kap. 9, V. 20), er habe Gott um Aron willen angefleht. Er fügt ferner erläuternd bei, daß Gott eben zu jener Zeit, von welcher Moses hier redet, sich den Stamm Levi erwählte, um die Ursache dieser Erwählung und den Grund, weshalb die Leviten nicht zum Anteil an dem Erbe berufen waren, anzugeben; worauf er den Faden der Erzählung mit den Worten des Moses wieder aufnimmt. – Dazu kommt noch der Eingang des Buches und alle Stellen, welche von Moses in der dritten Person reden. Außerdem hat er ohne Zweifel noch viele andere Stellen, was wir heutzutage nicht mehr unterscheiden können, hinzugefügt oder in andere Worte gekleidet, damit sie von seinen Zeitgenossen besser verstanden würden. Hätten wir, sage ich, das Buch des Moses selbst, so würden wir ohne Zweifel in den Worten, in der Anordnung und in der Begründung seiner Vorschriften bedeutende Abweichungen finden. Wenn ich nur die Zehn Gebote dieses Buches mit den Zehn Geboten im 2. Buche Mose (wo deren Geschichte gründlich erzählt wird) vergleiche, so sehe ich, daß jene von diesen in allen drei Punkten abweichen. Denn das vierte Gebot wird nicht bloß auf andere Weise anbefohlen, sondern auch noch viel weiter ausgedehnt, seine Begründung aber ist von derjenigen im 2. Buche himmelweit verschieden. Auch in Bezug auf die Anordnung ist das zehnte Gebot hier anders gefaßt als im 2. Buche.

Sowohl da als auch an andern Stellen ist dies meiner Meinung nach, wie schon erwähnt, von Esra darum geschehen, weil er das Gesetz Gottes für die Menschen seiner Zeit erläutert hat, und deshalb halte ich das 5. Buch Mose für das von Esra ausgeschmückte und erläuterte Buch des Gesetzes Gottes. Ich glaube auch, daß dieses Buch das erste von allen war, die er geschrieben; und zwar vermute ich dies deswegen, weil es die Gesetze des Landes enthält, die ein Volk am nötigsten braucht, und auch weil dieses Buch sich dem vorangehenden durch keine Verbindungsformel anschließt, wie die andern Bücher alle, sondern frisch beginnt: »Das sind die Worte des Moses etc.« Nachdem er aber dieses Buch vollendet und dem Volke die Gesetze gelehrt hatte, wird er wohl die Abfassung einer vollständigen Geschichte des hebräischen Volkes unternommen haben, und zwar von der Erschaffung der Welt an bis zur ersten Zerstörung Jerusalems, und diesem Werk hat er dann das 5. Buch Mose an passender Stelle eingefügt. Vielleicht hat er die ersten fünf Bücher deswegen die fünf Bücher Mose genannt, weil das Leben des Moses deren Hauptinhalt bildet und er das Buch nach seinem Hauptinhalt benennen wollte. Daher nannte er auch das sechste: das Buch Josua; das siebente: das Buch der Richter; das achte: Ruth; das neunte und vielleicht auch das zehnte: die Bücher Samuelis; und endlich das elfte und zwölfte: die Bücher der Könige. Ob aber Esra die letzte Hand an dieses Werk gelegt und es nach seinem Plan vollendet hat, davon im folgenden Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Weitere Untersuchungen über diese Bücher; nämlich ob Esra die letzte Hand an sie gelegt und ob die Randbemerkungen, die sich in hebräischen Handschriften finden, verschiedene Lesarten waren.


Wie sehr die vorstehende Untersuchung über den wahren Verfasser dieser Bücher zu ihrem richtigen Verständnis beiträgt, ist schon aus den Stellen leicht ersichtlich, die wir zur Bekräftigung unserer Ansicht über diesen Gegenstand angeführt haben und welche ohne dieselbe jedermann dunkel erscheinen müssen. Aber nicht allein auf den wahren Verfasser dieser Bücher hat man zu achten, sondern auf noch mancherlei, was der gemeine Aberglaube in der Regel übersehen läßt. Dahin gehört vor allem, daß Esra (den ich so lange für den Verfasser der genannten Bücher halte, bis mir jemand einen andern mit mehr Sicherheit nachweist) an die in diesen Büchern enthaltenen Erzählungen nicht die letzte Hand gelegt hat. Auch hat er die Geschichten von verschiedenen Schriftstellern zusammengetragen und sie sogar manchmal nur einfach abgeschrieben, dieselben aber weder gehörig untersucht, noch richtig geordnet und sie so der Nachwelt hinterlassen. Welche Ursachen ihn abgehalten haben (wenn nicht etwa ein frühzeitiger Tod) dieses Werk in jeder Beziehung zu vollenden, kann ich nicht vermuten. Daß es sich aber in der That so verhält, können wir, obgleich uns die ältesten hebräischen Geschichtschreiber fehlen, an den wenigen noch vorhandenen Bruchstücken derselben aufs deutlichste erkennen. Denn die Geschichte des Hiskias im 2. Buch der Könige Kap. 18, von V. 17 an, ist von dem Bericht des Jesaja abgeschrieben, wie er sich in der Chronik der Könige von Juda findet. Denn man liest diese ganze Geschichte in dem Buche des Jesaja, welches in der Chronik der Könige von Juda enthalten war (s. 2. Buch der Chronik Kap. 32, vorletzten Vers), mit denselben Worten, ganz geringfügige Abweichungen ausgenommen, aus denen nur geschlossen werden kann, daß verschiedene Lesarten von dieser jesajanischen Erzählung vorhanden waren; wenn man nicht auch hier von Geheimnissen träumen will. – Ferner ist das letzte Kapitel des 2. Buches der Könige in den letzten Kapiteln des Jeremia, 39 und 40, enthalten. Auch das 7. Kapitel im 2. Buch Samuelis ist im 1. Buch der Chronik Kap. 17 abgeschrieben; doch sind an verschiedenen Stellen die Worte merkwürdig verändert, und man erkennt leicht, daß diese beiden Kapitel zwei verschiedenen Exemplaren der Geschichte Nathans entnommen sind. Endlich ist auch das Verzeichnis der Könige von Idumäa, welches im 1. Buch Mose Kap. 36 von V. 30 an steht, mit den gleichen Worten im 1. Buch der Chronik aufgeführt, obgleich der Verfasser dieses Buches seine Berichte offenbar aus andern Geschichtschreibern geschöpft hat, nicht aus diesen zwölf Büchern, die wir dem Esra zugeschrieben haben. Besäßen wir die Geschichtschreiber im Original, so wäre die Sache glatt; weil sie uns aber wie gesagt fehlen, so müssen wir eben die Geschichten selbst prüfen, und zwar ihre Anordnung und Verbindung, ihre mannigfache Wiederholung und ihre Widersprüche in der Zeitangabe; nur so werden wir uns über alles andere ein Urteil bilden können.

Wir wollen also diese Geschichten, zum mindesten die erheblichsten, untersuchen, und beginnen mit der Geschichte von Juda und Tamar, welche der Verfasser im 1. Buch Mose Kap. 38 so zu erzählen anfängt: »Es geschah aber in jener Zeit, daß Juda von seinen Brüdern wegging«. Diese Zeit muß offenbar auf jene Zeit bezogen werden, von welcher unmittelbar vorher die Rede war; dennoch aber kann sie sich nicht auf die Zeit beziehen, von welcher im 1. Buch Moses unmittelbar vorher erzählt wird. Denn von dieser Zeit an, derjenigen nämlich, da Joseph nach Ägypten geführt wurde, bis zu jener Zeit, da der Erzvater Jakob mit seiner ganzen Familie dahin aufbrach, können wir nicht mehr als zweiundzwanzig Jahre zählen. Denn als Joseph von seinen Brüdern verkauft wurde, war er 17 Jahre alt, und als ihn Pharao aus dem Gefängnis rufen ließ, war er 30 Jahre alt. Zählen wir noch die 7 Jahre der Fruchtbarkeit und die 2 der Hungersnot hinzu, so kommen zweiundzwanzig Jahre heraus. Nun aber wird kein Mensch begreifen können, daß sich in diesem Zeitraum so viele Dinge haben zutragen können, nämlich folgende: Juda ehelicht eine Frau; dieselbe gebiert ihm drei Knaben, einen nach dem andern; der erstgeborene dieser Knaben ehelicht die Tamar, nachdem er erwachsen war; er stirbt und der zweite heiratet die verwittwete Tamar; auch er stirbt und es vergeht eine längere Zeit, nach welcher Juda selbst mit seiner eigenen Schwiegertochter Tamar, die er nicht kannte, sich einläßt; sie gebiert ihm Zwillinge, von welchen der eine immer noch in diesem Zeitraum Vater wird. – Das alles kann unmöglich auf jene Zeit bezogen werden, von welcher in jener Stelle des 1. Buches Mose die Rede ist und es muß sich somit auf eine andere Zeit beziehen, von welcher eine Stelle in einem andern Buche unmittelbar vorher handelte. Esra hat also diese Geschichte einfach abgeschrieben und ohne nähere Untersuchung sie den andern einverleibt.

Aber nicht dieses Kapitel allein, sondern die ganze Geschichte von Joseph und Jakob ist unstreitig aus verschiedenen Geschichtschreibern gezogen und abgeschrieben worden; so wenig stimmt sie mit sich selbst überein. Im 47. Kapitel des 1. Buches Mose heißt es nämlich, Jakob sei 130 Jahre alt gewesen, als er erstmals von Joseph zu Pharao geführt wurde, um ihn zu begrüßen. Zieht man davon ab: 22 Jahre, die er wegen Josephs Abwesenheit in Trauer verbrachte; weitere 17 Jahre, welche Joseph alt war, als er verkauft wurde; ferner 7 Jahre, die Jakob um Rachel diente: so ergiebt sich, daß er in sehr vorgerücktem Alter gestanden haben muß, als er die Lea zum Weibe nahm, nämlich im Alter von vierundachtzig Jahren. Dagegen konnte Dina kaum sieben Jahre alt gewesen sein, als ihr Sichem Gewalt anthat. Simeon und Levi aber waren kaum zwölf und elf Jahre alt, als sie jene ganze Stadt plünderten und alle ihre Einwohner mit dem Schwert niedermachten.

Ich habe nicht nötig, hier den ganzen Pentateuch durchzugehen. Wer darauf merkt, daß in diesen fünf Büchern alles, Gebote wie Geschichten, durcheinander, ohne Ordnung und ohne Rücksicht auf die Zeit, mitgeteilt wird, und daß die gleiche Begebenheit häufig wiederholt und manchmal sogar auf andere Weise wiederholt wird, der wird überzeugt sein müssen, daß das alles blindlings zusammengetragen und zusammengewürfelt wurde, um es später besser prüfen und in Ordnung bringen zu können.

Nicht bloß der Inhalt der fünf Bücher des Pentateuch, auch die andern bis zur Zerstörung Jerusalems sich erstreckenden Erzählungen sind auf dieselbe Weise zusammengetragen worden. Wer bemerkt nicht, daß im 2. Kapitel des Buches der Richter vom 6. Vers an ein neuer Geschichtschreiber (der ebenfalls die Thaten Josuas beschrieben hatte) benutzt ist und dessen Worte einfach abgeschrieben sind. Denn nachdem unser Verfasser im letzten Kapitel des Buches Josua erzählt hat, daß Josua starb und begraben wurde, und am Anfang des Buches der Richter versprochen hat, zu erzählen, was sich nach dessen Tod zutrug, wie kam er dazu, wenn er den Faden seiner Geschichte verfolgen wollte, dem Vorangegangenen anzufügen, was er hier von Josua zu erzählen beginnt! – So sind auch die beiden Kapitel 17 und 18 im 1. Buche Samuelis einem andern Geschichtschreiber entnommen, nach welchem David an den Hof Sauls durch einen ganz andern Anlaß kam, als durch jenen, welchen das 16. Kapitel desselben Buches angiebt. Nach jener Darstellung nämlich ist David nicht auf den Rat der Knechte Sauls von diesem berufen worden und zu ihm gegangen (wie im 16. Kapitel erzählt wird), sondern als er von seinem Vater zu seinen Brüdern ins Lager geschickt wurde, da erst ist er dem Saul zufällig bekannt geworden, gelegentlich jenes Sieges, den er über den Philister Goliat errang, und ist von Saul am Hofe behalten worden. – Das Gleiche vermute ich vom 26. Kapitel desselben Buches, nämlich daß der Verfasser die Geschichte, die das 24. Kapitel enthält, nach dem Bericht eines andern erzählt.

Ich verlasse nun diesen Punkt und wende mich zur Prüfung der Zeitrechnung. Im 6. Kapitel des 1. Buches der Könige heißt es, daß Salomo den Tempel im Jahre 480 nach dem Auszug aus Ägypten gebaut hat. Aus den Geschichten selbst aber ergiebt sich ein viel längerer Zeitraum.

???tabelle

Nämlich: Jahre

Moses war Anführer des Volks in der Wüste 40
Auf Josua, welcher 110 Jahre alt wurde, kommen nach der Meinung des
Josephus und anderer nicht mehr als 26
Kusan Rishgataim hielt das Volk in Knechtschaft 8
Othniel Sohn des Kenaz war Richter 40
Eglon, König von Moab, herrschte über das Volk 18
Ehud und Schamgar waren Richter 80
Jachin, König von Kanaan, hielt das Volk abermals in Unterwürfigkeit 20
Hierauf hatte das Volk Ruhe 40
Dann kam es in die Gewalt Midjans 7
Zur Zeit Gideons lebte es in Freiheit 40
Unter Abimelechs Herrschaft aber 3
Tola der Sohn des Pua war Richter 23
Jair aber 22
Das Volk kam nun wieder in die Gewalt der Philistäer und Ammoniter 18
Jephta war Richter 6
Absan von Bethlehem 7
Elon vom Stamme Sabulon 10
Abdon aus Pirhaton 8
Wieder kam das Volk unter die Herrschaft der Philistäer 40
Simson war Richter 20
Eli 40
Abermals kam das Volk in die Gewalt der Philistäer, bevor es durch
Samuel befreit wurde 20
David regierte 40
Salomo vor Erbauung des Tempels 4

Alle diese Jahre zusammen geben 580 Jahre.

Dazu sind aber noch die Jahre des Jahrhunderts zu zählen, in welchem nach Josuas Tod der hebräische Staat blühte, bis er von Kusan Rishgataim unterjocht wurde. Die Zahl dieser Jahre muß groß gewesen sein, denn ich kann mir nicht denken, daß gleich nach dem Tode Josuas alle, die seine Wunderthaten gesehen hatten, auf einmal gestorben wären, noch daß ihre Nachkommen Knall und Fall sich von den Gesetzen losgesagt und aus der höchsten Tugend in die tiefste Lüderlichkeit und Schlaffheit gesunken seien, und ebensowenig, daß Kusan Rishgataim sie im Nu, gesagt gethan, unterworfen habe. Jedes einzelne dieser Ereignisse erfordert beinahe ein ganzes Menschenalter und es ist daher nicht zu zweifeln, daß die Bibel im Buch der Richter Kap. 2, V. 7, 9 und 10 die Geschichte vieler Jahre, die mit Stillschweigen übergangen ist, zusammenfaßt. – Es kommen aber weiter noch die Jahre dazu, in welchen Samuel Richter war und deren Zahl die Bibel ebenfalls nicht angiebt. Ferner müssen die Regierungsjahre des Saul hinzugezählt werden; dieselben sind in der obigen Rechnung ausgelassen, weil aus der Geschichte Sauls nicht genügend ersichtlich ist, wie lange er regiert hat. Es heißt zwar im 1. Buch Samuelis Kap. 13, V. 1, er habe zwei Jahre lang regiert; doch ist hier der Text gleichfalls verstümmelt und aus der Geschichte selbst können wir eine größere Zahl herausrechnen. Daß der Text verstümmelt ist, kann niemand bezweifeln, der auch nur die Anfangsgründe der hebräischen Sprache versteht. Derselbe beginnt nämlich: בןשנהשאולבמלכוושׁתישניםמכךעלישראל »Saul war ein Jahr alt, als er zur Regierung kam, und zwei Jahre regierte er über Israel«. Wer, sage ich, sieht nicht, daß die Zahl der Lebensjahre Sauls beim Antritt seiner Regierung weggeblieben ist? Aber auch das wird niemand bezweifeln wollen, daß sich aus der Geschichte selbst eine größere Zahl der Regierungsjahre ergiebt. Denn in Kap. 27, V. 7 desselben Kapitels heißt es, David habe sich bei den Philistern, zu welchen er sich vor Saul flüchtete, ein Jahr und vier Monate aufgehalten. Hiernach bliebe für die übrigen Ereignisse ein Zeitraum von acht Monaten; was doch wohl niemand glauben wird. Josephus hat wenigstens am Schluß des sechsten Buches der Altertümer die Stelle so verbessert: »Saul regierte also bei Lebzeiten Samuelis achtzehn Jahre, nach dessen Tod aber zwei Jahre«. Außerdem stimmt die ganze Geschichte im 13. Kapitel nicht zu dem vorangehenden. Zu Ende des 7. Kap. wird erzählt, die Philister hätten durch die Hebräer eine solche Niederlage erlitten, daß sie bei Lebzeiten Samuels nicht mehr wagten, die Grenzen Israels zu überschreiten; hier dagegen heißt es, die Hebräer seien (bei Lebzeiten Samuels) von den Philistern überfallen worden und durch diese in so großes Elend und so große Armut gekommen, daß sie keine Waffen mehr zu ihrer Verteidigung besaßen, und auch keine Mittel, solche anzufertigen.

Es würde wahrlich Schweiß genug kosten, wollte ich alle diese Geschichten, die im 1. Buch Samuelis stehen, dermaßen in Einklang zu bringen versuchen, daß man ihre Abfassung und Anordnung für das Werk eines einzigen Geschichtschreibers halten könnte. Doch will ich jetzt wieder zu meiner Aufgabe zurückkehren und nochmals bemerken, daß die Regierungsjahre des Saul der obigen Berechnung hinzugefügt werden müssen. Endlich habe ich auch die Jahre nicht mitgezählt, in welchen die Hebräer ohne Regierung waren, weil ihre Zahl aus der Bibel nicht ersichtlich ist. Die Zeit ist mir unbekannt, sage ich, in welcher sich ereignete, was vom 17. Kap. an bis zum Schluß des Buches der Richter erzählt wird.

Es folgt aus dem Vorstehenden also klar, daß diese Geschichten weder eine richtige Gesamtberechnung der Jahre ermöglichen, noch in Bezug auf einen Zeitabschnitt immer übereinstimmen, daß sie vielmehr verschiedene Zeitrechnungen enthalten. Man wird demnach zugeben müssen, daß sie aus verschiedenen Geschichtschreibern zusammengetragen und bis jetzt weder in richtige Ordnung gebracht noch näher geprüft worden sind.

Nicht minder scheinen die Bücher der Chronik der Könige von Juda und die Bücher der Chronik der Könige von Israel in Bezug auf die Zeitrechnung einander zu widersprechen. In der Chronik der Könige von Israel heißt es, daß Jehoram, der Sohn Ahabs die Regierung antrat im zweiten Jahre der Regierung Jehorams, des Sohnes Josaphats (s. 2. Buch der Könige Kap. 1, V. 17); dagegen in der Chronik der Könige von Juda, daß Jehoram der Sohn Josaphats im fünften Regierungsjahr des Jehoram, des Sohnes von Ahab, zur Regierung kam (s. Kap. 8, V. 16 in diesem Buche). Vergleicht man außerdem die Geschichten in den Büchern der Chronik mit denen in den Büchern der Könige, so findet man noch viel solche Widersprüche. Ich habe nicht nötig, hier dieselben anzuführen, und noch viel weniger die Hirngespinste, womit gewisse Schriftsteller diese Geschichten mit einander in Einklang zu bringen suchen. Was die Rabbinen behaupten, ist der bare Unsinn; die Erklärer aber, welche ich gelesen, träumen, erdichten und thun der Sprache die größte Gewalt an. Wenn z. B. im 2. Buch der Chronik gesagt wird, Ahasia war zweiundvierzig Jahre alt, da er zur Regierung gelangte, so faseln einige Ausleger, daß diese Jahre von der Regierung des Omri, aber nicht von der Geburt des Ahasia anfingen. Wenn sie beweisen könnten, daß das in der That die Meinung des Verfassers der Bücher der Chronik gewesen sei, so würde ich ohne Anstand behaupten, derselbe habe nicht richtig zu reden gewußt. In dieser Weise faseln sie noch vielerlei, so daß, wenn sie recht hätten, ich unbedingt sagen würde, die alten Hebräer hätten weder richtig zu sprechen noch ordnungsmäßig zu erzählen verstanden. Auch könnte es alsdann gar keine bestimmte Richtschnur und Regel im Auslegen der Bibel geben, sondern man dürfte ihr alles Mögliche andichten.

Sollte nun aber jemand glauben, ich rede hier zu allgemein und ohne genügende Grundlage, so muß ich ihn bitten, daß er selbst sich daran machen und uns irgend eine bestimmte Ordnung in diesen Geschichten zeigen möge, welche auch andere Geschichtschreiber in ihren geschichtlichen Aufzeichnungen befolgen könnten, ohne sich eine Blöße zu geben. Und wenn er die Geschichten auslegt und miteinander in Einklang zu bringen sucht, so möge er die Redensarten und Ausdrücke, wie auch die zur Gliederung und Verbindung dienenden Sätze, so scharf dabei im Auge behalten und so auslegen, daß man dieselben beim Schreiben im Sinne seiner Auslegung in Anwendung bringen könnte. Bringt er das zustande, so will ich ihm sofort die Hand reichen und ihn als Meister verehren. Ich für meine Person gestehe, daß ich es nicht im entferntesten zustande habe bringen können, so viele Mühe ich mir auch gegeben habe. Ich will noch hinzufügen, daß ich hier nichts schreibe, was nicht das Ergebnis langen und tiefen Nachdenkens wäre, und ob mir gleich in meiner Jugend die gewöhnlichen Ansichten über die Bibel eingeflößt worden sind, so mußte ich sie schließlich doch aufgeben. – Ich habe indes keinen Anlaß, den Leser länger hierbei aufzuhalten und zu einer verzweifelten Sache aufzufordern; doch mußte ich mich über die Sache aussprechen, um meine Meinung so deutlich als möglich zu erklären. Ich wende mich nun zu dem, was ich ferner über das Schicksal dieser Bücher zu bemerken habe.

Außer dem bereits Erwähnten ist ferner zu bemerken, daß diese Bücher von der Nachwelt nicht so sorgfältig bewahrt worden sind, daß sich keine Fehler eingeschlichen hätten. Schon die alten Schriftsteller haben viele zweifelhafte Lesarten bemerkt, außerdem auch manche verstümmelte Stellen; doch haben sie nicht alle bemerkt, die vorhanden sind. Ob aber diese Fehler so auffallend sind, daß sie den Leser lange aufhalten, das lasse ich vorläufig dahingestellt sein. Ich halte sie indessen für nicht erheblich, wenigstens für solche, welche die Bibel mit freiem Urteil lesen; und mit Bestimmtheit kann ich behaupten, daß ich in Betreff der Sittenlehren weder einen Fehler gefunden habe, noch eine Verschiedenheit der Lesart, welche die Sittenlehren dunkel oder zweifelhaft machen könnte. Die Meisten wollen aber überhaupt nicht zugeben, daß in der Bibel irgend ein Fehler vorhanden sei, denn sie meinen, Gott habe durch besondere Vorsehung die ganze Bibel vor jeder Entstellung bewahrt, die verschiedenen Lesarten aber seien Zeichen tiefster Geheimnisse. Das Gleiche behaupten sie von den Sternchen, welche in der Mitte des 28. Abschnitts vorkommen, sogar in den Spitzen der Buchstaben wittern sie große Geheimnisse. Ob sie dergleichen aus Dummheit und Altweiberfrömmigkeit sagen, ob aus Anmaßung und Arglist, um ganz allein für die Inhaber der göttlichen Geheimnisse gehalten zu werden, weiß ich nicht; so viel aber weiß ich, daß ich nichts bei ihnen gelesen habe, was wie ein Geheimnis aussieht, sondern eitel kindisches Zeug. Ich habe auch einige windige Kabbalisten gelesen und sogar kennen gelernt und konnte mich über ihre Unsinnigkeiten nicht genug wundern.

Kein Mensch von gesundem Urteil wird zweifeln können, daß sich in der Bibel Fehler eingeschlichen haben, wenn er z. B. jene (bereits aus 1. Buch Samuelis Kap. 13, V. 1 angeführte) Stelle von Saul liest; oder 2. Buch Samuelis Kap. 6, V. 2, wo es heißt: »Und David machte sich auf und ging und alles Volk, das bei ihm war, aus Juda, um die Bundeslade Gottes von da wegzubringen.« Niemand kann übersehen, daß hier der Ort, wohin sie gingen, um die Bundeslade daselbst zu holen, nämlich Kirjat Jearim, ausgelassen ist. Es kann auch nicht bestritten werden, daß 2. Buch Samuelis Kap. 13, V. 37 verwirrt und verstümmelt ist. Es heißt da: »Und Absalon floh und ging zu Ptolemäus, dem Sohn des Hamihud, König von Gesur und trauerte über seinen Sohn alle Tage und Absalon floh und ging nach Gesur und blieb daselbst drei Jahre.« Solche Stellen erinnere ich mich in früherer Zeit mehrere angemerkt zu haben, doch sind mir dieselben im Augenblick nicht gegenwärtig.

Bezüglich der Randbemerkungen, welche in den hebräischen Handschriften mitunter vorkommen, kann man ebenfalls nicht zweifeln, daß dieselben zweifelhafte Lesarten sind, wenn man beachtet, daß die meisten durch die große Ähnlichkeit, welche einzelne hebräische Buchstaben mit einander haben, entstanden sind. Das כ Kaf hat große Ähnlichkeit mit dem ב Beth, das י Jod mit dem ו Vau, das ד Daleth mit dem ר Res u. s. f. S. z. B. im 2. Buch Samuelis Kap. 5, letzten Vers, wo es heißt: »Und in derselben Zeit, in welcher du hören wirst«, steht am Rande כשמעד » sobald du hören wirst«. So auch im Buche der Richter Kap. 21, V. 22 וְהָיָ֡ה כִּֽי־יָבֹ֣אוּאֲבוֹתָם֩א֨וֹ אֲחֵיהֶ֜ם לָרִ֣יב »Wenn aber ihre Väter oder Brüder in Menge (d. h. häufig) zu uns kommen«, steht am Rande לריב »zu hadern«. Und so viele. – Ferner sind Randbemerkungen auf den Gebrauch von Buchstaben zurückzuführen, welche quiescierende genannt werden, die nämlich sehr häufig nicht ausgesprochen werden und von denen einer für den andern gebraucht wird. Z. B. im 3. Buch Mose Kap. 25, V. 30 steht וְ֠קָ֠םהַבַּ֨יִתאֲשֶׁרבָּעִ֜יראֲשֶׁר־ל֣וֹחמָ֗ה »So bleibt das Haus, das in der Stadt ist, das keine Mauer hat«, am Rande steht אשר לו חמה »das eine Mauer hat«, u. s. f.

Das alles ist von selbst klar und deutlich; trotzdem will ich auf die Gründe antworten, womit einige Pharisäer glauben machen wollen, daß diese Randbemerkungen von den Verfassern der heiligen Schriften selbst beigefügt oder angegeben worden seien, um irgend ein Geheimnis anzudeuten.

Der erste Grund, der übrigens von geringer Bedeutung ist, wird aus der gebräuchlichen Art, wie die Bibel vorgelesen wird, Spinoza meint das Vorlesen in den Synagogen aus den hebräischen Rollen. (Anmerkung des Übersetzers.) hergeholt. Wenn, sagen sie, diese Noten nichts anderes als eine andere Lesart anzeigen, wie kommt es dann, daß beim Vorlesen der Bibel der Brauch sich einbürgerte, daß überall der Sinn, den die Lesart der Randbemerkung ausdrückt, vorgezogen wird, da doch die Späteren nicht entscheiden konnten, welche Lesart die richtige sei? Hatten sie aber Grund zur Annahme, daß die Lesart der Randbemerkung die richtige sei, warum haben sie dieselbe am Rand angemerkt? vielmehr hätten sie alsdann den Text so schreiben müssen, wie sie glaubten, daß er gelesen werden müsse, statt daß sie den Sinn und die Lesart, welche sie am meisten billigten, am Rande anmerkten. – Der zweite Grund, der sich eher hören läßt, wird aus der Sache selbst gezogen. Fehler werden nämlich in Handschriften nicht absichtlich gemacht, sondern schleichen sich zufällig ein; was aber auf solche Weise entsteht, fällt bald so, bald anders aus! Nun ist aber in den fünf Büchern Mose das Wort נערה »Mädchen«, mit Ausnahme einer einzigen Stelle, überall gegen die grammatikalische Regel defekt, nämlich ohne den Buchstab ה geschrieben, am Rande dagegen richtig, nach der allgemeinen Regel der Grammatik. Erklärt sich das etwa auch aus einem Versehen des Abschreibers? Welch sonderbarer Zufall sollte bewirkt haben, daß die Feder immer sich übereilte, so oft sie dieses Wort zu schreiben hatte? Auch hätte man ja diesen fehlenden Buchstaben leicht und ohne Bedenken nach der grammatikalischen Regel ergänzen und das Versehen berichtigen können. Daraus also, daß diese Lesarten nicht vom Zufall herrühren können und daß man solche augenscheinliche Fehler nicht verbessert hat, folgert man, daß sie ursprünglich von den Verfassern selbst mit Absicht gemacht wurden, um damit irgend etwas anzudeuten.

Auf diese Einwände ist jedoch die Antwort leicht zu geben. Der Beweis, den sie aus einem Gebrauch, der sich bei ihnen eingebürgert hat, ableiten, hat für mich nicht die geringste Bedeutung. Ich kann nicht wissen, auf welchem Aberglauben dieser Gebrauch beruht, vielleicht darauf, daß man beide Lesarten für gleich gut und zulässig hielt, weshalb man, um keine von beiden zurückzusetzen, die eine in der Schrift, die andere beim Vorlesen anwendete. Man traute sich wohl in einer so wichtigen Sache kein bestimmtes Urteil zu; um also nicht möglicherweise die falsche Lesart für die echte zu nehmen, wollten sie keiner von beiden den Vorzug geben, was sie natürlich gethan hätten, wenn sie eine Lesart allein für die Schrift und für das Vorlesen bestimmt hätten; zumal ja in den heiligen Rollen die Randbemerkungen nicht verzeichnet sind. – Vielleicht aber erklärt sich jener Gebrauch daraus, daß sie einige Stellen, selbst wenn sie richtig abgeschrieben waren, anders vorgelesen haben wollten, nämlich so wie die Randbemerkung lautete, und deswegen führten sie überhaupt ein, daß die Bibel den Randbemerkungen gemäß vorgelesen werden sollte. Ich will gleich den Grund angeben, der die Schreiber bewogen hat, bei manchen Stellen am Rande zu bemerken, daß sie anders gelesen werden sollen. Nicht alle Randbemerkungen sind zweifelhafte Lesarten, sondern auch außer Gebrauch gekommene Lesarten sind angemerkt, nämlich veraltete Wörter, wie auch Ausdrücke, welche mit Rücksicht auf die Sittlichkeitsbegriffe jener Zeit in öffentlicher Versammlung nicht wohl vorgelesen werden durften. Denn die alten Schriftsteller, die an nichts Unrechtes dabei dachten, nannten alle Dinge beim rechten Namen und gebrauchten keine höfischen Zweideutigkeiten. Als aber Schlechtigkeit und Üppigkeit eingerissen war, fing man an, für anstößig zu halten, was von den Alten ohne Anstoß gesagt wurde. War es nun zwar nicht nötig, um dieser Ursache willen die Bibel selbst abzuändern, so führte man doch mit Rücksicht auf die Schwachheit des Volkes den Brauch ein, daß Wörter, welche Beischlaf oder körperliche Entledigungen bedeuten, in öffentlicher Versammlung mit anständigeren Ausdrücken verlesen wurden, so nämlich, wie die Randbemerkung angiebt. – Welcher Grund es nun immer gewesen sein mag, auf den der Brauch sich stützte, die Bibel nach den Randbemerkungen zu lesen und auszulegen, so viel ist gewiß, daß der Grund nicht der gewesen sein kann, daß man annahm, die Randbemerkungen müßten die wahre Auslegung enthalten. Denn außerdem, daß die Rabbinen im Talmud selbst oft von den Masoreten abweichen und andere Lesarten hatten, die sie billigten, wie ich bald zeigen werde, finden sich am Rande auch Lesarten, die dem Sprachgebrauch weniger angemessen zu sein scheinen. Z. B. im 2. Buche Samuelis Kap. 14, V. 22 heißt es: אשר עשההמלךאת דבר עבדו »weil der König that nach dem Willen seines Knechtes«. Der Ausdruck: »nach dem Willen seines Knechtes« ist ganz regelmäßig und entspricht dem Ausdruck im 15. Vers desselben Kapitels; die Randbemerkung aber (»deines Knechtes«) entspricht der Person des Zeitworts nicht. So auch im letzten Vers des 16. Kapitels im gleichen Buche heißt es: כַּאֲשֶׁ֥ריִשְׁאַלבִּדְבַ֣רהָאֱלֹהִ֑ים »als ob man befragte (d. h. als ob befragt würde) das Wort Gottes«. Die Randbemerkung fügt איש »jemand« hinzu als Nominativ des Zeitworts, was nicht ganz richtig zu sein scheint, da es in dieser Sprache üblich ist, die unpersönlichen Zeitwörter in der dritten Person der Einzahl zu gebrauchen, was dem Grammatiker wohl bekannt ist. Derartige Randbemerkungen giebt es noch viele, die in keiner Beziehung vor der Lesart des Textes den Vorzug verdienen.

Die Antwort auf den zweiten Grund der Pharisäer ergiebt sich gleichfalls aus dem vorhin Gesagten, daß es sich nämlich bei den Randbemerkungen nicht immer um zweifelhafte Lesarten handelt, sondern auch um veraltete Wörter. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der hebräischen Sprache wie in allen Sprachen im Laufe der Zeit viele Wörter außer Gebrauch kamen und veraltet wurden. Die Schreiber in späterer Zeit haben, wenn sie an solche Wörter kamen, die in ihrer Zeit gebräuchliche Form am Rande angemerkt, damit sie hiernach dem Volke vorgelesen werden sollten. Deshalb ist das Wort נער nahgar überall mit einer Bemerkung versehen, weil es in alter Zeit beide Geschlechter bezeichnete, wie im Lateinischen das Wort juvenis. So lautete auch der Name der Hauptstadt der Hebräer in alter Zeit ירושלם » Jerusalem«, nicht aber » Jerusalaim«. Ebenso verhält es sich, wie ich glaube, mit dem Fürwort הוא »er« und »sie«; nämlich daß die Späteren das ו vau in י jod verwandelt haben, (eine in der hebräischen Sprache häufig vorkommende Verwandlung,) wenn sie das weibliche Geschlecht bezeichnen wollten. Die Alten pflegten die weibliche Form von der männlichen bloß durch die Vokale zu unterscheiden. So findet sich auch manche unregelmäßige Form der Wörter bei den Früheren so, bei den Späteren anders. Endlich auch haben die Alten die Zusatzbuchstaben אמנתין in eigener Weise zur Ausschmückung verwendet. Alles das könnte ich mit vielen Beispielen belegen, doch möchte ich den Leser damit nicht belästigen und aufhalten. Fragt aber jemand, woher ich das weiß, so antworte ich, daß ich jene veralteten Formen bei den ältesten Schriftstellern, nämlich den biblischen, häufig gefunden habe, während sie die Späteren nicht nachahmen wollten. Das allein ist ja die Ursache, daß in andern obgleich auch schon toten Sprachen die veralteten Wörter erkannt werden.

Vielleicht aber macht mir jemand den weiteren Einwurf: Wenn die meisten dieser Randbemerkungen zweifelhafte Lesarten sind, wie kommt es, daß sich nirgends mehr als zwei Lesarten für eine Stelle finden? Weshalb nicht auch einmal drei oder mehr? Ferner kann man einwenden, daß in manchen mit Randbemerkungen versehenen Stellen die Lesart des Textes mit der Grammatik in so offenbarem Widerspruch steht, daß die Annahme, die Schreiber hätten geschwankt und an der richtigen Lesart gezweifelt, durchaus unwahrscheinlich ist. – Die Antwort auf diese beiden Einwände ist ebenfalls nicht schwer.

Was den ersten Einwand betrifft, so hat es in der That mehr Lesarten gegeben, als wir in unseren Handschriften angemerkt finden. Denn im Talmud sind viele Lesarten erwähnt, die von den Masoreten übergangen sind, und sie weichen in vielen Stellen so offenbar von der masoretischen Lesart ab, daß jener abergläubische Korrektor der Bombergianischen Bibelausgabe sich genötigt sah, in seiner Vorrede zu gestehen, daß er die beiden nicht zu vereinigen wisse. Er sagt: »Und hier weiß ich nicht zu antworten, als was ich schon oben geantwortet,« nämlich, »daß es die Gewohnheit des Talmuds ist, den Masoreten zu widersprechen«. Wir können also nicht mit genügendem Grunde behaupten, daß es nie mehr als zwei Lesarten für eine Stelle gegeben habe. Doch gebe ich gerne zu, und glaube selbst, daß für eine Stelle nie mehr als zwei Lesarten gefunden wurden und zwar aus zwei Gründen: erstens, sofern die Ursache, aus welcher die Verschiedenheit dieser Lesarten entsprang, nicht mehr als zwei Lesarten zulassen kann. Wir haben nämlich gesehen, daß dieselben hauptsächlich von der Ähnlichkeit gewisser Buchstaben herrühren; der Zweifel bestand also fast immer darin, welcher von beiden Buchstaben geschrieben werden mußte: ב beth oder כ kaf, י jod oder ו vau, ד dalet oder ר res etc. Es sind das Buchstaben, die am meisten gebraucht werden, weshalb es sich oft treffen konnte, daß beide einen erträglichen Sinn gaben. Ferner handelt es sich bei diesen Lesarten darum, ob eine Silbe lang oder kurz ist, also um die Quantität, und diese wird durch jene Buchstaben, die wir ruhende (quiescentes) nennen, bezeichnet. Dazu kommt noch, daß nicht alle Randbemerkungen zweifelhafte Lesarten sind, sondern viele, wie gesagt, der Anständigkeit wegen oder zur Erläuterung ungebräuchlicher und veralteter Wörter beigesetzt sind. – Der zweite Grund, weshalb ich annehmen möchte, daß für eine Stelle nur zwei Lesarten gefunden wurden, ist der, daß ich glaube, die Schreiber haben nur sehr wenig Exemplare vorgefunden, vielleicht nicht mehr als zwei oder drei. Im »Traktat der Schreiber« סופרים Kap. 6 werden nur drei Exemplare erwähnt, welche zu Esras Zeiten gefunden worden sein sollen, weil sie nämlich dort behaupten, die Randbemerkungen seien von Esra beigesetzt worden. Wie dem auch sein mag: wenn sie nur drei gehabt haben, ist es leicht begreiflich, daß zwei davon bei einer Stelle miteinander übereinstimmten; ja man müßte es höchst wunderbar finden, wenn sich in drei Exemplaren drei verschiedene Lesarten von einer Stelle gefunden haben würden. Woher es aber kam, daß nach Esra ein so großer Mangel an Exemplaren vorhanden war, kann den nicht wundern, der das 1. Kapitel im 1. Buch der Makkabäer, oder das 7. Kapitel im 12. Buch der Altertümer des Josephus liest. Es streift vielmehr ans Wunderbare, daß selbst diese wenigen nach einer so großen und so lang dauernden Verfolgung noch erhalten waren; darüber, denke ich, wird niemand im Zweifel sein, der jene Geschichte mit einiger Aufmerksamkeit liest. – Wir haben also die Gründe kennen gelernt, weshalb wir nirgends mehr als zwei Lesarten begegnen und man hat daher nicht die geringste Berechtigung, aus dem Umstand, daß überall nur zwei Lesarten vorkommen, den Schluß zu ziehen, die Bibel sei da, wo solche Anmerkungen vorkommen, mit Fleiß unrichtig geschrieben, um Geheimnisse anzudeuten.

Was aber den andern Umstand betrifft, daß manche Stellen so unrichtig geschrieben sind, daß niemals daran gezweifelt werden konnte, daß sie dem Schreibebrauch aller Zeiten widerstreiten, weshalb sie unbedingt hätten verbessert werden müssen, statt mit Randbemerkung versehen zu werden, so berührt mich dieser Einwand wenig. Denn ich bin nicht verpflichtet, zu wissen, welche Scheu die Betreffenden bewogen hat, es zu unterlassen. Vielleicht thaten sie es in ihrer Herzenseinfalt, indem sie diese Bücher so, wie sie dieselben in wenigen Urschriften vorfanden, der Nachwelt überliefern wollten, und so haben sie denn die Verschiedenheiten in den Urschriften vermerkt, nicht eben als zweifelhafte, sondern als verschiedene Lesarten. Ich selbst habe sie nur deshalb zweifelhafte genannt, weil ich finde, daß beinahe alle wirklich zweifelhaft sind, so daß ich durchaus nicht weiß, welche der andern vorzuziehen ist.

Endlich haben die Schreiber außer diesen zweifelhaften Lesarten auch noch viele verstümmelte Stellen bezeichnet (indem sie mitten in einem Abschnitt einen leeren Raum ließen). Die Masoreten geben die Zahl dieser Stellen an; sie zählen nämlich 28 Stellen, wo mitten in einem Abschnitt ein leerer Raum gelassen ist. Ob sie auch in der Zahl irgend ein Geheimnis verborgen glauben, weiß ich nicht. Die Pharisäer sehen aber gewissenhaft darauf, daß dieser Zwischenraum eine bestimmte Länge habe. Ich will ein einziges Beispiel anführen. Im 1. Buch Mose Kap. 4, V. 8 heißt es: »Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel … Und es geschah, als beide auf dem Felde waren, daß Kain etc.« Hier ist da ein leerer Raum gelassen, wo wir erfahren wollen, was denn eigentlich Kain zu seinem Bruder gesagt hatte. Derart finden sich (außer den bereits angeführten) 28 von den Schreibern ausgelassene Stellen. Ohne diesen leeren Raum würden indessen viele dieser Stellen nicht verstümmelt erscheinen. Doch genug hiervon.

Zehntes Kapitel.

Die übrigen Bücher des Alten Testaments werden in gleicher Weise wie die ersten untersucht.


Ich wende mich nun zu den übrigen Büchern des Alten Testaments. Über die beiden Bücher der Chronik habe ich nichts Bestimmtes und Wichtiges zu bemerken, außer daß sie lange Zeit nach Esra und vielleicht erst nach Wiederherstellung des Tempels durch Judas Makkabäus geschrieben sind. Denn im 9. Kap. des 1. Buches erzählt der Verfasser, »welche Familien zuerst (nämlich zu Esras Zeit) in Jerusalem gewohnt hätten«. Auch macht er im 17. Vers die »Thorhüter« namhaft, deren zwei auch in Nehemia Kap. 11, V. 19 mit Namen aufgeführt sind. Das zeigt, daß diese Bücher lange Zeit nach der Wiedererbauung der Stadt geschrieben wurden. Im Übrigen ist mir über ihren wahren Verfasser, ihr Ansehen, ihren Nutzen und ihre Lehre nichts Näheres bekannt. Mich wundert sogar sehr, daß sie unter die heiligen Bücher aufgenommen worden sind von jenen Männern, welche das Buch der Weisheit, das Buch Tobias und die andern sogenannten apokryphischen Bücher vom Kanon der heiligen Schriften ausgeschlossen haben. Indessen liegt es nicht in meiner Absicht, ihr Ansehen zu vermindern, sondern nachdem sie einmal allgemein anerkannt sind, lasse auch ich sie wie sie sind.

Auch die Psalmen sind zur Zeit des zweiten Tempels gesammelt und in fünf Bücher eingeteilt worden. Denn der 88. Psalm ist nach dem Zeugnis des Juden Philo veröffentlicht worden, als noch der König Jehojachin zu Babylon im Kerker gefangen lag, und der 89. Psalm, als derselbe König seine Freiheit erlangt hatte. Philo hätte das gewiß nicht gesagt, wenn es nicht entweder die herrschende Ansicht seiner Zeit gewesen oder ihm von glaubwürdigen Personen mitgeteilt worden wäre.

Die Sprüche Salomos sind vermutlich zu derselben Zeit gesammelt worden, oder doch frühestens zur Zeit des Königs Josia; denn im letzten Vers des 24. Kapitels heißt es: »Auch diese sind Sprichwörter Salomos, welche die Männer Hiskias, des Königs von Juda, überliefert haben«. Hier kann ich aber die Anmaßung der Rabbiner nicht mit Stillschweigen übergehen, welche dieses Buch samt dem Prediger vom Kanon der heiligen Schriften ausschließen und mit den übrigen, die wir nicht mehr haben, verbergen wollten. Sie hätten es auch unfehlbar gethan, wenn sie nicht einige Stellen gefunden hätten, in welchen das mosaische Gesetz empfohlen wird. Es ist fürwahr bedauerlich, daß so heilige und gute Dinge von der Auswahl dieser Leute abhingen. Ich muß ihnen noch Dank wissen, daß sie so gütig waren, uns wenigstens diese Bücher aufzubewahren, wiewohl ich mich des Zweifels nicht erwehren kann, ob sie uns dieselben auch treu und unverfälscht überliefert haben; was ich übrigens nicht genauer untersuchen will.

Ich komme nun zu den Büchern der Propheten. Bei aufmerksamer Betrachtung werde ich gewahr, daß die darin enthaltenen Prophezeiungen aus andern Büchern gesammelt sind, und daß sie in diesen Büchern nicht immer in derselben Ordnung geschrieben sind, wie sie von den Propheten selbst gesprochen oder geschrieben wurden, auch daß nicht alle darin enthalten sind, sondern nur die, welche da und dort gefunden wurden. Daher können diese Bücher nur als Bruchstücke der Propheten angesehen werden. Denn Jesaja fing unter König Usia an zu prophezeien, was der Abschreiber selbst im ersten Verse bezeugt. Er hat aber nicht bloß zu jener Zeit prophezeit, sondern auch alle Thaten dieses Königs beschrieben (s. 2. Buch der Chronik Kap. 26, V. 22). Dieses Buch besitzen wir nicht, denn schon oben wurde gezeigt, daß das, was wir haben, aus den Chroniken der Könige von Juda und Israel abgeschrieben ist. Dazu kommt noch, daß nach der Behauptung der Rabbiner dieser Prophet auch noch unter der Regierung des Manasse, von welchem er später ermordet wurde, prophezeit hat. Zwar sieht ihre Erzählung wie ein Märchen aus, doch scheint aus derselben hervorzugehen, daß sie glaubten, die Prophezeiungen des Jesaja seien nicht mehr vollständig vorhanden.

Von den Prophezeiungen des Jeremia ist der geschichtliche Teil aus verschiedenen Chronologien ausgezogen und gesammelt. Denn außerdem, daß sie durcheinandergeworfen sind, ohne Rücksicht auf die Zeitfolge, wird auch dieselbe Begebenheit mehrmals auf verschiedene Weise wiederholt. Denn das 21. Kapitel giebt als Ursache der Gefangensetzung Jeremias an, daß er dem Zedekia, der ihn um Rat gefragt, die Zerstörung der Stadt vorhergesagt habe. Darauf bricht diese Erzählung ab und geht im 22. Kap. zu der Erzählung über, wie Jeremia dem Jojachim, dem Vorgänger des Königs Zedekia, eine Strafpredigt gehalten und die Gefangennehmung des Königs vorhergesagt hat. Das 25. Kapitel beschreibt sodann, was vorher, nämlich im vierten Jahre des Jehojakim, dem Propheten geoffenbart wurde, und hierauf die Offenbarung aus dem ersten Jahre desselben Königs. Auf diese Weise fährt er fort, ohne Beobachtung der Zeitfolge, die Prophezeiungen zusammenzuwerfen, bis er schließlich im 38. Kap. (als ob die voranstehenden sechzehn Kapitel nur Einschiebsel wären) zu dem zurückkehrt, was er im 21. Kapitel zu erzählen begonnen hatte. Denn die Verbindung, womit das 38. Kapitel anhebt, bezieht sich auf die Verse 8, 9 und 10 des 21. Kapitels. Und nun beschreibt er die letzte Gefangensetzung Jeremias ganz anders und giebt auch für seine lange Gefangenhaltung im Vorhofe des Gefängnisses eine ganz andere Ursache an als das 37. Kapitel. Daran kann man deutlich sehen, daß das alles aus verschiedenen Geschichtschreibern zusammengeklaubt worden und dies allein kann diese Art der Darstellung entschuldigen. Die andern Prophezeiungen aber, welche in den übrigen Kapiteln enthalten sind, wo Jeremia in der ersten Person redet, scheinen aus dem Buche abgeschrieben zu sein, das Jeremia selbst dem Baruch diktiert hat. Denn dasselbe enthielt (wie aus Kap. 36, V. 2 hervorgeht) nur das, was diesem Propheten von der Zeit des Josia bis zum vierten Jahr des Jehojakim geoffenbart worden war; von welcher Zeit an das Buch Jeremia beginnt. Dem gleichen Buche scheint auch der Abschnitt Kap. 45 V. 2 bis Kap. 51 V. 59 entnommen zu sein.

Daß auch das Buch Ezechiel nur ein Bruchstück ist, zeigen schon seine ersten Verse recht deutlich. Denn wer sieht nicht, daß die Verbindungsformel, mit welcher das Buch beginnt, sich auf ein früher Gesagtes bezieht und dieses mit dem, was jetzt gesagt werden soll, verbinden will? Aber nicht bloß die Verbindungsformel, sondern der ganze Text dieser Rede setzt eine andere Schrift voraus. Denn das dreißigste Jahr, mit welchem das Buch beginnt, zeigt uns den Propheten im Erzählen fortfahrend, aber nicht anfangend. Der Verfasser selbst hat dies auch einschaltend im dritten Vers folgendermaßen bemerkt: »Es ward das Wort Gottes oft dem Ezechiel, dem Buzi, Priester im Lande der Chaldäer u. s. f.«, als ob er sagen wollte, die Worte des Ezechiel, welche er bis hierher abgeschrieben, bezögen sich auf eine andere Offenbarung, die ihm vor diesem dreißigsten Jahr zu Teil wurde. Ferner erzählt Josephus im 10. Buch seiner Altertümer Kapitel 9, Ezechiel habe vorhergesagt, daß Zedekia Babylon nicht sehen würde; wovon sich in dem Buch Ezechiel, das wir haben, nichts findet; im Gegenteil lesen wir im 17. Kapitel, derselbe würde gefangen nach Babylon geführt werden.

Von Hosea kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, daß er mehr geschrieben hat, als was in dem nach ihm benannten Buche enthalten ist. Doch finde ich es merkwürdig, daß wir nicht mehr von ihm besitzen, da er doch nach dem Zeugnis des Verfassers länger als 84 Jahre prophezeit hat. So viel aber wissen wir im allgemeinen, daß die Verfasser dieser Bücher weder die Prophezeiungen sämtlicher Propheten, noch auch sämtliche Prophezeiungen derjenigen Propheten, die wir besitzen, gesammelt haben. Denn von den Propheten, welche unter Manasses Regierung prophezeit haben, und deren im 2. Buch der Chronik Kap. 33, V. 10, 18 und 19 Erwähnung geschieht, besitzen wir überhaupt keine Prophezeiungen. Ebensowenig besitzen wir alle Prophezeiungen dieser zwölf Propheten. Denn von Jona sind nur die Prophezeiungen über die Nineviten schriftlich vorhanden, während er doch auch den Israeliten geweissagt hat, worüber man 2. Buch der Könige Kap. 14, V. 25 nachsehen mag.

Über das Buch Hiob und über Hiob selbst herrscht unter den Schriftgelehrten große Meinungsverschiedenheit. Einige meinen, Moses habe das Buch geschrieben und die ganze Erzählung sei nur eine Parabel. Dieses berichten einige Rabbiner im Talmud, denen sich Maimonides in seinem Buche Moreh Nebuchim zuneigt. Andere halten sie für eine wahre Geschichte und einige derselben glauben, Hiob habe zur Zeit Jakobs gelebt und dessen Tochter Dinah zum Weibe genommen. Aben Hezra dagegen versichert, wie ich schon oben erwähnt, in seinem Kommentar zu diesem Buche, dasselbe sei aus einer andern Sprache ins Hebräische übertragen. Ich wünschte, er hätte uns das überzeugender dargethan, denn wir würden alsdann auch zur Annahme berechtigt sein, daß auch die Heiden heilige Bücher gehabt haben. Ich lasse die Sache also dahingestellt; doch vermute ich, daß Hiob ein Heide von großer Seelenstärke gewesen sei, dem es zuerst gut, dann sehr schlecht und später wieder sehr gut gegangen ist; denn Ezechiel nennt ihn neben andern Männern in Kap. 14, V. 12. Dieser Glückswechsel des Hiob und seine Seelenstärke mag den Anlaß gegeben haben, daß viele über Gottes Vorsehung Erörterungen anstellten, oder doch daß jemand das Wechselgespräch dieses Buches abgefaßt hat. Denn Inhalt wie Schreibart weisen auf einen Mann, der mit Muße in seiner Studierstube nachgedacht hat, nicht aber auf einen im Staube ächzenden Kranken. Das aber glaube ich mit Aben Hezra, daß dieses Buch aus einer andern Sprache übersetzt sei, weil es die heidnische Dichtung nachzuahmen scheint. Denn der Vater der Götter hält zweimal eine Götterversammlung ab und Momus, welcher hier Satan heißt, bekrittelt die Worte Gottes mit größter Freiheit etc. Doch sind dies bloße Vermutungen, ohne Zuverlässigkeit.

Wir kommen zum Buche Daniel. Derselbe ist ohne Zweifel von Kap. 8 an von Daniel selbst geschrieben; woher aber die ersten sieben Kapitel abgeschrieben sind, weiß ich nicht, möglicherweise aus chaldäischen Chronologien, da sie mit Ausnahme des ersten chaldäisch abgefaßt sind. Stände dies fest, so wäre das ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß die Bibel nur in Bezug auf ihren Inhalt heilig ist, nicht aber in Bezug auf die Worte oder die Sprache und Ausdrucksweise; ferner dafür, daß Bücher, welche recht gute Lehren und Erzählungen enthalten, mögen sie in welcher Sprache auch immer abgefaßt und von welchem Volk auch immer geschrieben sein, ebenso heilig seien wie die Bibel. Doch können wir zum mindesten die Bemerkung machen, daß diese Kapitel chaldäisch geschrieben sind und nichtsdestoweniger ebenso heilig sind wie die übrigen Bücher der Bibel.

Die Art, wie das erste Buch Esra sich dem Buche Daniel anschließt, läßt leicht erkennen, daß beide ein und denselben Verfasser haben und derselbe im Buche Esra die Geschichte der Juden seit der ersten Gefangenschaft nach und nach zu erzählen fortfährt.

Unzweifelhaft schließt sich diesem das Buch Esther an, da die Verbindungsformel, mit welcher dieses Buch beginnt, auf kein anderes Buch bezogen werden kann. Das Buch, welches Mardochai geschrieben, kann es kaum sein, da im 9. Kapitel, V. 20, 21 und 22 ein anderer von Mardochai erzählt, daß er Briefe geschrieben habe, und deren Inhalt angiebt. Ferner heißt es im 31. Vers desselben Kapitels, daß die Königin Esther alles auf das Fest der Loose (Purim) Bezügliche durch ein Edikt bestätigt habe, das in ein Buch geschrieben worden war, und zwar ist (nach dem Wortlaut im Hebräischen) von einem Buch die Rede, das zu jener Zeit (wo diese Stelle geschrieben wurde) allgemein bekannt war, dieses Buch ist aber, wie Aben Hezra gesteht und jedermann zugeben muß, mit andern Büchern verloren gegangen. Endlich auch verweist der Verfasser bezüglich dessen, was sonst noch von Mardochai zu berichten war, auf die Chronik der Könige der Perser. Daher ist nicht daran zu zweifeln, daß dieses Buch von dem Verfasser des Buches Daniel und Esra herrührt.

Von demselben Verfasser muß auch das Buch Nehemia herstammen, da es das zweite Buch Esra genannt wird.

Ich behaupte also, daß diese vier Bücher: Daniel, Esra, Esther und Nehemia, von einem und demselben Erzähler geschrieben sind. Wer das aber gewesen sei, darüber habe ich nicht einmal eine Vermutung. Um aber die Quelle zu erfahren, aus welcher derselbe, wer es auch gewesen sein mag, die Kenntnis dieser Geschichten geschöpft, vielleicht sogar den größten Teil derselben abgeschrieben hat, muß bemerkt werden, daß die Oberhäupter oder Fürsten der Juden zur Zeit des zweiten Tempels, so gut wie ihre Könige zur Zeit des ersten, Schreiber oder Geschichtschreiber hielten, welche ihre Denkwürdigkeiten oder Chronologie der Reihe nach aufzeichneten. Denn die Chronologie oder die Denkwürdigkeiten der Könige werden in den Büchern der Könige da und dort zitiert, aber die der Fürsten und Priester zur Zeit des zweiten Tempels werden erstmals zitiert im Buche Nehemia Kap. 12, V. 23, sodann im 1. Buch der Makkabäer Kap. 16, V. 24. Ohne Zweifel ist dies auch das Buch (s. Esther Kap. 9, V. 31), von dem wir soeben gesprochen, in welchem das Edikt der Esther und die Geschichte des Mardochai ausgeschrieben waren und das ich mit Aben Hezra als verloren gegangen bezeichnet habe. Aus diesem Buch also scheint alles, was in diesen vier Büchern enthalten ist, geschöpft oder abgeschrieben zu sein; denn es wird sonst kein anderes von deren Verfasser zitiert und wir wissen auch von keinem andern, das im öffentlichen Ansehen gestanden hätte.

Daß aber diese Bücher weder von Esra noch von Nehemia geschrieben sind, erhellt daraus, daß in Nehemia Kap. 12, V. 9 und 10 das Geschlechtsregister des Hohenpriesters Jeschua bis zu Jadua fortgeführt wird, dem Priester aus dem sechsten Geschlecht von Jeschua und demselben, welcher Alexander dem Großen entging, nachdem dieser das persische Reich unterworfen hatte (s. die Altertümer des Josephus 11. Buch, 8. Kap.), oder wie der Jude Philo in seinem Buch der Zeiten sagt, dem sechsten und letzten Priester unter den Persern. Ja es heißt in demselben Kapitel des Nehemia V. 22: »Nämlich zu den Zeiten des Eljasib, Jojada, Jochanan und Jadua sind sie über Wenn das Wort nicht »bis darüber hinaus« bezeichnet, so ist es ein Fehler des Abschreibers, der ׀צ »über«, statt רצ »bis« geschrieben hat. die Regierung des Persers Darius geschrieben worden«, nämlich in den Chronologien. Ich glaube nicht, daß jemand meinen wird, Esra und Nehemia seien so alt geworden, daß sie vierzehn Perserkönige überlebten. Der erste Perserkönig Cyrus hatte den Juden die Erlaubnis erteilt, den Tempel wieder aufzubauen und von dieser Zeit an bis zu Darius, dem vierzehnten und letzten Perserkönig werden über 230 Jahre gezählt. Darum zweifle ich nicht, daß diese Bücher lange nach der Wiederherstellung des Tempeldienstes durch Judas Makkabäus geschrieben worden sind und zwar deswegen, weil um jene Zeit falsche Bücher Daniel, Esra und Esther von einigen Übelgesinnten ausgegeben wurden, die ohne Zweifel der Sekte der Sadducäer angehörten. Denn die Pharisäer haben jene Bücher, so viel ich weiß, niemals angenommen. Und obgleich in dem Buche, welches das vierte Buch Esra heißt, einige Fabeln vorkommen, denen wir auch im Talmud begegnen, so kann man diese Bücher doch nicht den Pharisäern zuschreiben. Denn unter den Pharisäern selbst ist jedermann – die Dümmsten unter ihnen allenfalls ausgenommen – der Ansicht, daß jene Fabeln von irgend einem Aufschneider angehängt wurden. Ich möchte sogar glauben, daß die Schreiber dieser Fabeln die Überlieferungen der Pharisäer damit allgemein lächerlich machen wollten. Vielleicht aber sind die Bücher Daniel, Esra, Esther und Nehemia damals aus dem Grunde geschrieben und herausgegeben worden, um dem Volk zu zeigen, daß die Prophezeiungen des Daniel in Erfüllung gegangen seien, und es auf diese Weise in der Religion zu bestärken, und zu verhüten, daß es in seinen großen Trübsalen an bessern und glücklicheren Zeiten verzweifle.

Obgleich nun aber diese Bücher aus so später Zeit stammen, haben sich doch viele Fehler, wenn ich nicht irre, durch Eilfertigkeit der Abschreiber, in dieselben eingeschlichen. Wie in den andern Büchern finden sich auch in diesen viele Randbemerkungen, welche im vorigen Kapitel behandelt wurden, und außerdem einige Stellen, welche auf keine andere Weise entschuldigt werden können, wie ich gleich zeigen werde. Vorher aber möchte ich über die Randbemerkungen derselben bemerken, daß wenn man den Pharisäern einräumte, sie seien ebenso alt wie der Text selbst, man alsdann auch sagen müßte, die Verfasser selbst, wenn es nämlich mehrere waren, hätten sie darum beigefügt, weil die Chronologien, aus denen sie geschöpft haben, nicht sorgfältig genug abgefaßt waren; und obgleich einige Fehler offenbare Fehler sind, haben jene doch nicht gewagt, an den alten Schriften der Vorfahren Verbesserungen vorzunehmen. Es ist indessen nicht nötig, mich hierauf hier nochmals ausführlich einzulassen und ich wende mich daher zu denjenigen Fehlern, welche am Rande nicht angemerkt sind. Und da muß ich nun vor allem sagen, daß ich die Zahl der Fehler gar nicht angeben kann, die sich in das 2. Kapitel des Buches Esra eingeschlichen haben. Denn im V. 64 wird die Gesammtsumme aller derer angegeben, welche einzeln im ganzen Kapitel aufgezählt sind, und es heißt von ihnen, sie hätten zusammen 42 360 Personen betragen; wenn man dagegen die einzelnen Personen zusammenzählt, so kommen nicht mehr heraus als 29 818. Hier ist also ein Irrtum vorhanden, entweder in der Gesamtsumme oder in den einzelnen Posten. Es läßt sich aber annehmen, daß die Gesamtsumme richtig angegeben ist, weil sie als ein merkwürdiger Umstand ohne Zweifel von jedermann im Gedächtnis behalten wurde, nicht aber alle einzelnen Posten. Läge daher der Irrtum in der Hauptsumme, so hätte ihn jeder sofort bemerkt und er wäre bald verbessert worden. Diese Annahme wird dadurch völlig bestätigt, daß im 7. Kap. des Nehemia, wo dieses Kapitel des Esra (welches Brief des Geschlechtsregisters heißt) abgeschrieben ist, wie der 15. Vers dieses Kapitels in Nehemia ausdrücklich angiebt, die Gesamtsumme mit der im Buche Esra vollständig übereinstimmt, die einzelnen Posten aber bedeutend abweichen, indem einige größer, einige geringer angegeben sind, als bei Esra, und zusammengezählt geben sie die Zahl 31 089. Es ist somit kein Zweifel, daß sich bloß in die Einzelsummen Fehler eingeschlichen haben, sowohl bei Esra als bei Nehemia. Unter den Erklärern aber, welche diese offenbaren Widersprüche auszugleichen versuchen, fabelt jeder nach Kräften, und bei ihrem Verfahren, die Buchstaben und Worte der Bibel anzubeten, bringen sie es dahin, daß die Verfasser der Bibel der Verachtung preisgegeben sind, indem es den Anschein hat, als hätten sie weder richtig zu sprechen, noch was sie sagen wollten in richtiger Ordnung vorzutragen verstanden. Ja sie bringen es dahin, daß die Klarheit der Bibel völlig verdunkelt ist. Denn wäre es überall gestattet, die Bibel in ihrer Weise auszulegen, so gäbe es fürwahr keinen einzigen Satz, über dessen wahren Sinn wir nicht zweifeln könnten. Ich sehe jedoch nicht ein, wozu ich mich hierbei länger aufhalten sollte, da ich überzeugt bin, daß sie selbst jeden Geschichtschreiber auf alle Weise verspotten würden, der das Verfahren einschlagen würde, welches sie den Verfassern der Bibel in Andacht zuschreiben. Glauben sie aber, daß derjenige ein Gotteslästerer sei, welcher die Bibel an irgend einer Stelle für fehlerhaft erklärt, so frage ich, mit welchem Namen soll man sie selber nennen, welche der Bibel andichten, was ihnen beliebt? welche die Verfasser der heiligen Geschichten dermaßen herabwürdigen, daß man glauben muß, sie scherzen nach Kinderart ins Blaue hinein und werfen alles durcheinander? welche den klarsten, unzweideutigsten Sinn der Bibel verleugnen? Denn was in der Bibel ist klarer, als daß Esra mit seinen Genossen im Briefe des Geschlechtsregisters, der in dem ihm zugeschriebenen Buche Kap. 2 enthalten ist, die Zahl aller derjenigen, welche nach Jerusalem gezogen waren, in einzelnen Gruppen zusammenfaßt, da in diesen nicht bloß die Zahl derer angegeben wird, die ihren Stammbaum namhaft machen konnten, sondern auch derer, die ihn nicht namhaft machen konnten? Was, sage ich, ist nach Nehemia Kap. 7, V. 5 klarer, als daß hier dieser Brief einfach abgeschrieben ist? Diejenigen also, welche dies anders auslegen, leugnen offenbar den wahren Sinn der Bibel und demgemäß die Bibel selbst. Halten sie es aber für ein frommes Werk, eine Stelle der Bibel andern Stellen anzupassen, so ist es fürwahr eine lächerliche Frömmigkeit, klare Stellen den dunkeln, richtige Stellen den fehlerhaften anzupassen und Gesundes durch Schadhaftes zu verderben. Trotzdem bin ich weit entfernt, sie Gotteslästerer zu nennen, denn sie haben ja nicht die Absicht, zu lästern, und irren ist menschlich.

Ich kehre nun wieder zu meiner Aufgabe zurück. Außer den Fehlern, welche in den Zahlen des Briefs des Geschlechtsregisters sowohl in Esra wie in Nehemia zugegeben werden müssen, finden sich noch viele in den Namen der Familien selbst, außerdem viele in den Stammbäumen selbst, ebenso in den Erzählungen, und ich fürchte, sogar in den Weissagungen. Denn die Prophetie des Jeremia in Kap. 22 über Jechonia scheint auf keine Weise mit der Geschichte desselben (s. den Schluß im 2. Buch der Könige und in Jeremia, und das 1. Buch der Chronik Kap. 3, V. 17, 18, 19) in Einklang gesetzt werden zu können, besonders nicht die Worte des letzten Verses dieses Kapitels. Ich sehe auch nicht ein, wie er von Zedekia, dem die Augen ausgestochen wurden, sogleich nachdem er seine Söhne hatte töten sehen, sagen konnte: »Du wirst in Frieden sterben etc.« (s. Jeremia Kap. 34, V. 5). Falls die Weissagungen aus den Ereignissen zu erklären wären, so ist hier eine Verwechslung der Namen vorgekommen und man muß daher statt Zedekia Jechonia und umgekehrt statt Jechonia Zedekia setzen. Doch dies ist als paradox kaum anzunehmen und ich will daher die Sache lieber als unbegreiflich dahin gestellt sein lassen, zumal hier der Irrtum, wenn wirklich ein solcher vorhanden ist, auf Seiten des Verfassers, nicht des Schreibers ist.

Was die übrigen Fehler betrifft, von welchen ich gesprochen, so glaube ich dieselben hier nicht aufzählen zu sollen, da das nicht geschehen könnte, ohne den Leser zu ermüden; ohnehin sind dieselben schon von andern bemerkt worden. Hat sich doch Rabbi Salomo wegen der offenbaren Widersprüche, die er in den Geschlechtstafeln wahrgenommen hat, genötigt gesehen, in folgende Worte auszubrechen (s. dessen Kommentar zum 1. Buch der Chronik Kap. 8): »Daß Esra (den er für den Verfasser der Chronik hält) die Söhne Benjamins anders nennt und ein anderes Geschlechtsregister führt, als das 1. Buch Mose, und daß er die meisten levitischen Städte anders bezeichnet als Josua, kommt daher, daß er widersprechende Originale vorgefunden hat.« Und etwas später bemerkt er: »Daß das Geschlechtsregister Gibeons und anderer zweimal und auf verschiedene Weise beschrieben wird, kommt daher, daß Esra mehrere und verschiedene Briefe der einzelnen Geschlechtsregister vorgefunden hat und bei der Beschreibung derselben der größeren Zahl der Handschriften gefolgt ist. Wo aber die verschiedenen Handschriften an Zahl gleich waren, hat er beide abgeschrieben.« So giebt er ohne Anstand zu, daß diese Bücher aus Urkunden, die weder korrekt noch zuverlässig genug gewesen sind, abgeschrieben worden seien. Ja die Kommentatoren selbst wollen bei widersprechenden Stellen sehr häufig weiter nichts, als die Ursachen der Fehler angeben. Es wird auch wohl kein Mensch von gesundem Urteil glauben wollen, die Verfasser der heiligen Geschichten hätten absichtlich so geschrieben, daß sie sich da und dort zu widersprechen scheinen.

Vielleicht sagt nun aber jemand, ich würde mit meinem Verfahren die Bibel gänzlich auf den Kopf stellen, denn danach könnte jedermann die Bibel überall als fehlerhaft verdächtigen. Ich habe jedoch ganz im Gegenteil gezeigt, daß bei meinem Verfahren dafür gesorgt ist, daß die klaren und deutlichen Stellen der Bibel nicht den fehlerhaften angepaßt und durch dieselben verdorben würden. Auch kann man wegen der Fehlerhaftigkeit einzelner Stellen nicht die ganze Bibel als fehlerhaft verdächtigen. Es hat noch niemals ein Buch ohne Fehler gegeben: ist es deshalb, frage ich, jemals einem eingefallen, das Ganze als fehlerhaft zu verdächtigen? Wahrlich nein; namentlich wo die Rede klar und der Sinn des Verfassers deutlich ist.

Damit habe ich erledigt, was ich über die Geschichte der Bücher des Alten Testaments bemerken wollte. Wir können leicht daraus ersehen, daß es vor der Zeit der Makkabäer keinen Kanon der heiligen Schriften gegeben hat, sondern daß die Schriften, welche wir noch besitzen, von den Pharisäern zur Zeit des zweiten Tempels, die auch die Gebetformeln einführten, aus vielen andern ausgewählt und lediglich auf ihre Anordnung in den Kanon aufgenommen wurden. Will man also die Autorität der heiligen Schrift beweisen, so muß man die Autorität jedes einzelnen Buches nachweisen, es kann aber nicht die Göttlichkeit eines Buches für die der übrigen maßgebend sein; man müßte denn behaupten, die Versammlung der Pharisäer hätte in der Auswahl dieser Bücher nicht irren können, was niemand jemals beweisen wird. Der Grund aber, welcher mich zwingt, zu behaupten, die Pharisäer allein hätten die Bücher des Alten Testaments ausgewählt und zu einem Kanon heiliger Schriften vereinigt, ist einmal der Umstand, daß im Buche Daniel im 2. Vers des letzten Kapitels die Auferstehung der Toten verkündigt wird, welche die Sadduzäer leugneten; sodann, weil die Pharisäer im Talmud selbst dies deutlich sagen. Im Traktat Sabbath nämlich Kap. 2, Fol. 30, Pag. 2 heißt es: »Rabbi Juda sagt im Namen Rabs: Die Gesetzeskundigen wollten das Buch Prediger Salomo verbergen, weil seine Worte mit den Worten des Gesetzes ( NB. mit dem Buch des Gesetzes Mose) im Widerspruch stehen. Warum haben sie es aber nicht verborgen? Weil sein Anfang und sein Ende den Worten des Gesetzes entsprechen.« Und etwas später heißt es: »Und auch das Buch der Sprüche wollten sie verbergen u. s. f.«. Endlich heißt es in demselben Traktat Kap. 1, Fol. 13, Pag. 2: »Fürwahr! jenes Mannes sei im Guten gedacht, sein Name ist Nachunjah Sohn Hiskias, denn wäre er nicht gewesen, so wäre das Buch Ezechiel verborgen worden, weil seine Worte mit den Worten des Gesetzes im Widerspruch stehen u. s. f.« Daraus geht also deutlich hervor, daß die Gesetzeskundigen Beratung darüber gepflogen haben, welche Bücher als heilige aufgenommen und welche ausgeschlossen werden sollen. Will man also über die Autorität aller Bücher der Bibel Gewißheit haben, so muß man aufs neue Beratung pflegen und bei jedem einzelnen Buche den Grund erwägen.

Es wäre nun aber endlich an der Zeit, auch die Bücher des Neuen Testaments auf gleiche Weise zu untersuchen. Weil ich aber höre, daß dies bereits von sehr gelehrten und namentlich sehr sprachkundigen Männern geschehen sei, weil ich ferner keine so genaue Kenntnis der griechischen Sprache habe, daß ich es wagen könnte, dieses Geschäft zu unternehmen, und endlich weil von den Büchern des Neuen Testaments, die ursprünglich in hebräischer Sprache abgefaßt waren, keine Exemplare in der Ursprache mehr vorhanden sind, so will ich mich lieber über diese Arbeit hinwegsetzen. Doch glaube ich das bemerken zu sollen, was hauptsächlich zu meiner Aufgabe gehört. Hiervon im folgenden Kapitel.

Elftes Kapitel.

Untersuchung über die Apostel, ob sie ihre Briefe als Apostel und Propheten, oder als Lehrer geschrieben haben. Auch wird das Amt der Apostel näher beleuchtet.


Niemand, der das Neue Testament liest, kann bezweifeln, daß die Apostel Propheten waren. Weil aber nicht alles, was die Propheten sagten, sondern im Gegenteil sehr weniges ihnen geoffenbart war, wie am Schluß des zweiten Kapitels gezeigt wurde, so können wir zweifeln, ob die Apostel als Propheten infolge einer Offenbarung und eines ausdrücklichen Befehls, wie Moses, Jeremias und andere, oder ob sie als gewöhnliche Menschen und Lehrer ihre Briefe geschrieben haben; zumal Paulus im ersten Brief an die Korinther, Kap. 14, V. 6 zwei Arten von Predigten unterscheidet, die Predigt durch Offenbarung und die Predigt durch Erkenntnis. Deshalb sage ich, muß man zweifeln, ob sie in den Briefen prophezeien oder lehren. Fassen wir nun aber ihre Schreibart ins Auge, so finden wir, daß sie ganz anderer Art ist als die Schreibart der Propheten. Die Propheten bezeugen in der Regel überall, daß sie auf Gottes Geheiß reden; sie sagen nämlich: »So spricht Gott«, »spricht der Gott der Heerscharen«, »Spruch Gottes« u. dgl. Und zwar scheint dies nicht bloß bei Reden der Fall gewesen zu sein, welche sie in öffentlichen Versammlungen hielten, sondern auch in Briefen, welche Offenbarungen enthielten, wie der Brief zeigt, welchen Elia an Jehoram geschrieben (s. 2. Buch der Chronik Kap. 21, V. 12), und welcher anfängt: »So spricht Gott«. In den Briefen der Apostel dagegen lesen wir nichts dergleichen, im Gegenteil sagt Paulus im 1. Brief an die Korinther Kap. 7, V. 40, es sei seine eigene Meinung. Ja in sehr vielen Stellen bekundet sich in der Ausdrucksweise eine schwankende, unsichere Meinung, wie z. B. (im Römerbrief Kap. 3, V. 28): »Wir sind also der Meinung«, oder (Kap. 8, V. 18): »Denn ich halte dafür« und viele dergleichen. Daneben finden sich andere Redensarten, welche von der Autorität der Propheten weit abstehen, wie: »Solches sage ich euch aber als ein Schwacher, nicht aber auf Geheiß«, (s. Brief an die Korinther Kap. 7, V. 6), »Ich gebe den Rat als ein Mann, der treu ist durch die Gnade Gottes« (s. daselbst Kap. 7, V. 25) und so viele andere. Hiebei ist noch zu bemerken, daß wenn Paulus im erwähnten Kapitel davon spricht, daß er eine Lehre oder einen Befehl Gottes habe oder nicht habe, er damit nicht eine ihm von Gott geoffenbarte Lehre oder einen ihm von Gott geoffenbarten Befehl meint, sondern nur die Lehren, welche Christus seinen Jüngern auf dem Berge erteilt hat.

Richten wir außerdem unser Augenmerk auf die Art, wie in diesen Briefen die Apostel die evangelische Lehre darstellen, so werden wir gleichfalls einen großen Abstand gegen die Art der Propheten finden. Die Apostel geben überall Gründe an, so daß ihre Schriften nicht wie Prophezeiungen, sondern wie Abhandlungen aussehen. Die prophetischen Schriften dagegen enthalten reine Lehrsätze und Befehle, weil darin Gott als redend angeführt wird, und Gott seine Beschlüsse nicht begründet, sondern aus der unbeschränkten Machtvollkommenheit seines Wesens erläßt. Auch verträgt es sich nicht mit der Autorität des Propheten, Gründe anzugeben; denn wer seine Lehrsätze mit Gründen beweisen will, der unterwirft sie eben dadurch dem freien Urteil von jedermann; was bei Paulus, der seine Sätze begründet, in der That der Fall gewesen zu sein scheint, denn er sagt im 1. Korintherbrief Kap. 10, V. 15: »Ich rede zu euch als zu Weisen, urteilet ihr über das, was ich sage.« Ein weiterer Grund ist, daß die Propheten die geoffenbarten Dinge nicht durch die natürliche Vernunft, d. h. durch Vernunftgründe, begriffen haben, wie wir im 1. Kapitel gesehen haben.

Nun kommen zwar auch in den fünf Büchern Mose Stellen vor, wo etwas aus Schlußfolgerungen gezogen scheint, bei näherer Betrachtung aber wird es sich zeigen, daß diese Schlußfolgerungen auf keine Weise als zwingende Beweisgründe genommen werden können. Z. B. wenn Moses im 5. Buch Mose Kap. 31, V. 27 zu den Israeliten sagt: »Wenn ihr, so lange ich unter euch lebte, aufrührerisch gewesen seid gegen Gott, um wie viel mehr werdet ihr es nach meinem Tode sein«, so ist das gewiß nicht so gemeint, als ob Moses die Israeliten durch die Vernunft habe überzeugen wollen, daß sie nach seinem Tode von der wahren Gottesverehrung notwendig abfallen würden, denn es wäre das eine ganz falsche Beweisführung, was sich aus der Bibel selbst ergiebt, da die Israeliten standhaft blieben, so lange Josua und die Ältesten lebten und auch später noch unter Samuel, David, Salomo u. s. f. Jene Worte des Moses sind daher nicht anders als im Sinne einer Moralpredigt aufzufassen; Moses wollte damit in rhetorischer Weise den künftigen Abfall des Volkes im voraus sagen, wie sich ihm derselbe in seiner Einbildungskraft lebhaft darstellte. Wenn ich nicht sage, Moses habe diese Worte nicht in seiner prophetischen Eigenschaft als Offenbarung, sondern aus sich selbst gesprochen, um dem Volke seine Voraussage wahrscheinlicher zu machen, so hat das seinen Grund darin, daß im 21. Vers desselben Kapitels erzählt wird, Gott habe ebendieses mit andern Worten dem Moses geoffenbart, der wahrlich nicht durch Wahrscheinlichkeitsgründe von dieser Voraussage und Entschließung Gottes überzeugt zu werden brauchte; das aber war notwendig, daß sich dieselbe in seiner Einbildungskraft lebhaft darstellte, wie im 1. Kapitel dieses Buches gezeigt wurde, und dies konnte durch nichts besser geschehen, als dadurch, daß er sich die gegenwärtige Halsstarrigkeit des Volkes, die er so oft erfahren hatte, als zukünftige vorstellte. Und in dieser Weise sind alle Beweisgründe aufzufassen, die sich in den fünf Büchern Mose finden; nicht aus der Schatzkammer der Vernunft sind sie geholt, sondern es sind Redewendungen, durch welche er die Ratschlüsse Gottes nachdrücklicher ausdrückte und lebhafter vorstellte.

Indessen will ich nicht unbedingt bestreiten, daß die Propheten bei Offenbarungen auch Beweisgründe beibringen konnten; ich behaupte nur, je mehr die Propheten eigentliche Beweisgründe beibringen, desto mehr nähert sich ihre Erkenntnis über einen Offenbarungsgegenstand der natürlichen Erkenntnis. Es ist dies auch der beste Beleg für die übernatürliche Erkenntnis der Propheten, daß sie nämlich reine Lehrsätze, oder Gebote, oder Aussprüche geben. Moses, der größte Prophet, hat daher keine eigentlichen Beweisgründe angewendet.

Die weitläufigen Auseinandersetzungen und Beweisführungen des Paulus dagegen, wie solche im Römerbrief vorkommen, können daher, wie ich zugeben muß, nicht vermöge einer übernatürlichen Offenbarung geschrieben sein. Sowohl die Ausdrucksweise wie die Form der Abhandlung in den Apostelbriefen zeigt sehr deutlich, daß dieselben nicht vermöge einer Offenbarung und auf ein göttliches Geheiß niedergeschrieben wurden, sondern nur aus dem natürlichen Urteil der Apostel hervorgegangen sind. Sie enthalten auch nur brüderliche Ermahnungen, denen artige Wendungen eingestreut sind, dergleichen mit der prophetischen Autorität ganz und gar unverträglich sind, wie jene Entschuldigung des Paulus im Römerbrief Kap. 15, V. 15: »Ich habe etwas zu kühn an euch geschrieben, meine Brüder.« – Übrigens können wir das außerdem auch daraus schließen, daß den Aposteln nirgends befohlen wird, zu schreiben; es wird ihnen bloß befohlen, zu predigen, wohin sie kommen und ihre Worte durch Zeichen zu bekräftigen. Denn ihre persönliche Gegenwart und ihre Zeichen waren unbedingt nötig, die Völker zur Religion zu bekehren und darin zu bestärken, wie Paulus selbst im Römerbrief Kap. 1 V. 11 ausdrücklich äußert. »Denn ich habe großes Verlangen,« sagt er, »euch zu sehen, damit ich euch die Gabe des Geistes mitteile, auf daß ihr gestärkt werdet.«

Hier könnte man aber einwenden, daß man alsdann ebensogut schließen könnte, die Apostel hätten auch nicht als Propheten gepredigt, weil, wenn sie dahin und dorthin gingen, um zu predigen, sie das nicht auf besonderen Befehl thaten wie ehedem die Propheten. Wir lesen im Alten Testament, daß Jona nach Niniveh gegangen sei, um zu predigen, zugleich aber auch, daß er ausdrücklich dorthin gesendet, und daß, was er dort zu predigen hatte, ihm geoffenbart worden sei. So wird auch von Moses ausführlich berichtet, daß er als Gesandter Gottes nach Ägypten gegangen sei und zugleich, was er dem israelitischen Volke und dem König Pharao zu sagen und welche Zeichen er zu seiner Beglaubigung vor ihnen zu verrichten hatte. Jesaja, Jeremia, Ezechiel erhalten den ausdrücklichen Befehl, den Israeliten zu predigen. Auch haben die Propheten nichts gepredigt, wovon die Bibel nicht bezeugt, daß sie es von Gott vernommen haben.

Von den Aposteln dagegen lesen wir nichts dergleichen im Neuen Testament, wenn erzählt wird, daß sie dahin oder dorthin gingen, um zu predigen, sehr wenige Stellen ausgenommen. Im Gegenteil kommt manches vor, das deutlich zeigt, daß die Apostel die Ortschaften, wo sie predigen wollten, sich nach eigenem Ermessen gewählt haben. So z. B. jener Streit zwischen Paulus und Barnabas, der zum Zerwürfnis führte, worüber in der Apostelgeschichte Kap. 15, V. 37, 38 u. s. f. das Nähere nachzulesen. So ferner, daß sie sich manchmal umsonst vorgenommen haben, irgendwohin zu gehen, wie derselbe Paulus im Römerbrief Kap. 1, V. 13 bezeugt: »Zu diesen Zeiten habe ich mir oft vorgesetzt, zu euch zu kommen, bin aber verhindert worden«; im Kap. 15, V. 22: »Deshalb bin ich zu vielen Zeiten verhindert worden, zu euch zu kommen«; und im letzten Kapitel des 1. Korintherbriefes V. 12: »Meinen Bruder Apollo aber habe ich vielmal gebeten, mit den Brüdern zu euch zu reisen, er konnte sich aber durchaus nicht entschließen, zu euch zu kommen; wenn es ihm aber gelegen sein wird u. s. f.«. – Aus solchen Äußerungen und solcher Meinungsverschiedenheit der Apostel sowohl, wie auch daraus, daß, wenn sie irgendwohin zu predigen gingen, die Bibel nicht wie bei den alten Propheten bezeugt, sie seien auf Gottes Geheiß dahin gegangen, hätte ich schließen müssen, daß die Apostel, auch wenn sie predigten, als Lehrer, aber nicht als Propheten, auftraten.

Diese Frage ist jedoch leicht zu lösen, wenn wir auf den Unterschied in der Berufung der Apostel und der Berufung der alttestamentlichen Propheten genauer achten. Die letzteren nämlich waren nicht berufen, allen Völkern zu predigen und zu prophezeien, sondern nur dem einen und andern Volke, darum war bei jedem Volke ein ausdrücklicher und besonderer Befehl nötig. – Die Apostel dagegen waren berufen, allen Völkern ohne Unterschied zu predigen und alle zur Religion zu bekehren. Sie befolgten also den Befehl Christi, wohin sie auch immer gingen. Auch brauchte ihnen das, was sie predigen sollten, nicht erst geoffenbart zu werden, bevor sie gingen; waren sie doch Jünger Christi, zu welchen er selbst gesprochen hatte: »Wenn sie euch aber überantworten werden, so seid nicht besorgt, wie oder was ihr reden sollet, denn es soll euch zu jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollet etc.« (S. Matth. Kap. 10, V. 19 und 20).

Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß den Aposteln nur das besonders geoffenbart wurde, was sie mündlich predigten und zugleich mit Zeichen bekräftigten, (s. was anfangs des 2. Kapitels ausgeführt wurde,) was sie dagegen einfach, ohne Anwendung von Zeichen zur Bestätigung, schriftlich oder mündlich lehrten, das sagten oder schrieben sie aus ihrer Erkenntnis (der natürlichen nämlich); s. hierüber 1. Brief an die Korinther Kap. 14, V. 6.

Hierbei ist es von keiner Bedeutung, daß alle Briefe mit der Bestätigung des Apostelamtes beginnen, denn den Aposteln war, wie ich gleich zeigen werde, nicht bloß die Kraft zu prophezeien, sondern auch die Autorität zu lehren verliehen. In diesem Sinne gebe ich zu, daß sie als Apostel ihre Briefe geschrieben haben und dies mag der Grund sein, weshalb jeder Apostel seinen Brief mit der Bestätigung seiner apostolischen Sendung eröffnet. Vielleicht aber thaten sie das aus einem andern Grunde. Um nämlich den Sinn des Lesers desto leichter für sich einzunehmen und zur Aufmerksamkeit anzuregen, hielten sie es für zweckmäßig, vor allem zu bezeugen, daß sie dieselben Personen seien, welche allen Gläubigen aus ihren Predigten bekannt wären und durch klare Zeugnisse den Beweis gegeben hätten, daß sie die wahre Religion und den Weg des Heils lehrten. Denn ich finde, daß alles, was in diesen Briefen von der Berufung der Apostel, wie auch von dem heiligen und göttlichen Geist, den sie besaßen, gesagt wird, sich auf die von ihnen gehaltenen Predigten bezieht, die Stellen ausgenommen, in welchen »Geist Gottes« und »heiliger Geist« nur die gesunde, selige, gottgeweihte Seele bezeichnet (worüber im 1. Kapitel gesprochen wurde). Z. B. im 1. Korintherbrief Kap. 7, V. 40 sagt Paulus: »Selig aber ist sie, wenn sie also bleibet, nach meiner Meinung. Ich glaube aber auch, daß der Geist Gottes in mir ist.« Unter »Geist Gottes« versteht er seine eigene Seele, wie der Zusammenhang der Rede anzeigt. Er will nämlich sagen: Eine Witwe, welche keinen zweiten Mann ehelichen will, halte ich für selig nach meiner Meinung, der ich ehelos zu leben beschlossen habe und mich für selig halte. Dergleichen Stellen finden sich noch andere, deren Anführung ich jedoch nicht für notwendig erachte.

Muß man hiernach behaupten, daß die Briefe der Apostel von der natürlichen Vernunft allein diktiert wurden, so ist weiter zu untersuchen, wie die Apostel aus der natürlichen Erkenntnis allein Dinge lehren konnten, die außer dem Bereich der natürlichen Erkenntnis liegen. Denken wir indessen an das, was im 7. Kapitel dieses Buches über die Auslegung der Bibel gesagt ist, so wird jede Schwierigkeit alsbald gehoben sein. Denn wenn auch vieles in der Bibel unsere Begriffe übersteigt, so können wir doch mit Sicherheit darüber urteilen, wenn wir nur keine anderen Grundlagen zulassen, als die, welche sich aus der Bibel selbst ergeben. Auf dieselbe Weise konnten auch die Apostel aus den Dingen, welche sie gesehen, gehört oder auf dem Wege der Offenbarung vernommen hatten, vieles schließen und ableiten und es den Menschen lehren, wenn sie wollten. – Ferner liegt zwar die Religion, so wie sie von den Aposteln gepredigt wurde, die nämlich die Geschichte Christi ganz schlicht erzählten, außerhalb des Bereichs der Vernunft; ihr wesentlicher Inhalt aber, der hauptsächlich in sittlichen Lehren besteht, wie die ganze Lehre Christi, kann von jedermann mit dem natürlichen Verstande begriffen werden. – Endlich bedurften die Apostel keiner übernatürlichen Erleuchtung, um die Religion, die sie vorher durch Zeichen bewiesen hatten, der gewöhnlichen menschlichen Fassungskraft in einer Weise anzupassen, daß sie von jedermann gerne und mit ganzem Herzen angenommen wurde; und ebensowenig bedurften sie einer übernatürlichen Erleuchtung, um die Menschen zur Religion zu ermahnen. Das letztere war der eigentliche Zweck der Briefe; sie sollten die Menschen über den Weg unterrichten und ermahnen, welcher nach dem Urteil jedes Apostels am besten geeignet war, sie in der Religion zu bestärken. Hiebei muß an das etwas weiter oben Bemerkte erinnert werden, daß nämlich die Apostel nicht bloß mit der Kraft begabt worden waren, die Geschichte Christi als Propheten zu predigen, indem sie dieselbe mit Zeichen bestätigten, sondern auch mit der Autorität, über den Weg, den jeder Apostel für den besten hielt, Belehrung und Ermahnung zu erteilen. Diese doppelte Gabe drückt Paulus deutlich im 2. Brief an Timotheus Kap. 1, V. 11 folgendermaßen aus: »für welches ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel und Lehrer der Völker«; ebenso im 1. Brief an denselben Kap. 2, V. 7: »für welches ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel, (ich sage die Wahrheit durch Christus und lüge nicht,) als Lehrer der Völker mit Treue (wohlgemerkt) und Wahrheit«. Mit diesen Worten, sage ich, zeigt er seine Bestätigung in beiden Ämtern an, im Apostelamt und im Lehramt. Das eine dagegen, die Autorität, wen und wann er wolle zu ermahnen, bezeichnet er im Brief an Philemon V. 8 mit den Worten: »Obgleich ich viel Freiheit in Christus habe, dir zu gebieten, was geziemt, dennoch etc.«; wobei zu bemerken ist, daß es Paulus gewiß nicht erlaubt gewesen wäre, Gottes Befehl in Bitten zu verwandeln, wenn er das, was dem Philemon zu befehlen war, als Prophet von Gott vernommen und als solcher zu befehlen gehabt hätte. Mit der Freiheit, von welcher er hier schreibt, meint er also ganz gewiß die Freiheit im Ermahnen, welche er als Lehrer, nicht aber als Prophet hatte.

Indessen würde darum noch nicht mit hinlänglicher Sicherheit gefolgert werden können, daß die Apostel nach eigenem Ermessen den Weg, den jeder für den besten hielt, wählen konnten, sondern nur, daß sie vermöge ihres Apostelamts sowohl Propheten, als auch Lehrer gewesen seien; wenn wir nicht die Vernunft zu Hilfe rufen wollen, welche uns sagt, daß wer die Autorität zu lehren besitzt, sicherlich auch die Autorität besitzt, den Weg zu wählen, den er für den richtigen hält. Es genügt jedoch, die Sache aus der Bibel allein zu erweisen. Aus ihr ergiebt sich nämlich ganz deutlich, daß jeder Apostel einen besondern Weg gewählt habe, und zwar geht dies aus den Worten des Paulus im Römerbrief Kap. 15, V. 20 hervor: »Ich bin besonders darauf bedacht, nicht da zu predigen, wo der Name Christi schon angerufen ward, um nicht auf fremdem Grund zu bauen.« Gewiß, hätten alle Apostel den gleichen Weg gelehrt und die christliche Religion auf dem gleichen Grund gebaut, so hätte Paulus in keiner Beziehung die Grundlagen eines andern Apostels einen fremden Grund nennen können, da sie ja dieselben waren, wie die seinigen. Da er sie aber fremd nennt, so muß notwendig gefolgert werden, daß jeder Apostel die Religion auf einem eigenen Grund aufgebaut hat. Es erging daher den Aposteln in ihrem Lehramt ebenso wie andern Lehrern, welche eine eigene Lehrweise haben und daher immer lieber solche Personen unterrichten, welche noch ganz ungebildet sind und noch von niemand anders Unterricht genossen haben, weder in Sprachen, noch in Wissenschaften, die mathematischen nicht ausgeschlossen, an deren Wahrheit doch niemand zweifelt.

Wenn wir ferner die Briefe der Apostel mit einiger Aufmerksamkeit durchgehen, so werden wir finden, daß die Apostel zwar in der Religion selbst mit einander übereinstimmen, in ihren Grundlagen aber sehr von einander abweichen. Paulus, um die Menschen in der Religion zu bestärken und ihnen zu zeigen, daß das Heil von der Gnade Gottes allein abhängt, lehrt, daß niemand sich seiner Werke, sondern nur seines Glaubens rühmen könne, und daß niemand durch seine Werke gerechtfertigt werde (s. seinen Brief an die Römer Kap. 3, V. 27 und 28) und so seine ganze bekannte Lehre von der Vorherbestimmung. Jakobus aber in seinem Briefe lehrt ganz im Gegenteil, daß der Mensch durch seine Werke gerechtfertigt werde und nicht durch den Glauben allein (s. seinen Brief Kap. 2, V. 24) und faßt die ganze Lehre der Religion, unter Auslassung aller jener Erörterungen des Paulus, in sehr wenigen Worten zusammen.

Endlich sind zweifellos aus diesem Umstand, daß nämlich die Apostel die Religion auf verschiedenen Grundlagen aufgebaut haben, viele Streitigkeiten und Spaltungen entstanden, unter welchen die Kirche schon von den Zeiten der Apostel an unablässig gelitten hat und sicherlich auch fernerhin so lange leiden wird, bis endlich einmal die Religion von der philosophischen Spekulation losgemacht und auf die wenigen und einfachen Lehrsätze, welche Christus seinen Jüngern gelehrt hat, zurückgeführt sein wird. Dieses letztere war den Aposteln selbst nicht möglich, weil damals das Evangelium noch unbekannt war; sie mußten daher die neue Lehre, damit sie ihre Zeitgenossen nicht allzusehr verblüffe, dem Geiste derselben möglichst anpassen (s. 1. Brief an die Korinther Kap. 9, V. 19 und 20) und auf solchen Grundlagen aufbauen, die damals recht bekannt und anerkannt waren. Deswegen hat unter allen Aposteln keiner mehr philosophiert als Paulus, welcher berufen war, den Heiden zu predigen. Die andern dagegen, die den Juden predigten, welche die Philosophie geringschätzten, lehrten die Religion ohne philosophische Spekulationen, indem sie dieselbe dem Geist der Juden anpaßten (darüber s. den Brief an die Galater Kap. 2, V. 11) u. s. f. – Wie glücklich wäre unser Zeitalter, wenn wir es von allem Aberglauben frei wüßten! –

Zwölftes Kapitel.

Über die wahre Urschrift des göttlichen Gesetzes; ferner wiefern die Bibel »heilige Schrift« und wiefern sie »Wort Gottes« heißt. Schließlich wird gezeigt, daß sie, soweit sie das Wort Gottes enthält, unverfälscht auf uns gekommen ist.


Diejenigen, welche die Bibel, so wie sie ist, als einen Brief ansehen, welchen Gott den Menschen vom Himmel gesendet hat, werden ohne Zweifel schreien, ich hätte eine Sünde gegen den heiligen Geist begangen, weil ich nämlich behauptet habe, daß die Bibel Fehler, Verstümmelungen, Fälschungen und Widersprüche enthalte, daß wir nur Bruchstücke von ihr besitzen und daß die Urschrift über den Bund, den Gott mit den Juden geschlossen, verloren gegangen sei. Würden sie indessen die Sache selbst gehörig erwägen, so zweifle ich nicht, daß ihr Geschrei alsobald verstummen würde. Denn die Vernunft sowohl wie auch die Aussprüche der Propheten und Apostel verkünden es offen, daß Gottes ewiges Wort und ewiger Bund und die wahre Religion von Gott in die Herzen der Menschen, d. h. in den menschlichen Geist eingeschrieben worden sei und daß dies die wahre Urschrift sei, welche Gott selbst mit seinem Siegel, nämlich mit dem Begriff seiner selbst, wie mit seinem Bildnis besiegelt hat.

Den ersten Juden ist die Religion als geschriebenes Gesetz übergeben worden, weil sie in damaliger Zeit wie Kinder behandelt wurden. Aber Moses (5. Buch Mose, Kap. 30, V. 6) und Jeremia (Kap. 31, V. 33) predigen von einer künftigen Zeit, wo Gott sein Gesetz in ihre Herzen schreiben würde. Die Juden allein und namentlich die Sadduzäer hatten daher Grund, ehemals für das auf die Tafeln geschriebene Gesetz zu streiten, nicht aber diejenigen, welche es in der Schrift des Herzens besitzen. Wer nun dieses bedenkt, wird finden, daß im Vorstehenden nichts enthalten ist, was mit dem Worte Gottes oder mit der wahren Religion und dem wahren Glauben im Widerspruch stünde oder diesen schwächen könnte, sondern daß ich im Gegenteil den wahren Glauben stärke, wie ich schon am Schluß des 10. Kapitels gezeigt habe. Wäre dies nicht der Fall, so hätte ich mich entschlossen, ganz darüber zu schweigen; ja ich hätte, um allen Schwierigkeiten zu entgehen, gerne eingeräumt, daß in der Bibel die tiefsten Geheimnisse verborgen seien. Weil aber hieraus ein ganz unerträglicher Aberglaube und andere höchst schädliche Übelstände, die in der Einleitung zum 7. Kapitel gekennzeichnet wurden, entsprungen sind, so durfte ich mich meiner Meinung nach dieser Aufgabe nicht entziehen, zumal die Religion keinen abergläubischen Schmuck nötig hat, vielmehr an ihrem Glanze einbüßt, wenn sie mit solchen Erdichtungen aufgeputzt wird.

Man wird aber sagen, wenn auch das göttliche Gesetz in die Herzen geschrieben ist, so sei die Bibel gleichwohl das Wort Gottes, und man dürfe daher von der Bibel ebensowenig wie von Gottes Wort sagen, daß Verstümmelung und Fälschung darin enthalten sei. Ich meinerseits aber fürchte im Gegenteil, daß diejenigen, welche so sprechen, einer übertriebenen Heiligkeit sich befleißigen und die Religion in Aberglauben verkehren, ja daß sie auf dem Wege sind, Zeichen und Bilder, nämlich Papier und Tinte, statt Gottes Wort zu verehren. So viel weiß ich, daß ich nichts gesagt habe, was der Bibel oder dem Wort Gottes nicht würdig wäre, da ich nichts behauptet habe, was ich nicht mit den überzeugendsten Gründen als wahr bewiesen hätte, und deshalb kann ich auch mit Bestimmtheit versichern, daß ich nichts gesagt habe, was gottlos ist, oder wie Gottlosigkeit aussieht.

Ich gebe zu, daß manche gemeine Menschen, denen die Religion zur Last ist, die Erlaubnis zu sündigen hieraus entnehmen können, und ohne irgend einen Grund, sondern lediglich um ihrer Lust zu fröhnen, daraus schließen, die Bibel sei allenthalben fehlerhaft und gefälscht und sie könne folglich keinerlei Achtung beanspruchen. Solchen Mißdeutungen kann jedoch unmöglich vorgebeugt werden, nach dem bekannten Wort: Es kann nichts so gut gesagt werden, daß man es nicht durch schlechte Auslegung entstellen könnte. Menschen, welche ihren Lüsten fröhnen wollen, können leicht irgend einen Grund dafür finden, und die früheren Geschlechter, welche die Originale selbst, die Bundeslade, ja sogar Propheten und Apostel hatten, sind auch nicht besser und gehorsamer gewesen; alle, Juden wie Heiden, waren stets die gleichen und die Tugend ist zu allen Zeiten sehr selten gewesen.

Um indessen alle Bedenken zu beseitigen, soll hier noch gezeigt werden, wiefern die Bibel und überhaupt irgend ein lebloser Gegenstand heilig und göttlich genannt werden müsse; sodann, was das Wort Gottes eigentlich sei und daß es nicht in einer bestimmten Zahl von Büchern bestehe; endlich, daß die Bibel, soweit sie das lehrt, was zum Gehorsam und zur Glückseligkeit nötig ist, nicht hat verfälscht werden können. Denn daraus wird jeder leicht entnehmen können, daß ich nichts gegen das Wort Gottes gesagt, noch der Gottlosigkeit irgendwo Raum gegeben habe.

Heilig und göttlich wird ein Gegenstand genannt, welcher zur Übung der Frömmigkeit und Religion bestimmt ist, und nur so lange ist derselbe heilig, als er von den Menschen zu diesem Zweck gewissenhaft benutzt wird. Hören die Menschen auf, fromm zu sein, so hört auch dieser Gegenstand auf, heilig zu sein, und wird er gar zu gottlosen Zwecken bestimmt, so wird aus dem ehemals heiligen Gegenstand ein unreiner und gemeiner Gegenstand. So z. B. wurde ein gewisser Ort von dem Erzvater Jakob ביתאל »Haus Gottes« genannt, weil er daselbst den Gott verehrte, der sich ihm geoffenbart hatte. Von den Propheten aber wird dieser selbige Ort בית און »Haus des Unrechts« genannt (s. Amos Kap. 5, V. 5 und Hosea Kap. 10, V. 5), weil die Israeliten daselbst, zufolge der Einrichtung des Jerobeam, den Götzen zu opfern pflegten. Ein anderes Beispiel macht die Sache noch deutlicher. Worte erhalten ihre bestimmte Bedeutung nur durch den Sprachgebrauch. Werden nun Worte gemäß ihrem Sprachgebrauch so gesetzt, daß sie die Leser andächtig stimmen, so werden diese Worte heilig heißen und ebenso das Buch, welches die also gesetzten Worte geschrieben enthält. Wenn nun aber später dieser Sprachgebrauch verloren geht, so daß die Worte keine Bedeutung mehr haben, oder wenn das Buch, entweder aus böser Absicht oder weil man seiner nicht bedarf, gänzlich vernachlässigt wird, so werden die Worte wie das Buch nicht mehr wertvoll und nicht mehr heilig sein.

Es folgt hieraus, daß nur die Gesinnung an und für sich als heilig oder gemein oder unrein zu bezeichnen ist, alles aber nur beziehungsweise zur Gesinnung. Dies geht auch aus vielen Bibelstellen aufs klarste hervor. Jeremia z. B. (um das eine oder andere anzuführen) sagt im Kap. 7, V. 4, die Juden seiner Zeit hätten den salomonischen Tempel fälschlich Tempel Gottes genannt, denn, wie er selbst in demselben Kapitel fortfährt, der Name Gottes konnte jenem Tempel nur so lange beigelegt werden, als derselbe von Menschen besucht wird, welche Gott verehren und die Gerechtigkeit schätzen; wenn er aber von Mördern, Dieben, Götzendienern und andern Übelthätern besucht wird, so sei er vielmehr eine Räuberhöhle.

Was aus der Bundeslade geworden ist, darüber berichtet die Bibel nichts, worüber ich mich oft gewundert habe. So viel aber ist gewiß, daß sie verloren ging oder mit dem Tempel verbrannt ist, obgleich es nichts Heiligeres und Ehrwürdigeres bei den Hebräern gegeben hat.

Aus diesem Grunde ist auch die Bibel nur so lange heilig, und sind ihre Reden nur so lange göttlich, als sie die Menschen zur Ergebenheit gegen Gott bewegt. Wird sie von den Menschen aber gänzlich vernachlässigt, wie einst bei den Juden, so ist sie nichts weiter als Papier und Tinte, sie wird von ihnen gänzlich entheiligt und fällt leicht der Entstellung anheim. Wenn sie alsdann entstellt wird oder verloren geht, so sagt man fälschlich, das Wort Gottes sei entstellt worden oder verloren gegangen; gerade so wie man zur Zeit des Jeremia von dem Tempel fälschlich gesagt haben würde, der Tempel Gottes sei in den Flammen untergegangen. In der That sagt dies Jeremia selbst von dem Gesetze, indem er die schlechten Menschen seiner Zeit mit folgenden Worten schilt: »Wie möget ihr sagen: wir sind Weise und das Gesetz Gottes ist bei uns. Wahrlich, umsonst wurde es geordnet, die Feder der Schreiber ist umsonst« (gemacht worden); d. h. obgleich ihr das geschriebene Gesetz in Besitz habet, saget ihr fälschlich, ihr hättet das Gesetz Gottes, da ihr dasselbe nutzlos gemacht habt. So hat auch Moses, als er die ersten Tafeln zerbrach, keineswegs das Wort Gottes im Zorn aus den Händen geschleudert und zerbrochen, (wer möchte so etwas von Moses und dem Worte Gottes denken,) sondern nur Steine. Denn waren sie auch vorher heilig, weil der Bund, in welchem sich die Juden zum Gehorsam gegen Gott verpflichtet hatten, darauf geschrieben stand, so hatten sie doch, nachdem die Juden diesen Bund durch die Anbetung des Kalbes nutzlos gemacht hatten, ferner keine Heiligkeit mehr. Aus derselben Ursache konnten auch die zweiten Tafeln mit der Lade verloren gehen.

Es ist daher kein Wunder, daß auch die ersten Urschriften des Moses nicht mehr vorhanden sind, und daß mit den Büchern, die wir besitzen, sich zugetragen hat, was ich oben ausgeführt habe, da doch sogar die wahre Urschrift des göttlichen Bundes, die heiligste unter allen Urschriften, gänzlich verloren gehen konnte.

Man höre also auf, mich der Gottlosigkeit zu zeihen, der ich gegen das Wort Gottes nichts gesagt, noch es entweiht habe; kehre man vielmehr den Zorn, wenn man wirklich Ursache dazu hat, gegen die Alten, deren Schlechtigkeit die Lade Gottes, den Tempel, das Gesetz und alle heilige Dinge entheiligt und der Verderbnis preisgegeben hat. Und wer ferner, gemäß jenem Worte des Apostels im 2. Korintherbrief Kap. 3, V. 3, die Epistel Gottes in sich hat, nicht in Tinte sondern im Geiste Gottes, und nicht auf Tafeln von Stein, sondern auf Tafeln von Fleisch, ins Herz geschrieben, der möge aufhören, den Buchstaben anzubeten und sich wegen desselben so sehr aufzuregen.

Damit glaube ich genügend auseinandergesetzt zu haben, inwiefern die Bibel als heilig und göttlich zu betrachten ist.

Es ist nunmehr zu untersuchen, was eigentlich unter debar Jehovah (Wort Gottes) zu verstehen ist. דבר dabar kann heißen: »Wort«, »Rede«, »Spruch« und »Sache«. Warum im Hebräischen von einer Sache gesagt wird, sie sei Gottes, und warum eine Sache auf Gott bezogen wird, habe ich im 1. Kapitel auseinandergesetzt und man wird aus dem dort Gesagten leicht wissen können, was die Bibel mit Gottes Wort, Rede, Spruch oder Sache bezeichnen will. Es ist daher nicht nötig, hier das alles zu wiederholen, so wenig wie das im 6. Kapitel unter dem dritten Punkt über die Wunder Ausgeführte. Es genügt, darauf hinzuweisen, um das, was ich hier darüber sagen will, besser verständlich zu machen.

Wird nämlich »Wort Gottes« von einem Wesen gesagt, das nicht Gott selbst ist, so bezeichnet es im eigentlichen Sinne jenes göttliche Gesetz, von dem im 4. Kapitel die Rede war, nämlich die dem ganzen Menschengeschlecht gemeinsame oder allgemeine Religion. Man sehe hierüber Jesaja Kap. 1, V. 10 etc., wo der Prophet den wahren Lebenswandel lehrt, indem er sagt, daß derselbe nicht in religiösen Bräuchen, sondern in der Liebe und Wahrhaftigkeit des Herzens besteht; und diese wahre Lebensweise nennt er abwechslungsweise bald Gesetz bald Wort Gottes. – »Wort Gottes« wird ferner im bildlichen Sinne gebraucht für die Naturordnung selbst und für das Schicksal, (weil dasselbe thatsächlich von dem ewigen Ratschluß der göttlichen Natur abhängt und aus ihm folgt,) und vorzüglich für dasjenige, was die Propheten von dieser Naturordnung voraussahen, und zwar deshalb, weil sie die künftigen Ereignisse nicht aus ihren natürlichen Ursachen begriffen haben, sondern als Befehle und Beschlüsse Gottes. – Weiter wird »Wort Gottes« gebraucht für jeglichen Spruch eines jeden Propheten, sofern ihn der Prophet durch eine besondere Kraft oder prophetische Gabe, nicht aber durch die allgemeine natürliche Vernunft erfaßt hatte, und zwar namentlich deshalb, weil die Propheten in der That sich Gott als einen Gesetzgeber vorzustellen pflegten.

Aus diesen drei Gründen wird die Bibel das Wort Gottes genannt. Nämlich, weil sie die wahre Religion lehrt, deren Urheber der ewige Gott ist; ferner weil sie Weissagungen über künftige Ereignisse enthält, die sie als göttliche Beschlüsse darstellt; endlich, weil ihre wirklichen Verfasser ihre Lehren gewöhnlich nicht aus der allgemeinen, natürlichen Vernunft schöpften, sondern aus einer gewissen ihnen eigentümlichen Erkenntnis, und dieselben Gott in den Mund legten. – Obgleich nun die Bibel außerdem noch vieles enthält, was rein geschichtlich ist und aus der natürlichen Vernunft geschöpft ist, so wird sie doch nach jenen Stellen benannt, weil dieselben den größeren Teil ihres Inhalts ausmachen.

Hiernach können wir leicht erkennen, inwiefern Gott als der Urheber der biblischen Bücher aufzufassen ist: lediglich wegen der wahren Religion, welche in der Bibel gelehrt wird; nicht aber als ob Gott eine bestimmte Anzahl von Büchern den Menschen habe mitteilen wollen. Ferner können wir daraus ersehen, weshalb die Bibel in ein Altes und ein Neues Testament geteilt ist: weil nämlich vor der Ankunft Christi die Propheten gewohnt waren, die Religion als Landesgesetz und als Verpflichtung des zu Mose Zeit geschlossenen Bundes zu lehren, während nach Christi Ankunft die Apostel die Religion als allgemeines Gesetz und bloß auf Grund des Leidens Christi allen Menschen gepredigt haben. Aber nicht deshalb ist die Bibel in ein Altes und Neues Testament geschieden, weil beide in der Lehre verschieden, oder weil sie als Urschriften des Bundes zu betrachten wären, oder endlich weil die allgemeine Religion, die doch sehr natürlich ist, neu wäre, da sie doch nur denjenigen Menschen neu war, die sie nicht erkannt hatten. »Es war in der Welt,« sagt der Evangelist Johannes Kap. 1, V. 10, »aber die Welt erkannte es nicht.«

Hätten wir daher auch weniger Bücher vom Alten und vom Neuen Testament, so würde uns das Wort Gottes (worunter eigentlich wie gesagt die wahre Religion zu verstehen ist) dennoch nicht fehlen, wie wir ja auch nicht glauben, daß uns dasselbe fehlt, weil wir viele andere sehr vortreffliche Bücher nicht besitzen, wie das Buch des Gesetzes, welches als Urschrift des Bundes sorgfältig im Tempel verwahrt wurde, ferner die Bücher der Kriege, der Geschichtstafeln und viele andere, aus welchen die Bücher des Alten Testaments, welche wir besitzen, ausgezogen und zusammengestellt worden sind.

Es wird dies außerdem durch viele andere Gründe bestätigt.

Erstens sind die Bücher beider Testamente nicht auf besondere Anordnung, zu gleicher Zeit und für alle Jahrhunderte geschrieben worden, sondern gelegentlich, für gewisse Menschen, und zwar so wie ihre besonderen Verhältnisse und die Zeit es erforderten, was die Berufung der einzelnen Propheten (welche berufen worden sind, die Gottlosen ihrer Zeit zu vermahnen) und auch die Briefe der Apostel deutlich zeigen.

Zweitens. Ein anderes ist es, die Bibel und den Sinn der Propheten, ein anderes den Sinn Gottes, d. h. die Wahrheit selbst zu verstehen, wie aus dem folgt, was im 2. Kapitel über die Propheten ausgeführt wurde. Daß dies auch von den Geschichten und Wundern gilt, habe ich im 6. Kapitel gezeigt. Von den Stellen aber, welche von der wahren Religion und der wahren Tugend handeln, kann dies keineswegs gesagt werden.

Drittens sind die Bücher des Alten Testaments aus vielen Büchern ausgewählt und endlich durch einen Rat von Pharisäern gesammelt und anerkannt worden, wie ich im 10. Kapitel gezeigt habe. Die Bücher des Neuen Testaments aber sind gleichfalls durch die Beschlüsse einiger Konzilien in den Kanon aufgenommen worden, während andere Bücher, die von vielen für heilig gehalten wurden, den Beschlüssen dieser Konzilien zufolge als unecht verworfen wurden. Nun bestanden aber diese Konzilien (sowohl die pharisäischen als die christlichen) keineswegs aus Propheten, ihre Mitglieder waren bloß gelehrte und weise Männer; und dennoch ist man gezwungen, zuzugeben, daß sie bei dieser Auswahl sich das Wort Gottes zur Richtschnur genommen haben. Sie mußten somit notwendig vor der Anerkennung aller dieser Bücher vom Worte Gottes Kenntnis haben.

Viertens haben die Apostel nicht als Propheten, sondern (wie im vorigen Kapitel näher gezeigt wurde) als Lehrer geschrieben und bei ihrer Belehrung den Weg gewählt, den sie mit Rücksicht auf ihre jeweiligen Schüler für den leichtesten hielten. Hieraus folgt, daß darin (wie wir auch am Schluß des vorerwähnten Kapitels gefolgert haben) vieles enthalten ist, das wir in religiöser Beziehung entbehren können.

Fünftens endlich, weil es im Neuen Testament vier Evangelisten giebt. Wer kann glauben, daß Gott viermal die Geschichte Christi habe erzählen und den Menschen mitteilen wollen? Wohl ist in dem einen manches enthalten, was in dem andern fehlt und wird öfters das Verständnis des einen durch das andere gefördert; allein daraus kann nicht gefolgert werden, daß man alles wissen müsse, was in diesen vier Evangelien erzählt wird, und daß Gott die vier Evangelisten ausgewählt habe, sie zu schreiben, damit die Geschichte Christi besser verstanden würde. Vielmehr hat jeder von ihnen sein Evangelium an einem andern Ort gepredigt und jeder hat was er predigte aufgeschrieben, und zwar wollte jeder ganz einfach die Geschichte Christi deutlich erzählen, aber keineswegs die andern erläutern. Werden sie auch stellenweise durch gegenseitige Vergleichung leichter und besser verständlich, so ist dies rein zufällig und nur bei wenigen Stellen der Fall, und wenn man diese Stellen nicht verstünde, so wäre die Geschichte nicht minder klar und die Menschen könnten nicht minder selig werden.

Damit habe ich gezeigt, daß die Bibel nur in Hinsicht auf die Religion oder hinsichtlich des allgemeinen göttlichen Gesetzes im eigentlichen Sinn Gottes Wort genannt werden kann. Es ist nun noch zu zeigen, daß die Bibel, soweit sie im eigentlichen Sinn Gottes Wort genannt wird, nicht fehlerhaft, verdorben oder verstümmelt ist.

Fehlerhaft, verdorben und verstümmelt nenne ich hier nämlich, was so unrichtig geschrieben oder abgefaßt ist, daß der Sinn der Rede sich weder aus dem Sprachgebrauch ermitteln, noch aus der Bibel selbst erraten läßt. Ich will also keineswegs behaupten, daß die Bibel, soweit sie das göttliche Gesetz enthält, immer die Zeichen, Buchstaben und Worte der Urschrift beibehalten hat, (das zu beweisen überlasse ich den Masoreten und den abergläubischen Anbetern des Buchstabens,) sondern nur, daß der Sinn – und nur in Bezug auf diesen kann eine Rede göttlich heißen – unverdorben auf uns gekommen ist, sollten auch den Worten, mit welchen derselbe ursprünglich ausgedrückt war, öfters andere untergeschoben worden sein. Das beeinträchtigt, wie gesagt, die Göttlichkeit der Bibel nicht im geringsten; denn die Bibel wäre ebenso göttlich, wenn sie mit andern Worten und in einer andern Sprache geschrieben wäre.

Daß wir nun das göttliche Gesetz in diesem Sinne unverdorben erhalten haben, kann niemand bezweifeln. Ohne die geringste Schwierigkeit und Zweideutigkeit ergiebt sich aus der Bibel, daß ihr Hauptgedanke ist: Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Und das kann weder untergeschoben sein, noch von einer übereilten und irrenden Feder herrühren. Denn hätte die Bibel jemals das Gegenteil gelehrt, so müßten notwendig auch ihre übrigen Lehren ganz anders ausgefallen sein, da dieses der Untergrund der ganzen Religion ist, mit dessen Wegnahme das ganze Gebäude jählings zusammenbricht. Eine solche Bibel wäre nicht die, von welcher wir hier reden, sondern ein ganz anderes Buch. Es bleibt daher eine unerschütterliche Wahrheit, daß die Bibel dies immer gelehrt hat und daß folglich hierin kein sinnentstellender Irrtum sich eingeschlichen hat, da ein solcher sofort von jedermann bemerkt worden wäre, und keine Fälschung vorgekommen sein kann, da eine solche Schlechtigkeit alsbald offenbar geworden wäre.

Ist hiernach diese Grundlage unzweifelhaft als unverfälscht zu betrachten, so muß dies auch notwendig von allem übrigen behauptet werden, was aus dieser Grundlage ohne allen Widerstreit folgt und ebenfalls grundlegend ist, wie: daß es einen Gott giebt, daß er alles voraussieht, daß er allmächtig ist, daß es dem Frommen nach seinem Ratschluß wohl ergeht, den Ruchlosen aber schlecht, und daß unser Heil allein von seiner Gnade abhängt. Denn das alles lehrt die Bibel allenthalben deutlich und sie mußte es überall lehren, da sonst alles andere in der Luft schweben und keinen Grund haben würde. Nicht minder muß die Echtheit der übrigen Sittenlehren behauptet werden, da sie aus dieser allgemeinen Grundlage augenscheinlichst sich ergeben; nämlich: Gerechtigkeit üben, den Armen Hilfe leisten, niemand töten, fremdes Eigentum nicht begehren etc. Daran, sage ich, hat weder menschliche Bosheit etwas verfälschen, noch die Zeit etwas verwischen können. Denn was davon zerstört worden wäre, das hätte die allgemeine Grundlage sofort wieder vorgeschrieben, namentlich die Lehre von der Nächstenliebe, welche in beiden Testamenten überall nachdrücklichst empfohlen wird. Hierzu kommt noch der Umstand, daß, obzwar sich keine noch so fluchwürdige That denken läßt, die nicht schon von jemand begangen worden wäre, es doch niemand geben wird, der zur Entschuldigung seiner Thaten die Gesetze zu vernichten oder etwas Verruchtes als ewige und heilsame Lehre einzuschmuggeln versucht. Denn die menschliche Natur ist erfahrungsgemäß so beschaffen, daß jeder, (ob König oder Unterthan,) der etwas Schändliches begangen, seine That mit Umständen zu beschönigen sucht, unter welchen sie gegen Recht und Anstand nicht zu verstoßen scheint. – Wir gelangen also unbedingt zu dem Ergebnis, daß das allgemeine göttliche Gesetz, welches die Bibel lehrt, in seinem ganzen Umfang unverfälscht auf uns gekommen ist.

Daneben aber giebt es noch mancherlei, an dessen treuer Überlieferung wir ebenfalls nicht zweifeln können, nämlich das Hauptsächliche in den biblischen Geschichten, die ja allgemein genau bekannt waren. Das jüdische Volk pflegte früher die geschichtlichen Ereignisse der Vorzeit in Psalmen abzusingen. Auch das Wesentliche von Christi Thaten und Leiden verbreitete sich sofort im ganzen römischen Reiche. Man kann daher unmöglich annehmen – es wäre denn, daß weitaus die meisten Menschen dahin übereingekommen wären, was ganz unglaublich ist – daß die Späteren den Kern dieser Geschichten anders überliefert haben, als wie sie ihn von den Früheren vernommen hatten.

Alle Fälschungen und Fehler konnten somit nur bei dem Übrigen vorkommen, nämlich bei dem einen oder andern Umstand der Geschichte oder Prophetie, um das Volk mehr zur Gottergebenheit zu bewegen; oder bei dem einen oder andern Wunder, um die Philosophen in die Enge zu treiben; oder endlich bei spekulativen Dingen, nachdem einzelne religiöse Richtungen angefangen hatten, solche in die Religion einzuführen, um so die eigenen Erdichtungen durch Mißbrauch der göttlichen Autorität zu bestätigen. Für die Seligkeit indessen ist es sehr unwichtig, ob dergleichen Stellen mehr oder weniger verfälscht sind. Ich will diesem Gegenstand im folgenden Kapitel eine eigene Abhandlung widmen, obgleich derselbe durch das Bisherige und besonders durch das 2. Kapitel eigentlich schon erledigt sein dürfte.

Dreizehntes Kapitel.

Darin wird gezeigt, daß die biblischen Lehren sehr einfach sind, und daß die Bibel nichts anderes verlangt als Gehorsam; auch daß sie über die göttliche Natur nichts anderes lehrt, als was die Menschen in ihrer bestimmten Lebensweise nachahmen können.


Im 2. Kapitel dieses Traktats haben wir gesehen, daß die Propheten nur eine besondere Fähigkeit der Einbildungskraft, nicht aber der Erkenntnis gehabt haben, und daß ihnen Gott keine philosophischen Geheimnisse, sondern nur recht einfache Dinge offenbart und sich dabei ihren vorgefaßten Meinungen anbequemt hat. Im 5. Kapitel haben wir weiter gesehen, daß die Bibel ihre Lehren auf eine Weise erteilt und darstellt, daß sie von jedermann sehr leicht begriffen werden können; indem sie nicht aus unbestreitbaren Wahrheiten (Axiomen) und Begriffsbestimmungen (Definitionen) ihre Sätze ableitet und mit einander verknüpft, sondern dieselben ganz einfach hinstellt und sie nur, um sie glaubhaft zu machen, durch die Erfahrung bestätigt, nämlich durch Wunder und Geschichten, welche letzteren gleichfalls in einer solchen Darstellung und Ausdrucksweise berichtet werden, die am meisten geeignet ist, auf gewöhnliche Menschen einen tiefen Eindruck zu machen. Vergleiche hierüber im 6. Kapitel, was unter Punkt 3 ausgeführt wurde. Im 7. Kapitel endlich haben wir gesehen, daß die Bibel bloß in Bezug auf Sprache, nicht aber wegen der Tiefsinnigkeit ihres Inhalts stellenweise schwierig zu verstehen ist. Hierzu kommt noch der Umstand, daß die Propheten nicht den Gelehrten, sondern allen Juden ohne Unterschied gepredigt haben, die Apostel aber die Lehre des Evangeliums in den Kirchen, dem gemeinschaftlichen Versammlungsort für alle, zu lehren pflegten.

Aus dem allen geht hervor, daß die Lehre der Bibel keine tiefsinnigen Spekulationen oder philosophische Gedanken enthält, sondern bloß die einfachsten Dinge, die auch von den einfältigsten Menschen verstanden werden konnten.

Nicht genug wundern kann ich mich deshalb über den Geist derer, von denen ich schon oben gesprochen, die nämlich in der Bibel tiefe Geheimnisse wähnen, so tief, daß sie mit der menschlichen Sprache gar nicht erklärt werden können; und die ferner in die Religion so viele philosophische Spekulationen eingeführt haben, daß die Kirche eine Akademie, die Religion eine Wissenschaft oder vielmehr ein wissenschaftliches Gezanke zu sein scheint. Allein was wundere ich mich, daß Menschen, welche sich mit dem Besitz einer übernatürlichen Erleuchtung brüsten, den Philosophen, welche keine andere als die natürliche Erleuchtung haben, in der Erkenntnis nicht das Feld räumen wollen! Wundern müßte ich mich vielmehr, wenn sie etwas Neues lehren würden, was reines Ergebnis der Spekulation wäre, und nicht schon bei den alten heidnischen Philosophen (die doch, wie sie sagen, blind gewesen) zu den abgedroschenen Dingen gehörte. Denn wenn man die Geheimnisse, welche jene in der Bibel verborgen wähnen, genauer besieht, so findet man eben nichts Anderes, als Hirngespinste von Aristoteles, Plato und ihresgleichen, Dinge welche einem Ungebildeten oft eher im Traume einfallen, als daß der größte Gelehrte sie in der Bibel findet.

Ich möchte nun zwar nicht unbedingt behaupten, daß die Bibel mit rein spekulativen Dingen gar nichts zu schaffen habe, wurde doch im vorigen Kapitel einiges dieser Art erwähnt und gezeigt, daß es zur Grundlage der Bibel gehört; allein ich behaupte, daß solche nur in sehr geringer Anzahl vorkommen, und daß dieselben sehr einfach sind. Welche Lehren das nun aber seien und wie sie aufgefaßt werden müssen, soll nun gezeigt werden.

Es wird dies leicht geschehen können, nachdem wir wissen, daß es nicht in der Absicht der Bibel lag, eine Wissenschaft zu lehren; denn hiernach gelangen wir unschwer zu dem Urteil, daß sie nichts als Gehorsam von den Menschen verlangt und nur den Ungehorsam, aber nicht die Unwissenheit verdammt. Da ferner der Gehorsam gegen Gott einzig und allein in der Liebe des Nächsten besteht, (denn wer in der Absicht, Gott zu gehorchen, den Nächsten liebt, der hat das Gesetz erfüllt, wie Paulus im Römerbrief Kap. 13, V. 8 sagt,) so folgt, daß in der Bibel kein anderes Wissen empfohlen wird, als dasjenige, welches alle Menschen nötig haben, um Gott dieser Vorschrift gemäß gehorchen zu können und ohne dessen Kenntnis die Menschen notwendig ungehorsam sein oder wenigstens ein Zuchtmittel des Gehorsams entbehren müßten; daß aber andere Spekulationen, welche nicht unmittelbar hierauf abzielen, mögen sie nun die Erkenntnis Gottes oder die Erkenntnis der natürlichen Dinge betreffen, die Bibel nicht berühren und daher von der geoffenbarten Religion fernzuhalten seien.

Das alles kann wie gesagt jedermann leicht einsehen; weil aber das Urteil über die ganze Religion von diesem Punkte abhängt, will ich denselben noch eingehender erörtern und klar darlegen.

Hierbei ist es vor allem nötig, den Nachweis zu führen, daß eine vernunftgemäße oder genaue Erkenntnis Gottes keine allen Gläubigen gemeinsame Gabe ist, gleich dem Gehorsam; ferner, daß jene Erkenntnis, welche Gott durch die Propheten allgemein, von allen Menschen verlangt hat, und welche jeder innehaben muß, keine andere ist, als die Erkenntnis der göttlichen Gerechtigkeit und Liebe, welche beide aus der Bibel leicht erweislich sind. Denn erstens folgt das aufs deutlichste aus dem 2. Buch Mose Kap. 6, V. 2, wo Gott zu Moses sagt, um die ihm besonders gewährte Gnade hervorzuheben: »Ich habe mich dem Abraham, Isaak und Jakob geoffenbart als Gott Schaddai ( El Schaddai), aber mit meinem Namen Jehovah bin ich ihnen nicht bekannt geworden.« Zum besseren Verständnis sei bemerkt, daß El Schaddai im Hebräischen den Gott bezeichnet, welcher genügt, weil er jedem giebt, was ihm genügt Neuerdings wird der Name Schaddai richtiger als »Gott der Fruchtbarkeit« aufgefaßt und mit Schadajim (weibliche Brust) in Zusammenhang gebracht. Anm. des Übersetzers.; und obgleich Schaddai häufig allein für Gott gebraucht wird, so ist doch unzweifelhaft überall El »Gott« hinzuzudenken. Weiter ist zu bemerken, daß in der Bibel außer Jehovah kein anderer Name gefunden wird, welcher das Wesen Gottes an und für sich, ohne Beziehung zu den geschaffenen Dingen, anzeigt. Deswegen behaupten die Hebräer, daß dieser Name allein Gottes Eigenname sei, während die andern Gottesnamen Beinamen wären; und in der That drücken die übrigen Namen Gottes, mögen sie Haupt- oder Eigenschaftswörter sein, Eigenschaften aus, welche Gott zukommen, sofern er in Beziehung zu geschaffenen Wesen gedacht wird oder sich durch solche offenbart. So der Name El oder mit dem paragogischen Buchstaben He: Eloha, welcher bekanntlich den Mächtigen bezeichnet; eine Bezeichnung, welche Gott nur im vorzuweisen Sinne ( par excellence) zukommt, etwa so wie wir Paulus den Apostel schlechtweg nennen.

Bisweilen werden die einzelnen Eigenschaften seiner Macht näher angegeben, wie: der große, furchtbare, gerechte, barmherzige etc. El (Mächtige); oder dieser Name wird, um sämtliche Eigenschaften seiner Macht zusammenzufassen, in der Mehrzahl ( Elohim) angewendet, aber in der Bedeutung der Einzahl, was in der Bibel sehr häufig vorkommt. Wenn also Gott zu Moses sagt, er sei den Erzvätern unter dem Namen Jehovah nicht bekannt geworden, so folgt daraus, daß diese keine Eigenschaft Gottes gekannt haben, welche sein Wesen vollständig ausdrückt, sondern nur seine Wirkungen und Verheißungen, d. h. seine Macht, sofern sie sich durch sichtbare Dinge offenbart. Und zwar sagt Gott dies zu Moses nicht, um die Erzväter des Unglaubens zu beschuldigen, sondern im Gegenteil, um ihr Vertrauen und ihren Glauben hervorzuheben, indem sie die Verheißungen Gottes als sicher und unverbrüchlich mit gläubigem Sinn aufnahmen, obschon sie von Gott keine besondere Erkenntnis hatten wie Moses; anders als dieser, der trotz seiner höheren Gotteserkenntnis an den göttlichen Verheißungen zweifelte und Gott den Vorwurf machte, daß er statt der verheißenen Erlösung das Schicksal der Juden nur noch mehr verschlimmert habe.

Wenn also die Erzväter den besonderen Namen Gottes nicht gekannt haben und Gott dies dem Moses sagt, um ihre Herzenseinfalt und ihren Glauben zu loben und zugleich die ihm gewährte besondere Gnade hervorzuheben, so folgt daraus aufs entschiedenste, was ich als ersten Punkt behauptet habe, daß es kein Gebot geben kann, wonach die Menschen verpflichtet wären, Gottes Eigenschaften zu erkennen, sondern daß diese Erkenntnis eine besondere, nur einzelnen Gläubigen gewährte Gabe ist. Es ist auch gar nicht der Mühe wert, dies mit vielen biblischen Zeugnissen zu belegen; denn wer wüßte nicht, daß die Gotteserkenntnis unter den Gläubigen eine sehr verschiedene ist, und daß niemand auf Befehl weise sein kann, so wenig als man auf Befehl leben und dasein kann. Männer, Weiber, Kinder und alle Menschen können wohl auf Befehl in gleicher Weise gehorsam, nicht aber weise sein.

Sollte aber jemand sagen, es sei zwar nicht nötig, Gottes Attribute zu erkennen, aber man müsse sie einfach, ohne Beweis, glauben, so sagt er offenbaren Unsinn. Denn unsichtbare Dinge und rein geistige Gegenstände, können mit keinen andern Augen gesehen werden als mit den Augen der Beweise, und wenn man diese nicht besitzt, so sieht man eben von solchen Dingen ganz und gar nichts. Was man aber darüber von andern hört und nachspricht, das berührt den eigenen Geist so wenig, wie die Worte eines Papageis oder eines Automaten, welche ohne Geist und Verständnis schwatzen.

Bevor ich aber weiter gehe, fühle ich mich gedrungen, den Grund anzugeben, warum es im 1. Buche Mose oft heißt, die Erzväter hätten im Namen Jehovahs gepredigt, während dies dem soeben Gesagten zu widersprechen scheint. Rufen wir uns aber in Erinnerung, was im 8. Kapitel auseinandergesetzt wurde, so werden wir den scheinbaren Widerspruch leicht ausgleichen können. In dem erwähnten Kapitel wurde gezeigt, daß der Verfasser der fünf Bücher Mose die Sachen und Ortschaften nicht genau mit den Namen benennt, welche sie zu der Zeit hatten, von welcher er spricht, sondern mit den bekannteren Namen, welche sie zur Zeit des Verfassers hatten. Gott wird also im 1. Buche Mose, wenn gesagt wird, daß er von den Patriarchen gepredigt wurde, unter den Namen Jehovah erwähnt, weil dieser Name den Juden die tiefste Ehrfurcht einflößte, aber nicht weil er den Erzvätern unter diesem Namen bekannt war. Dies, sage ich, muß man notwendig annehmen, da es in unsrem Texte des 2. Buches Mose ausdrücklich heißt, Gott sei unter diesem Namen den Erzvätern nicht bekannt gewesen, und auch weil im 2. Buch Mose Kap. 3, V. 13 Moses den Namen Gottes zu wissen begehrt und ein Moses ihn gewiß gekannt hätte, wenn er schon vordem bekannt gewesen wäre. Wir sind also zu dem gesuchten Ergebnis gelangt, wonach die gläubigen Patriarchen diesen Gottesnamen nicht gekannt haben und die Gotteserkenntnis eine Gabe, nicht ein Gebot Gottes ist.

Es ist nun Zeit, zum zweiten Punkt überzugehen und zu zeigen, daß Gott keine Erkenntnis seiner selbst von den Menschen durch die Propheten verlangt, als die Erkenntnis seiner göttlichen Gerechtigkeit und Liebe, mit andern Worten, solcher göttlichen Eigenschaften, welche die Menschen in ihrer Lebensweise nachahmen können. Dies lehrt Jeremia ausdrücklich mit den Worten, die er im 22. Kap., V. 15 und 16 über den König Josia spricht und welche lauten: »Hat nicht dein Vater gegessen und getrunken und Recht und Gerechtigkeit geübt, da war ihm wohl; er sprach Recht den Armen und Dürftigen, da war ihm wohl; denn (wohlgemerkt!) das heißt mich erkennen, spricht Jehovah.« Nicht minder deutlich ist, was im Kap. 9, V. 24 steht, nämlich: »sondern ein jeder rühme sich nur dessen, daß er mich erkennt und einsieht, daß ich Jehovah Liebe, Recht und Gerechtigkeit auf Erden übe, denn daran habe ich Wohlgefallen, spricht Jehovah.« Es ergiebt sich das auch außerdem aus 2. Buch Mose Kap. 34, V. 6 und 7, wo Gott dem Moses, der ihn zu sehen und zu erkennen verlangt, keine andern Eigenschaften offenbart, als solche, welche die göttliche Gerechtigkeit und Liebe ausdrücken. Endlich muß hier ganz besonders auf jene Stelle des Johannes, von welcher nachher noch die Rede sein wird, aufmerksam gemacht werden, worin der Apostel Gott nur durch die Liebe erklärt, weil niemand Gott gesehen habe, und den Schluß zieht, daß derjenige in Wahrheit Gott in sich habe und erkenne, der die Liebe hat. Wir sehen also, daß Jeremia, Moses und Johannes die Gotteserkenntnis, welche jeder haben muß, mit wenigen Worten zusammenfassen und dieselbe, wie ich sagte, darin allein bestehen lassen, daß Gott höchst gerecht und höchst barmherzig, oder das einzige Vorbild eines rechten Lebens sei. Hierzu kommt noch, daß die Bibel von Gott keine ausdrückliche Definition giebt, und auch außer den eben erwähnten Eigenschaften Gottes keine andern anzuerkennen vorschreibt, noch ausdrücklich empfiehlt.

Aus dem allem können wir schließen, daß eine vernunftgemäße Erkenntnis Gottes, welche die Natur Gottes an und für sich begreift, wie sie die Menschen in ihrem Lebenswandel nicht nachahmen und zum Vorbild einer rechten Lebensweise nehmen können, zum Glauben und zur geoffenbarten Religion auf keine Weise gehört, und daß folglich die Menschen hierüber, ohne sich einer Sünde schuldig zu machen, himmelweit irren können.

Es kann daher nicht Wunder nehmen, daß Gott sich den Einbildungen und vorgefaßten Meinungen der Propheten anbequemt hat und daß die Gläubigen die verschiedensten Meinungen über Gott gehegt haben, wie im 2. Kapitel an verschiedenen Beispielen gezeigt wurde. Ebensowenig kann es Wunder nehmen, daß die heilige Schrift überall so uneigentlich von Gott spricht und ihm Hände, Füße, Augen, Ohren, Geist und örtliche Bewegung zuschreibt und außerdem auch Seelenbewegungen, wie z. B. daß er eifervoll, barmherzig u. s. w. sei, und daß sie ihn endlich als einen Richter schildert, der im Himmel wie auf einem königlichen Throne sitzt und Christus zu seiner Rechten hat. Sie spricht da eben nach der Fassungskraft des Volkes, welches die Bibel nicht gelehrt, sondern gehorsam zu machen bestrebt ist. Die Theologen gewöhnlichen Schlags haben sich zwar Mühe gegeben, alles Derartige, dessen Unvereinbarkeit mit der göttlichen Natur sie vermöge ihrer natürlichen Vernunft einsehen, bildlich auslegen, dasjenige aber, was ihrem Verständnis sich entzieht, buchstäblich zu nehmen. Wenn aber alles, was in der Bibel dieser Art vorkommt, bildlich ausgelegt und aufgefaßt werden müßte, so wäre die Bibel nicht für das Volk und die ungebildete Menge geschrieben, sondern nur für sehr gelehrte Leute, besonders für Philosophen geschrieben. Ja wenn es gottlos wäre, in Frömmigkeit und Herzenseinfalt das, was soeben angeführt wurde, von Gott zu glauben, so hätten sich die Propheten ganz gewiß, zum mindesten wegen der Schwachheit des Volkes, vor solchen Ausdrücken sehr hüten müssen, und sie hätten vielmehr die göttlichen Eigenschaften, wie jedermann sie auffassen müsse, vor allem andern ausdrücklich und deutlich lehren müssen, was jedoch nirgends der Fall ist.

Es ist also nicht glaubhaft, daß die Meinungen an und für sich, ohne Rücksicht auf Handlungen betrachtet, zur Frömmigkeit oder Gottlosigkeit gehören. Nur insofern kann der Glaube eines Menschen als fromm oder gottlos bezeichnet werden, als derselbe von seinem Glauben zum Gehorsam bewogen oder zur Sünde und Widersetzlichkeit verleitet wird. Wer somit durch einen wahren Glauben ungehorsam wird, der hat tatsächlich einen gottlosen Glauben, und umgekehrt, wer durch einen falschen Glauben gehorsam wird, der hat einen frommen Glauben. Denn die wahre Gotteserkenntnis ist, wie gezeigt wurde, kein göttliches Gebot, sondern eine göttliche Gabe, und Gott hat von den Menschen keine andere Erkenntniß verlangt, als die Erkenntnis seiner Gerechtigkeit und Liebe, eine Erkenntnis, welche nicht zur Wissenschaft, sondern nur zum Gehorsam nötig ist.

Vierzehntes Kapitel.

Was der Glaube sei und welche Menschen Gläubige seien. Ferner werden die Grundlagen des Glaubens näher bestimmt. Sodann wird der Glaube von der Philosophie getrennt.


Bei einiger Aufmerksamkeit kann niemand verkennen, daß, wenn man erfahren will, was der wahre Glaube sei, man vor allem wissen muß, daß die Bibel nicht bloß der Fassungskraft der Propheten angepaßt ist, sondern auch der Fassungskraft des vielköpfigen und wankelmütigen Volks der Juden. Denn wer alles, was in der Bibel enthalten ist, samt und sonders als allgemein und unbedingt giltige Lehre von Gott hinnimmt und nicht genau beachtet, was der Fassungskraft des Volks angepaßt ist, der muß notwendig die Meinungen des Volks mit der göttlichen Lehre vermengen, menschliche Einfälle und menschliches Belieben als göttliche Vorschriften ausgeben und das Ansehen der Bibel mißbrauchen. Wer, sage ich, wüßte nicht, daß hauptsächlich deswegen die verschiedenen Sekten so vielerlei und so entgegengesetzte Meinungen als Glaubenslehren aufstellen und auf zahlreiche biblische Belege sich stützen, weshalb es längst bei den Niederländern zum Sprichwort geworden ist: » Geen ketter sonder letter« Kein Ketzer ohne Buchstabe.. Denn die heiligen Bücher sind nicht bloß von einem einzigen Menschen, noch für das Volk eines einzigen Zeitalters geschrieben worden, sondern von vielen Männern von verschiedenem Geiste und aus verschiedenen Zeitaltern, und wollte man die Zeit aller biblischen Schriftsteller berechnen, so kämen vielleicht zweitausend Jahre oder gar noch mehr heraus. Indessen will ich darum jenen Sektirern keinen Vorwurf wegen Gottlosigkeit machen, weil sie die Worte der Bibel ihren Meinungen anpassen. Denn so wie einst die Bibel selbst der Fassungskraft des Volkes sich angepaßt hat, so mag sie auch jeder seiner eigenen Fassungskraft anpassen, wenn er findet, daß dadurch sein Herz mit größerer Bereitwilligkeit Gott gehorsam sein werde in Bezug auf Gerechtigkeit und Liebe. Darüber aber mache ich ihnen einen Vorwurf, daß sie diese Freiheit nicht auch andern gestatten wollen, sondern alle, die mit ihnen nicht übereinstimmen, als Feinde Gottes verfolgen, mögen dieselben auch noch so ehrbar und tugendhaft sein, während sie diejenigen, die mit ihnen gleicher Ansicht sind, und wären sie noch so große Schwächlinge an sittlicher Gesinnung, als Erwählte Gottes lieben. Wahrlich, Schlechteres und Staatsgefährlicheres kann nicht ersonnen werden!

Um nun aber zu ermitteln, wie weit die Denkfreiheit in Bezug auf den Glauben für jedermann sich erstreckt und welche Menschen wir auch bei abweichender Meinung als Gläubige ansehen müssen, ist es nötig, den Glauben und seine Grundlagen genau zu bestimmen. Dies habe ich mir mit dem vorliegenden Kapitel zur Aufgabe gemacht, in welchem zugleich der Glaube von der Philosophie getrennt werden soll, was der Hauptzweck des ganzen Werks ist.

Um dabei ordnungsgemäß zu verfahren, werde ich den Hauptzweck der ganzen Bibel wiederholen, da derselbe bei dieser Untersuchung über den Glauben als Leitfaden dienen muß.

Im vorigen Kapitel habe ich gesagt, der Zweck der Bibel sei bloß, den Gehorsam zu lehren. Es wird dies wohl niemand in Abrede stellen können. Denn wer sähe nicht, daß beide Testamente weiter nichts sind als eine Anleitung zum Gehorsam? daß beide nichts anderes wollen, als daß die Menschen mit ganzem Herzen gehorsam sein sollen? Denn – abgesehen von den Ausführungen des vorigen Kapitels – Moses wollte die Israeliten nicht durch Gründe überzeugen, sondern durch einen Vertrag, durch Eide und Wohlthaten verpflichten, auch hielt er das Volk zur Unterwürfigkeit gegen die Gesetze an durch angedrohte Strafen im Falle seines Ungehorsams und durch verheißene Belohnungen im Falle seines Gehorsams; lauter Mittel, welche den Gehorsam, nicht aber die Wissenschaft befördern. Die evangelische Lehre aber enthält nichts als den einfachen Glauben, nämlich daß man Gott glauben und ihn verehren, oder was dasselbe ist, gehorchen soll. Ich habe es also nicht nötig, diese offenkundige Sache durch Anführung der in beiden Testamenten zahlreichen Bibelstellen, welche den Gehorsam empfehlen, zu beweisen. Die Bibel lehrt ferner an vielen Stellen aufs deutlichste, was jedermann thun und lassen müsse, wenn er Gott gehorchen will; das ganze Gesetz besteht nach ihr einzig und allein in der Liebe gegen den Nächsten. Darum kann niemand bestreiten, daß jeder, der nach dem Gebote Gottes den Nächsten wie sich selbst liebt, in Wahrheit gehorsam und nach dem Gesetze selig, wer aber den Nächsten haßt oder vernachlässigt, aufrührerisch und widerspenstig ist. Endlich ist es allgemein anerkannt, daß die Bibel nicht bloß für Gelehrte, sondern für alle Menschen jeden Alters und Geschlechts geschrieben und verbreitet worden ist; schon daraus geht hervor, daß wir nach dem biblischen Gebot nichts anderes zu glauben verpflichtet seien, als was zur Befolgung dieses Gebots unbedingt notwendig ist. Darum ist eben dieses Gebot die einzige Richtschnur des ganzen allgemeinen Glaubens und alle Glaubenssätze, welche jedermann zu bekennen verpflichtet ist, können nur nach diesem Gebot bestimmt werden.

Da das alles sonnenklar ist und aus dieser Grundlage oder diesem Gesichtspunkt allein alles richtig abgeleitet werden kann, so möge jeder urteilen, wie es möglich war, daß in der Kirche so viele Spaltungen entstanden sind und ob sie von andern Ursachen herrühren, als denjenigen, welche zu Anfang des 7. Kapitels angegeben sind. Diese selbst aber nötigen mich, hier die Art und Weise auseinander zu setzen, wie aus der gefundenen Grundlage des Glaubens die Glaubenssätze zu bestimmen seien. Denn wenn ich dies nicht thäte, und den Gegenstand nicht nach bestimmten Regeln behandeln würde, so könnte man mit Recht glauben, ich hätte die Sache bis hierher noch wenig vorwärts gebracht, weil jeder alles, was er wollte, unter demselben Vorgeben, – daß es nämlich ein notwendiges Mittel zum Gehorsam sei – einführen könnte; besonders wenn es sich um die Frage nach den göttlichen Eigenschaften dreht.

Um also den Gegenstand ordnungsgemäß zu erörtern, will ich mit einer Definition des Glaubens beginnen, wie sie sich aus dieser Grundlage ergiebt. Der Glaube kann hiernach nicht anders definiert werden als so: Glauben heißt, von Gott dasjenige denken, mit dessen Unkenntnis der Gehorsam gegen Gott wegfällt, und das notwendig gegeben sein muß, wo dieser Gehorsam gegeben ist. Diese Definition ist so klar und folgt so notwendig aus dem eben Bewiesenen, daß sie keiner weiteren Auslegung bedarf. Was aber daraus folgt, will ich kurz angeben.

Es folgt daraus 1) daß der Glaube nicht an und für sich, sondern nur in Bezug auf den Gehorsam seligmachend ist, oder wie Jakobus Kap. 2, V. 17 sagt, daß der Glaube an sich ohne Werke tot sei; worüber das ganze angeführte Kapitel zu vergleichen ist.

Es folgt 2) daß wer wahrhaft gehorsam ist, notwendig auch den wahren und seligmachenden Glauben hat, da ich gezeigt habe, daß mit dem Gehorsam auch der Glaube gegeben ist. Auch das wird von demselben Apostel ausdrücklich gesagt; im Kap. 2, V. 18 spricht er: »Zeige du mir deinen Glauben ohne Werke und ich werde dir aus meinen Werken meinen Glauben zeigen«. Auch Johannes schreibt in seinem ersten Briefe Kap. 4, V. 7 u. 8: »Wer da liebt (nämlich seinen Nächsten), der ist aus Gott geboren und kennet Gott; wer nicht liebt, kennt Gott nicht. Denn Gott ist die Liebe.«

Hieraus folgt wiederum, daß wir niemand für gläubig oder ungläubig halten können als nach seinen Werken. Nämlich: sind seine Werke gut, so ist er gläubig, wenn er auch in den Glaubenssätzen von andern Gläubigen abweicht, und sind seine Werke schlecht, so ist er ungläubig, auch wenn er in seinen Worten mit andern Gläubigen übereinstimmt. Denn wenn der Gehorsam gegeben ist, so ist notwendig auch der Glaube gegeben, und der Glaube ohne Werke ist tot. Ausdrücklich lehrt dies ebenfalls derselbe Johannes im 13. Vers des angeführten Kapitels. »Daraus,« sagt er, »wissen wir, daß wir in ihm sind und er in uns ist, daß er uns von seinem Geiste gegeben hat.« Damit meint er die Liebe, denn vorher hatte er gesagt, Gott sei die Liebe, und daraus (nämlich nach den daselbst von ihm aufgestellten Grundsätzen) schließt er, daß derjenige in Wahrheit den Geist Gottes habe, der die Liebe hat. Ja weil niemand Gott gesehen hat, so schließt er daraus, daß man Gott nicht anders fühlen und wahrnehmen könne als durch die Liebe zum Nächsten, und daß man auch keine andere Eigenschaft Gottes zu erkennen vermöge als diese Liebe, soweit man daran teilnimmt. Sind diese Gründe auch nicht gerade beweiskräftig, so lassen sie doch die Ansicht des Johannes deutlich erkennen. Noch viel deutlicher aber erhellt sie aus dem 2. Kapitel V. 3 und 4 in demselben Briefe, wo er mit ausdrücklichen Worten dasselbe lehrt, was ich behaupte. Er sagt: »Und daraus wissen wir, daß wir ihn kennen, wenn wir seine Vorschriften beobachten. Wer da sagt, ich kenne ihn und beobachtet seine Vorschriften nicht, der ist ein Lügner und die Wahrheit ist nicht in ihm.« Und hieraus folgt wieder, daß diejenigen Antichristen in vollstem Sinne des Wortes sind, welche ehrbare und rechtschaffene Menschen verfolgen, weil sie anderer Meinung sind als sie selbst und nicht dieselben Glaubenssätze wie sie verfechten. Denn wir wissen, daß diejenigen, welche die Gerechtigkeit lieben und von Liebe erfüllt sind, dadurch allein schon Gläubige sind. Derjenige aber ist ein Antichrist, der die Gläubigen verfolgt.

Weiter aber ergiebt sich aus dem Obigen, daß der Glaube nicht sowohl wahre, als vielmehr fromme Glaubenssätze erfordert, solche nämlich, welche die Seele zum Gehorsam antreiben. Es dürfen auch unter diesen Glaubenssätzen viele sein, welche nicht einen Schatten von Wahrheit haben; nur darf derjenige, der sie bekennt, nicht wissen, daß sie falsch sind, andernfalls wäre er notwendig ein widerspenstiger Mensch. Denn es ist unmöglich, daß jemand, der die Gerechtigkeit liebt und Gott zu gehorchen sich befleißigt, etwas als göttlich verehrt, wovon er weiß, daß es der göttlichen Natur fremd ist. Allein in der Einfalt ihres Herzens können die Menschen irren, und die Bibel verdammt, wie wir schon gezeigt haben, nicht die Unwissenheit, sondern bloß den Ungehorsam. Es folgt dies sogar schon mit Notwendigkeit aus der Definition des Glaubens allein, dessen ganzer Inhalt aus seiner allgemeinen oben dargelegten Grundlage und dem einzigen Endzweck der ganzen Bibel abgeleitet werden muß, wenn wir nicht unsere willkürlichen Meinungen einmischen wollen. Hiernach erfordert derselbe nicht ausdrücklich wahre Glaubenssätze, sondern solche, welche zum Gehorsam nötig sind, die nämlich die Seele in der Liebe gegen den Nächsten bestärken, und das allein ist es, wodurch jeder in Gott und Gott in jedem ist (um mit Johannes zu reden).

Da also hiernach der Glaube eines jeden nur nach dem Gesichtspunkt des Gehorsams oder Ungehorsams, nicht aber nach seiner Wahrheit oder Falschheit für fromm oder gottlos zu halten ist, und da jedermann weiß, wie überaus verschieden die Geister der Menschen sind, und daß nicht alle Menschen in allen Fragen durch die gleichen Ansichten sich befriedigt fühlen, vielmehr dieselben Ansichten auf verschiedene Menschen verschieden wirken, indem eine Ansicht, welche diesen andächtig stimmt, jenen zum Lachen reizt, so folgt daraus, daß zum allgemeinen, für alle Welt giltigen Glauben keine Glaubenssätze gehören, über welche es unter ehrbaren Menschen eine Meinungsverschiedenheit geben kann. Denn solche Glaubenssätze könnten für den einen fromm, für den andern gottlos sein, da die Glaubenssätze nach den Werken allein zu beurteilen sind. Zum allgemeinen Glauben gehören darum nur solche Glaubenssätze, welche den Gehorsam gegen Gott unbedingt in sich schließen und ohne deren Kenntnis der Gehorsam ganz Hub gar unmöglich ist. In allen übrigen Glaubenspunkten aber soll jeder so denken, wie es ihm zur Bestärkung in der Liebe zur Gerechtigkeit am förderlichsten erscheint, denn jeder kennt sich selbst am besten.

Bei dieser Auffassung, denke ich, bleibt kein Raum für kirchliche Streitigkeiten. Ich werde mich auch nicht scheuen, die Glaubenssätze des allgemeinen Glaubens, oder die Hauptsätze, welche den Endzweck der ganzen Bibel in sich fassen, aufzuzählen, welche (wie sich aus den Ausführungen dieses und des vorigen Kapitels ergiebt) insgesamt nur auf den Gehorsam gegen Gott hinauslaufen. Diese Glaubenssätze lauten: Es giebt ein höchstes Wesen, welches Gerechtigkeit und Liebe liebt. Alle Menschen müssen diesem höchsten Wesen gehorchen, um selig zu werden, und es durch die Ausübung der Gerechtigkeit und Nächstenliebe verehren.

Alle andern Glaubenssätze können hiernach leicht bestimmt werden, und zwar ergeben sich folgende Glaubenssätze:

  1. Es giebt einen Gott, oder ein höchstes Wesen, welches höchst gerecht und barmherzig, oder das Muster eines rechten Lebens ist. Denn wer nicht weiß oder nicht glaubt, daß es ein solches Wesen giebt, der kann ihm auch nicht gehorchen und es nicht als Richter anerkennen. LANG="de-AT">

  2. Dieser Gott ist einzig. Daß auch dieser Glaubenssatz zur höchsten Ergebenheit, Bewunderung und Liebe Gottes unbedingt erforderlich ist, kann niemand bezweifeln. Denn die Ergebenheit, Bewunderung und Liebe haben nur darin ihren Ursprung, daß ein Wesen alle übrigen übertrifft.

  3. Gott ist allgegenwärtig oder alles ist ihm offenbar. Würde man glauben, daß ihm etwas verborgen bliebe, oder würde man nicht wissen, daß er alles sieht, so könnte man auch daran zweifeln, daß seine Gerechtigkeit, mit welcher er alles leitet, eine allgemeine ist, oder diese Gerechtigkeit selbst verneinen.

  4. Gott hat das höchste Recht und die höchste Herrschaft über alles und thut nichts aus irgend welchem Zwang, sondern alles nur nach seinem unbeschränkten Ermessen und seiner besonderen Gnade. Ihm müssen alle unbedingt gehorchen, er aber muß niemand gehorchen.

  5. Die Verehrung Gottes und der Gehorsam gegen ihn besteht einzig und allein in Gerechtigkeit und Liebe, oder in der Nächstenliebe.

  6. Nur diejenigen, welche durch eine solche Lebensweise Gott gehorchen, sind selig; die andern aber, die unter der Herrschaft der Lüste leben, sind verloren. Würden die Menschen dieses nicht fest glauben, so hätten sie keinen Grund, Gott mehr als den Lüsten zu gehorchen.

  7. endlich: Gott verzeiht den reuigen Sündern. Denn da niemand ohne Sünde ist, so müßte jener an seiner Seligkeit verzweifeln, ohne diesen Glauben. Auch wäre alsdann kein Grund vorhanden, an Gottes Barmherzigkeit zu glauben. Wer aber dieses fest glaubt, nämlich daß Gott nach seiner Barmherzigkeit LANG="de-AT"> und Gnade, mit welcher er alles leitet, die menschlichen Sünden verzeiht, und dadurch um so mehr zur Liebe gegen Gott entflammt wird, der hat Christus in Wahrheit nach dem Geiste erkannt und Christus ist in ihm.

Diese Lehren alle sind, wie jeder einsehen muß, vor allem zu wissen nötig, damit die Menschen alle ohne Ausnahme nach der oben dargelegten Vorschrift des Gesetzes Gott gehorchen können. Würde man einen dieser Sätze hinwegnehmen, so würde man auch den Gehorsam aufheben.

Was übrigens Gott oder jenes Muster eines wahren Lebens sei, ob ein Feuer, ein Geist, ein Licht, ein Gedanke u. s. f., gehört nicht zu diesem Glauben, so wenig als das, weswegen er das Muster eines wahren Lebens sei, ob deshalb, weil er eine gerechte und barmherzige Sinnesart hat, oder weil alle Dinge durch ihn sind und wirken und folglich auch wir durch ihn denken und durch ihn einsehen, was wahrhaft recht und gut sei. Es ist einerlei, was jeder hierüber denkt. Ferner berührt es diesen Glauben nicht, ob jemand glaubt, daß Gott vermöge seines Wesens oder vermöge seiner Macht überall sei; daß er den Lauf der Welt frei, oder nach Naturnotwendigkeit leitet; daß er die Gesetze als Fürst vorschreibt oder als ewige Wahrheiten lehrt; daß der Mensch aus freiem Willen oder aus Notwendigkeit nach Gottes Ratschluß Gott gehorcht; endlich daß die Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen eine natürliche oder übernatürliche sei. Bei diesen und ähnlichen Punkten, sage ich, macht es nichts aus, ob der eine so oder anders denkt, wofern er nur keine Schlußfolgerungen daraus zieht, durch welche er sich eine größere Freiheit zu sündigen herausnimmt oder durch welche sein Gehorsam gegen Gott vermindert wird. Ja es ist sogar jeder verbunden, wie ich bereits oben gesagt, diese Glaubenssätze seiner Fassungskraft anzupassen und sich dieselben so auszulegen, wie er sie am ehesten ohne jedwedes Bedenken, vielmehr mit voller Überzeugung anerkennen kann, um demgemäß Gott mit ganzem Herzen gehorchen zu können. Denn, woran gleichfalls schon erinnert wurde, so wie ehemals der Glaube der Fassungskraft und den Meinungen der Propheten und des Volks jener Zeit geoffenbart und niedergeschrieben worden ist, so hat auch jetzt noch jedermann die Pflicht, ihn seinen Meinungen anzupassen, um ihn so ohne jedweden Widerspruch seines Innern und ohne Schwanken anzuerkennen. Denn es ist gezeigt worden, daß der Glaube nicht sowohl Wahrheit als vielmehr Frömmigkeit erfordert, und nur nach seinem Verhältnis zum Gehorsam fromm und seligmachend sei; daß daher jedermann nur in Bezug auf den Gehorsam gläubig heißen könne. Den besten Glauben bekunden darum notwendig nicht diejenigen, welche die besten Vernunftgründe anführen, sondern diejenigen, welche die besten Werke der Gerechtigkeit und Liebe aufweisen.

Wie heilsam, wie notwendig diese Lehre im Staate ist, damit die Menschen in Frieden und Eintracht leben, und wie viele und große Ursachen zu Unruhen und Verbrechen sie zum voraus abschneidet, das zu beurteilen bleibe jedem Leser selbst überlassen.

Bevor ich jedoch weiter gehe, muß ich noch bemerken, daß ich nach dem, was soeben gezeigt wurde, auf die Einwürfe leicht antworten kann, welche ich im 1. Kapitel erwähnte, als der Umstand erörtert wurde, daß Gott mit den Israeliten vom Berge Sinai herab gesprochen. Denn wiewohl jene Stimme den Israeliten, welche sie gehört haben, keine philosophische oder mathematische Gewißheit über das Dasein Gottes zu geben vermochte, so genügte sie doch, um sie zur Bewunderung Gottes, wie sie ihn bis dahin erkannt hatten, hinzureißen und sie zum Gehorsam anzuspornen; und das war eben der Zweck jenes Schauspiels. Denn Gott wollte den Israeliten nicht die sämtlichen Eigenschaften seines Wesens lehren, (damals hat er überhaupt keine von seinen Eigenschaften geoffenbart,) sondern ihre Halsstarrigkeit brechen und sie zum Gehorsam lenken. Darum hat er nicht mit Gründen, sondern mit dem Schmettern der Trompeten und mit Donner und Blitz auf sie eingewirkt. (S. 2. Buch Mose Kap. 20, V. 20.)

Ich habe nun noch zu zeigen, daß zwischen dem Glauben oder der Theologie und der Philosophie keine Gemeinschaft oder Verwandtschaft obwaltet. Dies wird übrigens jeder wissen, der das Ziel und die Grundlage dieser beiden Wissenschaften kennt, die ja himmelweit von einander verschieden sind. Das Ziel der Philosophie ist einzig und allein die Wahrheit, das Ziel des Glaubens einzig und allein Gehorsam und Frömmigkeit, wie ich nun zur Genüge gezeigt habe. Die Philosophie hat ferner allgemeine Begriffe zur Grundlage, und sie kann nur aus der Natur geschöpft werden; der Glaube hingegen hat geschichtliche Überlieferung und die Sprache zur Grundlage und kann nur aus der Bibel und der Offenbarung geschöpft werden, wie im 7. Kapitel gezeigt wurde. Der Glaube gestattet daher jedem volle Freiheit zu philosophieren. Er rechnet niemand zum Verbrechen an, was er über das oder jenes denkt, und er verdammt nur diejenigen als Ketzer und Abtrünnige, welche Ansichten lehren, die zu Widersetzlichkeit, Haß, Streit und Aufregung verleiten; und nur diejenigen sind ihm Gläubige, deren Gesinnungen nach den Kräften ihres Geistes und ihren Fähigkeiten zur Gerechtigkeit und Liebe führen.

Schließlich möchte ich, da das hier Ausgeführte den Hauptgedanken dieses Traktats betrifft, ehe ich weiter gehe, den Leser dringend bitten, diese beiden Kapitel eines aufmerksamen Lesens und einer reiflichen Erwägung zu würdigen, und überzeugt zu sein, daß ich damit nicht beabsichtigt habe, Neuerungen einzuführen, sondern das Entstellte wieder herzustellen, und ich hoffe, es endlich einmal in ursprünglicher Tadellosigkeit zu erblicken.

Fünfzehntes Kapitel.

Die Theologie ist weder der Vernunft noch die Vernunft der Theologie untergeordnet. Darlegung des Grundes, weshalb wir von der Autorität der heiligen Schrift überzeugt sind.


In Kreisen, in denen man die Philosophie von der Theologie nicht zu trennen weiß, streitet man darüber, ob die Bibel der Vernunft oder umgekehrt die Vernunft der Bibel untergeordnet werden müsse, d. h. ob der Sinn der Bibel der Vernunft, oder aber die Vernunft der Bibel angepaßt werden müsse. Das letztere wird von den Skeptikern behauptet, welche die Gewißheit der Vernunft bestreiten; das erstere von den Dogmatikern. Daß aber die einen wie die andern ganz gewaltig irren, geht aus unsern bisherigen Ausführungen hervor. Denn in beiden Fällen muß eins von beiden verfälscht werden, entweder die Vernunft oder die Bibel. Haben wir ja gesehen, daß die Bibel keine philosophischen Dinge, sondern nur Frömmigkeit lehrt und ihr ganzer Inhalt der Fassungskraft und den vorgefaßten Meinungen des Volkes angepaßt worden ist. Wer sie also der Philosophie anpassen will, der muß sicherlich den Propheten Dinge andichten, woran sie nicht im Traume gedacht haben, und ihre Meinung mißdeuten. Wer dagegen umgekehrt die Vernunft und Philosophie zur Magd der Theologie macht, der muß die Vorurteile eines Volkes aus alten Zeiten als göttliche Dinge gelten lassen und damit den Geist befangen machen und blenden. Also werden beide Unsinn behaupten, der eine mit, der andere ohne Vernunft.

Unter den Pharisäern war Maimonides der erste, welcher ausdrücklich den Satz aufstellte, die Bibel müsse der Vernunft angepaßt werden (seine Ansicht wurde von mir im 7. Kapitel beurteilt und mit vielen Gründen widerlegt). Obgleich aber dieser Autor unter den Pharisäern großes Ansehen genoß, so sind doch die meisten in diesem Punkte von ihm abgewichen und in die Fußstapfen eines gewissen Rabbi Jehuda Alphachar getreten, der, um dem Irrtum des Maimonides auszuweichen, in den entgegengesetzten Irrtum verfiel. Derselbe behauptet nämlich, Ich erinnere mich, dies einmal in einem Brief gegen Maimonides gelesen zu haben, der sich unter andern Briefen findet, die dem Maimonides zugeschrieben werden. Anm. des Verfassers. die Vernunft müsse der Bibel untergeordnet und ganz und gar unterworfen werden. Er meint daher auch, es dürfe keine Bibelstelle aus dem Grunde bildlich ausgelegt werden, weil ihr buchstäblicher Sinn der Vernunft widerspricht, sondern nur weil er der Bibel selbst, d. h. ihren klar ausgesprochenen Glaubenssätzen widerspricht. Dem entsprechend stellte er folgende allgemeine Regel auf: Was die Bibel als Glaubenssatz lehrt und mit deutlichen Worten behauptet, muß schon auf Grund ihrer Autorität unbedingt als wahr anerkannt werden. Man werde auch in der Bibel nirgends einen andern Glaubenssatz finden, der einem derartigen Glaubenssatz geradezu widerspräche, sondern nur durch Folgerung, indem die biblische Ausdrucksweise oft etwas vorauszusetzen scheint, was einem ausdrücklich gelehrten Glaubenssatz widerspricht; und das allein sei ein Grund, die betreffende Stelle bildlich auszulegen.

So z. B. lehrt die Bibel deutlich die Einheit Gottes (s. 5. Buch Mose Kap. 6, V. 4) und nirgends findet sich eine Stelle, welche ausdrücklich versichert, es gebe mehrere Götter, aber viele Stellen, wo Gott von sich oder die Propheten von Gott in der Mehrzahl reden. Diese Ausdrucksweise läßt nur auf die Annahme schließen, daß es mehrere Götter gebe, es ist aber keinesfalls die Absicht der betreffenden Stelle, das zu lehren. Darum müßten alle solche Stellen bildlich ausgelegt werden: nicht weil die Vielgötterei der Vernunft widerspricht, sondern weil die Bibel selbst ausdrücklich versichert, es gebe nur einen Gott. – Ebenso weil die Bibel im 5. Buch Mose Kap. 4, V. 15 geradezu versichert, (wie er meint,) Gott sei unkörperlich, darum müssen wir glauben, – und zwar lediglich auf die Autorität dieser Stelle hin, nicht aber der Vernunft – daß Gott keinen Körper habe und demgemäß müssen wir auf Grund der biblischen Autorität alle Stellen bildlich auslegen, welche Gott Hände, Füße etc. zuschreiben, da eben nur die Ausdrucksweise auf die Annahme, Gott sei körperlich, schließen läßt.

Das ist die Meinung jenes Autors, und sofern er die Bibel durch die Bibel auslegen will, lobe ich ihn; dagegen wundere ich mich, wie ein Mann von Vernunft der Vernunft so ins Gesicht schlagen mag. Es ist allerdings richtig, daß die Bibel durch die Bibel ausgelegt werden muß, so lange es sich darum handelt, den Sinn der Reden und die Meinung der Propheten zu ermitteln; ist aber einmal der wahre Sinn ermittelt, so müssen wir notwendig von unserem Urteil und unserer Vernunft Gebrauch machen, um zu wissen, ob wir demselben unsere Zustimmung erteilen können. – Wenn aber die Vernunft, auch wo sie der Bibel widerspricht, derselben dennoch ganz und gar zu unterwerfen wäre, so frage ich: müssen wir das mit Vernunft oder ohne Vernunft, gleich Blinden, thun? Wenn ohne Vernunft, so handeln wir als Thoren, ohne Urteil; wenn aber mit Vernunft, so erkennen wir also die Bibel nur an kraft der Vernunft und würden sie daher, wenn sie der Vernunft widerspräche, nicht anerkennen. –

Ich frage nun aber: Wer kann im Geiste etwas anerkennen, dem die Vernunft widerspricht? Und was heißt etwas im Geiste verneinen anders, als daß die Vernunft ihm widerspricht?

Ich kann mich wahrlich nicht genug darüber wundern, daß man die Vernunft, dieses köstliche Geschenk und göttliche Licht, toten Buchstaben, die überdies durch menschliche Bosheit verfälscht werden konnten, unterordnen will, und daß man es für kein Verbrechen hält, vom Geiste, der wahren Urschrift des göttlichen Worts, unwürdig zu sprechen, ihn für verderbt, blind und verworfen zu erklären, während man es für das größte Verbrechen hält, über den Buchstaben, das Sinnbild des Wortes Gottes, anderer Meinung zu sein. Diese Leute glauben, man wäre fromm, wenn man der Vernunft und dem eigenen Urteil mißtraut, gottlos, wenn man die Zuverlässigkeit derer, die uns die heiligen Bücher überliefert haben, bezweifelt. Das aber ist reine Thorheit, keine Frömmigkeit. Ich muß fragen: Was beunruhigt sie denn? was fürchten sie denn? Glauben sie etwa, Religion und Glaube könnten nicht verteidigt werden, wenn die Menschen nicht alles andere geflissentlich außer Acht lassen und der Vernunft ganz und gar den Laufpaß geben? Beim Himmel, wenn sie das glauben, so haben sie mehr Furcht vor der Bibel als Vertrauen zu ihr. Weit entfernt aber, daß Religion und Frömmigkeit die Vernunft, oder die Vernunft die Religion sich unterordnen will, oder daß beide ihr Gebiet nicht in größter Eintracht behaupten könnten! Ich komme bald hierauf zurück. Hier will ich vor allem die Regel des genannten Rabbiners prüfen.

Wie gesagt, geht seine Ansicht dahin, daß wir alles, was die Bibel behauptet, als Wahrheit anerkennen, alles, was sie verneint, als Unwahrheit verwerfen müssen. Weiter meint er, die Bibel behaupte oder verneine nirgends mit ausdrücklichen Worten etwas, was im Widerspruch stünde mit einer andern Stelle. Das eine wie das andere ist eine sehr leichtfertige Annahme, wovon sich jedermann überzeugen kann. Abgesehen davon, daß er außer Acht gelassen hat, daß die Bibel aus verschiedenen Büchern besteht, welche zu verschiedenen Zeiten, für verschiedene Menschen und von verschiedenen Verfassern geschrieben sind, und daß er überdies für diese Annahmen keine andere Autorität hat, als die eigene, indem die Vernunft nichts dergleichen sagt, hätte er doch beweisen müssen, daß alle Stellen, welche nur durch Folgerung andern Stellen widersprechen, bildlich ausgelegt werden könnten, ohne daß der Sprache und dem Sinn der Stelle Gewalt angethan werde. Ferner hätte er beweisen müssen, daß die Bibel unverfälscht auf uns gekommen sei.

Um nun aber die Sache in richtiger Ordnung zu behandeln, frage ich bezüglich des ersten Punkts: Wie ist es, wenn die Vernunft der Bibel widerspricht, müssen wir dennoch das, was die Bibel als wahr behauptet, als Wahrheit anerkennen, was sie als unwahr verneint, als Unwahrheit verwerfen? Er mag vielleicht hinzusetzen, es sei eben in der Bibel nichts enthalten, was der Vernunft widerspricht. Darauf halte ich ihm entgegen, daß die Bibel ausdrücklich versichert und lehrt, Gott sei eifersüchtig, (nämlich in den zehn Geboten selbst, im 2. Buch Mose Kap. 4, V. 14, im 5. Buch Mose Kap. 4, V. 24 und an vielen andern Stellen,) und daß das der Vernunft widerspricht. Also muß es nichtsdestoweniger als Wahrheit aufgestellt werden. Noch mehr: wenn in der Bibel Stellen gefunden werden sollten, welche auf die Annahme schließen lassen, daß Gott nicht eifersüchtig sei, so müßten diese Stellen notwendig bildlich ausgelegt werden, damit sie eine solche Annahme nicht zu enthalten scheinen. – So auch sagt die Bibel ausdrücklich, Gott sei auf den Berg Sinai herabgestiegen (s. 2. Buch Mose Kap. 19, V. 20 u. s. f.) und schreibt ihm noch andere örtliche Bewegungen zu; dagegen lehrt sie nirgends ausdrücklich, daß Gott sich nicht von Ort zu Ort bewegt. Auch das also muß jedermann als Wahrheit gelten lassen. Und wenn Salomo sagt, daß kein Ort Gott fassen könne (s. 1. Buch der Könige Kap. 8, V. 27), so müßte diese Stelle, da sie die Unbeweglichkeit Gottes nicht ausdrücklich behauptet, sondern nur folgern läßt, notwendig so erklärt werden, daß der Schein, als wollte sie Gott die örtliche Bewegung absprechen, wegfiele. – Desgleichen müßten die Himmel für Gottes Wohnung und Thron gehalten werden, da die Bibel dies ausdrücklich versichert. – Noch vieles derart, was nach den Meinungen der Propheten und des Volkes gesagt ist, und wohl nach der Vernunft und Philosophie, nicht aber nach der Lehre der Bibel falsch ist, müßte nach der Ansicht des in Rede stehenden Autors als Wahrheit angenommen werden, da doch die Vernunft in diesen Dingen keine Stimme hat.

Falsch ist ferner die andere Ansicht, daß eine Bibelstelle der andern niemals geradezu, sondern nur durch Folgerung widerspreche. Geradezu versichert Moses: »Gott ist ein Feuer« (s. 5. Buch Mose Kap. 4, V. 24), und geradezu verneint er, daß Gott mit sichtbaren Dingen irgend eine Ähnlichkeit habe (s. 5. Buch Mose Kap. 4, V. 12). Entgegnet etwa der Autor, diese Stelle verneine nicht geradezu, daß Gott ein Feuer sei, sondern nur durch Folgerung, und man müsse daher diese Stelle der andern anpassen, so daß sie diese Verneinung nicht zu enthalten scheint: wohl, so will ich ihm zugeben, daß Gott ein Feuer sei. Doch nein, gehen wir lieber über diese Stelle hinweg, um nicht mit unserm Autor baren Unsinn zu behaupten, und nehmen wir ein anderes Beispiel. Geradezu verneint Samuel, daß Gott sein Urteil bereue (s. 1. Buch Samuelis Kap. 15, V. 29), während Jeremia ganz im Gegenteil versichert, Gott bereue das Gute wie das Schlimme, das er beschlossen (s. Jeremia Kap. 18, V. 8 und 10). Nun? Widersprechen auch diese Stellen einander nicht geradezu? Und welche von beiden soll nach ihm bildlich erklärt werden? Beide Stellen sind allgemein gefaßt und beide widersprechen einander, was die eine geradezu behauptet, verneint die andere geradezu. Unser Autor muß also nach seiner eigenen Regel ein und dasselbe als wahr anerkennen und als falsch verwerfen.

Was macht es ferner aus, ob eine Stelle der andern nicht geradezu, sondern nur durch Folgerung widerspricht, wenn diese Folgerung klar ist und die Umstände und Fassung der Stelle bildliche Erklärungen nicht gestatten? Und solche Stellen kommen in der Bibel vielfach vor, worüber man das 2. Kapitel sehen möge, (wo gezeigt wurde, daß die Propheten entgegengesetzte und widersprechende Meinungen hatten). Besonders aber sehe man alle jene Widersprüche, die ich in der biblischen Geschichte nachgewiesen habe (nämlich 9. und 10. Kapitel).

Ich habe nicht nötig, auf alles näher einzugehen; das Bisherige genügt, die Widersinnigkeiten, welche aus dieser Ansicht und Regel folgen, wie ihre Unrichtigkeit und die Übereilung des Autors ins Licht zu setzen. Darum weise ich sowohl diese Ansicht wie auch die andere des Maimonides zurück und stelle als unerschütterliche Wahrheit den Satz auf, daß weder die Theologie der Vernunft, noch die Vernunft der Theologie untergeordnet werden darf, sondern jede von beiden ihr eigenes Reich behaupten muß: die Vernunft, wie schon gesagt, das Reich der Wahrheit und Weisheit, die Theologie aber das Reich der Frömmigkeit und des Gehorsams. Denn die Macht der Vernunft erstreckt sich, wie bereits gezeigt wurde, nicht so weit, daß sie bestimmen könnte, die Menschen vermöchten durch den Gehorsam allein ohne Erkenntnis der Dinge selig sein. Die Theologie aber schreibt nichts als dieses vor und gebietet nichts als Gehorsam; gegen die Vernunft will sie nichts und kann sie nichts. Denn sie bestimmt die Glaubenssätze (wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde) nur insoweit, als es zum Gehorsam genügt; wie aber diese Glaubenssätze genauer zu verstehen sind, um der Wahrheit zu entsprechen, das zu bestimmen, überläßt sie der Vernunft, welche das wahre Licht der Seele ist, ohne das sie nichts sieht als Traum- und Trugbilder.

Ich verstehe aber hier unter Theologie im engeren Sinne die Offenbarung, soweit sie das Ziel anzeigt, welches die Bibel nach meiner obigen Ausführung anstrebt, (nämlich die Art und Weise des Gehorsams oder die Glaubenssätze der wahren Frömmigkeit und des wahren Glaubens,) oder das, was im eigentlichen Sinne Gottes Wort heißt, welches nicht in einer gewissen Anzahl von Büchern besteht (darüber s. das 12. Kapitel). So aufgefaßt, wird man die Vorschriften und Anweisungen der Theologie mit der Vernunft übereinstimmend, ihr Ziel und ihren Zweck in keinem Punkt der Vernunft widersprechend finden, und daher ist sie für alle Menschen giltig.

Was nun die ganze Bibel im allgemeinen anbelangt, so wurde schon im 7. Kapitel gezeigt, daß ihr Sinn lediglich aus ihrer eigenen Geschichte zu bestimmen ist, nicht aber aus der allgemeinen Geschichte der Natur, welche nur für die Philosophie die Grundlage bildet. Auch dürfen wir uns nicht daran stoßen, wenn wir ihren auf diese Weise ermittelten Sinn da und dort mit der Vernunft im Widerspruch finden. Denn von allem, was die Bibel dieser Art enthält, oder was die Menschen unbeschadet der Liebe nicht zu wissen nötig haben, wissen wir gewiß, daß es die Theologie oder das Wort Gottes nicht berührt und daß daher jedermann darüber denken kann wie er will, ohne sich einer Sünde schuldig zu machen.

Wir gelangen also zu dem sicheren Ergebnis, daß weder die Bibel der Vernunft noch die Vernunft der Bibel angepaßt werden darf.

Nun könnte man aber folgenden Einwand gegen uns erheben: Da wir mit der Vernunft nicht beweisen können, daß die Grundlage der Theologie, nämlich daß die Menschen nur durch Gehorsam selig werden, Wahrheit sei, warum glauben wir alsdann daran? Thun wir es ohne Vernunft, wie Blinde, so handeln wir thöricht, ohne Urteil. Wollten wir hingegen behaupten, diese Grundlage könne durch die Vernunft wirklich bewiesen werden, so wäre demnach die Theologie ein Teil der Philosophie und dürfte von dieser nicht getrennt werden.

Hierauf habe ich folgendes zu antworten: Unbedingt behaupte ich, daß dieser fundamentale Glaubenssatz kein Ergebnis der natürlichen Vernunft, oder doch daß ihn noch niemand bewiesen hat, und daß darum die Offenbarung sehr notwendig gewesen sei; daß wir aber gleichwohl von unserem Urteil Gebrauch machen können, um das Geoffenbarte wenigstens mit moralischer Gewißheit anzuerkennen. Ich sage mit moralischer Gewißheit; denn es ist kein Grund zur Hoffnung vorhanden, daß wir jemals größere Gewißheit darüber erlangen können als die Propheten selbst, denen derselbe zuerst geoffenbart wurde und deren Gewißheit gleichfalls nur eine moralische gewesen ist, wie im 2. Kapitel dieses Traktats nachgewiesen wurde. Diejenigen also irren auf der ganzen Linie, welche die Autorität der Bibel mit mathematischen Beweisen darthun wollen. Denn die Autorität der Bibel hängt von der Autorität der Propheten ab und kann folglich mit keinen stärkeren Beweisen gestützt werden, als diejenigen waren, womit ehedem die Propheten das Volk von ihrer Autorität zu überzeugen pflegten.

Ja es kann sogar unsere Gewißheit darüber auf keine andere Grundlage gestützt werden, als auf diejenige, auf welche die Propheten ihre Gewißheit und Autorität stützten. Denn wir haben gesehen, daß die ganze Gewißheit der Propheten auf folgenden drei Dingen beruhte: 1) auf einer scharfen und lebhaften Einbildungskraft; 2) auf Zeichen; 3) endlich und hauptsächlich auf einer dem Rechten und Guten zugeneigten Gesinnung. Aus andere Gründe stützte sich ihre Gewißheit nicht und daher konnten sie auch weder dem Volke, zu dem sie einst durch das lebendige Wort redeten, noch uns, zu denen sie durch Schriften sprechen, ihre Autorität mit andern Gründen beweisen. – Was nun das erste anlangt, nämlich die lebhafte Vorstellung in der Einbildung, so konnte dies nur den Propheten selbst gewiß sein; daher kann und darf unsere ganze Gewißheit über die Offenbarung sich nur auf die beiden andern stützen, nämlich auf Zeichen und Lehren. Dies lehrt auch Moses ausdrücklich. Im 5. Buch Mose Kap. 18 befiehlt er dem Volke, es solle einem Propheten, der im Namen Gottes ein wahres Zeichen gegeben hat, Gehorsam leisten; hat er aber etwas Falsches vorhergesagt, so soll er zum Tod verurteilt werden, ebenso wie ein Prophet, der das Volk von der wahren Religion abtrünnig zu machen sucht, wenn er auch seine Autorität mit Zeichen und Wundern bekräftigt hat. S. hierüber das 5. Buch Mose Kap. 13. Es folgt daraus, daß sich ein wahrer Prophet von einem falschen nach der Lehre und nach dem Wunder unterscheidet. Denn nur einen solchen erklärt Moses für einen wahren Propheten und befiehlt, ihm ohne irgendwelche Furcht vor Täuschung zu gehorchen; falsche Propheten aber, sagt er, und des Todes schuldig seien Propheten, die entweder etwas fälschlich, wenn auch im Namen Gottes, vorhergesagt haben, oder falsche Götter lehren, wenn sie auch wahre Wunder verrichteten. Deshalb sind auch wir nur aus diesem Grunde gehalten, der Bibel, d. h. den Propheten, zu glauben, nämlich wegen ihrer durch Zeichen bekräftigten Lehre. Weil wir nämlich sehen, daß die Propheten Liebe und Gerechtigkeit über alles empfehlen und auf das allein hinzielen, so ziehen wir daraus den Schluß, daß sie nicht in trügerischer Absicht, sondern aus aufrichtigem Herzen gelehrt haben, die Menschen würden selig durch Gehorsam und Glauben. Und daraus, daß sie das noch überdies durch Zeichen bekräftigt haben, glauben wir überzeugt zu sein, daß sie es nicht leichtfertig behauptet haben, noch daß sie geistesgestört waren, während sie prophezeiten.

Noch mehr werden wir darin bestärkt, wenn wir bedenken, daß sie keine Sittenlehre erteilt haben, die mit der Vernunft nicht völlig übereinstimmt. Denn es ist nicht von ungefähr, daß das Wort Gottes bei den Propheten mit dem Worte Gott, das in unsrem Innern spricht, ganz und gar übereinstimmt. Und hierüber, sage ich, haben wir aus der Bibel ebensoviel Gewißheit, als es einst die Juden aus dem lebendigen Wort der Propheten geschlossen haben. Denn wir haben oben, am Schluß des 12. Kapitels, gesehen, daß die Bibel in Bezug auf ihre Lehre und das Wesentliche ihrer Geschichten unverfälscht in unsere Hände gelangt ist. Wir sind daher vollständig berechtigt, diese Grundlage der ganzen Theologie und Bibel anzuerkennen, wenn sie auch nicht mit mathematischem Beweise dargethan werden kann. Es wäre ja Unverstand, wollte man etwas, was durch so viele Zeugnisse der Propheten bestätigt ist, woraus den geistig Schwachen großer Trost entspringt und dem Staat kein geringer Nutzen erwächst, und was man ohne irgend eine Spur von Gefahr und Schaden glauben kann, nicht anerkennen, und zwar aus dem einzigen Grund, weil es nicht mathematisch bewiesen werden kann. Als ob wir zur weisen Einrichtung unseres Lebens nur als wahr gelten lassen dürften, was durch keinen Zweifelsgrund in Zweifel gezogen werden kann, und als ob nicht, unsere meisten Handlungen Unsicherheit wären und auf gut Glück unternommen würden.

Indessen gebe ich zu, daß diejenigen, welche meinen, Philosophie und Theologie widersprechen einander, weswegen man die eine oder die andere aus ihrem Reiche verjagen, von dieser oder jener sich lossagen müsse, nicht ohne Grund der Theologie einen festen Grund zu legen und sie mathematisch zu beweisen suchen. Denn wer, als allenfalls ein Verzweifelter oder Geisteskranker, wird der Vernunft leichten Herzens den Rücken kehren, Künste und Wissenschaften verachten und die Gewißheit der Vernunft bestreiten wollen?

Indessen kann ich sie doch nicht ganz entschuldigen, da sie die Vernunft zu Hilfe rufen wollen, um sie selbst, die Vernunft, zu verjagen, und einen Grund suchen, um durch dessen Gewißheit die Ungewißheit der Vernunft zu beweisen. Ja indem sie darauf ausgehen, die Wahrheit und Autorität der Theologie durch mathematische Beweise darzuthun und der Vernunft und der natürlichen Einsicht die Autorität abzusprechen, unterwerfen sie in Wahrheit die Theologie der Herrschaft der Vernunft und scheinen sie bestimmt vorauszusetzen, daß die Autorität der Theologie allen Glanzes entbehre, wenn sie nicht vom natürlichen Licht der Vernunft bestrahlt würde. Wenn sie aber hiergegen von sich rühmen, sie fühlten sich durch das innere Zeugnis des heiligen Geistes vollständig beruhigt und riefen die Vernunft lediglich aus dem Grunde zu Hilfe, um die Ungläubigen zu überführen, so ist solchen Reden nicht der geringste Glauben zu schenken, da leicht zu zeigen ist, daß sie entweder aus Leidenschaftlichkeit oder aus Prahlerei so reden. Denn aus dem vorigen Kapitel ergiebt sich aufs bestimmteste, daß der heilige Geist nur von guten Handlungen Zeugnis giebt; die auch Paulus deshalb im Brief an die Galater Früchte des heiligen Geistes nennt. Ist doch der heilige Geist selbst im Grunde nichts anderes als die Seelenruhe, welche durch gute Handlungen im Gemüt erzeugt wird. Über die Wahrheit und Gewißheit dessen aber, was lediglich Sache der Spekulation ist, giebt kein anderer Geist Zeugnis außer der Vernunft, welche das Reich der Wahrheit unumschränkt beherrscht, wie ich bereits gezeigt habe. Wenn jene also versichern, noch einen andern Geist zu besitzen, der ihnen über die Wahrheit Gewißheit giebt, so rühmen sie sich dessen fälschlich und sprechen bloß ein Vorurteil aus, das ihnen die Leidenschaft eingegeben, oder sie suchen ihre Zuflucht bei etwas Heiligem, weil sie Angst haben, sie könnten von den Philosophen besiegt und öffentlich dem Gelächter preisgegeben werden. Doch es nutzt ihnen nichts; denn welchen Altar kann sich der bauen, der die Majestät der Vernunft beleidigt?

Ich will sie nun aber verlassen, da ich meiner Aufgabe Genüge gethan zu haben glaube, indem ich gezeigt habe, daß und weshalb die Philosophie von der Theologie zu trennen ist, worin jede der beiden hauptsächlich besteht, daß keine von beiden der andern untergeordnet werden darf, sondern jede ihr Reich inne hat ohne irgend welche Beeinträchtigung von seiten der andern, und endlich auch, wo Gelegenheit gegeben war, auf die Widersinnigkeiten, Widerwärtigkeiten und Nachteile hingewiesen habe, welche daraus entstanden sind, daß die Menschen diese beiden Wissenszweige auf wunderliche Weise mit einander vermengt und es nicht verstanden haben, beide genau aus einander zu halten und die eine von der andern zu trennen.

Ehe ich jedoch weiter gehe, will ich hier ausdrücklich daran erinnern, (obwohl es bereits gesagt ist,) daß ich hier die heilige Schrift oder die Offenbarung, in Bezug auf ihre Nützlichkeit und Notwendigkeit, sehr hoch stelle. Denn da wir mit der natürlichen Vernunft nicht begreifen können, daß der schlichte Gehorsam der Weg zur Seligkeit sei, sondern nur die Offenbarung lehrt, daß dies durch die besondere Gnade Gottes, die wir mit der Vernunft nicht erlangen können, bewerkstelligt werde, so folgt daraus, daß die Bibel den Sterblichen sehr großen Trost gebracht hat. Da alle Menschen vollständig gehorchen können, und die Zahl derer, welche durch die Leitung der Vernunft allein eine tugendhafte Gesinnung sich aneignen, im Vergleich zum ganzen Menschengeschlecht sehr gering ist, so würden wir an der Seligkeit fast aller Menschen zweifeln, wenn wir nicht dieses Zeugnis der Bibel hätten.

Sechzehntes Kapitel.

Über die Grundlagen des Staates; über das natürliche und bürgerliche Recht jedes Einzelnen; und über das Recht der höchsten Gewalten.


Bis hierher war ich bemüht, die Philosophie von der Theologie zu trennen und nachzuweisen, daß die Theologie jedem das freie Philosophieren gestattet. Daher ist nunmehr zu untersuchen, wie weit sich in einem recht guten Staate die Freiheit im Denken und Reden erstreckt. Um bei dieser Untersuchung ordnungsmäßig zu verfahren, müssen wir die Grundlagen des Staates behandeln, zunächst aber das natürliche Recht eines jeden, ohne noch auf Staat und Religion Rücksicht zu nehmen.

Unter Recht und Verordnung der Natur verstehe ich nichts anderes als die Regeln der Natur jedes einzelnen Individuums, welche nach unsern Begriffen dieses Individuum naturgemäß bestimmen, auf eine gewisse Weise zu sein und zu wirken. Z. B. die Fische sind von der Natur bestimmt, zu schwimmen, die großen, die kleinen zu fressen. Mit dem höchsten natürlichen Recht bemächtigen sich daher die Fische des Wassers und fressen die großen die kleinen. Denn es ist gewiß, daß die Natur an sich betrachtet das höchste Recht hat zu allem, was sie vermag, mit andern Worten, daß sich das Recht der Natur gerade so weit erstreckt als ihre Macht. Denn die Macht der Natur ist die Macht Gottes selbst, welcher das höchste Recht zu allem hat. Weil nun aber die allgemeine Macht der ganzen Natur nichts ist als die Macht aller einzelnen Individuen zusammengenommen, so folgt, daß jedes Individuum das höchste Recht hat zu allem, was es vermag, oder daß das Recht jedes einzelnen Individuums sich so weit erstreckt als seine besondere Macht. Und weil es das oberste Gesetz der Natur ist, daß jedes Ding in seinem Zustande, so gut es vermag, zu beharren sucht, und zwar nur mit Rücksicht auf sich selbst, nicht eines andern, so folgt daraus, daß jedes Individuum das höchste Recht dazu hat, nämlich (wie gesagt) zu sein und zu wirken, wozu es von der Natur bestimmt ist.

Ich erkenne hier keinen Unterschied an zwischen Menschen und andern Individuen der Natur, auch nicht zwischen vernunftbegabten Menschen und andern, welche die wahre Vernunft nicht kennen, und nicht zwischen Blödsinnigen, Geisteskranken und Gesunden. Denn was jedes Ding nach den Gesetzen seiner Natur thut, thut es mit dem höchsten Rechte, weil es nämlich das thut, wozu es von der Natur bestimmt ist, und nicht anders kann. So lange man daher die Menschen als Individuen betrachtet, die bloß unter der Herrschaft der Natur leben, lebt sowohl derjenige, welcher die Vernunft noch nicht kennt, oder der eine tugendhafte Gesinnung noch nicht hat, mit demselben höchsten Recht bloß nach den Gesetzen seiner Begierden, wie ein anderer, der sein Leben nach den Gesetzen der Vernunft regelt. Mit andern Worten: Wie der Weise das höchste Recht hat zu allem, was die Vernunft vorschreibt, oder zu einem vernunftgemäßen Leben, so hat der Unwissende und sittlich Schwache das höchste Recht zu allem, wozu die Begierde reizt, oder zu einem den Begierden gemäßen Leben. Es ist das ganz dasselbe, was Paulus lehrt, der vor dem Gesetz, d. h. so lange die Menschen unter der Herrschaft der Natur lebend betrachtet werden, keine Sünde anerkennt.

Das natürliche Recht eines jeden Menschen wird demnach nicht durch die gesunde Vernunft, sondern durch die Begierde und die Macht bestimmt. Denn nicht alle Menschen sind von Natur aus bestimmt, nach den Regeln und Gesetzen der Vernunft zu handeln, vielmehr kommen sie ganz unwissend auf die Welt, und bevor sie die wahre Lebensweise erkennen und die tugendhafte Gesinnung sich erwerben können, vergeht, auch bei guter Erziehung, ein beträchtlicher Teil ihres Lebens, während dessen sie aber gleichwohl leben und sich so gut als möglich erhalten müssen, und zwar bloß nach dem Antrieb der Begierden. Denn die Natur hat ihnen nichts anderes gegeben und ihnen die wirkliche Macht, nach der gesunden Vernunft zu leben, verweigert, daher sind sie ebensowenig verpflichtet, nach den Gesetzen der gesunden Vernunft zu leben, als die Katze verpflichtet ist, nach den Gesetzen der Löwennatur zu leben. Was also jeder, unter der Herrschaft der Natur allein betrachtet, als vorteilhaft für sich erachtet, mag er sich dabei von der gesunden Vernunft leiten oder von den Begierden treiben lassen, das darf er mit dem höchsten Naturrecht anstreben und auf jede mögliche Weise, mit Gewalt, List, Bitten oder wie immer, durchführen, und er darf folglich auch jeden für seinen Feind betrachten, der ihn an der Befriedigung seines Verlangens hindern will.

Es folgt hieraus, daß das Recht und die Verordnung der Natur, unter welchem alle geboren werden und größtenteils leben, nichts verbietet, als was niemand wünscht und niemand kann, und weder Streitigkeiten noch Haß, noch Zorn, noch Betrug, noch überhaupt irgend etwas, wozu die Begierde reizt, verwehrt. Kein Wunder; denn die Natur steht nicht unter den Gesetzen der menschlichen Vernunft, welche nichts als den wahren Vorteil und die Erhaltung der Menschen bezwecken, sondern unter zahllosen andern Gesetzen, welche die ewige Ordnung der ganzen Natur betreffen, von welcher der Mensch nur ein kleiner Teil ist. Die Notwendigkeit der Natur allein ist es, welche alle Einzelwesen in einer gewissen Weise bestimmt, zu sein und zu wirken. Wenn uns also in der Natur manches lächerlich, widersinnig oder schlecht erscheint, so kommt das daher, daß wir die Dinge nur zum Teil erkennen, die Ordnung und den Zusammenhang der ganzen Natur aber zum größten Teil nicht kennen, und daß wir alles so geleitet haben wollen, wie es unsere Vernunft für zweckdienlich hält, während doch das, was die Vernunft für schlecht erklärt, nur in Bezug auf die Gesetze unserer Natur schlecht ist, nicht aber in Bezug auf die Ordnung und die Gesetze der gesamten Natur.

Es kann jedoch hinwiederum niemand bezweifeln, daß es für die Menschen viel nützlicher ist, nach den Gesetzen und bestimmten Vorschriften unserer Vernunft zu leben, welche wie gesagt nichts als den wahren Nutzen der Menschen bezwecken. Zudem giebt es keinen Menschen, der nicht wünscht, möglichst sicher und ohne Furcht zu leben. Dies kann aber unmöglich der Fall sein, so lange es jedem erlaubt ist, nach Belieben alles zu thun, und der Vernunft kein größeres Recht eingeräumt ist als dem Haß und dem Zorn. Denn unter Feindschaft, Haß, Zorn und Betrug muß jedermann in Angst leben, weshalb sie jeder, so gut er kann, zu vermeiden suchen wird. Wenn man weiter bedenkt, daß die Menschen ohne wechselseitige Hilfeleistung und ohne Pflege der Vernunft sehr elend leben, wie im 5. Kapitel gezeigt wurde, so wird man klar einsehen, daß die Menschen, um sicher und angenehm zu leben, sich notwendig vereinigen müssen, um zu bewirken, daß sie das Recht, welches von der Natur jeder zu allem hatte, nunmehr gemeinsam haben, so daß sie nicht mehr von der Kraft und dem Begehren des Einzelnen bestimmt werden, sondern von der Macht und dem Willen der Gesamtheit. Indessen würden sie dies nicht zustande bringen können, wenn sie nur dem Antrieb ihrer Begierden folgen würden, (da nach den Gesetzen der Begierden die Einzelnen nach verschiedenen Richtungen getrieben werden). Sie mußten daher fest bestimmen und Übereinkommen, bloß nach den Vorschriften der Vernunft (denen niemand offen zu widersprechen wagt, um nicht als sinnlos zu erscheinen,) alles zu leiten, und die Begierde, soweit sie zu etwas anreizt, was andern zum Schaden gereichen würde, zu zügeln, niemand zu thun, was man selbst nicht angethan haben will, und das Recht des Nebenmenschen dem eigenen gleich zu achten. – Auf welche Weise nun dieser Vertrag geschlossen werden muß, damit er giltig und fest sei, müssen wir jetzt näher sehen.

Die menschliche Natur wird von dem allgemeinen Gesetz beherrscht, daß niemand etwas, das er für ein Gut hält, vernachlässigt, wenn nicht in der Hoffnung eines größeren Gutes oder aus Furcht vor einem größeren Schaden; und daß niemand ein Übel erträgt, wenn nicht zur Vermeidung eines größeren Übels, oder in der Hoffnung auf ein größeres Gut. Mit andern Worten: Jeder wählt unter zwei Gütern dasjenige, welches ihm das größere dünkt, unter zwei Übeln dasjenige, welches ihm das kleinste dünkt. Ich sage ausdrücklich: welches ihm, dem Wählenden, das größere oder kleinere dünkt, nicht daß die Sache sich wirklich so verhält, wie er urteilt. Und dieses Gesetz ist der menschlichen Natur so fest eingeprägt, daß es zu der ewigen Wahrheit gezählt werden muß, die niemand verkennen kann.

Aus diesem Gesetze nun folgt mit Notwendigkeit, daß niemand ohne heimlichen Vorbehalt versprechen wird, sich seines Rechts, das er zu allem hat, zu begeben, und daß niemand dieses Versprechen in jeder Beziehung halten wird, wenn nicht aus Furcht vor einem größeren Übel oder in der Hoffnung auf ein größeres Gut. Um dies besser verständlich zu machen, setze man den Fall, ich würde von einem Räuber gezwungen, ihm zu versprechen, daß ich ihm mein Hab und Gut überliefere, sobald er es verlangt. Da nun, wie ich bereits gezeigt habe, mein natürliches Recht nur von meiner Macht bestimmt wird, so darf ich nach dem Naturrecht sicherlich dem Räuber was er will hinterlistig versprechen, wenn ich mich dadurch von ihm befreien kann. Oder angenommen, ich hätte jemand ganz aufrichtig versprochen, zwanzig Tage keine Speise, überhaupt kein Nahrungsmittel über die Lippen zu bringen, hinterher aber hätte ich eingesehen, daß dieses Versprechen ein thörichtes war, und ich es ohne den größten Schaden nicht halten könnte; da ich nun nach dem Naturrecht unter zwei Übeln das kleinste wählen muß, so kann ich mit dem größten Recht diesen Vertrag brechen und mein Wort als nicht gegeben betrachten. Dieses, sage ich, ist nach dem Naturrecht erlaubt, ob ich nun mit gutem Grunde oder nur in der Einbildung dieses Versprechen für ein schlechtes ansehe. Denn mag ich recht oder falsch sehen, immer werde ich ein größeres Übel fürchten, und es also nach der Verordnung der Natur auf jede Weise zu vermeiden suchen.

Hieraus ist zu folgern, daß kein Vertrag Kraft haben kann, als nur durch seine Nützlichkeit; fällt diese weg, so fällt damit auch der Vertrag und ist soviel wie nicht vorhanden. Daher ist es thöricht, wenn man sich von jemand ewige Treue versprechen läßt und nicht zugleich veranstaltet, daß aus dem Vertragsbruch dem Betreffenden mehr Schaden als Nutzen erwächst. Dies hat ganz besonders bei der Gründung von Staaten seine Geltung.

Wenn nun alle Menschen durch die Vernunft allein leicht geleitet werden und den überaus großen Nutzen und die Notwendigkeit des Staats einsehen könnten, so gäbe es niemand, der nicht jeden Trug verabscheuen würde; jedermann würde vielmehr aus Neigung zu diesem höchsten Gute, nämlich die Erhaltung des Staates, mit größter Treue die Verträge in jeder Hinsicht halten und die Treue, diesen höchsten Schutz des Staates, mehr als alles bewahren. Aber weit entfernt, daß alle Menschen immer durch die Vernunft allein leicht geleitet werden können, läßt sich vielmehr jeder von seinen Lüsten beherrschen und Habsucht, Ehrsucht, Neid, Zorn u. s. f. nehmen den Geist dermaßen ein, daß für die Vernunft kein Raum mehr bleibt. Obgleich darum die Menschen mit den sichersten Zeichen der Aufrichtigkeit versprechen und sich verpflichten, Treue zu bewahren, so kann doch niemand der Treue eines andern sicher sein, wenn nicht zu dem Versprechen noch etwas anderes hinzukommt, weil nämlich jeder nach dem Naturrecht trügerisch handeln kann und sich nicht veranlaßt fühlt, die Verträge zu halten, wenn nicht aus Hoffnung auf ein größeres Gut oder aus Furcht vor einem größeren Übel.

Da nun aber gezeigt wurde, daß das natürliche Recht eines jeden bloß durch seine Macht bestimmt wird, so folgt, daß wenn jemand einen Teil von seiner Macht, gezwungen oder freiwillig, auf einen andern überträgt, er ihm damit notwendig den gleichen Teil seines Rechts abtritt, und daß derjenige das höchste Recht allein hat, der die höchste Macht hat, vermöge welcher er alle andern mit Gewalt zwingen und durch Furcht vor harten Strafen, die man allgemein fürchtet, im Zaume halten kann. Dieses Recht wird er indessen nur so lange inne haben, als er die Macht behält, was er will auszuführen; andernfalls wird sein Befehl eigentlich nur eine Bitte sein, und keiner, der stärker ist als er wird ihm gehorchen müssen, wenn er keine Lust dazu hat.

Auf diese Weise kann, ohne den geringsten Widerspruch gegen das Naturrecht, eine Gesellschaft sich bilden und jeder Vertrag immer mit der größten Treue gehalten werden; wenn nämlich jeder seine eigene Macht gänzlich auf die Gesellschaft überträgt, welche so das höchste Naturrecht zu allem, das heißt die höchste Macht, allein inne habt, und welcher jedermann entweder aus freiem Antrieb oder aus Furcht vor harten Strafen zu gehorchen gezwungen sein wird. Das Rechtsverhältnis einer solchen Gesellschaft wird Demokratie genannt, welche hiernach zu definieren ist als eine allgemeine Verbindung von Menschen, welche als Gesamtheit das höchste Recht zu allem hat, was sie kann. Es folgt daraus, daß die höchste Macht durch kein Gesetz eingeschränkt ist, vielmehr jedermann in jeder Hinsicht ihr zu gehorchen hat; denn hierzu mußten sich alle stillschweigend oder ausdrücklich verpflichten, als sie ihre ganze Macht, d. h. ihr ganzes Recht auf dieselbe übertragen haben. Denn hätten sie sich etwas davon vorbehalten wollen, so hätten sie gleichzeitig sich eines Mittels versichern müssen, das Vorbehaltene zu verteidigen. Da sie das aber nicht thaten, und es auch nicht thun konnten ohne die Staatsgewalt zu zersplittern, wodurch sie naturgemäß untergraben worden wäre, so haben sie sich eben dadurch dem Gutdünken der höchsten Gewalt unbedingt unterworfen. Indem sie dies aber unbedingt gethan haben, und zwar (wie bereits gezeigt wurde) sowohl durch die Notwendigkeit gezwungen als auch durch die Vernunft bewogen, so folgt, daß, wollen wir anders nicht Feinde der Staatsgewalt sein und der Vernunft entgegenhandeln, welche die Staatsgewalt mit allen Kräften zu verteidigen verlangt, wir verpflichtet sind, alle Befehle der höchsten Gewalt unbedingt zu vollziehen, wenn sie auch noch so widersinnig sein sollten; denn auch den Vollzug solcher Befehle gebietet die Vernunft, da dies das geringste unter zwei Übeln ist.

Hierzu kommt, daß jedermann leicht dieses Wagnis unternehmen konnte, nämlich die Unterwerfung seiner selbst unter die Herrschaft und das Gutdünken eines andern, da, wie gezeigt wurde, den höchsten Gewalten dieses Recht, alles zu gebieten was ihnen beliebt, nur so lange zukommt, als sie thatsächlich die höchste Gewalt inne haben; verlieren sie dieselbe, so verlieren sie damit auch das Recht, alles zu gebieten, und dieses fällt dem- oder denjenigen zu, welche diese Gewalt erlangt haben und behaupten können. Es kann daher nur sehr selten geschehen, daß die höchsten Gewalten ganz widersinnige Dinge gebieten, denn ihnen selbst liegt es am meisten ob, sich vorzusehen und die Staatsgewalt zu behaupten, durch die Sorge für das Gemeinwohl und eine vernunftgemäße Regierung. Eine gewaltthätige Herrschaft hat niemand lange behauptet, sagt Seneca. Überdies sind in einem demokratischen Staat solche Widersinnigkeiten weniger zu befürchten, weil es fast unmöglich ist, daß in einer großen Versammlung die Mehrheit dem Widersinnigen zustimmt; wie nicht minder im Hinblick auf seine Grundlage und den Zweck, welcher, wie bereits gezeigt, kein anderer ist, als der, die thörichten Begierden zu hemmen und die Menschen so gut als möglich innerhalb der Schranken der Vernunft zu halten, damit sie in Eintracht und Frieden leben; eine Grundlage, mit deren Beseitigung der ganze Bau rasch zusammenstürzen würde. Hierfür zu sorgen, ist lediglich Obliegenheit der höchsten Gewalt; den Unterthanen aber liegt es ob, ihre Befehle zu vollziehen und kein anderes Recht anzuerkennen, als dasjenige, welches die höchste Gewalt aufstellt.

Vielleicht wird nun aber mancher glauben, ich wolle auf diese Weise die Unterthanen zu Sklaven machen, indem man der Ansicht ist, ein Sklave sei, wer auf Befehl handelt, ein freier Mensch, wer nach eigenem Antrieb lebt. Allein diese Voraussetzung ist nicht unbedingt richtig. In Wahrheit ist der größte Sklave derjenige, der von seinen Lüsten dermaßen beherrscht wird, daß er seinen Vorteil weder sieht noch verfolgt; ein freier Mensch aber ist nur derjenige, der mit voller Zustimmung seines Innern sich nur von der Vernunft leiten läßt. Das Handeln auf Befehl aber, d. h. der Gehorsam, hebt zwar die Freiheit auf gewisse Weise auf, macht aber noch nicht zum Sklaven, dies thut nur der Grund des Handelns. Bezweckt eine Handlung nicht den Nutzen des Handelnden, sondern desjenigen, der sie befohlen, so handelt er als Sklave, unnütz für sich selbst. In einem Gemeinwesen und Staat jedoch, wo das Wohl des ganzen Volkes, nicht des Gebietenden, höchstes Gesetz ist, kann derjenige, der in allen Dingen der höchsten Gewalt gehorcht, nicht ein sich selbst unnützer Sklave, sondern nur ein Unterthan heißen. Daher ist der Staat der freieste, dessen Gesetze auf die gesunde Vernunft sich gründen, denn in einem solchen kann jeder überall frei sein, d. h. mit voller Übereinstimmung seines Innern nach der Anleitung der Vernunft leben. So sind auch Kinder keine Sklaven, obgleich sie in allen Dingen den Befehlen der Eltern zu gehorchen haben; weil nämlich die Befehle der Eltern vor allem auf den Vorteil der Kinder abzielen. Ich mache also einen großen Unterschied zwischen einem Sklaven, einem Kinde und einem Unterthan. Ein Sklave ist, wer den Befehlen eines Herrn, die nur den Vorteil des Herrn bezwecken, Gehorsam leisten muß; ein Kind, wer auf Befehl seiner Eltern thut, was ihm selbst zum Vorteil gereicht; ein Unterthan, wer auf Befehl der höchsten Gewalt thut, was dem Gemeinwohl, und damit auch ihm selbst, zum Vorteil gereicht.

Damit glaube ich die Grundlagen einer demokratischen Staatsgewalt hinlänglich klar dargethan zu haben. Ich habe die demokratische Staatsform vor allem behandelt, weil sie, wie mir scheint, die natürlichste ist und der Freiheit, welche die Natur jedem Einzelnen gewährt, am meisten entspricht. Denn in einer Demokratie überträgt niemand sein Naturrecht derart auf einen andern, daß er selbst in Zukunft nie mehr zu Rat gezogen wird, sondern er überträgt sein Naturrecht auf die Mehrheit der ganzen Gesellschaft, von welcher er selbst einen Teil bildet. Aus diese Weise bleiben sich alle gleich, wie zuvor im natürlichen Zustande. Noch aus einem Grunde habe ich diese Staatsform zu behandeln vorgezogen: weil sich der Nutzen der Freiheit im Staate, welchen darzuthun ja meine Absicht ist, an ihr am besten nachweisen läßt. Ich gehe daher auf die Grundlagen anderer Staatsformen nicht ein. Es ist auch nicht nötig zu wissen, wie dieselben entstanden sind und noch entstehen, um das Recht derselben zu erkennen, da dieses aus dem bereits Ausgeführten sich vollständig entnehmen läßt. Denn es ist ja klar, daß das höchste Recht, zu gebieten, was ihm beliebt, demjenigen zusteht, der die höchste Macht hat, ob dies nun ein Einzelner, oder wenige Personen oder endlich alle insgesamt; und ferner, daß wer die Macht, sich zu schützen, freiwillig oder gezwungen, auf einen andern übertragen hat, ihm auch sein natürliches Recht vollständig abgetreten und folglich sich entschlossen hat, ihm in allen Dingen unbedingt zu gehorchen, und so lange ist er verbunden, dies alles zu halten, als der König oder der Adel oder das Volk die höchste Macht, welche sie empfangen haben und welche die Grundlage der Rechtsübertragung war, im Besitz haben. Ich habe nicht nötig, weiteres hinzuzufügen.

Nach unseren Auseinandersetzungen über die Grundlagen und das Recht der Staatsgewalt ist es leicht, zu bestimmen, was das bürgerliche Privatrecht, was Unrecht, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im bürgerlichen Leben seien; ferner wer ein Bundesgenosse oder ein Feind sei, und endlich was ein Majestätsverbrechen sei.

Unter dem bürgerlichen Privatrecht nämlich können wir nichts anderes verstehen, als die Freiheit des Einzelnen, sich in seinem Zustand zu erhalten, welche Freiheit durch die Edikte der höchsten Gewalt näher bestimmt und durch ihre Autorität allein geschützt wird. Denn nachdem ein jeder sein Recht, nach eigenem Gutdünken zu leben, worin er bloß durch seine Macht beschränkt wird, oder mit andern Worten, seine Freiheit und die Macht sich zu schützen, auf einen andern übertragen hat, so ist er auch gehalten, ganz im Sinne des andern zu leben und sich ganz unter dessen Schutz zu stellen.

Unrecht ist, wenn ein Bürger oder Unterthan von einem andern einen Schaden, dem bürgerlichen Recht, oder dem Edikt der höchsten Gewalt zuwider, zu erleiden gezwungen ist. Denn der Begriff Unrecht ist nur im bürgerlichen Zustande denkbar; von den höchsten Gewalten aber, denen von Rechts wegen alles erlaubt ist, kann den Unterthanen kein Unrecht zugefügt werden; es kann somit nur unter Privatpersonen vorkommen, welche rechtlich gehalten sind, sich gegenseitig nicht zu verletzen.

Gerechtigkeit ist die feste Gesinnung, jedem zu lassen, was ihm nach dem bürgerlichen Rechte zukommt; Ungerechtigkeit dagegen, unter dem Schein des Rechts jemand entziehen, was ihm nach der wahren Auslegung des Gesetzes zukommt. Man sagt auch statt dessen Gleichheit und Ungleichheit, weil diejenigen, welche eingesetzt sind, Streitigkeiten zu entscheiden, kein Ansehen der Person walten lassen dürfen, sondern die Pflicht haben, alle gleichmäßig zu behandeln und das Recht eines jeden gleichmäßig zu schützen, und weder gegen den Reichen Mißgunst noch gegen den Armen Geringschätzung walten lassen dürfen.

Bundesgenossen sind die Menschen zweier Staaten, welche, um nicht durch kriegerische Verwickelungen in Gefahr zu kommen, oder um irgend eines andern Vorteils willen, einen Vertrag miteinander schließen, daß sie einander keinen Schaden zufügen, vielmehr im Notfall sich gegenseitig beistehen wollen, aber so, daß jeder Teil seine Staatsgewalt behält. Ein solcher Vertrag wird so lange wirksam sein, als dessen Grundlage, nämlich die Rücksicht auf die Gefahr oder den Nutzen, vorhanden sein wird; da niemand einen Vertrag schließt, noch gezwungen ist, Verträge zu halten, ohne die Hoffnung auf irgend ein Gut oder die Furcht vor irgend einem Übel. Mit dieser Grundlage wird auch der Vertrag von selbst aufgehoben, was die Erfahrung zur Genüge lehrt. Denn obgleich verschiedene Reiche unter einander Verträge schließen, sich gegenseitig keinen Schaden zuzufügen, suchen sie doch nach Kräften das Wachsen der Macht des andern zu verhindern, und trauen den gegenseitigen Versicherungen nur, soweit Zweck und Nutzen des Vertrags klar ersichtlich ist; andernfalls fürchten sie Betrug und nicht mit Unrecht. Denn wer anders als ein thörichter Mensch, der das Recht der höchsten Gewalten nicht kennt, wird sich auf die Worte und Versicherungen von jemand verlassen, der die höchste Macht und das Recht zu allem Beliebigen inne hat, und dem die Wohlfahrt und der Vorteil des eigenen Reiches höchstes Gesetz sein muß. Wenn man überdies die Sache unter dem Gesichtspunkt der Frömmigkeit und Religion betrachtet, wird man sagen müssen, daß niemand, der die Staatsgewalt inne hat, zum Schaden des eigenen Staats ein Versprechen halten darf, ohne sich einer Sünde schuldig zu machen. Denn wenn er merkt, daß das, was er versprochen hat, dem eigenen Staat zum Nachteil ausfällt, so kann er es nicht halten, ohne daß er den Unterthanen die zugesicherte Treue bricht, die er doch vor allem zu halten verpflichtet ist, und welche zu bewahren man gewöhnlich aufs heiligste versichert.

Ein Feind ist, wer außerhalb eines Staates so lebt, daß er die Staatsgewalt eines Staates weder als Bundesgenosse noch als Unterthan anerkennt. Denn nicht der Haß macht jemand zum Feind eines Staates, sondern das Recht, und das Recht eines Staates gegen jemand, der seine Staatsgewalt in keiner Weise, auch nicht vertragsmäßig, anerkennt, ist ganz dasselbe wie gegen den, der ihm Schaden zufügt; er kann ihn also von Rechts wegen auf jede mögliche Weise zur Unterwerfung oder zu einem Bündnis nötigen.

Ein Majestätsverbrechen endlich kann nur von Unterthanen oder Bürgern, die stillschweigend oder ausdrücklich ihr gesamtes Recht auf den Staat übertragen haben, begangen werden, und zwar hat sich ein Unterthan dieses Verbrechens schuldig gemacht, wenn er das Recht der höchsten Gewalt auf irgend eine Weise an sich zu reißen oder auf jemand anders zu übertragen versucht hat. Ich sage: versucht hat; denn wenn die Strafbarkeit erst nach vollbrachter That eintreten würde, so würde der Staat in den meisten Fällen zu spät kommen, indem sein Recht bereits von dem andern an sich gerissen oder auf einen dritten übertragen worden ist. Ich sage ferner schlechtweg: wer auf irgend eine Weise das Recht der höchsten Gewalt an sich zu reißen versucht, und mache keinen Unterschied, ob damit dem gesamten Staat ein Schaden zugefügt, oder ein Vorteil, wenn auch noch so augenscheinlich, verschafft wird. Denn aus welchem Grunde immer er es versucht hat, so hat er die Majestät beleidigt und wird mit Recht bestraft, ein Verfahren, das im Krieg von jedermann als vollkommen rechtmäßig anerkannt wird. Wenn nämlich jemand nicht auf seinem Posten bleibt, sondern ohne Vorwissen des Feldherrn den Feind angreift, wird er, selbst wenn er wohl überlegt, aber eben nur auf eigene Faust, es unternommen und den Feind geschlagen hat, dennoch mit Recht zum Tode verurteilt, weil er seinen Eid und das Recht des Feldherrn verletzt hat. Daß alle Bürger überhaupt dem gleichen Rechte jederzeit unterworfen sind, wird zwar nicht ebenso klar von jedermann eingesehen, der Grund aber ist ganz derselbe. Denn da der Staat lediglich nach dem Ratschluß der höchsten Gewalt erhalten und geleitet werden muß, und dieses Recht vertragsmäßig ihr allein und ausschließlich zusteht, so hat derjenige, der nach eigenem Gutdünken, ohne Vorwissen des obersten Rats, eine öffentliche Angelegenheit durchzuführen unternommen hat, das Recht der höchsten Gewalt verletzt und die Majestät beleidigt, auch wenn, wie gesagt, sein Unternehmen unzweifelhaft gute Folgen für den Staat gehabt hat, und er wird mit Recht verdientermaßen abgestraft.

Um allen Zweifel zu beseitigen, erübrigt noch, auf einen Einwand zu antworten. Ich habe oben behauptet, daß jeder, der nicht imstande ist, von der Vernunft Gebrauch zu machen, mit dem höchsten Recht im natürlichen Zustande nach den Gesetzen seiner Begierden lebt. Steht dies nun aber nicht offenbar mit dem geoffenbarten göttlichen Gesetze in Widerspruch? Da nämlich alle ohne Ausnahme (mögen sie von der Vernunft Gebrauch machen können oder nicht,) einer wie der andere, verpflichtet sind, nach dem göttlichen Gebote den Nächsten wie sich selbst zu lieben, so können wir also nicht ohne ein Unrecht zu begehen einem andern Schaden zufügen und bloß nach den Gesetzen der Begierden leben. – Auf diesen Einwand läßt sich jedoch leicht antworten, man darf nur den Naturzustand recht ins Auge fassen. Derselbe geht nämlich sowohl der Natur als der Zeit nach der Religion voran. Von Natur aus weiß niemand, daß er Gott gegenüber zum Gehorsam verpflichtet sei, er kann es sogar auf keine Weise einsehen, sondern jeder kann es aus einer durch Zeichen bestätigten Offenbarung haben. Vor der Offenbarung ist daher niemand durch das göttliche Recht verbunden, das er noch nicht wissen kann. Deshalb darf der natürliche Standpunkt mit dem religiösen nicht vermischt werden, sondern muß ohne Religion und Gesetz und demgemäß auch ohne Sünde und Unrecht begriffen werden, wie dies von uns geschehen ist und durch die Autorität des Paulus unterstützt wurde.

Aber nicht bloß in Bezug auf das Nichtwissen geht der Naturzustand dem geoffenbarten göttlichen Gesetze voraus und ist ohne dasselbe zu denken, sondern auch in Bezug auf die Freiheit, in welcher alle geboren werden. Denn wenn die Menschen schon von Natur aus nach dem göttlichen Gesetze verpflichtet wären, oder wenn das göttliche Recht von Natur aus zu Recht bestände, so wäre es überflüssig, daß Gott mit den Menschen einen Vertrag schließt und sie durch Bündnis und Schwur verpflichtet. Daher muß unbedingt zugestanden werden, daß das göttliche Recht erst mit der Zeit beginnt, wo die Menschen durch ein eigenes Bündnis versprochen haben, Gott in allem zu gehorchen, womit sie gleichsam ihre natürliche Freiheit aufgegeben und ihr Recht auf Gott übertragen haben, wie das unserer obigen Ausführung gemäß im bürgerlichen Stande der Fall ist. Doch hierüber soll im Folgenden noch ausführlicher gehandelt werden.

Es wird aber noch weiter entgegengehalten werden, daß die höchsten Gewalten so gut wie die Unterthanen diesem göttlichen Rechte unterworfen seien, während ich sagte, daß sie das Naturrecht inne hätten und ihnen von Rechts wegen alles erlaubt sei. Um diese Schwierigkeit gänzlich zu beseitigen, die nicht sowohl aus dem natürlichen Zustand als aus dem natürlichen Recht sich ergiebt, sage ich, daß jedermann im Naturzustande ganz ebenso nach dem geoffenbarten Rechte leben muß, wie er den Vorschriften der gesunden Vernunft zufolge nach diesem Rechte leben muß; nämlich weil es für ihn vortheilhaft und zu seiner Wohlfahrt notwendig ist. Will er dies nicht, so mag er es lassen, aber auf seine Gefahr. Also braucht er da bloß nach eigener Entschließung, nicht aber nach der Entschließung eines andern zu leben, und braucht keinen Sterblichen als seinen Richter, oder als Rächer an dem Recht der Religion anzuerkennen. Und dieses Recht, behaupte ich, hat die höchste Gewalt inne, indem sie zwar die Menschen um Rat fragen kann, aber niemand als Richter und keinen Sterblichen neben sich als Rächer an irgend einem Recht anzuerkennen braucht, sondern bloß einen Propheten, welcher eigens von Gott gesendet worden ist und dies durch sichere Zeichen als zweifellos beweist. Aber auch in diesem Falle ist die höchste Gewalt nicht gezwungen, einen Menschen, sondern Gott selbst als Richter anzuerkennen. Wollte sie Gott in seinem geoffenbarten Rechte nicht gehorchen, so steht ihr das auf ihre eigene Gefahr und ihren eigenen Schaden hin frei; weder das bürgerliche noch das natürliche Recht kann sie dazu zwingen. Denn das bürgerliche Recht hängt von ihrem eigenen Ratschluß ab. Das natürliche Recht aber hängt von den Gesetzen der Natur ab, welche sich nicht nach der Religion richten, die bloß auf den menschlichen Vorteil abzielt, sondern nach der Ordnung der Gesamtnatur, dem ewigen uns unbekannten Ratschluß Gottes. Dies scheinen einzelne dunkel begriffen zu haben, indem sie behaupten, der Mensch könne zwar gegen den geoffenbarten Willen Gottes sündigen, nicht aber gegen dessen ewigen Ratschluß, nach welchem er alles vorherbestimmt hat.

Es könnte nun aber jemand die Frage aufwerfen: Wie wenn die höchste Gewalt etwas gegen die Religion und den Gehorsam, den wir Gott durch Vertrag ausdrücklich gelobt haben, befehlen sollte? Wem ist da Gehorsam zu leisten, dem göttlichen oder dem menschlichen Befehl? Weil ich indessen dieses im Folgenden eingehend behandeln möchte, sage ich hier nur kurz, daß man Gott über alles gehorchen müsse, da wir eine sichere und unzweifelhafte Offenbarung haben. Weil jedoch gewöhnlich die Menschen über die Religion häufig irren und miteinander wetteifern, je nach der Verschiedenheit ihres Geistes verschiedenes ihr anzudichten, was die Erfahrung genug und übergenug bestätigt, so würde sicherlich das Recht eines Staats von den verschiedenen Urteilen und Leidenschaften seiner Angehörigen abhängig sein, wenn diese der höchsten Gewalt in Angelegenheiten, die ihrer Meinung nach zur Religion gehören, den Gehorsam zu verweigern berechtigt wären. Denn niemand wäre alsdann an das Recht des Staates gebunden, wenn er der Meinung wäre, es stehe im Widerspruch mit seinem Glauben und Aberglauben, und so könnte sich jeder unter diesem Vorwand alles mögliche erlauben. Da also auf diese Weise das Recht des Staates ganz und gar zerstört würde, so folgt, daß der höchsten Gewalt, welcher es nach göttlichem und natürlichem Recht allein zukommt, die Rechte des Staates zu wahren und zu schützen, auch das höchste Recht zusteht, in Religionsangelegenheiten zu bestimmen, was sie für gut hält, und daß jedermann ihren diesbezüglichen Beschlüssen und Anordnungen Gehorsam zu leisten verpflichtet ist, kraft des ihr geleisteten Versprechens der Treue, welches Gott unbedingt zu halten befiehlt.

Sind diejenigen, welche die höchste Staatsgewalt inne haben, Heiden, so muß man eben keinen Vertrag mit ihnen schließen, sondern lieber sich entschließen, das Äußerste zu erdulden, als daß man sein Recht auf sie überträgt. Ist aber der Vertrag bereits geschlossen, und das eigene Recht auf sie übertragen, so muß man, da man sich dadurch des Rechts, sich und seine Religion zu schützen, beraubt hat, ihnen Gehorsam leisten und Treue bewahren, oder sich hierzu zwingen lassen. Eine Ausnahme macht nur, wem Gott durch eine sichere Offenbarung seine besondere Hilfe gegen den Tyrannen verheißen, oder wem Gott ausdrücklich hiervon ausnehmen wollte. So finden wir, daß unter den vielen Juden, welche in Babylon waren, nur drei Jünglinge, welche an Gottes Beistand nicht zweifelten, dem Nebukadnezar den Gehorsam verweigerten. Die übrigen aber, Daniel allein ausgenommen, da ihn der König hoch verehrte, leisteten ohne Zweifel Gehorsam, durch das Recht gezwungen. Vielleicht dachten sie auch, sie seien nach Gottes Ratschluß dem König unterthan, und der König habe die höchste Staatsgewalt inne und behaupte sie durch die göttliche Leitung. Dagegen wollte Eleazar, als sein Vaterland noch bestand, den Seinigen ein Beispiel der Standhaftigkeit geben, damit sie nach seinem Beispiel lieber alles erdulden, als sich gefallen lassen sollten, daß ihr Recht und ihre Macht auf die Griechen übertragen würde, und damit sie alle Mittel anwenden sollten, um den Heiden nicht Treue schwören zu müssen.

Auch die tägliche Erfahrung stimmt damit überein. Die christlichen Machthaber tragen kein Bedenken, zur größeren Sicherheit ihrer Staaten mit den Türken oder Heiden Bündnisse zu schließen und ihren Unterthanen, die sich unter diesen Völkern niederlassen, einzuschärfen, daß sie sich in weltlichen und göttlichen Angelegenheiten nicht mehr Freiheit herausnehmen, als die Verträge ausdrücklich gestatten oder jene Staaten erlauben. Dies zeigt z. B. der Vertrag der Niederländer mit den Japanesen, von welchem oben die Rede war.

Siebzehntes Kapitel.

Es wird gezeigt, daß niemand auf die höchste Gewalt alles übertragen könne und daß dies auch nicht nötig sei. Über den Staat der Hebräer, wie er zu Mose Lebzeiten und wie er nach dessen Tode, vor der Wahl von Königen, beschaffen war; über seine Vorzüge und woher es kam, daß ein göttlicher Staat untergehen konnte und daß so viele Aufstände in ihm vorkamen.


Die Betrachtung des vorigen Kapitels über das Recht der höchsten Gewalten zu allem, und über das auf sie übertragene natürliche Recht des Einzelnen, stimmt zwar mit der Praxis so ziemlich überein, und diese kann gewiß so gehandhabt werden, daß sie derselben mehr und mehr entspricht; dennoch wird sie zu allen Zeiten in vielen Punkten reine Theorie bleiben. Denn kein Mensch wird jemals seine Macht und demgemäß auch sein Recht so auf einen andern übertragen können, daß er aufhört, ein Mensch zu sein; und es wird niemals eine solche höchste Gewalt geben, die alles so, wie sie es will, ausführen kann. Vergebens würde sie einem Unterthan befehlen, denjenigen zu hassen, der ihm Wohlthaten erwiesen, denjenigen zu lieben, der ihm Schaden zugefügt, von Mißhandlungen sich nicht verletzt zu fühlen, von der Furcht sich nicht befreit zu wünschen, und noch vieles andere dieser Art, was aus den Gesetzen der menschlichen Natur mit Notwendigkeit hervorgeht. Ich denke, daß auch die Erfahrung dies sehr deutlich lehrt. Niemals haben Menschen ihr Recht derart abgetreten und ihre Macht auf einen andern derart übertragen, daß die Übertragenden von denen, welchen sie ihr Recht und ihre Macht übertrugen, nicht gefürchtet wurden, und daß nicht die Staatsgewalt mehr von den Bürgern selbst gefährdet wurde, obgleich diese ihres Rechts verlustig waren, als von auswärtigen Feinden. Und fürwahr, wenn die Menschen ihres natürlichen Rechts in dem Umfang beraubt werden könnten, daß sie hernach gar nichts mehr zu thun vermöchten, als was diejenigen wollen, welche das oberste Recht inne haben, dann dürften diese sicherlich ungestraft mit der größten Gewaltthätigkeit über die Unterthanen herrschen, was wohl niemand in den Sinn kommen wird. Man muß also zugeben, daß sich jeder von seinem Rechte vieles zurückbehält, was deshalb bloß von seinem eigenen Entschluß abhängt, nicht von dem eines andern.

Um nun genau zu wissen, wie weit sich das Recht und die Macht der Staatsgewalt erstreckt, ist zu bemerken, daß nicht das allein die Macht der Staatsgewalt ausmacht, daß sie die Menschen durch Furcht zu zwingen vermag, sondern jedes Mittel überhaupt, durch welches sie bewirken kann, daß die Menschen ihren Befehlen gehorchen, bildet ihre Macht. Denn nicht der Grund des Gehorchens, sondern der Gehorsam macht den Unterthan. Aus welchem Grund auch immer sich jemand entschließt, die Befehle der höchsten Gewalt zu vollziehen, ob aus Furcht vor Strafe, ob aus Hoffnung auf einen Vorteil, ob aus Liebe zum Vaterland, oder aus irgend einem inneren Antrieb, er handelt nach dem Befehle der höchsten Gewalt, obgleich er sich aus eigener Erwägung dazu entschlossen hat. Man darf also daraus, daß jemand aus eigenem Entschluß etwas thut, nicht sofort folgern, daß er nach seinem Rechte, nicht nach dem der Staatsgewalt handelt. Denn wenn der Mensch immer nach eigener Erwägung und Entschließung handelte, mag ihn die Liebe dazu gedrängt oder die Furcht vor einem Übel dazu genötigt haben, so würde es entweder keine Staatsgewalt geben und keinerlei Recht über die Unterthanen, oder dieses muß sich notwendig auf alles erstrecken, wodurch bewirkt werden kann, daß die Menschen sich entschließen, der Staatsgewalt gehorsam zu sein. Handlungen der Unterthanen also, welche den Geboten der höchsten Gewalt entsprechen, geschehen nach dem Rechte der Staatsgewalt, nicht nach dem eigenen Rechte des Handelnden, mag nun die Liebe dazu antreiben, oder Furcht dazu nötigen, oder (was noch häufiger vorkommt) Hoffnung und Furcht zugleich im Spiele sein, mag Ehrfurcht, welche ein aus Furcht und Bewunderung gemischtes Gefühl ist, oder irgend etwas anderes der Beweggrund sein.

Es ergiebt sich dies auch aufs klarste daraus, daß der Gehorsam nicht sowohl die äußere, als vielmehr die innerliche Handlung der Seele betrifft. Darum steht derjenige am meisten unter der Herrschaft eines andern, der bereit ist, mit ganzem Herzen allen seinen Geboten zu gehorchen, und folglich hat die größte Gewalt, wer über die Herzen der Unterthanen herrscht. Hätten diejenigen die größte Gewalt, die am meisten gefürchtet werden, so würden sicherlich die Unterthanen eines Tyrannen die größte Gewalt haben, da sie von ihren Tyrannen am meisten gefürchtet werden. Wenn es ferner auch nicht möglich ist, die Herzen ebenso wie die Zungen zu beherrschen, so stehen dennoch auch die Herzen in gewisser Beziehung unter der Herrschaft der höchsten Gewalt, da ihr viele Mittel zu Gebote stehen, um es dahin zu bringen, daß sehr viele Menschen glauben, lieben, hassen u. s. w., was sie will. Es wird dies freilich nicht geradezu von der obersten Gewalt befohlen, allein es wird, wie eine reiche Erfahrung lehrt, durch die Autorität ihrer Macht und durch ihre Regierung, d. h. durch ihr Recht, bewirkt. Ohne daß sich unser Verstand dagegen sträubt, können wir uns daher Menschen denken, welche lediglich dem Recht der Staatsgewalt zufolge lieben, hassen, verachten, überhaupt zu jeder Gefühlsweise erregt werden.

Obgleich nun aber nach meiner Auffassung das Recht und die Macht der Staatsgewalt sehr ausgedehnt ist, so wird dasselbe doch nie und nirgends so groß sein, daß die Inhaber derselben die unbeschränkte Macht zu allem haben, was sie wollen; was ich bereits deutlich genug gezeigt zu haben glaube. Auf welche Weise aber die Staatsgewalt eingerichtet werden müsse, um trotzdem jederzeit gesichert zu bleiben, habe ich nicht im Sinne auseinanderzusetzen, wie ich schon oben bemerkt habe. Um aber zu meinem Ziele zu kommen, werde ich auf dasjenige aufmerksam machen, was zu gedachtem Zweck die göttliche Offenbarung dem Moses einst gelehrt hat, sodann will ich die Geschichte der Hebräer und ihren Verlauf in Betracht ziehen, um schließlich daraus zu entnehmen, was den Unterthanen von den höchsten Gewalten hauptsächlich eingeräumt werden müsse, damit die Staatsgewalt möglichst sicher sein und gedeihen könne.

Vernunft und Erfahrung lehren aufs deutlichste, daß die Erhaltung der Staatsgewalt ganz besonders abhängig ist von der Treue der Unterthanen, ihrer Tugend und festen Gesinnung, im Befolgen der Gesetze. Auf welche Weise aber die Unterthanen geleitet werden müssen, damit sie in Treue und Tugend standhaft seien, ist nicht so leicht ersichtlich. Denn beide Teile, die Regierenden wie die Regierten sind Menschen, also Wesen, welchen das Vergnügen lieber ist als die Arbeit. Ja man möchte beinahe an dieser Ausgabe verzweifeln, wenn man den mannigfach schwankenden Sinn der Menge kennen gelernt hat. Denn sie wird nicht von der Vernunft, sondern von den Neigungen beherrscht, läßt sich zu allem blindlings hinreißen und wird ebenso leicht vom Geiz wie von der Verschwendung gepackt. Jeder hält sich für den Gescheitesten und will alles nach seinem Kopfe eingerichtet haben, gut und schlecht, gerecht und ungerecht heißt etwas nur, sofern es zum eigenen Nutzen oder Schaden ausschlägt, aus Eitelkeit verachtet man seinesgleichen und läßt sich von niemand Anleitung geben, neidisch auf das größere Ansehen oder das größere Glück des andern (das doch niemals gleich ist) wünscht man ihm Böses und freut sich, wenn ihm Böses widerfährt. Ich brauche nicht alles aufzuzählen, denn jedermann weiß, zu welchem Verbrechen der Widerwille gegen das Wirkliche und die Sucht nach Neuerungen, zu was Jähzorn, zu was Scheu vor Armut die Menschen so häufig verleiten, und wie heftig diese Schwächen ihre Seelen ergreifen und aufregen.

Allem diesem vorzubeugen und die Staatsgewalt so zu gestalten, daß dem Betrug kein Raum bleibt, ja sogar alles so einzurichten, daß jedermann, wie auch seine Sinnesart beschaffen ist, das öffentliche Recht höher stellt als den eigenen Nutzen, das ist die Aufgabe, das die Kunst. Das Bedürfnis hat zwar genötigt, allerlei zu ersinnen, aber man hat es noch niemals so weit gebracht, daß die Staatsgewalt von den Bürgern nicht mehr gefährdet wäre, als von auswärtigen Feinden, und daß die Regierung jene nicht mehr als diese fürchtete. Einen Beleg giebt der von Feinden nie besiegte Römerstaat, der so oft von seinen Bürgern besiegt und schwer bedrängt wurde, ganz besonders im Bürgerkrieg des Vespasian gegen Vitellius. Siehe hierüber Tacitus im Anfang des 4. Buches seiner Geschichte, wo er den jammervollen Anblick der Stadt schildert. Alexander (sagt Curtius am Schluß des 8. Buches) schlug seinen Ruhm bei dem Feinde nicht so hoch an, als den bei den Bürgern, weil er dachte, daß seine Größe von diesen leicht verkannt werden könne. Und sein Verhängnis fürchtend, bittet er seine Freunde: »Stellet ihr mich nur gegen die heimische Arglist und die Fallstricke meiner Umgebung sicher; in die Gefahren der Kriege und Schlachten ziehe ich furchtlos. Philipp war im Treffen sicherer, als im Theater, den Händen seiner Feinde ist er oft entgangen, denen seiner Angehörigen vermochte er nicht auszuweichen. Auch wenn ihr an das Ende anderer Könige denket, werdet ihr mehr solche zählen, die von den ihrigen, als solche, die von Feinden umgebracht wurden.« (S. Qu. Curtius, Buch 9, § 6.)

Aus diesem Grunde haben früher Könige, welche die Herrschaft gewaltsam an sich gerissen, ihrer Sicherheit wegen ihren Unterthanen einzureden gesucht, sie leiteten ihr Geschlecht von den unsterblichen Göttern ab. Sie glaubten nämlich, ihre Unterthanen und andere würden sich lieber von ihnen regieren lassen und sich ihnen bereitwilliger unterwerfen, wenn sie von diesen nicht als ihresgleichen betrachtet, sondern für Götter gehalten würden. So hat Augustus den Römern eingeredet, er stamme von Aeneas ab, der für einen Sohn der Venus gehalten und zu den Göttern gezählt wurde. Er wollte auch haben, daß man ihm in Tempeln ein Götterbildnis errichte und ihn in diesem durch Priester verschiedener Gattungen verehren lasse. (Tacitus, Annalen, 1. Buch.) Alexander wünschte, daß man ihm als Sohn Jupiters huldigen solle. Es geschah dies wohl nicht aus Hochmut, sondern er hatte dazu seine besondere Absicht, wie seine Antwort auf den Vorwurf des Hermolaus zeigt. »Es war«, sagte er, »beinahe zum Lachen, daß Hermolaus von mir verlangte, ich sollte Jupiter den Rücken kehren, durch dessen Orakel ich doch anerkannt werde. Ist denn auch der Ausspruch der Götter in meiner Gewalt? Jupiter hat mir den Namen des Sohnes angeboten, ihn anzunehmen (wohlgemerkt!) war nach den Thaten, die ich vollbracht habe, ganz am Platze. Möchten mich doch auch die Inder für einen Gott halten! Auf dem Ruhm beruht der Krieg und oft schon hat das fälschlich Geglaubte die Stelle der Wahrheit vertreten.« (Curtius, Buch 8, § 8.) Den Grund der Täuschung hat er damit angedeutet. Das Gleiche that Kleon in seiner Rede, mit welcher er die Macedonier zu überreden suchte, ihrem König beizustimmen. Er hatte voll Bewunderung von Alexanders Ruhmesthaten erzählt und seine Verdienste aufgezählt und der Täuschung damit einen Schein von Wahrheit gegeben, worauf er auf ihre Nützlichkeit zu sprechen kommt, indem er fortfährt: »Die Perser handeln nicht bloß fromm, sondern auch klug, daß sie ihre Könige als Götter verehren. Denn die Majestät ist der Schutzgeist der Wohlfahrt«, und er schließt: »Er selbst werde, wenn der König das Mahl eröffnet haben wird, sich zur Erde niederwerfen. Das Gleiche müßten die andern thun, und ganz besonders die, welche mit Weisheit begabt seien.« (S. ebendaselbst Buch 8, § 5.) Aber die Macedonier waren klüger; und Menschen, die nicht ganz ungebildet sind, lassen sich nicht von einem so offenbaren Betrug täuschen und aus Unterthanen zu Sklaven machen, die nur für andere da sind. Andere aber ließen sich leichter bereden, die Majestät sei heilig und vertrete die Stelle Gottes auf Erden, sie sei von Gott, nicht von der Wahl und Zustimmung der Menschen eingesetzt, und werde durch besonderes Walten der Vorsehung und besonderen Schutz Gottes erhalten und geschützt. Noch manches andere dieser Art haben die Monarchen zur Sicherung ihrer Herrschaft ausgesonnen. Ich gehe jedoch nicht weiter darauf ein, und wende mich zu meiner Aufgabe. Ich werde wie gesagt nur das anführen und behandeln, was zu gedachtem Zweck die göttliche Offenbarung einst dem Moses gelehrt hat.

Schon oben im 5. Kapitel habe ich gesagt, daß die Hebräer nach dem Auszug aus Egypten an kein Recht irgend einer Nation gebunden waren, sondern nach Belieben ein neues Recht aufstellen und Länder einnehmen konnten, welche sie wollten. Denn nachdem sie von dem unerträglichen Druck der Egypter befreit und keinem Sterblichen durch einen Vertrag verpflichtet waren, hatten sie ihr natürliches Recht zu allem, was sie vermochten, wieder erlangt, und jeder von ihnen konnte von neuem überlegen, ob er dasselbe behalten oder aber es abtreten und auf einen andern übertragen solle. In diesem natürlichen Zustande also beschlossen sie, auf den Rat des Moses, zu welchem alle das größte Vertrauen hatten, ihr Recht auf keinen Sterblichen, sondern nur auf Gott zu übertragen, und ohne lange zu zögern, gelobten sie alle einmütig und einstimmig, Gott in allen seinen Geboten unbedingten Gehorsam zu leisten und kein anderes Recht anzuerkennen, als was Gott selbst durch prophetische Offenbarung als Recht aufstellen werde. Dieses Gelöbnis oder diese Rechtsübertragung auf Gott ist ganz auf dieselbe Weise geschehen, wie es nach unsrer obigen Ausführung in der bürgerlichen Gesellschaft geschieht, wenn sich die Menschen entschließen, ihr natürliches Recht abzutreten. Denn ausdrücklich haben sie durch Vertrag (s. 2. Buch Mose Kap. 24, V. 7) und Eid freiwillig, ohne durch Gewalt gezwungen oder durch Drohung eingeschüchtert gewesen zu sein, ihr natürliches Recht abgetreten und auf Gott übertragen. Damit ferner dieser Vertrag giltig und fest und kein Verdacht des Betrugs obwalten sollte, hat Gott nicht eher etwas mit ihnen ausgemacht, als bis sie seine wunderbare Macht erfahren hatten, durch welche einzig und allein sie bis dahin erhalten worden waren und in Zukunft erhalten werden konnten. (S. 2. Buch Mose Kap. 19, V. 4 und 5.) Denn eben weil sie glaubten, daß sie durch Gottes Macht allein erhalten werden konnten, haben sie ihre gesamte natürliche Macht, sich zu erhalten, die sie früher in sich selbst zu haben geglaubt haben mochten, auf Gott übertragen, und damit auch ihr gesamtes Recht.

Gott allein war daher der alleinige Inhaber der Staatsgewalt der Hebräer und daher wurde der jüdische Staat allein, kraft dieses Vertrags, mit Recht ein Reich Gottes genannt, und Gott ebenfalls mit Recht König der Hebräer. Folgerichtig waren auch die Feinde dieses Staats Feinde Gottes, die Bürger, welche diese Staatsgewalt an sich reißen wollten, machten sich der Beleidigung der göttlichen Majestät schuldig, und die Rechte des Staats waren Rechte und Gebote Gottes. Deshalb waren in diesem Reiche das bürgerliche Recht und die Religion, die, wie gezeigt worden, lediglich im Gehorsam gegen Gott bestand, eins und dasselbe; indem die Glaubenssätze der Religion nicht als Lehren, sondern als Gesetze und Befehle aufgestellt wurden und die Frömmigkeit als Gerechtigkeit, die Gottlosigkeit als Verbrechen und Ungerechtigkeit betrachtet wurde. Wer von der Religion abfiel, hörte damit auf, ein Bürger dieses Reichs zu sein und wurde für einen Feind gehalten; wer aber für die Religion starb, starb für das Vaterland. Überhaupt wurde zwischen bürgerlichem Recht und Religion nicht der geringste Unterschied gemacht. Aus diesem Grunde konnte der Staat der Hebräer eine Theokratie genannt werden, weil für seine Bürger kein anderes Recht Geltung hatte, als das von Gott geoffenbarte.

Das alles aber beruhte mehr auf der Meinung als aus der Wirklichkeit. Denn tatsächlich war das Recht der Staatsgewalt ganz und gar im Besitze der Hebräer, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird, nämlich aus der Art und Weise, wie der Staat verwaltet wurde, welche nun erörtert werden soll.

Da die Hebräer ihr Recht auf keinen andern übertrugen, sondern alle, wie in einer Demokratie, ihr Recht in gleicher Weise abtraten, und wie aus einem Munde riefen: Was Gott spricht (ein Vermittler wurde nicht namhaft gemacht) wollen wir thun, so folgt, daß nach diesem Vertrag alle einander völlig gleich blieben, alle das gleiche Recht hatten, Gott zu befragen, Gesetze zu empfangen und auszulegen, und überhaupt in der ganzen Verwaltung des Staates jeder gleichberechtigt war. Aus diesem Grunde traten erstmals alle insgesamt vor Gott hin, um zu hören, was er befehlen wolle. Bei dieser ersten Huldigung aber erschraken sie so sehr und der redende Gott machte auf sie einen so verblüffenden Eindruck, daß sie ihr Ende nahe glaubten. Angsterfüllt wendeten sie sich an Moses mit den Worten: »Siehe, wir haben Gott reden gehört aus dem Feuer, weshalb sollten wir sterben? Dieses große Feuer wird uns gewiß verzehren. Wenn wir die Stimme Gottes noch einmal hörten, müßten wir sicherlich sterben. Wohlan, tritt du hinan und höre alles, was unser Gott sagt und rede du (nicht Gott) mit uns. Wir wollen allem gehorchen, was Gott dir sagen wird, und alles vollziehen.« Damit hatten sie offenbar den ersten Vertrag aufgehoben und ihr Recht, Gott zu befragen und seine Gebote auszulegen, vollständig auf Moses übertragen. Denn hier gelobten sie nicht wie vorher, allem zu gehorchen, was Gott, sondern was Moses zu ihnen sprechen würde. (S. 5. Buch Mose Kap. 5 nach den zehn Geboten, und Kap. 18, V. 15 und 16.) Moses allein blieb hiernach göttlicher Gesetzgeber und Gesetzausleger, und damit auch oberster Richter, den niemand richten konnte und der allein bei den Hebräern die Stelle Gottes, d. h. die höchste Majestät vertrat; da er allein das Recht hatte, Gott zu befragen, dem Volke die göttlichen Antworten zu überbringen und es zu zwingen, denselben zu gehorchen. Ich sage: er allein; denn wenn jemand bei Mose Lebzeiten im Namen Gottes etwas hätte verkünden wollen, war er, auch wenn er ein wahrer Prophet gewesen wäre, ein Verbrecher, der das höchste Recht gewaltthätig an sich riß. (S. 4. Buch Mose Kap. 11, V. 28.)

Es muß hier bemerkt werden, daß das Volk, obgleich es Moses gewählt hatte, einen Nachfolger an Stelle des Moses von Rechts wegen nicht wählen konnte. Denn damit daß sie ihr Recht, Gott zu befragen, auf Moses übertragen und unbedingt gelobt hatten, ihn als göttliches Orakel anzuerkennen, gingen sie ihres ganzen Rechtes verlustig, und sie mußten denjenigen, welchen Moses zu seinem Nachfolger wählte, als einen von Gott gewählten anerkennen. Hätte Moses bei der Wahl seines Nachfolgers bestimmt, daß dieser, wie er selbst, die ganze Verwaltung des Staates inne haben sollte, daß er also allein das Recht haben sollte, Gott in seinem Zelte zu befragen, und damit auch die Autorität, Gesetze zu geben und abzuschaffen, über Krieg und Frieden zu beschließen, Gesandte zu ernennen, Richter einzusetzen, einen Nachfolger zu wählen und alle Geschäfte einer unbeschränkten höchsten Gewalt zu vollziehen, so wäre der Staat ein rein monarchischer gewesen, mit dem einzigen Unterschied, daß ein anderer monarchischer Staat nach dem Willen Gottes, der aber dem Monarchen selbst verborgen ist, der Hebräerstaat aber nach dem Willen Gottes, welcher nur dem Monarchen bekannt ist, auf bestimmte Weise regiert wurde, beziehungsweise hätte regiert werden müssen. Dieser Unterschied vermindert keineswegs die Herrschaft des Monarchen und sein Recht zu allem, sondern vermehrt sie vielmehr. Übrigens ist in beiden Staatsformen das Volk gleich unfrei und des göttlichen Willens unkundig. Denn in der einen wie in der andern ist alles von dem Munde des Monarchen abhängig und von ihm allein erfährt das Volk, was recht und was unrecht ist, und wenn das Volk glaubt, der Monarch befehle nur, was ihm von Gott geoffenbart worden, so ist es deswegen dem Monarchen keineswegs weniger unterthan, sondern im Gegenteil nur desto mehr.

Indessen hat Moses keinen solchen Nachfolger gewählt sondern er hinterließ den Nachfolgern den Staat derart, daß man ihn weder einen demokratischen, noch einen aristokratischen, noch einen monarchischen, sondern nur einen theokratischen nennen konnte. Denn in demselben hatte der eine das Recht, die Gesetze auszulegen und die Aussprüche Gottes mitzuteilen, der andere das Recht und die Macht, den Staat nach den Gesetzen und göttlichen Antworten, wie sie von jenem ausgelegt und mitgeteilt worden, zu verwalten. Hierüber s. 4. Buch Mose Kap. 27, V. 21. Um dies klarer zu machen, will ich die ganze Verwaltung des Staats ordnungsgemäß beschreiben.

Zuerst erhielt das Volk den Befehl, ein Haus zu bauen, das gleichsam die Residenz Gottes oder der höchsten Majestät dieses Staates sein sollte. Dasselbe wurde nicht auf Kosten einzelner, sondern des ganzen Volkes erbaut, damit das Haus, worin Gott befragt wurde, Gemeingut wäre. Zu Hofleuten und Verwaltern des göttlichen Hofes wurden die Leviten ernannt. Ihnen wurde Aaron, des Moses Bruder, zum Obersten vorgesetzt, gleichsam als der erste nach dem König-Gott, und zu seinen gesetzmäßigen Nachfolgern wurden seine Söhne bestimmt. Aaron, als der erste nach Gott, war also oberster Ausleger der göttlichen Gesetze, und zugleich die Person, welche dem Volke die Antworten des göttlichen Orakels übermittelte und ferner für das Volk zu Gott betete. Hätte er auch noch das Recht, Befehle zu erteilen, gehabt, so würde ihm zu einem unbeschränkten Monarchen nichts gefehlt haben. Allein dieses Recht besaß er nicht, wie denn überhaupt der ganze Stamm Levi vom gesamten Staatswesen dermaßen ausgeschlossen war, daß er mit den andern Stämmen nicht einmal so viel Anteil am Lande erhielt, als er von Rechts wegen hätte beanspruchen können, um wenigstens leben zu können. Es wurde vielmehr bestimmt, daß dieser Stamm von dem übrigen Volke ernährt werden sollte, so zwar, daß er stets vom ganzen Volke hoch in Ehren zu halten wäre, als ein Gott geweihter Stamm.

Aus den übrigen zwölf Stämmen wurde sodann ein Kriegsheer gebildet und demselben befohlen, das Land der Kananiter anzugreifen, dasselbe in zwölf Gebiete zu teilen und diese unter den Stämmen durch das Los zu verteilen. Zu diesem Behufe wurden zwölf Häupter gewählt, einer aus jedem Stamm, welchen zugleich mit Josua und dem Hohenpriester Eleasar das Recht verliehen wurde, das Land in zwölf gleiche Teile einzuteilen und zu verlosen. Zum obersten Feldherrn aber wurde Josua ernannt, dem allein das Recht zustand, in unvorhergesehenen Angelegenheiten Gott zu befragen, aber nicht wie Moses selbständig in seinem Zelt oder in der Stiftshütte, sondern durch den Hohenpriester, welchem allein von Gott Antworten erteilt wurden. Ferner war Josua ermächtigt, die von dem Priester vernommenen Befehle Gottes bekannt zu geben und das Volk zu ihrer Befolgung zu nötigen, Mittel zu deren Ausführung auszusinnen und anzuwenden, aus dem Heere so viel und welche er wollte, auszuheben, Gesandte in seinem Namen auszusenden, dies alles und überhaupt das ganze Kriegsrecht hing lediglich von seinem Beschluß ab.

Josua hatte keinen durch Gesetz bestimmten Nachfolger, ein solcher wurde von niemand als von Gott unmittelbar gewählt, und zwar erst, wenn die Not des gesamten Volkes dies notwendig machte; im übrigen wurden alle Angelegenheiten des Kriegs und Friedens von den Stammhäuptern verwaltet, wie ich bald zeigen werde.

Endlich befahl Moses, daß alle Bürger, vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Lebensjahr, zum Kriegsdienst ausgehoben werden sollen, und daß die Regimenter aus dem Volke allein zu bilden seien, welches nicht dem Feldherrn oder Hohenpriester, sondern der Religion oder Gott den Eid der Treue leistete. Sie wurden die Heerscharen oder Schlachtreihen Gottes genannt, wie Gott wiederum bei den Hebräern Gott der Heerscharen hieß. Aus diesem Grunde führte man die Bundeslade bei großen Schlachten, von deren Ausgang des ganzen Volkes Sieg oder Niederlage abhing, in der Mitte des Heeres; weil so das Volk seinen König gleichsam unter sich sah und dadurch angefeuert wurde, mit allen Kräften zu kämpfen.

An diesen von Moses seinen Nachfolgern gegebenen Verordnungen läßt sich leicht erkennen, daß er sie als Verwalter, aber nicht als Herrscher des Staats gewählt hat. Denn er gab niemand das Recht, selbständig und wo er wolle, Gott zu befragen, und folglich verlieh er auch niemand die Autorität, die er selbst hatte, Gesetze aufzustellen und aufzuheben, über Krieg und Frieden zu beschließen, und Verwalter sowohl des Tempels als der Städte zu wählen, was lauter Befugnisse des Inhabers der höchsten Staatsgewalt sind. Denn der Hohepriester hatte zwar das Recht, die Gesetze auszulegen und die Antworten Gottes zu erteilen, aber nicht wie Moses so oft er wollte, sondern nur auf Befragen des Feldherrn, des höchsten Rats, und dergl. Der erste Feldherr und der Rat hinwiederum konnten Gott befragen, so oft sie wollten, allein sie erhielten Gottes Antworten nur durch den Hohenpriester. Daher waren die Aussprüche Gottes aus dem Munde des Hohenpriesters keine gesetzlichen Befehle, wie die aus dem Munde des Moses, sondern nur Antworten; erst nachdem sie von Josua und dem Rat angenommen waren, erhielten sie Gesetzeskraft. Ferner hatte der Hohepriester, welcher Gottes Antworten von Gott empfing, nicht das Heer unter sich und besaß keine Staatsgewalt, wie auf der andern Seite diejenigen, welche das Land nach dem Recht besaßen, nicht berechtigt waren, Gesetze aufzustellen.

Ferner war der Hohepriester, Aaron sowohl wie sein Sohn Eleazar, zwar von Moses gewählt worden, doch hatte nach dem Tode des Moses niemand das Recht, einen Priester zu wählen, sondern der Sohn war der rechtmäßige Nachfolger des Vaters. Auch als Feldherr war Josua von Moses gewählt worden, und der Hohepriester setzte ihn als Feldherrn ein, nicht kraft des dem Hohenpriester verliehenen Rechtes, sondern kraft des Rechtes, welches Moses besaß, der ihn dazu ermächtigte. Daher wählte der Priester nach Josuas Tode niemand an dessen Stelle. Auch die Stammhäupter befragten Gott nicht über einen neuen Feldherrn, sondern jeder von ihnen besaß nunmehr das Recht des Josua über die Heeresabteilung seines Stammes und alle zusammen besaßen dasselbe über das gesamte Heer. Wie es scheint, hatten sie auch keinen obersten Feldherrn nötig, außer wenn sie mit vereinten Kräften gegen einen gemeinschaftlichen Feind kämpfen mußten, und dies war hauptsächlich zu Josuas Zeit der Fall, da sie damals noch keinen festen Wohnsitz hatten und alles noch gemeinschaftlich war. Nachdem aber alle Stämme die durch das Kriegsrecht in Besitz genommenen Länder und die, welche sie ferner erobern sollten, unter sich geteilt hatten, und nicht mehr alles allen gehörte, war kein Grund für einen gemeinschaftlichen Feldherrn mehr vorhanden, da die verschiedenen Stämme seit dieser Teilung nicht sowohl für Volksgenossen als vielmehr für Verbündete zu halten waren. In Bezug auf Gott und die Religion waren sie zwar als Volksgenossen anzusehen; in Bezug auf die gegenseitigen Rechtsverhältnisse hingegen waren die einzelnen Stämme bloße Verbündete; etwa so, wenn von dem gemeinsamen Tempel abgesehen wird, wie die Vereinigten Staaten der Niederlande. Denn die Teilung einer gemeinsamen Sache in einzelne Teile heißt nichts anderes, als daß jeder nunmehr seinen Teil allein besitzt und die andern des Rechts, das sie auf diesen Teil hatten, sich begeben.

Aus diesem Grunde wählte Moses Stammhäupter, von denen jeder nach der Teilung des Reichs für seinen Teil zu sorgen hatte; sein Amt war es, Gott durch den Hohenpriester über Angelegenheiten, die seinen Stamm betrafen, zu befragen, seine Truppen zu befehligen, Städte zu bauen und zu befestigen, Richter in jeder Stadt einzusetzen, gegen die Feinde seines Gebiets zu kämpfen und überhaupt alle Geschäfte des Kriegs und des Friedens zu verwalten. Der Stamm brauchte auch keinen andern Richter anzuerkennen, als Gott selbst, oder einen von Gott eigens gesendeten Propheten. Fiel er aber von Gott ab, so konnte er von den andern Stämmen nicht als Unterthan gerichtet, sondern als vertragsbrüchiger Feind bekriegt werden.

Davon haben wir in der Bibel Beispiele. Nach Josuas Tod nämlich wurde von den Kindern Israels, nicht von dem neuen Oberfeldherrn, Gott befragt. Als sie nun vernahmen, daß der Stamm Juda unter allen Stämmen zuerst seinen Feind bekriegen sollte, verband sich dieser mit dem Stamm Simon allein, um gemeinschaftlich den beiderseitigen Feind zu bekriegen. Die übrigen Stämme waren diesem Bündnis nicht beigetreten, (s. Buch der Richter Kap. 1, 2 und 3,) vielmehr führte jeder Stamm besonders Krieg mit seinem Feinde (wie das erwähnte Kapitel berichtet) und jeder unterwarf sich wen er wollte und schloß ein Bündnis mit wem er wollte, obgleich befohlen worden war, niemand unter keinerlei Vertragsbedingung zu schonen, sondern alle auszurotten. Wegen dieses Fehltritts werden sie zwar getadelt, aber von niemand gerichtlich zu Verantwortung gezogen. Auch lag kein Grund vor, deshalb miteinander Krieg anzufangen und sich in die Angelegenheiten eines andern Stammes zu mischen. Im Gegenteil machten sie einen feindlichen Angriff auf die Benjaminiten, weil diese die übrigen Stämme beleidigt und das Band des Friedens dermaßen zerrissen hatten, daß kein Glied der verbündeten Stämme sichern Aufenthalt bei ihnen nehmen konnte. In drei Schlachten bekämpften sie die Benjaminiten und als sie endlich in der dritten den Sieg erfochten hatten, metzelten sie dieselben nach dem Kriegsrecht nieder, die Unschuldigen ebenso wie die Schuldigen, was sie hernach zu spät bitter bereuten. Die Beispiele bestätigen vollständig, was ich über das Recht der einzelnen Stämme gesagt habe.

Vielleicht fragt nun aber jemand, wer denn die Nachfolger der einzelnen Stammhäupter gewählt habe. Hierüber erfahren wir indessen aus der Bibel selbst nichts Bestimmtes; doch vermute ich, daß der älteste unter den Familienhäuptern der rechtmäßige Nachfolger des Stammesoberhaupts war, da bekanntlich jeder Stamm in Familien abgeteilt war, deren Häupter aus den ältesten Leuten der Familie gewählt wurden. Zu dieser Vermutung berechtigt der Umstand, daß Moses aus den ältesten Leuten siebzig Beiräte wählte, die zusammen mit ihm den höchsten Rat bildeten. Diejenigen Personen nun, welche nach Josuas Tode das Reich verwalteten, heißen in der Bibel »die Ältesten«, und außerdem werden im Hebräischen sehr häufig die Richter als »die Ältesten« bezeichnet, was wohl jeder weiß.

Indessen ist es für meinen Gegenstand von keiner Bedeutung, Gewißheit darüber zu haben. Es genügt, gezeigt zu haben, daß nach dem Tode des Moses nicht eine einzelne Person alle Ämter des obersten Befehlhabers in sich vereinigt hat. Denn da weder von einer Einzelperson, noch von einem einzelnen Rat, noch auch von dem Beschluß des Gesamtvolks alles abhing, sondern manches von einem Stamm, anderes von den übrigen, bei gleicher Berechtigung jedes einzelnen Stammes, verwaltet wurde, so ist die Folgerung einleuchtend, daß das Reich seit dem Tode des Moses weder monarchisch, noch aristokratisch, noch demokratisch war, sondern wie gesagt theokratisch: 1) weil der Reichspalast der Tempel war und nur in Bezug auf ihn, wie schon hervorgehoben, alle Stämme Glieder desselben Staats waren; 2) weil alle Bürger Gott, als ihrem obersten Richter, Treue schwören mußten; 3) endlich, weil der oberste Feldherr, wenn die Wahl eines solchen nötig war, von niemand als von Gott allein gewählt wurde. Dies hat Moses dem Volke im Namen Gottes ausdrücklich verkündet, im 5. Buch Mose Kap. 19, V. 15, und thatsächlich bezeugt es die Wahl Gideons, Simsons und Samuels. Kein Zweifel daher, daß auch die andern gottergebenen Führer auf dieselbe Weise gewählt wurden, wenn auch in der biblischen Geschichte nichts darüber verlautet.

Nachdem dieses klargestellt, ist es Zeit, danach zu sehen, inwieweit diese Art der Staatsverfassung fähig war, die Geister zu zügeln und die Regierenden wie die Regierten im Zaume zu halten und zu verhüten, daß diese Rebellen, jene Tyrannen wurden.

Die Personen, welche die Staatsgewalt verwalten oder inne haben, suchen allen Schlechtigkeiten, die sie verüben, einen Schein des Rechts zu verleihen und dem Volk einzureden, daß ihre Handlungsweise eine ehrenwerte sei; was ihnen leicht gelingt, da die ganze Auslegung des Gesetzes nur von ihnen abhängt. Unzweifelhaft ist eben dieser Umstand die Ursache, daß sie sich die größte Freiheit zu allem, was sie wollen und ihre Begierde ihnen eingiebt, herausnehmen, während sie an dieser Freiheit beträchtlich geschmälert werden, wenn das Recht, die Gesetze auszulegen, jemand anders zusteht, und wenn zugleich die Gesetze in einer jedermann einleuchtenden Weise ausgelegt werden, so daß über die Richtigkeit der Auslegung niemand im Zweifel sein kann. Hieraus erhellt, daß die Staatsoberhäupter der Hebräer weit weniger Gelegenheit hatten, Unthaten zu verüben durch den Umstand, daß das Recht, die Gesetze auszulegen, gänzlich den Leviten übertragen war, (s. 5. Buch Mose Kap. 21, V. 5,) die weder an der Staatsverwaltung noch an dem Grund und Boden einen Anteil hatten, gleich den übrigen Stämmen, und deren Glück und Ehre von der wahren Auslegung der Gesetze abhing. Ferner dadurch, daß dem gesamten Volke geboten war, alle sieben Jahre an einem bestimmten Ort sich zu versammeln, wo es von dem Priester über das Gesetz belehrt werden sollte, und daß überdies jahraus jahrein jedermann für sich das Buch des Gesetzes mit größter Aufmerksamkeit lesen und wieder lesen sollte. (S. 5. Buch Mose Kap. 31, V. 9 etc. und Kap. 6, V. 7.) Die Staatsoberhäupter mußten also schon um ihrer selbst willen sehr darauf bedacht sein, in der ganzen Verwaltung das geschriebene und jedermann hinlänglich verständliche Gesetz sich zur Richtschnur zu nehmen, wenn sie bei dem Volke in hohem Ansehen stehen wollten. Thaten sie das, so ehrte sie das Volk als Verwalter des göttlichen Reichs und Stellvertreter Gottes; thaten sie es nicht, so konnten sie dem glühendsten Hasse des Volkes, wie gewöhnlich der theologische ist, nicht entgehen.

Um die zügellose Willkür der Staatsoberhäupter einzuschränken, kam noch eine andere Einrichtung von großer Wichtigkeit hinzu, nämlich daß das Heer aus allen Bürgern (vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Lebensjahr ohne Ausnahme) gebildet wurde, und daß die Staatsoberhäupter keine fremden Söldlinge im Heer aufnehmen durften. Dies, sage ich, war von großer Wichtigkeit; denn es ist gewiß, daß die Fürsten nur durch Truppen, denen sie Sold bezahlen, ihr Volk unterdrücken können, und daß sie nichts mehr fürchten, als eine freie Bürgerwehr, durch deren Tapferkeit, Anstrengung und Blut die Freiheit und der Ruhm des Vaterlandes errungen worden ist. Deshalb hat Alexander, als er zum zweitenmal gegen Darius kämpfen wollte und den Rat des Parmenion vernommen hatte, nicht diesen gescholten, welcher den Rat gab, sondern den Polysperchon, der mit jenem übereinstimmte. Denn, wie Curtius im 4. Buch, 13 sagt, Alexander getraute sich nicht, den Parmenion, den er erst kurz vorher heftiger als es seine Absicht war angefahren hatte, nochmals zu kränken. Auch konnte er die Freiheit der Macedonier, die er, wie schon erwähnt, am meisten fürchtete, nicht eher unterdrücken, als bis er die Zahl der aus den Gefangenen genommenen Soldaten so vermehrt hatte, daß sie die Zahl der macedonischen Truppen überstieg; erst dann konnte er seiner ungestümen, durch den Freiheitssinn der besten Bürger lange eingeschränkten Willkür den Zügel schießen lassen. Wenn also dieser Freiheitssinn einer Bürgerwehr schon die Fürsten eines weltlichen Staats, welche den ganzen Ruhm erfochtener Siege sich allein anzumaßen pflegen, in Schranken hält, um wie viel mehr mußte derselbe die Staatsoberhäupter der Hebräer in Schranken halten, deren Truppen nicht für den Ruhm eines Fürsten, sondern für die Ehre Gottes kämpften und erst nach Empfang der göttlichen Antwort eine Schlacht unternahmen.

Es kam weiter hinzu, daß alle Oberhäupter der Hebräer durch das Band der Religion mit den andern verbunden waren. Wenn einer von ihr abgefallen wäre und begonnen hätte, das göttliche Recht der Einzelnen zu verletzen, so konnte er dadurch von den übrigen als Feind betrachtet und rechtmäßig unterdrückt werden.

Es kam drittens hinzu die Furcht vor irgend einem neuen Propheten. Bewies nämlich ein Mann von tadellosem Lebenswandel durch gewisse bewährte Zeichen, daß er ein Prophet sei, so hatte er damit das höchste Recht, Befehle zu erteilen, erlangt. Er konnte dies nämlich so wie Moses, im Namen des ihm allein geoffenbarten Gottes, nicht bloß wie die Staatsoberhäupter im Namen des durch den Priester befragten Gottes.

Dazu kam viertens, daß das Staatsoberhaupt vor andern Bürgern weder durch Adel noch durch Erbrecht einen Vorzug hatte, und die Verwaltung des Reichs ihm nur wegen seines Alters und seiner Tugend übertragen wurde.

Endlich kam hinzu, daß die Staatsoberhäupter und das gesamte Heer den Krieg nicht mehr als den Frieden wünschen konnten. Denn weil das Heer wie gesagt nur aus Bürgern bestand, lagen die Geschäfte des Friedens denselben Menschen ob, welchen die Geschäfte des Kriegs oblagen. Die Soldaten im Felde waren zugleich Bürger in der Stadt, der Anführer im Felde zugleich Richter im Gericht, der Heerführer im Felde zugleich Oberhaupt im Staate. Deshalb konnte niemand den Krieg um des Krieges willen wünschen, sondern um des Friedens oder der Freiheit willen. Auch wird wohl das Staatsoberhaupt alle Neuerungen möglichst vermieden haben, um nicht den Hohenpriester angehen und vor demselben stehen zu müssen, was seine Würde beeinträchtigen mußte.

Soviel über die Gründe, welche die Staatsoberhäupter bewogen, sich in ihren Schranken zu halten. – Sehen wir nun, wodurch das Volk in seinen Schranken gehalten wurde. Auch dieses ist aus der Staatsverfassung aufs klarste ersichtlich. Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung derselben muß man die Überzeugung gewinnen, daß sie in den Herzen der Bürger eine innige Liebe zu ihrem Vaterlande erzeugen mußte, so daß ihnen alles eher in den Sinn kommen konnte, als der Verrat am Vaterlande oder der Abfall von ihm. Alle mußten sie ihm vielmehr so anhänglich sein, daß sie lieber das schlimmste, als eine fremde Herrschaft dulden wollten. Denn da sie ihr Recht auf Gott übertragen hatten und im Glauben lebten, ihr Reich sei ein Reich Gottes, sie selbst seien die einzigen Kinder Gottes, die übrigen Völker aber Gottes Feinde, weshalb sie gegen dieselben einen glühenden Haß nährten, (was sie für Frömmigkeit hielten, s. Psalm 139, V. 21 und 22,) so konnten sie nichts mehr verabscheuen, als einem fremden Staat Treue zu schwören und Gehorsam zu geloben, und nichts konnte ihnen ehrloser und fluchwürdiger vorkommen, als der Verrat am Vaterlande, d. h. an dem Reiche des Gottes, den sie verehrten. Schon eine Reise ins Ausland, um sich dort niederzulassen, galt für schändlich, weil der Dienst Gottes, an welchen sie jederzeit gebunden waren, nur allein im Vaterlande ausgeübt werden durfte. Daher klagte David gegen Saul, der ihn nötigte, ins Ausland zu flüchten: »Wenn es Menschen sind, welche dich gegen mich reizen, so sind sie verflucht, weil sie mich ausschließen vom Wandel im Erbteil Gottes, indem sie sagen: Fort, diene fremden Göttern.« Aus diesem Grunde wurde auch kein Bürger mit der Verbannung bestraft, was hier besonders hervorzuheben ist; denn der Missethäter verdient zwar Strafe, aber nicht Schmach.

Die Liebe der Hebräer zu ihrem Vaterlande war also keine gewöhnliche Liebe, sie war Frömmigkeit, welche zugleich mit dem Haß gegen die andern Völker durch den täglichen Gottesdienst so gehegt und genährt wurde, daß sie zur zweiten Natur werden mußte. Denn ihr täglicher Gottesdienst war nicht bloß ganz anderer Art als der Gottesdienst der andern Völker, (woher es auch kam, daß sie eine ganz eigentümliche und scharf abgesonderte Stellung unter allen Völkern einnahmen,) sondern geradezu gegen diesen gerichtet. Aus solcher täglich wiederkehrenden feindseligen Erwähnung mußte ein dauernder Haß entstehen, der tiefer als irgend etwas in der Seele wurzelte; denn es war ein aus großer Gottergebenheit und Frömmigkeit entsprungener Haß, der für fromm gehalten wurde, und einen stärkeren und hartnäckigeren kann es fürwahr nicht geben. Es fehlte auch die gewöhnliche Ursache nicht, welche den Haß beständig mehr und mehr entflammt, nämlich die Erwiderung desselben. Die andern Völker mußten wiederum gegen die Hebräer von tiefstem Haß erfüllt sein.

Wie sehr das alles, nämlich die Freiheit im Staate, die Anhänglichkeit am Vaterlande, das unbeschränkte Recht auf alle andern Staaten, der nicht bloß erlaubte, sondern sogar von der Frömmigkeit gebotene Haß gegen die andern Völker, das Bewußtsein, von diesen allen gehaßt zu werden, die Besonderheit ihrer Sitten und Gebräuche, wie sehr, sage ich, dieses geeignet war, die Herzen der Hebräer zu stärken, für ihr Vaterland alles mit außerordentlicher Standhaftigkeit und Tapferkeit zu erdulden, muß die Vernunft jedem sagen, wie es auch durch die Geschichte bezeugt ist. Denn nie haben sie unter einer fremden Herrschaft aushalten können, so lange ihre Hauptstadt stand, weshalb ja auch Jerusalem die Stadt des Aufruhrs genannt wurde (s. Esra Kap. 4, V. 12 und 15). Auch das zweite Reich (das kaum ein Schatten des ersten war, nachdem die Priester sich auch die weltliche Herrschaft angemaßt hatten) konnte nur sehr schwer von den Römern zerstört werden, wie Tacitus im 2. Buche seiner Geschichte mit folgenden Worten bezeugt: »Vespasian hatte den jüdischen Krieg nahezu zu Ende gebracht, nur die Einnahme Jerusalems war noch übrig, ein hartes und schwieriges Werk, mehr wegen des Sinnes der Bevölkerung und ihres zähen Aberglaubens, als weil die Belagerten Kraft genug besessen hätten, die Nöten der Belagerung zu ertragen.«

Aber neben diesen Eigentümlichkeiten des Hebräerstaats, deren Wert bloß von der Meinung abhängt, war noch eine Besonderheit von innerem Werte vorhanden, durch welche die Bürger abgehalten werden mußten, an Abfall zu denken und Lust zu bekommen, das Vaterland zu verlassen, nämlich der Nutzen, das Mark und der Nerv aller menschlichen Handlungen. Und diesen, sage ich, ihren Nutzen, fanden die Bürger in diesem Staate ganz besonders. Denn nirgends besaßen Bürger ihre Güter mit größerem Rechte als die Unterthanen dieses Staates, die den gleichen Teil an Land und Feld besaßen wie das Staatsoberhaupt, und wo jeder für alle Zeiten Besitzer seines Anteils blieb. Denn wenn jemand aus Armut sein Grundstück oder seinen Acker zu verkaufen gezwungen war, so mußte ihm das verkaufte Gut mit dem Eintritt des Jubeljahres wieder vollständig zurückgegeben werden; und noch andere Einrichtungen dieser Art waren getroffen, damit die unbeweglichen Güter des Bürgers nicht in fremde Hände kommen können. Auch konnte die Armut nirgends erträglicher sein, als hier, wo die Liebe gegen den Nächsten, d. h. gegen den Mitbürger, als heilige Pflicht geübt werden mußte, um die Gnade Gottes, ihres Königs zu erlangen.

Den hebräischen Bürgern konnte es also nur in ihrem Vaterlande wohl ergehen, außerhalb desselben aber war großer Nachteil und Schmach.

Nicht bloß zu ihrer Anhänglichkeit am Vaterlande, sondern auch zur Verhütung von Bürgerkriegen und zur Beseitigung der Anlässe von Streitigkeiten trug ferner der Umstand wesentlich bei, daß niemand seinesgleichen, sondern nur Gott diente, und daß Liebe und Wohlthun gegen den Mitbürger als höchste Frömmigkeit galt; und diese wurde nicht wenig durch den gegenseitigen Haß gefördert, der zwischen den Hebräern und allen übrigen Völkern bestand.

Weiter trug hierzu erheblich die strenge Zucht des Gehorsams bei, worin sie erzogen wurden, indem sie nämlich alles nach der bestimmten Vorschrift des Gesetzes thun mußten. Denn sie durften nicht nach Belieben ackern, sondern nur zu bestimmten Zeiten und Jahren und nicht mit zweierlei Viehgattungen zugleich. Auch das Säen und Ernten war nur auf bestimmte Weise und zu gewissen Zeiten gestattet, wie denn überhaupt ihr ganzes Leben eine beständige Übung im Gehorsam war. (S. hierüber Kap. 5, über den Wert der religiösen Gebräuche.) Hieran vollständig gewöhnt, konnten sie diese Verpflichtungen nicht als Knechtschaft ansehen, sondern mußten sich als Freie dabei fühlen, und es mußte so weit kommen, daß niemand nach dem Verbotenen, sondern nur nach dem Gebotenen Verlangen trug.

Nicht wenig scheint auch dazu beigetragen zu haben, daß sie zu gewissen Jahreszeiten verpflichtet waren, sich der Ruhe und der Freude hinzugeben, nicht um ihrer Neigung, sondern um Gott aus Neigung zu gehorchen. Dreimal im Jahre waren sie Gottes Gäste, (s. 5. Buch Mose Kap. 16,) am siebenten Tag in der Woche mußten sie sich jeder Arbeit enthalten und sich der Ruhe hingeben, daneben waren noch andere Zeiten ausgezeichnet, an welchen anständige Lustbarkeiten und Gastmahle nicht bloß erlaubt, sondern geboten waren, meines Erachtens eines der wirksamsten Mittel, die Herzen der Menschen zu lenken. Denn nichts kann die Herzen mehr einnehmen, als die Freude, die aus der Ehrfurcht, in welcher Liebe mit Bewunderung vereinigt ist, entspringt. Sie konnten auch dieser Freudentage nicht leicht durch Gewohnheit überdrüssig werden, da die Feierlichkeiten der Festtage selten und mannigfaltig waren.

Hierzu kam noch die große Verehrung des Tempels, welche infolge seines eigentümlichen Gottesdienstes und der Gebräuche, welche vor dem Eintritt in denselben beobachtet werden mußten, stets eine innige blieb, so daß noch die heutigen Juden nicht ohne großen Schauder jene Schandthat des Manasse lesen, der es gewagt hat, im Tempel selbst ein Götzenbild aufzustellen.

Auch für die Gesetze, welche im Allerheiligsten aufs sorgfältigste aufbewahrt wurden, hatte das Volk die gleiche Verehrung. Es war daher in dieser Hinsicht Unzufriedenheit und Vorurteil von dem Volke nicht zu fürchten. Denn niemand wagte es, über göttliche Dinge zu urteilen, da sie allem, was ihnen unter der Autorität einer im Tempel erteilten göttlichen Antwort oder eines von Gott erlassenen Gesetzes befohlen wurde, gehorchen mußten, ohne es mit der eigenen Vernunft zu prüfen.

Damit glaube ich, die Grundzüge der Verfassung dieses Staates wenn auch kurz, so doch genügend klar gemacht zu haben. Nun wären noch die Ursachen zu untersuchen, welchen es zuzuschreiben ist, daß die Hebräer von dem Gesetze so oft abgefallen sind, daß sie so oft unterjocht worden sind, und daß endlich dieses Reich gänzlich zerstört werden konnte.

Vielleicht möchte aber jemand behaupten, es sei die Folge der Hartnäckigkeit des Volkes gewesen. Doch das wäre kindisch. Denn weshalb war dieses Volk hartnäckiger als andere Völker? Etwa von Natur? Aber die Natur schafft ja keine Völker, sondern nur Menschen, welche erst durch Sprache, Gesetze und angenommene Sitten sich in einzelne Völker trennen. Nur von diesen beiden, den Gesetzen und Sitten, kann die Besonderheit des Geistes, des Charakters und der Vorurteile bei den verschiedenen Völkern herrühren. Wenn man also zugeben müßte, daß die Hebräer hartnäckiger waren als andere Völker, so müßte das einem Fehler in ihren Gesetzen oder angenommenen Sitten zugeschrieben werden. Und das ist ja auch richtig, daß Gott, wenn er ihr Reich hätte dauerhafter machen wollen, ihnen auch andere Rechte und Gesetze gegeben und eine andere Form der Regierung eingeführt hätte. Was kann man daher anderes sagen, als daß sie den göttlichen Zorn erregt hatten, nicht bloß wie Jeremia Kap. 32, V. 31 sagt, schon von der Erbauung Jerusalems an, sondern schon von der Gesetzgebung an. Dieses bezeugt auch Ezechiel Kap. 20, V. 25, indem er sagt: »Auch ich gab ihnen Bestimmungen, die nicht gut, und Gesetze, durch welche sie nicht leben können, indem ich sie verunreinigte, dadurch, daß ich jede Öffnung der Gebärmutter (d. i. Erstgeburt) verstieß, um sie zu verderben, damit sie erkennen, daß ich Jehovah bin.«

Um diese Worte und die Ursache ihres Verderbens recht zu verstehen, muß bemerkt werden, daß ursprünglich beabsichtigt war, mit sämtlichen heiligen Verrichtungen die Erstgeborenen zu betrauen, nicht die Leviten (s. 4. Buch Mose Kap. 8, V. 17). Da aber alle außer den Leviten das Kalb anbeteten, wurden die Erstgeborenen verstoßen und verunreinigt und an deren Statt die Leviten erwählt (5. Buch Mose Kap. 10, V. 8). Diese Änderung ist derart, daß ich, je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr mich veranlaßt fühle, mit Tacitus zu sagen, damals war Gottes Sorge nicht ihre Sicherheit, es war seine Rache. Und ich kann mich nicht genug darüber wundern, daß der Zorn im Herzen des Himmels so groß war, daß er sogar in der Aufstellung der Gesetze, welche doch immer nur die Ehre, Wohlfahrt und Sicherheit bezwecken, sich von der Absicht, sich zu rächen und das Volk zu strafen, leiten ließ, so daß die Gesetze eigentlich nicht als Gesetze, d. h. zu des Volkes Wohlfahrt, sondern mehr als Strafen und Züchtigungen ausgesehen haben.

Denn alle Gaben, die sie den Leviten und Priestern zu bringen hatten, wie auch die Auslösung ihrer Erstgeborenen durch Geld, das sie den Leviten für jeden Kopf geben mußten, endlich die Alleinberechtigung der Leviten zum Betreten des Heiligtums, waren für sie ein beständiger Vorwurf ihrer Unreinheit und Verstoßung. Auch die Leviten waren so daran, daß ihnen das Volk beständig Vorwürfe machen konnte. Denn ohne Zweifel gab es unter so vielen tausenden von Leviten eine Menge unverschämte Aftertheologen. Daher die Neigung des Volks, die Handlungen der Leviten, welche eben auch Menschen waren, argwöhnisch zu beobachten, und, wie es zu gehen pflegt, die ganze Klasse wegen der Fehler einzelner anzuklagen. Daraus entsprang denn beständige Unzufriedenheit, wie auch Unmut darüber, daß man müßige und unbeliebte Menschen, die nicht einmal blutsverwandt mit den andern waren, ernähren mußte, besonders wenn das Getreide teuer war.

Was Wunder also, wenn in ruhigen Zeiten, als die öffentlichen Wunderthaten aufgehört hatten und es keine Männer von außerordentlichem Ansehen mehr gab, der gereizte und habsüchtige Sinn des Volkes lässig zu werden begann, und sich schließlich von dem zwar göttlichen aber in seinen Augen schimpflichen und verdächtigen Religionsdienst abwendete und nach einem neuen verlangte, und daß die Staatsoberhäupter, welche stets auf Wege nach der Alleinherrschaft sinnen, dem Volk alles gewährten und einen neuen Religionsdienst einführten, um das Volk sich zu verbinden und dem Priester abspenstig zu machen.

Wäre der Staat nach der ursprünglichen Absicht eingerichtet worden, so hätten alle Stämme immer gleiches Recht und gleiche Ehre gehabt und alles wäre aufs beste gesichert gewesen. Denn wer hätte das heilige Recht seiner Blutsverwandten antasten mögen? Was könnte man lieber thun, als seine Blutsverwandten, Brüder, oder Eltern aus Achtung vor der Religion zu ernähren, sich von ihnen in der Auslegung der Religion unterrichten zu lassen und die göttlichen Antworten von ihnen zu empfangen? Es wären auch auf diese Weise alle Stämme viel enger miteinander verbunden geblieben, wenn alle das gleiche Recht zur Bekleidung der heiligen Ämter gehabt hätten. – Ja es wäre auch von der Wahl der Leviten nichts zu befürchten gewesen, wenn sie eine andere Ursache gehabt hätte als Zorn und Rachsucht. Aber sie hatten, wie gesagt, den Zorn Gottes sich zugezogen, der, um die Worte des Ezechiel zu wiederholen, mit ihren Gaben sie verunreinigte, indem er jede Öffnung der Gebärmutter zurückwies, um sie zu verderben.

Es wird das auch durch die biblische Geschichte bestätigt. Als das Volk in der Wüste eine Zeit lang Muße genug hatte, wurden viele Männer, und zwar Männer aus den besseren Kreisen, über diese Wahl aufgebracht, und sie bewirkte, daß man zu glauben anfing, Moses habe nicht auf Gottes Geheiß, sondern nach seinem Belieben alle Einrichtungen getroffen, indem er nämlich seinen Stamm von den andern Stämmen ausgewählt und das Priesteramt seinem Bruder für alle Zeiten übertragen habe. Sie empörten sich daher gegen ihn und riefen, daß alle gleich heilig seien und Moses sich widerrechtlich über alle andern erhebe. Er konnte sie auch auf keine Weise beruhigen, und nur durch die Anwendung eines Wunders, zum Zeichen seiner Glaubwürdigkeit, wurden die Empörer getötet. Hierauf aber entstand ein neuer und allgemeiner Volksaufruhr, da man glaubte, die Empörer seien nicht durch ein Gericht Gottes, sondern durch die Kunst des Moses getötet worden. Erst nach einem großen Sterben oder einer großen Pest erlahmte das Volk und der Aufruhr wurde gedämpft; aber alle zogen den Tod dem Leben vor. Der Aufruhr hatte sich gelegt, aber die Eintracht war nicht hergestellt. Es bezeugt dies die Bibel selbst im 5. Buch Mose Kap. 31, V. 21, wo Gott dem Moses vorhersagt, daß das Volk nach seinem Tode von dem Dienste Gottes abfallen werde, und hinzusetzt: »Denn ich kenne seinen Hang, und was es heute im Schilde führt, so lange ich es noch nicht hineinführte in das Land, das ich ihm zugeschworen.« Und bald darauf sagt Moses zum Volke selbst: »Denn ich kenne deinen aufrührerischen Sinn und deine Hartnäckigkeit. Wenn ihr schon bei meinen Lebzeiten aufrührerisch gewesen seid gegen Gott, um wie viel mehr nach meinem Tode.«

Bekanntlich ist dies auch in der That eingetroffen. Daher die großen Änderungen, wie auch die große Zügellosigkeit, Üppigkeit und Lässigkeit, wodurch alles abwärts zu gehen anfing, bis sie nach häufigen Unterjochungen das göttliche Recht völlig brachen und einen sterblichen König verlangten. Nun war nicht mehr der Tempel, sondern der Hof königliche Residenz, und sämtliche Stämme waren nicht mehr durch das göttliche Recht und das Priestertum zu einem Volke vereinigt, sondern durch den gemeinschaftlichen König. Dies gab reichlichen Stoff zu neuen Unruhen und das Ende war der Zusammenbruch des ganzen Reichs. Denn nichts können Könige weniger ertragen als ein unsicheres Königtum und eine Regierung in der Regierung. Die ersten Könige, welche aus dem Volk gewählt waren, begnügten sich mit dem Grad der Würde, den sie erlangt hatten. Die Söhne aber, welche sich der Regierung vermöge des Erbfolgerechts bemächtigten, fingen an, nach und nach alles zu ändern, um unbeschränkte Alleinherrscher zu sein, da ihnen ein wesentlicher Teil der Herrschaft abging, so lange das Recht der Gesetzgebung nicht in ihren Händen war, sondern in denen des Priesters, der die Gesetze im Allerheiligsten verwahrte und sie dem Volke auslegte. Dadurch waren sie gleichsam Unterthanen der Gesetze, die sie von Rechts wegen weder abschaffen noch durch neue von gleichem Ansehen vermehren konnten. Weiter auch darum, weil das Recht der Leviten die Könige ebenso wie die Unterthanen als Ungeweihte von den heiligen Ämtern ausschloß; endlich auch weil die Sicherheit ihrer Herrschaft gänzlich von dem Willen eines einzelnen, der als Prophet galt, abhing, wovon sie selbst Beispiele erlebt hatten. Denn mit welcher Freiheit konnte Samuel dem Saul alles was er wollte befehlen, und wie leicht konnte er wegen eines einzigen Fehltritts des letzteren die Regierung auf David übertragen! Somit hatten die Könige eine Regierung in der Regierung und ihr Königtum war ein unsicheres.

Diese Mißstände zu beseitigen, gestatteten sie, andere Tempel andern Göttern zu weihen, so daß eine Anfrage bei den Leviten überflüssig wurde. Sodann suchten sie nach Leuten, die im Namen Gottes weissagten, um diese Propheten den wahren gegenüber zu stellen.

Allein sie mochten versuchen, was sie wollten, ihren Zweck erreichten sie dennoch niemals. Denn die Propheten, auf alles vorbereitet, warteten eine gelegene Zeit ab, nämlich die Regierung eines Nachfolgers, welche immer eine unsichere ist, so lange noch der Vorgänger in frischer Erinnerung ist. Da konnten sie nun leicht unter Berufung auf die göttliche Autorität einen begeisterten, durch Tugend ausgezeichneten König auf den Thron bringen, der das göttliche Recht wieder herstellen und das Reich oder einen Teil desselben rechtmäßig besitzen sollte.

Indessen konnte dieses Verfahren der Propheten dennoch nichts fruchten. Denn wenn sie auch einen Tyrannen loswurden, so blieben doch die Ursachen, und ihr Vorgehen hatte keine andere Folge, als daß sie einen neuen Tyrannen durch vieles Blutvergießen unter den Bürgern erkauft hatten. Darum nahmen die Zwistigkeiten und Bürgerkriege kein Ende. Die Ursachen, welche bewirkten, daß das göttliche Recht verletzt wurde, blieben stets dieselben und konnten nur zugleich mit dem ganzen Reiche beseitigt werden.

Aus den vorstehenden Ausführungen ersehen wir, auf welche Weise die Religion in den Staat der Hebräer eingeführt wurde und wie dieses Reich hätte von Dauer sein können, wenn der gerechte Zorn des Gesetzgebers dies gestattet hätte. Da dies aber nicht der Fall war, so mußte es schließlich untergehen. – Ich habe indessen hier nur von dem ersten Reich gesprochen. Das zweite war kaum ein Schatten des ersten, da die Juden persische Unterthanen und den Rechtsverhältnissen der Perser unterworfen waren. Als sie aber ihre Freiheit erlangt hatten, maßten sich die Hohenpriester das Recht der Oberherrschaft an, kraft welcher sie unbeschränkt herrschten. Daher die heftige Sucht der Priester, das Hohenpriesteramt zu erlangen und zugleich zu regieren. Es ist daher nicht nötig, über das zweite Reich ein mehreres zu sagen.

Ob aber das erste Reich in der Weise, wie es nach unserer Auffassung dauerhaft gewesen wäre, nachahmungswert sei, oder ob es ein frommes Werk sei, es möglichst nachzuahmen, wird sich aus den folgenden Kapiteln ergeben. Hier will ich nur noch zum Beschluß das hervorheben, was ich schon früher angedeutet habe, nämlich daß aus den Erörterungen dieses Kapitels hervorgeht, wie das göttliche Recht oder das Recht der Religion aus einem Vertrage entspringt, da ohne einen solchen nur das natürliche Recht in Geltung ist, und daß somit die Hebräer gegen andere Völker, welche in diesem Vertrag nicht einbegriffen waren, keinerlei Verpflichtung durch die Gebote der Religion hatten; solche hatten sie nur gegen ihre Mitbürger.

Achtzehntes Kapitel.

Aus der Staatsverfassung und der Geschichte der Hebräer werden etliche politische Lehrsätze abgeleitet.


Obgleich das Reich der Hebräer nach meiner im vorigen Kapitel dargelegten Auffassung von Dauer hätte sein können, so ist dennoch eine Nachahmung desselben weder möglich noch ratsam. Denn wenn Menschen ihr Recht auf Gott übertragen wollten, so müßten sie wie die Hebräer mit Gott ausdrücklich einen Vertrag oder Bund schließen, wozu nicht bloß die Einwilligung derer nötig ist, welche ihr Recht übertragen wollen, sondern auch die Einwilligung Gottes, auf welchen es übertragen werden soll. Nun hat aber Gott durch die Apostel geoffenbart, daß der Bund mit Gott ferner nicht mit Tinte, noch auf Tafeln von Stein, sondern mit dem Geiste Gottes in die Herzen geschrieben werde. Ferner dürfte eine solche Staatsform nur für Leute nützlich sein, welche für sich allein, ohne auswärtigen Verkehr leben, und sich in ihre Grenzen einschließen und von der übrigen Welt absondern wollen, nicht aber für solche, welchen der Verkehr mit andern Völkern ein Bedürfnis ist. Es kann daher diese Staatsform nur sehr wenigen Menschen von Vorteil sein. Wenn nun aber diese Staatsform nicht in allen Dingen nachahmenswert ist, so hat sie doch vieles gehabt, was in hohem Grade beachtenswert und dessen Nachahmung der Erwägung wert ist. Da es aber, wie schon bemerkt, meine Absicht nicht ist, eine gründliche Abhandlung über den Staat zu schreiben, so will ich über das meiste hinweggehen und nur das erwähnen, was meinem Zweck dienlich ist.

Dahin gehört, daß es dem Reiche Gottes nicht widerspricht, eine höchste Majestät zu wählen, welche das höchste Recht der Staatsgewalt besitzt. Denn nachdem die Hebräer ihr Recht auf Gott übertragen hatten, betrauten sie Moses mit dem höchsten Recht des Befehlens. Dieser besaß demnach ganz allein die Autorität, die Gesetze Gottes zu erlassen und aufzuheben, die Diener des Heiligtums zu wählen, zu richten, zu lehren, zu strafen, und überhaupt allen alles zu befehlen.

Ein weiteres ist, daß die Diener des Heiligtums, obgleich sie die Ausleger der Gesetze waren, dennoch nicht das Recht hatten, die Bürger zu richten, oder jemand aus der Gemeinschaft zu stoßen; dazu waren nur die vom Volk gewählten Richter und Oberhäupter zuständig. (S. Josua Kap. 6, V. 26; Buch der Richter Kap. 21, V 18; 1. Buch Samuelis Kap. 14, V. 24.)

Wenn wir ferner das Geschick der Hebräer und den Gang ihrer Geschichte ins Auge fassen, so wird uns manches Bemerkenswerte begegnen.

Erstens, daß es keine religiösen Sekten gab, als bis die Priester im zweiten Reich die Macht hatten, Verordnungen zu erlassen und die Regierungsgeschäfte zu betreiben, und damit diese Macht von Dauer sei, das Recht der Oberherrschaft sich anmaßten und später sogar nach dem Königstitel trachteten. Der Grund liegt auf der Hand. Im ersten Reich konnten keine Verordnungen den priesterlichen Stempel haben, da die Priester kein Recht hatten, Verordnungen zu erlassen, sondern nur auf Befragen der Staatsoberhäupter oder der Versammlungen die Antworten Gottes zu erteilen. Daher konnten sie damals nicht in die Versuchung kommen, neues zu verordnen, sondern sie beschränkten sich darauf, das Gewohnte und Hergebrachte durchzuführen und zu schützen. Denn auf keine andere Weise konnten sie sich ihre Freiheit selbst gegen den Willen der Staatsoberhäupter erhalten, als wenn sie die Gesetze unverändert aufrecht erhielten. Als sie aber auch die Macht erlangt hatten, die Regierungsgeschäfte zu betreiben und die Rechte des Staatsoberhaupts mit dem Priestertum vereinigt hatten, wollten sie ihren Ehrgeiz in der Religion sowohl wie in allem andern bethätigen, indem sie in allen Dingen ihre priesterliche Autorität geltend machten und tagtäglich in Bezug auf die religiösen Gebräuche, den Glauben und alles andere neue Verordnungen gaben, die ebenso heilig und von gleicher Autorität sein sollten, als die mosaischen. Das hatte zur Folge, daß die Religion zum unheilvollen Aberglauben herabsank und der wahre Sinn und die Auslegung der Gesetze verfälscht wurde. Hierzu kam, daß die Priester, als sie sich zu Anfang der Wiederherstellung des Reiches den Weg zur weltlichen Herrschaft bahnten, dem Volk in allem willfahrten, um es an sich zu ziehen. Sie billigten die Handlungen der Menge, ob sie noch so gottlos waren, und paßten die Bibel ihren schlechten Sitten an. Mit höchst bündigen Worten bezeugt dies Maleachi von ihnen. Er hatte die Priester seiner Zeit gescholten und sie Verächter des göttlichen Namens genannt, und fährt in seiner Strafrede also fort: »Die Lippen des Priesters bewahren das Wissen und das Gesetz wird aus seinem Munde verlangt, denn er ist ein Abgesandter Gottes. Ihr aber seid vom Wege abgewichen, ließet viele straucheln durch das Gesetz, den Bund Levi habt ihr zerstört, spricht der Gott der Heerscharen.« So fährt er fort, sie zu beschuldigen, daß sie die Gesetze nach ihrem Belieben auslegten, und nicht auf Gott, sondern nur auf die Person Rücksicht nahmen.

Nun konnten aber die Priester bei solchem Verfahren sicherlich nicht so vorsichtig zu Werke gehen, daß die klügeren Leute es nicht bemerkt hätten, und diese behaupteten daher mit immer größerer Offenheit und Bestimmtheit, daß keine andern Gesetze Geltung hätten, als nur die geschriebenen, daß man aber im übrigen die Verordnungen, welche die getäuschten Pharisäer (die nach Josephus in seinen Altertümern größtenteils aus dem gemeinen Volk bestanden) Überlieferungen der Väter nannten, nicht zu beobachten brauche. – Sei dem wie ihm wolle, so können wir nicht daran zweifeln, daß die Liebedienerei der Priester, ihre Fälschung der Religion und der Gesetze und die ungeheure Vermehrung der letzteren sehr starken und häufigen Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten gegeben hat, die niemals beigelegt werden konnten. Denn wenn die Menschen in der Hitze des Aberglaubens zu streiten anfangen und die eine Partei von der Obrigkeit unterstützt wird, so ist ein Ausgleich unmöglich und die Spaltung in Sekten ist unvermeidlich.

Zweitens ist bemerkenswert, daß die Propheten, also Privatpersonen, durch ihr freimütiges Ermahnen, Schelten und Verhalten die Menschen mehr erbittert als gebessert haben, die doch durch die Ermahnungen und Züchtigungen der Könige leicht zu leiten waren. Selbst frommen Königen waren die Propheten oft unerträglich wegen der Autorität, vermöge welcher sie beurteilten, welche Handlungen fromm, und welche gottlos gewesen wären, oder die Könige selbst zurechtwiesen, wenn sie in einer öffentlichen oder Privatangelegenheit gegen den Ausspruch der Propheten zu handeln wagten. Der König Asa, nach dem Zeugnis der Bibel ein frommer König, ließ den Propheten Hanania in die Stampfmühle pistrinum, die Stampfmühle, der Ort, wo das Getreide, vor Erfindung der Mühlen, in hohlen Klötzen oder Mörsern gestampft wurde. Später wurden solche Mühlen durch Pferde oder Esel getrieben, oder man schickte Sklaven zur Strafe hinein, die statt des Viehes die Mühle herumdrehen, also mahlen mußten. Daher aliquem in pistrinum tradere (Georges). Dem hebräischen Wort ביתהני הפכת entspricht die Übersetzung Spinozas am besten. Was die an Seltsamkeiten und Unrichtigkeiten reiche Kirchmannsche Übersetzung sich bei der Wiedergabe der vorliegenden Stelle durch: »Der König Asa etc. schickte den Propheten Ananias zu einem Bäcker« gedacht, hat, ist mir unerfindlich. Anm. des Übersetzers. bringen (s. 2. Buch der Chronik Kap. 16), weil er sich die Freiheit herausnahm, den König zu tadeln und zu schelten, wegen eines mit dem König von Syrien geschlossenen Bündnisses. Es finden sich noch andere Beispiele dieser Art, welche zeigen, daß dergleichen Freiheiten der Religion mehr zum Schaden als zum Vorteil gereichten; um von den großen Bürgerkriegen ganz zu schweigen, die aus diesem von den Propheten in Anspruch genommenen Recht entstanden sind.

Drittens ist bemerkenswert, daß, solange das Volk die Regierung inne hatte, nur ein einziger Bürgerkrieg vorkam, der aber vollständig erstickt wurde, und wobei die Sieger gegen die Besiegten so viel Mitleid hatten, daß sie sich alle erdenkliche Mühe gaben, denselben das ehemalige Ansehen und die ehemalige Macht wieder zu verschaffen. Als aber das Volk, das keinen König gewohnt war, die ursprüngliche Staatsform in eine Monarchie verwandelt hatte, nahmen die Bürgerkriege beinahe kein Ende und die Schlachten, die sie einander lieferten, waren von unerhörter Grausamkeit. So sind in einer einzigen Schlacht (was kaum glaublich scheint) fünfmalhunderttausend Mann vom Reiche der Israeliten durch die Truppen des Reiches Juda niedergemacht worden; in einer andern haben dagegen die Israeliten eine Menge Judäer niedergemetzelt, (die Zahl ist in der Bibel nicht angegeben,) den König von Juda gefangen genommen, sie zerstörten die Mauern Jerusalems beinahe ganz und gar, plünderten sogar den Tempel gänzlich (um die Maßlosigkeit ihres Zorns zu zeigen), und erst als sie, mit einer reichen den Brüdern abgejagten Beute beladen, sich am Blute gesättigt, Geißeln empfangen und dem König ein fast ganz verwüstetes Reich zurückgelassen hatten, legten sie die Waffen nieder, indem sie sich nicht auf die Treue, sondern auf die Schwäche der Judäer verließen. Und in der That brach, nach den wenigen Jahren, in welchen die Judäer sich erholt hatten, ein neuer Krieg aus, in dem die Israeliten wiederum Sieger waren, hundertundzwanzigtausend Judäer niedermetzelten, deren Weiber und Kinder, gegen zweihunderttausend, als Gefangene wegführten und abermals große Beute machten. Durch diese und andere in der biblischen Geschichte nur beiläufig erwähnten Schlachten aufgerieben, wurden sie schließlich ihren Feinden zur Beute.

Aber auch die Zeiten, in welchen sie sich des tiefsten Friedens erfreuen durften, lassen bei näherer Betrachtung einen großen Unterschied wahrnehmen. Vor den Königen nämlich gingen oft vierzig, einmal sogar (was übrigens nicht recht glaubhaft) achtzig Jahre ohne äußern und innern Krieg dahin. Als aber Könige an der Spitze standen, wurde nicht mehr wie früher um des Friedens und der Freiheit willen Krieg geführt, sondern des Ruhmes halber, und darum lesen wir von allen Königen, daß sie Kriege unternommen haben, den einen Salomo ausgenommen (dessen Vorzug, die Weisheit nämlich, sich mehr im Frieden als im Krieg bewähren konnte). – Hierzu kam ferner das unheilvolle Gelüste nach dem Thron, zu welchem die meisten nur auf sehr blutigem Wege gelangen konnten. – Endlich blieben auch die Gesetze während der Volksherrschaft unverfälscht und wurden viel strenger beobachtet. Es geht dies daraus hervor, daß es vor den Königen nur sehr wenig Propheten gab, welche das Volk ermahnten, während nach der Einführung des Königtums viele zu gleicher Zeit auftraten. Hat doch Obadjah deren hundert vom Tode gerettet, indem er sie verborgen hielt, damit sie nicht mit den andern getötet würden. Auch finden wir nicht, daß das Volk von falschen Propheten eher getäuscht worden wäre, als bis es die Herrschaft den Königen abgetreten hatte, denen die meisten Propheten nach dem Munde zu reden suchten. – Hierzu kommt noch, daß das Volk, dessen Sinn gewöhnlich je nach Beschaffenheit der Umstände übermütig oder niedergeschlagen ist, im Unglück sich leicht besserte und zu Gott bekehrte, die Gesetze wieder herstellte und sich auf diese Weise auch aus jeder Gefahr heraushalf. Die Könige dagegen, deren Sinn allezeit gleich hoffärtig ist und die sich nicht beugen können, ohne sich bloßzustellen, verharrten halsstarrig in ihren Lastern bis zum gänzlichen Untergang der Stadt.

Hieraus ergiebt sich aufs klarste:

Erstens, wie verderblich es für die Religion oder für den Staat ist, den Inhabern heiliger Ämter das Recht, Verordnungen zu erlassen oder Staatsgeschäfte zu betreiben, einzuräumen; daß vielmehr die Ordnung viel besser gewahrt bleibt, wenn dieselben so eingeschränkt werden, daß sie über alle öffentliche Angelegenheiten nur auf Befragen Antworten erteilen, im übrigen aber nur das lehren und üben, was allgemein angenommen und gebräuchlich ist.

Zweitens, wie gefährlich es ist, rein spekulative Dinge auf das göttliche Recht zu beziehen und Gesetze zu erlassen über Ansichten, über welche die Menschen verschiedener Meinung sind oder sein können. Denn eine Regierung, welche Meinungen als Verbrechen behandelt, ist eine tyrannische Regierung, da Meinungen zu dem unveräußerlichen Recht jedes Einzelnen gehören. Ja wo dies der Fall, da ist gewöhnlich die Regierung vielfach in der Gewalt der Volksaufregung. So ließ Pilatus Christum, dessen Unschuld er erkannt hatte, aus Nachgiebigkeit gegen die Aufregung der Pharisäer kreuzigen. Und um die Reichen aus ihren Würden zu vertreiben, fingen die Pharisäer Religionsstreitigkeiten an, und bezichtigten die Sadduzäer der Gottlosigkeit. Nach diesem Vorbild der Pharisäer haben überall die niederträchtigsten Heuchler, in ihrer Wut, die sie Eifer für das göttliche Recht nannten, die Männer verfolgt, welche durch Rechtschaffenheit sich auszeichneten, durch Tüchtigkeit hervorragten und daher den Massen mißliebig waren; indem sie nämlich die Ansichten derselben öffentlich verdammten und die Wut der wilden Menge gegen sie entflammten. Und dieses freche Gebahren kann, da es sich einen religiösen Anstrich giebt, nicht leicht gehemmt werden, namentlich da, wo die höchsten Gewalten eine religiöse Sekte, die sie selbst nicht gegründet, eingeführt haben. Denn in diesem Falle werden sie nicht als Ausleger des göttlichen Rechts betrachtet, sondern als Sektierer, d. h. als solche, welche die Lehrer dieser Sekte als die Ausleger des göttlichen Rechts anerkennen. Darum gilt gewöhnlich in dieser Beziehung das Ansehen der Obrigkeit beim Volke wenig, dafür desto mehr das Ansehen jener Lehrer, deren Auslegungen, wie das Volk glaubt, sogar Könige sich unterwerfen müssen. Diesem Übel zu steuern, giebt es für den Staat kein besseres Mittel, als das, daß er die Frömmigkeit und den Dienst der Religion einzig und allein in den Werken bestehen läßt, d. h. in der werktätigen Liebe und Gerechtigkeit, in allem andern aber jedem seine freie Meinung läßt. Doch hierüber später ausführlicher.

Drittens sehen wir, wie notwendig es sowohl für den Staat wie für die Religion ist, daß das entscheidende Urteil über das, was recht und unrecht ist, den höchsten Gewalten zustehe. Denn wenn selbst den göttlichen Propheten dieses Recht, über die Thaten zu urteilen, nicht eingeräumt werden konnte, ohne großen Nachteil für Staat und Religion, um wie viel weniger darf es Leuten eingeräumt werden, die weder die Zukunft vorhersagen noch Wunder verrichten können. Hierüber im folgenden Kapitel eingehend.

Viertens endlich sehen wir, wie verderblich es ist, wenn ein Volk, das nicht gewohnt ist, unter Königen zu leben und schon eine ausgebildete Gesetzgebung hat, einen Monarchen wählt. Denn weder das Volk wird eine solche Regierung, noch wird die königliche Autorität Gesetze ertragen können und Volksrechte, die eine Macht von geringerer Autorität gestiftet hat. Noch weniger wird die königliche Autorität sich angelegen sein lassen, diese Gesetze und Volksrechte in Schutz zu nehmen, zumal bei ihrer Abfassung auf einen König gar nicht Bedacht genommen werden konnte, sondern bloß auf das Volk oder den Rat, der die Regierung zu behalten glaubte. Durch die Verteidigung solcher alten Volksrechte müßte der König eher als Sklave, denn als Herr des Volkes erscheinen. Kommt nun zum erstenmal ein König an die Regierung, so wird er eifrig bemüht sein, neue Gesetze aufzustellen, die Rechte des Staats zu seinem eigenen Vorteil abzuändern und das Volk in eine so untergeordnete Stellung zu bringen, daß es den Königen nicht so leicht ihre Würde nehmen als geben kann.

Ich kann hier aber auch nicht mit Stillschweigen übergehen, daß es nicht minder gefährlich ist, einen Monarchen abzuschaffen, selbst wenn es in jeder Richtung feststeht, daß er ein Tyrann ist. Denn ein an die königliche Autorität gewöhntes und nur durch eine solche im Zaume gehaltenes Volk wird eine geringere Autorität verachten und seinen Spott mit ihr treiben. Es wird also, wenn es den einen beseitigt, sich in die Notwendigkeit versetzt sehen, wie ehemals die Propheten, einen andern zu wählen an die Stelle des früheren, und dieser wird dann auch wieder ein Tyrann sein müssen, wenn er auch nicht wollte. Denn mit welchen Gefühlen wird er wohl die vom Königsmord blutigen Hände der Bürger sehen, und hören, wie sie sich des Königmords als einer guten That rühmen? wenn sie denselben auch nur begangen haben, um an dem einen ein Beispiel aufzustellen. Wahrlich, will er König sein, und das Volk nicht als Richter des Königs und als seinen Herrn anerkennen, und soll sein Thron auf festen Füßen ruhen, so muß er den Tod seines Vorgängers rächen und seinerseits, um seiner selbst willen, ein Beispiel aufstellen, damit das Volk eine solche That nicht zu wiederholen wage. Nun wird er aber den Tod des Tyrannen durch die Hinrichtung von Bürgern kaum rächen können, ohne zugleich den früheren Tyrannen in Schutz zu nehmen und seine Thaten zu billigen, und so wird er denn ganz in dessen Fußstapfen treten. Daher kommt es, daß manches Volk zwar oft imstande war, seinen Tyrannen zu wechseln, aber nicht, ihn zu beseitigen und die monarchische Staatsform mit einer andern zu vertauschen.

Ein verhängnisvolles Beispiel hierfür hat das englische Volk gegeben. Es hat Gründe gesucht, welche ihm in seiner Meinung das Recht gaben, seinen Monarchen abzuschaffen. Es hat dies auch fertig gebracht; aber trotzdem war es nicht imstande, eine andere Regierungsform einzuführen, sondern nach vielem Blutvergießen war das Ende vom Liede ein neuer Monarch, nur unter anderem Titel (als ob es sich bei der ganzen Sache um nichts als den Namen gehandelt hätte). Und dieser neue Monarch konnte sich nur dadurch halten, daß er den königlichen Stamm mit Stumpf und Stiel ausrottete, die wirklichen und mutmaßlichen Anhänger des Königs tötete, und in den ruhigen Zeiten des Friedens, in welchen Aufstände eher zu befürchten sind, einen Krieg herbeiführte, damit sich das Volk mit diesem neuen Ereignis beschäftige und seine Gedanken vom Königsmord abgelenkt würden. Zu spät merkte das Volk, daß es für das Wohl des Vaterlandes nichts anderes ausgerichtet, als daß es das Recht des rechtmäßigen Königs verletzt und alle Zustände verschlimmert habe, und es beschloß daher, den geschehenen Schritt sobald als möglich wieder rückgängig zu machen und ruhte nicht, bis allenthalben die alten Zustände wieder hergestellt waren.

Vielleicht hält mir aber jemand das Beispiel des römischen Volkes entgegen, um zu zeigen, daß ein Volk seinen Tyrannen leicht abschaffen könne; ich glaube aber, daß dieses Beispiel meine Ansicht vollauf bestätigt. Wohl konnte das römische Volk viel leichter einen Tyrannen abschaffen und die Regierungsform ändern, denn das Recht, den König und seine Nachfolger zu wählen, stand dem Volke zu, auch hatte dasselbe (das aus aufrührerischen und verworfenen Menschen zusammengewürfelt war) sich noch nicht daran gewöhnt, Königen zu gehorchen; hatte es doch von sechs Königen, die es vorher hatte, drei umgebracht. Dennoch aber that es nichts anderes, als daß es für einen Tyrannen viele wählte, welche es beständig in unheilvolle Verwicklungen brachten, durch äußerliche und innerliche Kriege, bis zuletzt die Herrschaft wiederum einem Monarchen zufiel, der nur einen andern Titel führte, wie in England.

Was aber die holländischen Staaten betrifft, so haben diese, so viel ich weiß, niemals Könige gehabt, sondern Grafen, denen niemals das Recht der Herrschaft übertragen war. Denn die hochmögenden Staaten von Holland haben, wie sie in einer zur Zeit des Grafen von Leycester erlassenen Erklärung kund machten, sich stets die Autorität vorbehalten, diese ihre Grafen an ihre Pflicht zu mahnen, und sie haben sich auch die Macht gewahrt, diese ihre Autorität und die Freiheit der Bürger zu schützen, die Grafen zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie zu Tyrannen ausarten sollten, und dieselben dermaßen in Schranken zu halten, daß sie alles nur mit Bewilligung und Zustimmung der Stände thun können. Demnach ist das Recht der höchsten Majestät allezeit bei den Ständen gewesen. Nur der letzte Graf hat den Versuch gemacht, sie an sich zu reißen. Weit entfernt daher, daß sie von ihm abgefallen sind, haben sie vielmehr nur die alte, ihnen beinahe schon entrissene Regierungsform wieder hergestellt.

Durch die angeführten Beispiele wird also meine Behauptung vollauf bestätigt, wonach jeder Staat seine Regierungsform notwendig beibehalten müsse, indem dieselbe nur unter Gefahr des gänzlichen Untergangs geändert werden könne. Das war es, was mir der Mühe wert schien, bemerkt zu werden.

Neunzehntes Kapitel.

Es wird gezeigt, daß das Recht in geistlichen Dingen ganz und gar den höchsten Gewalten zusteht, und daß der äußere Gottesdienst dem Frieden des Staats entsprechen müsse, wenn unser Gehorsam gegen Gott der richtige sein soll.


Wenn ich oben gesagt habe, daß die Inhaber der Staatsgewalt allein das Recht zu allem haben und alles Recht allein von ihrem Beschluß abhängt, so habe ich damit nicht bloß das bürgerliche, sondern auch das geistliche Recht gemeint. Denn auch des geistlichen Rechts Ausleger und Beschützer müssen sie sein. Dies will ich hier ausdrücklich erklären und es soll der eigentliche Gegenstand dieses Kapitels sein, weil es sehr viele giebt, welche bestreiten, daß dieses Recht, nämlich das Recht in geistlichen Dingen, den höchsten Gewalten zustehe, und diese nicht als Ausleger des göttlichen Rechts anerkennen wollen. Diese Leute maßen sich daher die Befugnis an, die Inhaber der Regierung anzuklagen und herunterzusetzen, ja sogar (wie einst Ambrosius den Kaiser Theodosius) mit dem Bann zu belegen. Wir werden im Verlaufe dieses Kapitels sehen, daß sie auf diese Weise die Regierung teilen, ja sogar selbst nach der Regierung trachten. Vorher will ich zeigen, daß die Religion Rechtskraft nur durch den Beschluß derjenigen erlangen kann, welche das Recht zum Befehlen haben, und daß Gott kein besonderes Reich unter den Menschen hat, sondern nur durch diejenigen regiert, welche die Staatsregierung führen; ferner daß der Gottesdienst und die Ausübung der Frömmigkeit dem Frieden und dem Nutzen des Staats entsprechen und darum nur von den höchsten Gewalten bestimmt werden können, welche deswegen auch dessen Ausleger sein müssen.

Ich bemerke ausdrücklich, daß ich nur von der Ausübung der Frömmigkeit und dem äußerlichen Gottesdienst rede, nicht aber von der Frömmigkeit selbst und dem innerlichen Gottesdienst, oder den Mitteln, durch welche der Geist im Innern angeregt wird, Gott mit ganzem Herzen zu verehren. Denn der innere Gottesdienst oder die Frömmigkeit selbst ist das Recht jedes einzelnen, (wie am Schluß des 7. Kapitels gezeigt worden,) welches auf einen andern nicht übertragen werden kann.

Was ich ferner hier unter Reich Gottes verstehe, erhellt, wie ich glaube, zur Genüge aus dem 14. Kapitel; denn es wurde dort gezeigt, daß derjenige das Gesetz Gottes erfüllt, der Gerechtigkeit und Liebe nach Gottes Gebot übt; woraus folgt, daß das Reich Gottes ein solches ist, in welchem Gerechtigkeit und Liebe Rechts- und Gesetzeskraft haben. Und zwar mache ich dabei keinen Unterschied, ob Gott die rechte Übung der Gerechtigkeit und der Liebe durch die natürliche Vernunft oder durch Offenbarung lehrt und befiehlt; denn es ist ganz einerlei, auf welchem Wege dieser Gottesdienst mitgeteilt wurde, sobald er nur höchste Rechtskraft besitzt und den Menschen als höchstes Gesetz gilt.

Wenn ich also jetzt zeigen werde, daß Gerechtigkeit und Liebe Rechts- und Gesetzeskraft nur durch das Recht der Staatsgewalt erlangen können, so ergiebt sich sehr einfach, (da das Recht der Staatsgewalt nur bei den höchsten Gewalten ist,) daß die Religion Gesetzeskraft nur durch den Beschluß derjenigen Personen erlangt, welche das Recht zum Befehlen haben, und daß Gott kein besonderes Reich unter den Menschen hat, sondern sie durch diejenigen regiert, welche die Regierung inne haben.

Daß nun der Gottesdienst der Gerechtigkeit und Liebe Gesetzeskraft nur durch das Recht der Staatsgewalt erlangt, erhellt aus dem Früheren. Denn im 16. Kapitel habe ich gezeigt, daß im Naturzustand die Vernunft kein größeres Recht hat als die Begierde, und sowohl diejenigen, welche nach den Gesetzen der Begierde leben, wie die, welche nach den Gesetzen der Vernunft leben, das Recht zu allem haben, was sie können. Aus diesem Grunde konnten wir auch nicht annehmen, daß es im Naturzustand eine Sünde gebe, und daß in demselben Gott als Richter die Menschen um ihrer Sünden willen strafe, weil da alles nach den allgemeinen Gesetzen der Gesamtnatur geschehe und ein Geschick (um mit Salomo zu reden) den Gerechten wie den Gottlosen, den Reinen wie den Unreinen etc. treffe, und für Gerechtigkeit und Liebe nirgends Raum sei. Damit aber die Vorschriften der wahren Vernunft, d. h. eben (wie im 4. Kapitel über das göttliche Gesetz gezeigt wurde) die göttlichen Vorschriften unbedingte Rechtskraft erhielten, sei es notwendig gewesen, daß jeder Einzelne sein natürliches Recht aufgab und alle dieses Recht entweder auf alle, oder auf einige oder auf einen Einzelnen übertrugen; jetzt erst hatten die Begriffe, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Billigkeit und Unbilligkeit einen Sinn.

Die Gerechtigkeit also, wie überhaupt alle Vorschriften der wahren Vernunft und demgemäß auch die Nächstenliebe, erlangen nur durch das Recht der Staatsgewalt, d. h. (nach dem, was im selbigen Kapitel gezeigt wurde,) nur durch den Beschluß derer, welche das Recht des Befehlens haben, Rechts- und Gesetzeskraft. Weil aber (wie bereits gezeigt) das Reich Gottes einzig und allein in dem Recht der Gerechtigkeit und Liebe, oder der wahren Religion besteht, so folgt, was ich behaupte, daß nämlich Gott kein anderes Reich unter den Menschen hat, als das weltliche und nur durch diejenigen regiert, welche die Staatsgewalt inne haben. Und es ist hierbei, wiederhole ich, ganz einerlei, ob wir die Religion mit der natürlichen Vernunft oder durch prophetische Offenbarung begreifen; da der Beweis allgemein gilt, indem die Religion die gleiche ist und von Gott ganz ebenso geoffenbart wurde, mag man sich diese Offenbarung so oder so vorstellen.

Daher mußte auch jeder von den Hebräern, damit die prophetisch geoffenbarte Religion Rechtskraft bei ihnen erlange, sein Naturrecht zuvor abtreten und alle mußten sich dahin einigen und bestimmen, nur denjenigen Vorschriften zu gehorchen, die ihnen von Gott prophetisch geoffenbart würden; ganz so wie es nach unserer obigen Ausführung in einem demokratischen Staate geschieht, in welchem alle gemeinschaftlich übereinkommen und beschließen, nur nach den Vorschriften der Vernunft zu leben.

Wiewohl aber die Hebräer überdies ihr Recht auf Gott übertragen haben, so konnten sie dies doch mehr im Geiste als in der That vollführen. Denn tatsächlich haben sie (wie wir oben sahen) das Recht der Staatsgewalt ganz und gar behalten, bis sie es auf Moses übertragen haben, welcher auch von dieser Zeit an unbeschränkter König blieb, und durch ihn allein hat Gott die Hebräer regiert. Ferner konnte aus diesem Grunde (daß nämlich die Religion Rechtskraft nur durch das Recht der Staatsgewalt erlangt) Moses diejenigen unter ihnen nicht mit dem Tod bestrafen, die vor dem Vertrag, also zur Zeit, da sie noch ihr eigenes Recht hatten, den Sabbath entweihten, (s. 2. Buch Mose Kap. 15, V. 30,) wie dies nach dem Vertrag der Fall war, (s. 4. Buch Mose Kap. 15, V. 36,) nachdem nämlich ein jeder sein Naturrecht abgetreten und der Sabbath nach dem Staatsrecht Gesetzeskraft erlangt hatte.

Endlich hat deshalb auch nach dem Untergang des Hebräerstaats die geoffenbarte Religion aufgehört, Rechtskraft zu besitzen. Denn wir können nicht bezweifeln, daß von dem Zeitpunkt an, wo die Hebräer ihr Recht auf den König von Babylon übertrugen, das Reich Gottes und das göttliche Recht sofort aufgehört hat. Denn damit war der Vertrag, worin sie gelobt hatten, allem, was Gott reden werde, zu gehorchen, und welcher die Grundlage des Reiches Gottes gewesen war, gänzlich aufgehoben; auch konnten sie ihn von da ab nicht mehr aufrecht halten, da sie kein selbständiges Recht mehr hatten, (wie zur Zeit, da sie in der Wüste oder im Vaterlande waren,) sondern dem König von Babylon unterworfen waren, dem sie in allen Dingen (wie im 16. Kapitel gezeigt worden) gehorchen mußten. Hierzu ermahnte sie auch Jeremia ausdrücklich im 29. Kap., 7. V.: »Befördert«, sagt er, »den Frieden der Stadt, wohin ich euch in Gefangenschaft geführt. Denn ihr Wohl ist auch euer Wohl.« Indessen konnten sie das Wohl jener Stadt nicht als Beamte des Staats fördern, (da sie Gefangene waren,) sondern als Sklaven; und zwar dadurch, daß sie jeden Aufruhr vermieden, in allen Stücken sich gehorsam bewiesen, die Rechte und Gesetze des Landes beobachteten, wenn sie auch sehr verschieden von denen waren, die sie im Vaterlande gewohnt waren, u. s. f.

Aus dem allem folgt aufs augenscheinlichste, daß die Religion bei den Hebräern Rechtskraft nur durch das Recht der Staatsgewalt erlangt hatte, und daß sie nach dessen Zerstörung nicht weiter als Rechtseinrichtung eines besonderen Reiches betrachtet werden konnte, sondern als eine allgemeine Lehre der Vernunft. Ich sage »der Vernunft«, weil die katholische Religion damals noch nicht durch Offenbarung verbreitet war.

Ich ziehe daher mit aller Bestimmtheit die Schlußfolgerung, daß die Religion, ob sie durch die natürliche Vernunft oder prophetisch geoffenbart ist, Gesetzeskraft nur erlangt durch den Beschluß derer, welche das Recht des Befehlens haben, und daß Gott kein besonderes Reich unter den Menschen hat, sondern nur durch diejenigen regiert, welche die Staatsgewalt inne haben.

Dieses folgt auch und wird noch deutlicher aus den Ausführungen des 4. Kapitels. Dort wurde gezeigt, daß alle Beschlüsse Gottes ewige Wahrheit und Notwendigkeit in sich schließen, und daß man sich Gott nicht als Fürst oder Gesetzgeber denken kann, der den Menschen Gesetze giebt. Daher erlangen die durch die natürliche Vernunft oder auf prophetischem Wege geoffenbarten göttlichen Lehren ihre Gesetzeskraft nicht unmittelbar von Gott, sondern notwendig von denen, oder vermittelst derer, welche das Recht haben, zu befehlen und Beschlüsse zu fassen. Wir können uns daher Gott als Regenten der Menschen und gerechten und milden Lenker der menschlichen Angelegenheiten nur in der Weise vorstellen, daß er dies ist durch Vermittlung derer, welche die Staatsgewalt inne haben.

Es wird dies auch durch die Erfahrung bestätigt. Denn die Spuren der göttlichen Gerechtigkeit werden nur da gefunden, wo gerechte Menschen die Regierung inne haben. Wo dies nicht der Fall ist, trifft, wie wir deutlich sehen, das gleiche Geschick den Gerechten wie den Ungerechten, den Reinen wie den Unreinen (um mich wiederholt der Worte Salomos zu bedienen); ein Umstand, welcher viele veranlaßt, an der göttlichen Vorsehung zu zweifeln, weil sie sich die göttliche Regierung unter den Menschen als eine unmittelbare denken, welche die ganze Natur zum Vorteil der Menschen leiten müsse.

Da es sich also aus der Erfahrung wie aus der Vernunft ergiebt, daß das göttliche Recht einzig und allein von dem Beschluß der höchsten Gewalten abhängt, so folgt, daß diese auch dessen Ausleger seien. Auf welche Weise sie es sind, werden wir bald sehen. Zunächst ist es an der Zeit, zu zeigen, daß der äußerliche Gottesdienst und jede religiöse Übung dem Frieden und der Erhaltung des Staats entsprechen müssen, wenn unser Gehorsam gegen Gott der richtige sein soll. Nachdem dies bewiesen, werden wir unschwer einsehen, auf welche Weise die höchsten Gewalten Ausleger der Religion und Frömmigkeit seien.

Die Liebe zum Vaterlande ist ganz gewiß die höchste Frömmigkeit, die jemand an den Tag legen kann. Denn wenn der Staat auseinandergeht, kann alles Gute keinen Bestand haben, alles und jedes wird gefährdet, und Leidenschaft und Gewaltthätigkeit, die jeder am meisten fürchtet, führen das Ruder. Es folgt daraus, daß die größte Wohlthat, die man seinem Nebenmenschen erweist, eine Übelthat sein kann, wenn der Gesamtheit im Staate Schaden daraus erwächst, und daß ebenso umgekehrt das größte Übel, das einem andern zugefügt wird, als frommes Werk zu betrachten ist, wenn es zur Erhaltung des Staats geschieht. So z. B. ist es fromm gehandelt, wenn ich einem, der mit mir streitet und meinen Rock nehmen will, auch noch den Mantel gebe. Wo man sich aber sagen muß, daß eine solche Handlungsweise den Bestand des Staats gefährden müsse, da ist es vielmehr ein frommes Werk, ihn vor Gericht zu fordern, selbst wenn er zum Tode verurteilt werden würde. Aus diesem Grunde wird von Manlius Torquatus gerühmt, daß das Wohl des Volkes die Vaterliebe bei ihm überwog. Ist dem also, so ergiebt sich, daß das Wohl des ganzen Volkes höchstes Gesetz sein müsse, nach welchem sich alle Dinge, menschliche wie göttliche, zu richten haben. Da es nun aber der höchsten Gewalt allein zukommt, was zum Wohle des gesamten Volkes und zur Sicherheit des Staates nötig ist, zu bestimmen, und was sie als notwendig erkannt hat, anzubefehlen, so folgt, daß es auch der höchsten Gewalt allein zukommt, zu bestimmen, wie jeder gegen den Nebenmenschen seine Frömmigkeit, oder mit andern Worten, seinen Gehorsam gegen Gott bethätigen soll.

Hiernach ist es sehr klar, auf welche Weise die höchsten Gewalten Ausleger der Religion seien; wie auch, daß das nicht der richtige Gehorsam gegen Gott sein kann, wenn man die Übung der Frömmigkeit, welche für jedermann Pflicht ist, nicht mit dem Gesamtwohl in Einklang setzt, und folglich kann derjenige den rechten Gehorsam gegen Gott nicht bezeigen, der nicht allen Anordnungen der höchsten Gewalt Gehorsam leistet. Denn da wir alle (ohne Ausnahme) nach Gottes Gebot Frömmigkeit zu üben haben und niemand Schaden zufügen dürfen, so folgt, daß es niemand erlaubt ist, einem andern zum Nachteil eines dritten, und noch viel weniger zum Schaden des gesamten Staats Hilfe zu leisten. Es kann daher auch niemand dem Gebote Gottes gemäß gegen den Nächsten seine Frömmigkeit bethätigen, wenn er nicht seine Frömmigkeit und Religion mit dem öffentlichen Wohl in Einklang bringt. Was aber dem Gesamtstaat vorteilhaft ist, kann der Einzelne nur aus den Beschlüssen der höchsten Gewalten erfahren, denen allein die Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten zukommt. Somit kann nur derjenige auf rechte Weise Frömmigkeit üben und Gott gehorchen, der allen Beschlüssen der höchsten Gewalt Folge leistet.

Dieser Darlegung entspricht auch das wirkliche Verfahren im Staatsleben. Ist jemand von der höchsten Gewalt des Todes schuldig erklärt worden, sei er Einheimischer oder Fremder, Privatmann oder Herr über andere, so darf kein Unterthan demselben Hilfe leisten. So hatten auch die Hebräer, obgleich ihnen geboten war, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, (s. 3. Buch Mose Kap. 19, V. 17 und 18,) dennoch die Pflicht, jemand, der sich gegen die Bestimmungen des Gesetzes verfehlte, dem Richter anzuzeigen, (s. 3. Buch Mose Kap. 5, V. 1 und 5. Buch Mose Kap. 13, V. 8 und 9,) und ihn zu töten, wenn er des Todes schuldig befunden wurde (s. 5. Buch Mose Kap. 17, V. 7). – Die Hebräer mußten ferner, um sich ihre gewonnene Freiheit zu erhalten und im vollen Besitze der eroberten Länder zu bleiben, die Religion ihrem besondern Staatswesen anpassen und sich von den übrigen Völkern abgesondert halten, wie im 17. Kapitel gezeigt wurde. Deshalb war ihnen gesagt worden: Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind (s. Matth. Kap. 5, V. 43). Als sie aber ihr Reich verloren hatten und in die babylonische Gefangenschaft geführt worden waren, gab ihnen Jeremia die Weisung, das Wohl auch derjenigen Stadt zu fördern, in welche sie als Gefangene geführt worden. Und als Christus sah, daß sie über den ganzen Erdkreis zerstreut werden würden, lehrte er sie, alle Menschen ohne Ausnahme zu lieben. Das alles zeigt aufs klarste, daß die Religion zu allen Zeiten dem Wohl des Staats angepaßt wurde.

Sollte aber jemand fragen, mit welchem Recht die Jünger Christi, die doch Privatleute waren, die Religion predigen konnten, so antworte ich, daß sie hierzu das Recht hatten vermöge der Gewalt, die sie von Christus gegen die unreinen Geister empfangen hatten (s. Matth. Kap. 10, V. 1). Denn ich habe oben, am Schluß des 16. Kapitels, ausdrücklich hervorgehoben, daß auch einem Tyrannen jedermann Treue bewahren müsse, derjenige ausgenommen, welchem Gott durch frühere Offenbarung seine besondere Hilfe gegen den Tyrannen verheißen hat. Daher darf niemand dieses Beispiel nachahmen, wenn er nicht auch die Macht hat, Wunder zu verrichten. Es erhellt dies auch daraus, daß Christus zu seinen Jüngern auch gesagt hat, sie sollten diejenigen nicht fürchten, welche die Leiber töten (s. Matth. Kap. 16, V. 28). Wäre dies jedermann gesagt gewesen, so hätte die Einsetzung einer Regierung keinen Wert und das bekannte Wort Salomos: »Mein Sohn, fürchte Gott und den König!« (Spr. Salomo Kap. 24, V. 21) wäre ein gottloses Wort, was doch gewiß nicht der Fall sein kann. Man muß daher notwendig zugeben, daß die Autorität, welche Christus seinen Jüngern erteilt hatte, nur ihnen besonders verliehen war, und andere dieses Beispiel nicht nachahmen können.

Indessen mag ich mich nicht bei den Gründen aufhalten, welche die Gegner für die Trennung des geistlichen vom bürgerlichen Recht geltend machen, und auf welche sie die Behauptung stützen, daß nur das letztere den höchsten Gewalten zukomme, während das erstere der gesamten Kirche zustehe; denn diese Gründe sind so armselig, daß sie keine Widerlegung verdienen. Das eine nur kann ich nicht mit Stillschweigen übergehen, daß sie sich kläglich täuschen, wenn sie zur Rechtfertigung dieser aufrührerischen Ansicht (möge man diesen harten Ausdruck verzeihen) sich auf das Beispiel des Hohenpriesters der Hebräer berufen, dem ehedem das Recht zustand, die Angelegenheiten des Heiligtums zu verwalten. Als ob nicht die Hohenpriester dieses Recht von Moses empfangen hätten, (welcher, wie oben gezeigt wurde, allein die höchste Staatsgewalt inne hatte,) durch dessen Beschluß sie dieses Rechts auch wieder verlustig gehen konnten! Moses hat ja nicht bloß den Aron, sondern auch seinen Sohn Eleazar und seinen Enkel Phineas gewählt und ihnen die Autorität verliehen, das Hohenpriesteramt zu verwalten, und die späteren Hohenpriester behielten diese Autorität in der Weise, daß sie trotz ihres Rechts in Sachen des Heiligtums als Stellvertreter des Moses, d. h. der höchsten Gewalt, erschienen. Denn Moses hatte, wie ich oben zeigte, keinen Nachfolger in der Regierung gewählt, sondern alle seine Ämter so verteilt, daß seine Nachfolger gleichsam seine Verweser waren, welche die Staatsgewalt verwalteten, wie wenn der König nicht tot, sondern nur abwesend wäre. Im zweiten Reich waren dann die Hohenpriester unbeschränkte Inhaber dieses Rechts, nachdem sie mit dem Hohenpriesteramt auch das Recht des Staatsoberhaupts erlangt hatten.

Das Recht des Hohenpriesteramtes war darum immer von der Willensentschließung der höchsten Gewalt abhängig und die Hohenpriester haben es immer nur zugleich mit der weltlichen Oberherrschaft inne gehabt. Ja die Könige besaßen überhaupt das Recht in geistlichen Dingen, (wie bald aus den Ausführungen am Ende dieses Kapitels erhellen wird,) bis auf das eine, daß sie bei den heiligen Verrichtungen im Tempel nicht Hand anlegen durften, weil jeder, der seinen Stammbaum nicht von Aron ableiten konnte, als nichtheilig betrachtet wurde, was ja in einem christlichen Staat nicht der Fall ist. Darum können wir nicht zweifeln, daß heutzutage alle geistlichen Angelegenheiten, (deren Verwaltung zwar besondere Sitten, aber keine besondere Familie erfordert, weshalb auch die Inhaber der Staatsgewalt nicht als Nichtheilige davon ausgeschlossen sind,) einzig und allein zum Recht der höchsten Gewalten gehören, und ihre Autorität oder Bewilligung allein kann das Recht und die Gewalt verleihen, die geistlichen Angelegenheiten zu verwalten, die geistlichen Ämter zu besetzen, die Grundlagen der Kirche und ihre Lehre zu bestimmen und festzustellen, über die Sitten und religiösen Handlungen ein Urteil abzugeben, jemand aus der Kirche auszustoßen oder in dieselbe aufzunehmen, und für die Armen zu sorgen.

Nicht bloß als wahr wird (beziehungsweise wurde) dieses hier bewiesen, sondern hauptsächlich als notwendig, sowohl für die Religion wie für die Erhaltung des Staates. Weiß doch jedermann, welches Gewicht das geistliche Recht und die geistliche Autorität beim Volke hat, und wie sehr jedermann von dem Munde dessen abhängig ist, der dieselbe besitzt, so daß man behaupten darf: wer diese Autorität besitzt, herrscht am meisten über die Gemüter. Wer daher dieselbe den höchsten Gewalten entziehen will, der will die Regierung teilen; woraus notwendig, wie einst bei den Hebräern zwischen den Königen und Hohenpriestern, Streit, und Zwietracht entstehen müssen, deren Ausgleichung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ja wer diese Autorität den höchsten Gewalten entziehen will, der will sich selbst (wie ich schon einmal gesagt habe) einen Weg zur Herrschaft bahnen. Denn worüber kann die Staatsgewalt beschlußfähig sein, wenn ihr dieses Recht abgesprochen wird? Wahrlich über gar nichts, weder über Krieg noch über Frieden, noch über eine sonstige Angelegenheit, wird sie Beschlüsse fassen können, wenn sie die Meinung eines andern einholen muß, um zu erfahren, ob das, was sie selbst für vorteilhaft erachtet, fromm oder gottlos sei; alles wird vielmehr nach der Entschließung dessen geschehen, der das Recht hat, über das, was fromm und nicht fromm, recht und unrecht, Urteil und Bescheid zu geben.

Beispiele hiervon sind in allen Jahrhunderten vorgekommen; ich will nur eines anführen, dem alle andern ähnlich sind. Die römischen Päpste, denen dieses Recht ohne Einschränkung eingeräumt war, brachten nach und nach alle Könige unter ihre Gewalt, bis sie schließlich den höchsten Gipfel der Herrschaft erstiegen hatten. Vergebens strengten sich später die Fürsten und besonders die deutschen Kaiser an, die päpstliche Autorität zu vermindern; nicht ein Titelchen konnten sie ihr nehmen, im Gegenteil ist dieselbe dadurch nur noch mehr gewachsen. So kam es, daß, was die Fürsten mit Feuer und Schwert nicht vollbringen konnten, die Geistlichkeit mit der Feder allein fertig brachte. Schon daran allein kann man leicht erkennen, welche Kraft und Macht die Geistlichkeit besaß, und wie notwendig es ist, daß die höchsten Gewalten diese Autorität sich selbst wahren.

Wenn wir hierbei noch das im vorigen Kapitel Angeführte in Betracht ziehen, so werden wir finden, daß dies auch zum Gedeihen der Religion und Frömmigkeit nicht wenig beiträgt. Denn wir haben oben gesehen, daß sogar die Propheten, die doch mit besonderen Fähigkeiten von Gott begabt waren, weil sie nur Privatleute waren, durch ihr freimütiges Ermahnen, Tadeln und Schelten mehr gereizt als gebessert haben, während sich die Menschen leicht lenken ließen, wenn sie von Königen ermahnt oder gestraft wurden. Ferner haben wir gesehen, daß sehr viele Könige eben darum, weil ihnen dieses Recht nicht unbedingt zukam, von der Religion abfielen und mit ihnen das ganze Volk. Bekanntlich ist dergleichen auch in christlichen Staaten aus gleicher Ursache häufig vorgekommen.

Vielleicht fragt mich hier nun aber jemand: »Wer wird denn hiernach die Frömmigkeit rechtmäßig in Schutz nehmen, wenn die Inhaber der Staatsgewalt gottlos sein wollen? Sind dieselben auch dann als die alleinberechtigten Ausleger der Religion zu betrachten?« – Ich stelle nun aber die Gegenfrage: Wie wenn die Geistlichen, (die doch auch Menschen sind und Privatleute, denen nur die Sorge für ihre Privatangelegenheiten obliegt,) oder welche Personen es seien, denen das Recht in geistlichen Dingen zustehen soll, gottlos sein wollen? Sind dieselben auch dann als die alleinberechtigten Ausleger der Religion zu betrachten? Allein es ist sicher, daß die Inhaber der Staatsgewalt, wenn sie nach ihrem Belieben schalten und walten wollen, alles, geistliche und weltliche Dinge, ins Verderben stürzen, ob sie das Recht in geistlichen Dingen haben oder nicht. Sie werden aber um so schneller alles ins Verderben stürzen, wenn Privatpersonen das göttliche Recht aufrührerisch beanspruchen. Es wird also damit, daß man ihnen dieses Recht abspricht, schlechterdings nichts gewonnen, im Gegenteil wird das Übel dadurch nur noch vergrößert. Denn das eben giebt den Beweggrund ab, daß sie gottlos werden, (wie die Könige der Hebräer, denen dieses Recht nicht unbeschränkt zustand,) und so kommt es, daß das mögliche und zufällige Verderben und Unglück des ganzen Staats zum gewissen und notwendigen wird.

Die Wahrheit sowohl, als auch die Sicherheit des Staats, wie nicht minder das Gedeihen der Frömmigkeit, nötigen uns, zu behaupten, daß auch das göttliche Recht, oder das Recht in geistlichen Dingen, von dem Beschluß der höchsten Gewalten ohne Einschränkung abhängt und daß diese dessen Ausleger und Beschützer sind. Hieraus folgt, daß nur diejenigen Diener des göttlichen Wortes sind, welche vermöge der Autorität der höchsten Gewalten dem Volke die Frömmigkeit so lehren, wie sie nach der Willensmeinung der höchsten Gewalten mit dem öffentlichen Wohl in Einklang steht.

Es erübrigt noch, die Ursache anzugeben, weshalb im christlichen Reiche über dieses Recht immer Streit gewesen ist, da doch die Hebräer, so viel ich weiß, sich niemals darüber entzweit haben. Fürwahr, es könnte als eine Ungeheuerlichkeit erscheinen, daß eine Sache, die so klar und notwendig ist, beständig in Frage stand, und daß die höchsten Gewalten dieses Recht nie ohne Streitigkeiten, ja unter beständiger Gefahr des Aufruhrs und zum Schaden der Religion besessen haben. Wahrlich, wenn sich nicht eine bestimmte Ursache hierfür angeben ließe, so wäre ich geneigt, zu glauben, daß alles, was ich in diesem Kapitel gesagt habe, bloß theoretischen Wert habe, oder zu jener Gattung von Spekulationen gehöre, die niemals praktischen Wert haben können. Faßt man aber die Anfänge der christlichen Religion ins Auge, so tritt die Ursache der fraglichen Erscheinung vollständig klar zu Tage.

Die ersten Lehrer der christlichen Religion waren keine Könige, sondern Privatpersonen, welche, ganz gegen den Willen derer, welche die Staatsgewalt inne hatten und deren Unterthanen sie waren, viele Jahre lang in besonderen Kirchen sich versammelten, geistliche Aemter gründeten und verwalteten, und in allem allein Anordnungen trafen und Beschlüsse faßten, ohne sich dabei um die Staatsgewalt zu kümmern. Als nun im Laufe der Zeit die Religion nach und nach im Staat eingeführt wurde, mußten die Geistlichen die Religion so, wie sie von ihnen ausgebildet worden war, den Kaisern lehren, und dadurch war es ihnen leicht, es dahin zu bringen, daß sie als Lehrer und Ausleger der Religion, und außerdem als Hirten der Kirche, sozusagen als Stellvertreter Gottes, anerkannt wurden. Auch sorgten die Geistlichen aufs beste dafür, daß die späteren christlichen Könige sich diese Autorität nicht beilegen konnten, indem sie nämlich den höheren Dienern der Kirche und dem obersten Ausleger der Religion die Ehe verboten. Dazu kam noch, daß sie die Lehrsätze der Religion dermaßen vermehrt und sie mit der Philosophie derart vermengt hatten, daß der oberste Ausleger der Religion auch ein großer Philosoph und Theolog hätte sein und mit einer Menge wertloser Spekulationen sich hätte abgeben müssen, was doch nur bei Privatpersonen, welche recht viel Zeit übrig haben, der Fall sein kann.

Bei den Hebräern dagegen verhielt sich die Sache ganz anders. Der Anfang ihrer Kirche fiel mit dem Anfang ihres Staats zusammen, und Moses, welcher die Staatsgewalt unbeschränkt inne hatte, lehrte dem Volke die Religion, stiftete die heiligen Aemter und wählte die Personen, welche diese Aemter zu bekleiden hatten. Daher kam es, daß im Hebräerstaat, im Gegensatz zum christlichen Staat, die königliche Autorität das größte Gewicht beim Volke hatte, und daß die Könige es waren, welche das Recht in geistlichen Dingen hauptsächlich inne hatten. Denn wenn auch nach Moses' Tode kein unbeschränkter Inhaber der Staatsgewalt an der Spitze stand, so stand doch das Recht, Beschlüsse zu fassen, sowohl in geistlichen wie in andern Dingen, dem Staatsoberhaupt zu (wie schon gezeigt wurde). Auch mußte das Volk, wenn es über Religion und Frömmigkeit belehrt sein wollte, sich an den obersten Richter ebensowohl wie an den Priester wenden. (S. 5. Buch Mose Kap. 17, V. 9 und 11.) Auch hing die Ordnung und Wahl der geistlichen Aemter fast gänzlich von dem Beschluß der Könige ab, wenn sie auch nicht das gleiche Recht wie Moses besaßen. David ordnete den ganzen Tempelbau an (s. 1. Buch der Chronik Kap. 28, V. 11, 12 etc.); sodann wählte er aus allen Leviten vierundzwanzigtausend für den Gesang, und weitere sechstausend, aus welchen die Richter und Oberen gewählt werden sollten, ferner viertausend Thürhüter, und viertausend für die Instrumentalmusik. (S. desselben Buches 23. Kap., V. 4 und 5.) Ferner teilte er dieselben in einzelne Abteilungen, (deren Vorsteher er ebenfalls wählte,) welche den Tempeldienst der Reihe nach abwechselnd zu verrichten hatten. (S. V. 5 desselben Kapitels.) In ebensoviel Abteilungen teilte er die Priester ein. Um jedoch nicht alles im einzelnen anführen zu müssen, verweise ich den Leser auf das 2. Buch der Chronik Kap. 8, wo es im 13. Vers heißt, daß der Dienst Gottes, so wie ihn Moses eingesetzt hatte, auf Befehl Salomos im Tempel verrichtet worden sei, und im 14. Vers, daß er selbst (Salomo) die Abteilungen der Priester zu ihrem Dienste und die der Leviten etc. eingesetzt habe, nach dem Befehl Davids, des Gottesmanns. Endlich bezeugt der Geschichtschreiber im 15. Vers, daß von der Vorschrift des Königs, die er den Priestern und Leviten erteilt, in keinem Punkte abgewichen wurde, auch nicht in der Verwaltung des Schatzes.

Aus dem allem, wie aus andern geschichtlichen Berichten über die Könige geht sehr deutlich hervor, daß die Ausübung der Religion und der heilige Dienst in jeder Hinsicht einzig und allein vom Befehl des Königs abhing. Wenn ich aber oben sagte, daß die Könige nicht wie Moses das Recht hatten, den Hohenpriester zu wählen, Gott unmittelbar zu befragen, und die Propheten, die zu ihrer Zeit prophezeiten, zu verurteilen, so sagte ich das nur, sofern die Propheten vermöge der Autorität, die sie besaßen, einen neuen König wählen und den Königsmord vergeben konnten; ich meinte aber nicht, daß die Propheten einen König, der etwas Widergesetzliches zu unternehmen wagte, vor Gericht fordern und nach dem Recht gegen ihn verfahren durften. Hätte es aber keine Propheten gegeben, die durch besondere Offenbarung den Königsmördern sichere Verzeihung gewähren konnten, so würden die Könige zu allem, zu heiligen wie weltlichen Dingen, gänzlich und unbeschränkt Macht gehabt haben.

Die höchsten Gewalten der Gegenwart aber, welche keine Propheten haben, und keine anzuerkennen brauchen, (da sie den Gesetzen der Hebräer nicht unterworfen sind,) besitzen, auch wenn sie nicht ehelos sind, dieses Recht unbeschränkt, und sie werden es immer besitzen, wenn sie nur nicht zugeben, daß die religiösen Glaubenssätze vermehrt und mit der Wissenschaft vermengt werden.

Zwanzigstes Kapitel.

Es wird gezeigt, daß in einem freien Staat jedem erlaubt ist, zu denken was er will, und zu reden, wie er denkt.


Ließen sich die Geister ebenso leicht beherrschen wie die Zungen, so würde jeder Herrscher in Sicherheit regieren und eine gewaltthätige Regierung würde es nicht geben, denn alle Unterthanen würden alsdann nach dem Sinne der Regierenden leben, und ihr Urteil über wahr und falsch, gut und böse, gerecht und ungerecht, würde immer den Beschlüssen der Regierenden entsprechen. Es ist aber schlechterdings nicht möglich, daß sich der Geist dem Recht eines andern unbedingt ergiebt, wie ich schon zu Anfang des 17. Kapitels bemerkt habe. Niemand kann sein natürliches Recht, oder seine Fähigkeit, frei zu denken und über alles frei zu urteilen, auf einen andern übertragen, und ebensowenig kann er dazu gezwungen werden. Daher kommt es, daß eine Regierung als gewaltthätig bezeichnet wird, wenn sie sich auf die Geister erstreckt, und daß die höchste Majestät als eine solche erscheint, die den Unterthanen ein Unrecht zufügt und ihr Recht sich anmaßt, wenn sie jedem vorschreiben will, was er als wahr anerkennen und als falsch verwerfen soll, und durch welche Ansichten jeder sein Herz zur Ehrfurcht gegen Gott bewegen lassen soll. Denn hierzu hat jeder Mensch das Recht und niemand kann dasselbe abtreten, auch wenn er wollte.

Ich gestehe zwar, daß das Urteil auf mannigfache und beinahe unglaubliche Weise beeinflußt werden kann, und daß man sogar von dem Munde eines andern, selbst wenn man nicht unmittelbar seiner Herrschaft unterworfen ist, dermaßen abhängig sein kann, daß man förmlich sein Untergebener heißen könnte. So viel aber auch die Kunst hierin zu leisten vermocht haben mag, so hat man doch noch niemals den Menschen das Bewußtsein zu rauben vermocht, daß jeder an seinem eigenen Kopf genug habe und daß die Ansichten so gut wie der Geschmack verschieden seien. Selbst Moses, der nicht auf hinterlistige Weise, sondern durch göttliche Fähigkeiten das Urteil seines Volkes stark beeinflußt hatte, da er für einen göttlichen Mann gehalten wurde, dessen Worte und Thaten von Gott eingegeben waren, konnte dennoch üblen Nachreden und schiefen Auslegungen nicht entgehen; noch viel weniger können es andere Monarchen. Wäre dies überhaupt irgend möglich, so wäre es doch nur in einem monarchischen Staat denkbar, am wenigsten aber in einem demokratischen, in welchem alle oder doch sehr viele Bürger die Regierung inne haben, wie jeder leicht begreifen wird.

Mögen daher die höchsten Gewalten noch so sehr als Inhaber des unbeschränkten Rechts und Ausleger des Rechts und der Frömmigkeit gelten, so werden sie es doch nie verhindern können, daß die Menschen sich über alle Dinge ihr eigenes Urteil bilden, und je nachdem bald von dieser bald von jener Stimmung erfaßt werden. Wohl ist es wahr, daß die höchsten Gewalten das Recht haben, jeden, der nicht in allem unbedingt mit ihnen übereinstimmt, als einen Feind zu betrachten. Allein es handelt sich hier nicht darum, ob sie das Recht dazu haben, sondern ob es vorteilhaft ist. Ich gebe zu, daß sie das Recht haben, gewaltthätig zu regieren und die Bürger wegen der geringfügigsten Dinge hinrichten zu lassen; aber kein Mensch wird behaupten, daß ein derartiges Verfahren der gesunden Vernunft entspricht. Ja, weil dergleichen nicht ohne große Gefahr für den ganzen Staat geschehen kann, so können wir ihnen sogar die unbeschränkte Macht zu solchen Dingen absprechen, und dementsprechend auch das unbeschränkte Recht, da wir gesehen haben, daß das Recht der höchsten Gewalten sich nicht weiter erstreckt als ihre Macht.

Wenn also niemand sich seiner Freiheit im Urteilen und Denken entäußern kann, vielmehr jedermann vermöge des höchsten Naturrechts Herr seiner Gedanken ist, so folgt, daß der Erfolg nur ein höchst unglücklicher sein kann, wenn der Staat es dahin bringen will, daß die Menschen, trotz ihrer verschiedenen, sogar widersprechenden Ansichten, in ihrem Reden sich nach der Vorschrift der höchsten Gewalten richten. Nicht bloß der Volksmasse, auch den klügsten Menschen ist das Schweigen nicht immer gegeben. Es ist eine allgemeine Schwachheit der Menschen, daß sie andern ihre Absichten anvertrauen, auch wo das Schweigen geboten ist. Daher wird der Staat die gewalttätigste Regierung haben, in welchem die Freiheit verweigert wird, so zu reden und zu lehren, wie man denkt; und umgekehrt wird der Staat die erträglichste Regierung haben, in welchem sich jedermann dieser Freiheit erfreut. Indessen können wir bei alledem nicht verkennen, daß die Majestät durch Worte ebensogut wie durch Thaten verletzt werden kann. Wenn es daher auch unmöglich ist, diese Freiheit den Unterthanen gänzlich zu entziehen, so müßte es anderseits doch wieder überaus schädlich sein, dieselbe in vollem Umfang einzuräumen. Es liegt uns daher ob, zu untersuchen, inwieweit jedem diese Freiheit, dem Frieden des Staats und dem Rechte der höchsten Gewalten unbeschadet, gewährt werden könne und müsse. Wie ich zu Anfang des 16. Kapitels erwähnt habe, ist dies meine Hauptaufgabe.

Aus den oben entwickelten Grundlagen des Staates folgt aufs klarste, daß dessen letzter Zweck nicht ist, zu herrschen, oder die Menschen in Furcht zu halten und dem Recht eines andern zu unterwerfen, sondern im Gegenteil jeden von Furcht zu befreien, damit er in größtmöglicher Sicherheit leben könne, d. h. damit er sein natürliches Recht zum Dasein ohne eigenen und fremden Schaden am besten bethätigen könne. Es ist, behaupte ich, nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern im Gegenteil zu erzielen, daß Geist und Körper ungehemmt ihre Kräfte entfalten, daß die Menschen von ihrer freien Vernunft Gebrauch machen, und es vermeiden, haßerfüllt, zornig oder arglistig einander zu bekämpfen, oder feindselige Gesinnungen gegen einander zu hegen. Der Zweck des Staates ist also im Grunde die Freiheit.

Wir haben ferner als das wesentliche Erfordernis zur Bildung eines Staates die Einrichtung bezeichnet, daß die gesamte Macht, Beschlüsse zu fassen, entweder allen seinen Gliedern, oder einigen, oder einem einzigen zusteht. Denn da das freie Urteil der Menschen sehr verschieden ist und jeder allein alles zu wissen glaubt, es auch nicht möglich ist, daß alle im Denken und Reden völlig übereinstimmen, so könnten sie unmöglich in Frieden miteinander leben, wenn nicht jeder sein Recht, nach eigenem Beschluß zu handeln, abtreten würde. Nun hat aber jeder nur sein Recht, nach eigenem Beschluß zu handeln, aufgegeben, nicht aber sein Recht zu denken und zu urteilen. Ohne Verletzung des Rechts der höchsten Gewalten kann man daher nicht gegen deren Beschluß handeln, wohl aber in jeder Hinsicht denken und urteilen, und folglich auch sprechen, sofern man nur in schlichter Weise spricht oder lehrt, und mit der Vernunft allein, nicht aber mit Täuschung, Leidenschaft oder Haß seine Ansichten geltend macht, oder in der Absicht, etwas im Staat auf Grund der eigenen Willensmeinung einzuführen. Wenn z. B. jemand zeigt, daß dieses oder jenes Gesetz mit der gesunden Vernunft im Widerspruch steht und daher für dessen Aufhebung eintritt, so macht er sich wahrlich um den Staat verdient als der besten Bürger einer, sofern er nur seine Ansicht dem Urteil der höchsten Gewalt (der es allein zusteht, Gesetze zu geben und aufzuheben) unterwirft, und in keinem Punkte gegen das betreffende Gesetz handelt, so lange es nicht aufgehoben ist. Thut er dies hingegen, um die Obrigkeit der Ungerechtigkeit zu beschuldigen und beim Volke verhaßt zu machen, oder geht er darauf aus, das betreffende Gesetz auf aufrührerischem Wege, gegen den Willen der Obrigkeit, abzuschaffen, so ist er ein ausgemachter Unruhstifter und Empörer.

Wir sehen also, auf welche Weise jedermann, ohne dem Recht und der Autorität der höchsten Gewalten zu nahe zu treten, mit andern Worten ohne den staatlichen Frieden zu beeinträchtigen, sagen und lehren kann, was er denkt; wenn er nämlich den Beschluß über alle Handlungen den höchsten Gewalten überläßt und nicht gegen ihren Beschluß handelt, sollte er dadurch auch oft genötigt sein, anders zu handeln, als es nach seiner Meinung und Ueberzeugung gut ist. Dies kann er der Gerechtigkeit und Frömmigkeit unbeschadet thun, ja er muß es thun, wenn er ein gerechter und frommer Mensch sein will. Denn die Gerechtigkeit hängt, wie früher gezeigt wurde, von dem Beschluß der höchsten Gewalten allein ab, daher kann nur derjenige ein Gerechter heißen, der den von den höchsten Gewalten gefaßten Beschlüssen gemäß lebt. Die höchste Frömmigkeit ist aber (nach den Ausführungen des vorigen Kapitels) diejenige, welche den Frieden und die Ruhe des Staates fördert, und diese können unmöglich erhalten werden, wenn jeder nach seinem persönlichen Gutdünken leben dürfte. Es ist darum auch gottlos, etwas nach eigenem Gutdünken gegen den Beschluß der höchsten Gewalt zu thun, deren Unterthan man ist, weil, wenn dies jedermann gestattet sein würde, der Untergang des Staats die notwendige Folge sein müßte. Es kann sogar der Einzelne eigentlich gar nicht gegen den Beschluß und die Vorschrift der eigenen Vernunft handeln, wenn er den Beschlüssen der höchsten Gewalt gemäß handelt, da er von der Vernunft selbst zu dem Entschluß bewogen wurde, das Recht, nach eigenem Ermessen leben zu dürfen, auf die Staatsgewalt zu übertragen.

Wir können dies auch durch die Praxis bestätigt finden. In den Versammlungen der höchsten wie der niederen Staatsgewalten wird selten ein Beschluß einstimmig gefaßt, und dennoch gilt der Beschluß als ein solcher, der von allen gemeinschaftlich gefaßt worden, von denen, die dagegen gestimmt haben ebenso gut wie von denen, die dafür gestimmt haben, und diesem Beschluß gemäß wird gehandelt.

Ich kehre jedoch wieder zu meiner Aufgabe zurück. Auf welche Weise jedermann von seinem freien Urteil Gebrauch machen kann, ohne das Recht der höchsten Gewalten anzutasten, haben wir aus den Grundlagen des Staates ersehen. Wir können aber mit Hilfe derselben nicht minder leicht bestimmen, welche Ansichten in einem Staate als aufrührerisch zu betrachten sind. Solche Ansichten sind aufrührerisch, mit deren Aufstellung der Vertrag hinfällig wird, kraft dessen sich jeder des Rechts, nach einem Gutdünken zu handeln, begeben hat. Wenn z. B. jemand die Ansicht aufstellt, die höchste Gewalt sei einem andern Rechte unterworfen, oder niemand brauche sein Versprechen zu halten, oder jeder solle nach eigenem Gutdünken leben, und andere Ansichten dieser Art, welche dem vorerwähnten Vertrag schnurstracks zuwiderlaufen, so ist er ein Aufrührer, nicht sowohl wegen dieses seines Urteils oder seiner Meinung, als vielmehr wegen der That, welche solche Urteile einschließen, da er eben dadurch, daß er eine derartige Ansicht hegt, der höchsten Gewalt stillschweigend oder ausdrücklich die versprochene Treue bricht. Demnach sind andere Meinungen, welche keine That einschließen, nämlich keinen Vertragsbruch, auch keine Handlungen der Rache und des Zorns u. s. f., nicht aufrührerisch. Dies könnten sie allenfalls in einem recht heruntergekommenen Staate sein, wo abergläubische und ehrgeizige Menschen, welche keinen Freimütigen ertragen können, einen so großen Namen erlangt haben, daß ihre Autorität bei der Menge mehr gilt als die Autorität der Staatsgewalt. – Ich bestreite indessen nicht, daß es außerdem noch gewisse Ansichten giebt, welche sich einfach nur um wahr oder nicht wahr zu drehen scheinen und dennoch in schlimmer Absicht aufgestellt und verbreitet werden. Ich habe dieselben schon im 15. Kapitel näher angegeben, doch so, daß die Vernunft dabei dennoch frei bleibt. – Bedenkt man endlich noch, daß die Treue gegen den Staat, ebenso wie die gegen Gott, in den Werken allein sich bekundet, nämlich in der Nächstenliebe, so werden wir nicht zweifeln können, daß ein guter Staat das freie Philosophieren jedermann gestattet, ebensogut als es der Glaube nach unserer obigen Ausführung gestattet.

Ich gebe zwar zu, daß aus dieser Freiheit bisweilen auch Unannehmlichkeiten entspringen können; allein welche noch so weise Einrichtung hat es jemals gegeben, aus welcher nicht die eine oder andere Unannehmlichkeit entsprungen wäre. Wer alles durch Gesetze regeln will, wird die Handlungen eher verschlechtern, als verbessern. Was man nicht hindern kann, muß man eben notgedrungen gewähren lassen, wenn auch manchmal Schaden daraus erwächst. Wie viele Uebel entspringen nur aus Ueppigkeit, Neid, Trunkenheit! Man duldet sie aber, weil man sie durch gesetzliche Maßregeln nicht hindern kann, obschon sie wirkliche Laster sind. Um so mehr muß die Gedankenfreiheit gewährt werden, die entschieden eine Tugend ist und nicht unterdrückt werden kann.

Hierzu kommt noch, daß sämtliche Unannehmlichkeiten, welche aus ihr entspringen, durch die Autorität der Obrigkeit vermieden werden können (wie ich gleich zeigen werde); abgesehen davon, daß diese Freiheit zur Förderung der Wissenschaft und Künste höchst notwendig ist. Denn diese kann man nur dann mit gutem Erfolge pflegen, wenn man ein freies, von keinen Vorurteilen eingenommenes Urteil hat.

Gesetzt aber auch, diese Freiheit könnte unterdrückt und die Menschen könnten so geknechtet werden, daß sie nicht zu mucksen wagen, ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten, so wird es doch sicherlich niemals so weit kommen, daß die Menschen auch nicht anders denken, als es den höchsten Gewalten genehm ist. Die notwendige Folge wäre, daß die Menschen täglich anders reden als sie denken, wodurch notwendig die Treue, die dem Staate doch überaus nötig ist, untergraben, und die verächtlichste Heuchelei und Treulosigkeit gehegt würde, die Quelle des Betrugs und des Verderbens für alle guten Künste. – Weit entfernt indessen, daß es dahin kommen kann, nämlich daß alle Menschen nur vorschriftsgemäß sprechen, werden die Menschen gerade um so hartnäckiger auf Redefreiheit bestehen, je mehr man sie ihnen zu nehmen trachtet; und zwar keineswegs die Geizigen, die Heuchler und andere Seelenschwächlinge, deren höchste Seligkeit darin besteht, das Geld im Kasten anzusehen und den Bauch zu füllen, sondern solche Leute, welche infolge ihrer guten Erziehung, ihrer reinen Sitten und ihrer Tugend die Freiheit lieben.

Die Menschen sind größtenteils so beschaffen, daß ihnen nichts unerträglicher ist, als wenn Ansichten, die sie für richtig halten, als Verbrechen betrachtet werden, und wenn ihnen das, was sie zu frommen Gesinnungen gegen Gott und gegen Menschen anregt, als Sünde angerechnet wird. Die Folge ist, daß man die Gesetze verwünscht und gegen die Obrigkeit sich alles herausnimmt, und daß man es nicht für schändlich, sondern für höchst verdienstlich hält, um dieser Ursache willen Empörungen anzustiften und alle möglichen Frevel zu begehen. Da also die menschliche Natur offenbar so beschaffen ist, so folgt, daß Gesetze, welche gegen Ansichten gerichtet sind, nicht die schlechten, sondern die edlen Menschen treffen, daß sie die Uebelwollenden nicht in Schranken hallen, sondern vielmehr die Redlichen erbittern, und daß sie nicht aufrecht erhalten werden können, ohne daß der Staat in hohem Grade gefährdet wird.

Hierzu kommt noch, daß solche Gesetze ganz nutzlos sind. Denn diejenigen, welche die von den Gesetzen verfehmten Meinungen für richtig halten, werden den Gesetzen nicht gehorchen können; diejenigen dagegen, die sie als falsch verwerfen, erblicken in den Gesetzen, welche jene Meinungen verfehmen, eine Art von Vorrecht für sich selbst, und triumphieren so sehr über dieselben, daß die Obrigkeit später, wenn sie dieselben abschaffen wollte, es nicht mehr vermöchte. – Hierzu kommt weiter, was oben in Kapitel 18 aus der Geschichte der Hebräer unter Punkt Zwei abgeleitet wurde.

Wie viele kirchliche Spaltungen endlich sind großenteils daraus entstanden, daß die Obrigkeit die Streitigkeiten der Gelehrten durch Gesetze beilegen wollte! Denn wenn die Menschen nicht hoffen dürften, Gesetz und Obrigkeit auf ihre Seite zu ziehen, über ihre Gegner unter dem allgemeinen Beifall der Menge zu triumphieren und Ehren zu gewinnen, so würden sie niemals mit so großer Bösartigkeit streiten und sich nicht von so heftiger Wut ergreifen lassen. Nicht die Vernunft allein, auch die Erfahrung lehrt dies durch alltägliche Beispiele; nämlich daß solche Gesetze, welche vorschreiben, was jeder zu glauben hat und verbieten, gegen diese oder jene Meinung zu reden oder zu schreiben, häufig aus keinem andern Grunde geschaffen worden sind als aus Zuvorkommenheit oder vielmehr aus Nachgiebigkeit gegen fanatische Menschen, welche keine freie Gesinnung dulden können und durch eine gewisse finstere Autorität die Gottergebenheit der unruhigen Menge leicht in Raserei umwandeln und gegen wen sie wollen aufhetzen können.

Wäre es denn aber nicht viel zweckmäßiger, die Aufregung und Wut der Menge zu zügeln, als nutzlose Gesetze zu geben, die nur von Personen, welche die Tugend und die Künste lieben, verletzt werden können, und den Staat so einzuengen, daß er keine edlen Männer ertragen kann? Denn kann es ein größeres Unglück für den Staat geben, als wenn ehrbare Männer, weil sie anders denken und sich nicht verstellen können, wie Verbrecher des Landes verwiesen werden? Was, sage ich, kann verderblicher sein, als wenn Menschen, die sich keines Verbrechens und keiner Uebelthat schuldig gemacht haben, bloß weil sie freien Geistes sind, für Feinde gehalten und zum Tode geführt werden, und das Schaffot, das Schreckbild der Schlechten, zur schönsten Schaubühne sich verwandelt, wo das erhabenste Beispiel von Selbstverleugnung und Tugend zur offenbaren Schmach der Majestät dargeboten wird? Denn die sich ihrer Rechtschaffenheit bewußt sind, fürchten den Tod nicht wie Verbrecher und bitten die Strafe nicht ab; weil ihre Seele nicht von Reue über eine schlechte That beklommen ist, und sie es nicht als Strafe, sondern als ehrenvoll und glorreich betrachten, für die gute Sache und für die Freiheit zu sterben. Wem soll also ein Beispiel gegeben werden mit einem solchen Tode, dessen Anlaß die Stumpf- und Schwachsinnigen nicht kennen, die Aufrührerischen verwünschen und die Redlichen lieben? Fürwahr, niemand kann sich daran ein Exempel nehmen, als allenfalls zur Nachahmung, oder zur Heuchelei.

Soll also nicht äußerlicher Schein, sondern Treue geschätzt sein, und sollen die höchsten Gewalten die Zügel der Regierung fest in den Händen haben, und nicht gezwungen sein, sie den Empörern abzutreten, so muß die Freiheit des Urteils notwendig gewährt und müssen die Menschen so regiert werden, daß sie trotz offenbar verschiedener, ja entgegengesetzter Ansichten in Eintracht nebeneinander leben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dies die beste und mit den wenigsten Unannehmlichkeiten verbundene Art der Regierung ist, da sie der Natur des Menschen am meisten entspricht. Denn in einem demokratischen Staate (welcher dem natürlichen Zustand am nächsten steht) haben sich, nach unserer Darlegung, alle vertragsmäßig verpflichtet, nach dem Beschluß der Gesamtheit zu handeln, nicht aber auch danach zu urteilen und zu denken. Weil sie nämlich nicht gleichen Sinnes sein können, sind sie dahin übereingekommen, daß dasjenige die Kraft einer Verordnung haben soll, was die meisten Stimmen hat, wobei sie sich die Autorität vorbehalten haben, diese Verordnung wieder aufzuheben, sobald sich etwas besseres findet. Je weniger also den Menschen die Freiheit des Urteils gewährt wird, desto mehr entfernt man sich von dem Zustand, welcher der Natur am meisten entspricht, und desto gewaltthätiger ist folglich die Regierung.

Für die Behauptung aber, daß aus dieser Freiheit keine Nachteile entspringen, welche durch die Autorität der höchsten Gewalt allein nicht vermieden werden könnten, und daß nur bei dieser Freiheit die Menschen, trotz offenbar entgegengesetzter Meinungen, leicht abgehalten werden, einander zu schädigen, dafür sind naheliegende Beispiele vorhanden und ich brauche solche nicht lange zu suchen. Die Stadt Amsterdam bietet ein solches Beispiel. In ihrem prächtigen Gedeihen und in der Bewunderung aller Völker zeigt sich die Frucht dieser Freiheit. In diesem herrlich blühenden Staat und dieser vortrefflichen Stadt leben alle Menschen, welchem Volk und welcher Sekte sie auch angehören, in größter Eintracht. Und will man da jemand sein Vermögen anvertrauen, so fragt man nur danach, ob derselbe reich oder arm, und ob seine Handlungsweise redlich oder unredlich sei; um die Religion oder Sekte aber kümmert man sich nicht, weil das bei dem Richter gar nicht in Betracht kommt, um in einer Klagsache Recht oder Unrecht zu bekommen. Die Anhänger der verhaßtesten Sekte werden durch die öffentliche Autorität und die Hilfe der Obrigkeit geschützt (wenn sie anders niemand schädigen, jedem das Seine lassen und anständig leben). – Als dagegen in früherer Zeit, da der Religionsstreit zwischen den Remonstranten und Kontraremonstranten herrschte, die Staatsmänner und Provinzialstände anfingen, sich einzumischen, artete der Streit schließlich in eine Religionsspaltung aus, und viele damalige Vorkommnisse bestätigen, daß Gesetze, welche in Bezug auf die Religion erlassen werden, nämlich zur Beilegung religiöser Streitigkeiten, die Menschen mehr aufregen, als bessern; daß sich andere durch solche Gesetze eine schrankenlose Freiheit herausnehmen; daß überdies religiöse Spaltungen eher in großer Liebe zur Wahrheit, (die doch die Quelle der Leutseligkeit und Sanftmut ist,) als in großer Herrschsucht ihren Ursprung haben. Hieraus erhellt sonnenklar, daß jene Leute, welche die Schriften anderer verdammen und die leicht bewegliche Menge gegen die betreffenden Verfasser aufrührerisch aufhetzen, weit mehr Religionsabtrünnige sind, als die Verfasser selbst, welche meistens nur für die Gelehrten schreiben und nur die Vernunft zu Hilfe rufen. Nicht minder erhellt, daß die wahren Friedensstörer jene sind, die in einem freien Staate die Freiheit des Urteils, die nicht unterdrückt werden kann, aufheben wollen.

Aus dem Vorstehenden ergiebt sich:

Erstens, daß den Menschen die Freiheit, so zu reden, wie sie denken, unmöglich genommen werden kann.

Zweitens, daß diese Freiheit ohne das Recht und die Autorität der höchsten Gewalten zu beeinträchtigen, jedem gewährt werden kann, und daß sich auch jeder, ohne das Recht der höchsten Gewalten zu beeinträchtigen, im Besitz dieser Freiheit erhalten kann, wenn er sich durch sie nicht herausnimmt, etwas als Recht im Staate einzuführen, oder dem geltenden Gesetze zuwider zu handeln.

Drittens, daß jeder im Besitze dieser Freiheit sein kann, ohne daß der Frieden des Staats dadurch gestört wird, und daß keine Unannehmlichkeit daraus entsteht, die nicht leicht verhindert werden könnte.

Viertens, daß auch ohne Beeinträchtigung der Frömmigkeit jeder im Besitze dieser Freiheit sein kann.

Fünftens, daß Gesetze, welche spekulative Dinge betreffen, völlig nutzlos sind.

Sechstens endlich ergiebt sich, daß diese Freiheit nicht bloß ohne Beeinträchtigung des Staatsfriedens, der Frömmigkeit und des Rechts der höchsten Gewalten gewährt werden kann, sondern zu deren Erhaltung gewährt werden muß. Denn da wo man dem entgegen diese Freiheit den Menschen zu entziehen sich bemüht, und die Meinung Andersdenkender vor Gericht zieht, statt deren Absichten, die allein zum Verbrechen führen können, da wird für die rechtlichen Leute ein Beispiel aufgestellt, welches eher wie ein Martyrium aussieht und die andern mehr erbittert, und eher das Mitleid, wo nicht die Rachsucht erregt, als abschreckt. Sodann werden die guten Künste wie auch die Treue untergraben und Heuchler und treulose Menschen großgezogen, und die Gegner triumphieren, weil man ihrem Haß nachgegeben hat und weil sie die Regierenden zu Anhängern ihrer Lehre gemacht haben, als deren Ausleger sie gelten; was dann die Folge hat, daß sie sich erfrechen, die Autorität und das Recht der Regierung sich anzumaßen, und ohne Scheu prahlen, sie seien unmittelbar von Gott gewählt und ihre Beschlüsse seien göttlich, wogegen die der höchsten Gewalten menschlich seien und darum den göttlichen, d. h. ihren Beschlüssen, weichen sollen.

Niemand kann verkennen, daß das alles mit dem Staatswohl in krassem Widerspruch steht.

Ich ziehe also, wie oben im 18. Kapitel, den Schluß, daß es für die Sicherheit des Staates das Ersprießlichste ist, wenn einzig und allein Liebe und Rechtschaffenheit als Frömmigkeit und Religion gelten, und wenn das Recht der höchsten Gewalten in geistlichen wie in weltlichen Dingen sich nur auf Thaten erstreckt, im übrigen aber jedermann gestattet ist, zu denken was er will, und zu reden, wie er denkt.

Damit habe ich den Gegenstand erledigt, dessen Behandlung der Zweck dieses Buches war.

Es erübrigt nur noch, ausdrücklich zu bemerken, daß ich mit Freuden bereit bin, alles, was ich geschrieben, der Prüfung und dem Urteil der höchsten Gewalten meines Vaterlandes zu unterwerfen. Sollten sie finden, daß ich etwas gesagt habe, was mit den Landesgesetzen im Widerspruch steht oder dem allgemeinen Wohl zum Schaden gereicht, so will ich es nicht gesagt haben. Ich weiß, daß ich ein Mensch bin und irren kann. Doch war ich ernstlich bestrebt, nicht zu irren, und besonders auch, daß alles, was ich schreibe, mit den Landesgesetzen, der Frömmigkeit und den guten Sitten in Einklang stehe.

 

Ende.