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Über die Auslegung der Bibel.
Aus aller Leute Mund kann man hören, daß die heilige Schrift das Wort Gottes ist, welches den Menschen die wahre Glückseligkeit oder den Weg des Heils lehrt; indessen denken sie über die Sache selbst ganz anders. Denn die gewöhnlichen Menschen trachten, so scheint es wenigstens, nach nichts weniger, als nach einem der heiligen Schrift entsprechenden Leben, vielmehr sehen wir, daß fast alle ihre Hirngespinnste für Gottes Wort ausgeben und nur darauf bedacht sind, unter dem Deckmantel der Religion andere Leute zu zwingen, daß sie denken wie sie selbst. Wir sehen, sage ich, daß die Theologen größtenteils sich alle Mühe geben, ihre Erdichtungen und Wünsche aus der heiligen Schrift herauszupressen und hinter der göttlichen Autorität zu verschanzen. Bei nichts gehen sie mit so wenig Gewissenhaftigkeit und so viel Oberflächlichkeit zu Werke als bei der Erklärung der Bibel oder der Gedanken des heiligen Geistes, und die einzige Sorge, die sie dabei haben, ist nicht etwa die, daß sie dem heiligen Geist einen Irrtum andichten und von dem Weg des Heils abirren könnten, sondern nur, daß sie nicht von andern des Irrtums überführt werden, wodurch ihr Ansehen untergraben und die Achtung vor ihnen beeinträchtigt würde. Wenn die Menschen das, was sie mit Worten von der Bibel bezeugen, auch aufrichtig denken würden, so müßten sie einen ganz andern Lebenswandel führen, sie hätten nicht unter so viel Meinungszwiespalt zu leiden, könnten nicht so gehässig einander bekämpfen, nicht mit so blindem, unbesonnenem Eifer die heilige Schrift auslegen und Neues in der Religion aushecken; sie würden im Gegenteil nicht wagen, eine Lehre als biblisch anzuerkennen, die nicht in der Bibel selbst ganz deutlich enthalten ist. Endlich auch würden jene Ruchlosen, die sich nicht gescheut haben, die Bibel an vielen Stellen zu fälschen, sich vor solchem Frevel gehütet und ihre entweihenden Hände davon gelassen haben. Aber Ehrgeiz und Niedertracht brachten es soweit, daß nicht die Beobachtung der Lehren des heiligen Geistes als Religion gilt, sondern das Bekennen menschlicher Hirngespinnste, so daß die Religion nicht in der Liebe sich bethätigt, sondern darin, daß man Zwietracht unter den Menschen ausstreut und erbitterten Haß ausbreitet, den sie mit dem falschen Namen eines göttlichen Eifers und frommen Feuers bemänteln. Mit solcher Schlechtigkeit verband sich noch der Aberglaube, der die Menschen lehrte, Vernunft und Natur zu verachten und nur was mit diesen beiden im Widerspruch steht, zu bewundern und zu verehren. Ist es da ein Wunder, daß man die Bibel, um sie recht bewundern und verehren zu können, auf eine Weise auszulegen suchte, daß sie mit Vernunft und Natur in möglichst grellem Widerspruch zu stehen scheint, daß man von tiefen Geheimnissen träumt, die in der heiligen Schrift verborgen sein sollen, und sich ungeheure Mühe giebt, dieselben, d. h. den Unsinn, zu ergründen, wobei man das Vernünftige und Nützliche vernachlässigt. Da wird denn alles, was sie in solchem Aberwitz aussinnen, dem heiligen Geiste zugeschrieben und mit aller Macht und Leidenschaftlichkeit zu verteidigen versucht. Denn es liegt in der Natur des Menschen, daß er, was er mit der reinen Vernunft begreift, auch nur mit der Vernunft verteidigt, was er aber aus Leidenschaft glaubt, auch mit Leidenschaft verteidigt.
Um nun aus diesem Wirrwarr loszukommen, den Geist von den theologischen Vorurteilen zu befreien und der leichtsinnigen Verwechslung menschlicher Erdichtungen mit göttlichen Lehren zu begegnen, müssen wir von der wahren Methode der Bibelerklärung handeln und dieselbe gründlich darlegen; denn wenn man sich über diese nicht klar ist, so kann man nicht mit Gewißheit wissen, was die Bibel oder was der heilige Geist lehren will. Um es nun kurz zusammenzufassen, sage ich, daß die Methode der Bibelerklärung nicht verschieden ist von der Methode der Naturerklärung, vielmehr mit dieser ganz zusammenfällt. Denn wie die Methode der Naturerklärung hauptsächlich darin besteht, daß man eine Naturgeschichte zusammenstellt, um daraus, als aus sicheren Thatsachen, die Naturgesetze zu folgern, ebenso ist es zur Bibelerklärung nötig, eine streng sachliche Geschichte derselben auszuarbeiten, um daraus, als aus sicheren Thatsachen und Grundlagen, die Meinung der biblischen Schriftsteller in richtigen Folgerungen abzuleiten. Auf diese Weise wird jeder (wenn er nämlich zur Erklärung der Bibel und zur Behandlung ihres Inhalts keine andern Grundlagen und Thatsachen zuläßt, als nur solche, die aus der Bibel selbst und ihrer Geschichte entnommen sind) ohne Gefahr eines Irrtums zum Ziele gelangen und über alles, was unsere Begriffe übersteigt, sich ebenso sicher eine Ansicht bilden können, wie über das, was wir mit der natürlichen Vernunft erkennen. – Damit aber klar erhelle, daß dieser Weg nicht bloß ein sicherer, sondern sogar der einzige ist und der Methode der Naturerklärung völlig entspricht, ist zu bemerken, daß die Bibel sehr häufig von Dingen handelt, die aus den Grundsätzen der natürlichen Vernunft nicht abgeleitet werden können. Denn Geschichten und Offenbarungen machen den größten Teil der Bibel aus, die Geschichten aber enthalten hauptsächlich Wunder, d. h. (wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde) Erzählungen außergewöhnlicher Naturereignisse, den Meinungen und Urteilen der Geschichtschreiber, welche sie abgefaßt haben, angepaßt. Ebenso sind die Offenbarungen den Meinungen der Propheten angepaßt, wie im 2. Kapitel gezeigt wurde, und diese übersteigen in der That die menschlichen Begriffe. Daher muß die Kenntnis von allen diesen Dingen, d. h. von fast allen in der Bibel enthaltenen Dingen, aus der Bibel allein geschöpft werden, wie die Kenntnis der Natur aus der Natur allein.
Was nun die Sittenlehren betrifft, welche die Bibel gleichfalls enthält, so können sie allerdings aus allgemeinen Wahrheiten gefolgert werden; allein daß die Bibel dieselben lehrt, die aus allgemeinen Wahrheiten folgen, kann doch nur durch die Bibel selbst bewiesen werden. Ja wenn wir die Göttlichkeit der Bibel ohne Vorurteil bezeugen wollen, so können wir diese einzig und allein deswegen behaupten, weil wir die Überzeugung gewonnen haben, daß die Bibel die wahre Sittenlehre enthält. Haben wir doch oben gesehen, daß die Gewißheit der Prophezeiungen sich auch nur daraus ergiebt, daß die Gesinnung der Propheten dem Rechten und Guten zugewendet war, und auch wir müssen davon überzeugt sein, wenn wir ihnen Glauben schenken sollen. Daß aber die Göttlichkeit Gottes nicht aus Wundern bewiesen werden kann, habe ich bereits gezeigt, abgesehen davon, daß auch falsche Propheten Wunder thun konnten. Die Göttlichkeit der Bibel kann sich also nur daraus ergeben, daß sie die wahre Tugend lehrt, und dies läßt sich auch aus der Bibel allein nachweisen. Wäre das nicht der Fall, so könnten wir die Bibel nicht ohne großes Vorurteil anerkennen und ihre Göttlichkeit bekennen. Es muß also unsere ganze Kenntnis der Bibel aus ihr allein geschöpft werden. – Schließlich ist noch in Erwägung zu ziehen, daß die Bibel über die Dinge, von denen sie spricht, keine Definitionen giebt, so wenig wie die Natur. So wie daher aus den verschiedenen Vorgängen in der Natur die Definitionen der Naturkräfte gefolgert werden müssen, ebenso können die Definitionen der biblischen Gegenstände nur aus den verschiedenen Erzählungen, die uns in der Bibel über einen und denselben Gegenstand begegnen, gefolgert werden.
Die Hauptregel der Bibelauslegung lautet daher: Man darf der Bibel keine Lehre zuschreiben, die sich nicht klar und deutlich aus der Geschichte der Bibel ergiebt.
Wir haben nun aber davon zu reden, wie die Geschichte der Bibel beschaffen sein und was sie hauptsächlich enthalten muß.
Erstens muß sie die Natur und die Eigentümlichkeiten der Sprache beleuchten, in welcher die biblischen Schriften geschrieben wurden und welche ihre Verfasser zu reden pflegten. Dadurch werden wir den verschiedenen Sinn, welchen eine Rede nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben kann, ausfindig machen können. Da nun sämtliche alttestamentlichen wie neutestamentlichen Schriftsteller Hebräer gewesen sind, so ist natürlich eine Geschichte der hebräischen Sprache vor allem nötig, nicht bloß zum Verständnis der Schriften des Alten Testaments, die in dieser Sprache geschrieben sind, sondern auch des Neuen; denn obgleich diese in andern Sprachen verbreitet sind, so haben sie doch hebräische Färbung.
Zweitens muß eine Geschichte der Bibel die Aussprüche jedes Buches sammeln und sie nach Rubriken gruppieren, damit wir alles, was über einen und denselben Gegenstand vorkommt, bequem bei einander haben. Hierbei muß sie hervorheben, was zweideutig oder dunkel ist, wie auch Stellen, die einander zu widersprechen scheinen. Dunkel oder klar nenne ich hier solche Aussprüche, deren Sinn aus dem Zusammenhang der Rede schwer oder leicht verständlich ist. Denn hier handelt es sich lediglich um den Sinn einer Rede, nicht um ihre innere Wahrheit. Man muß sich sogar ganz besonders in Acht nehmen, so lange man bloß nach dem Sinn der Bibel forscht, daß man sich dabei nicht von seinen eigenen auf den Grundlagen der natürlichen Erkenntnis beruhenden Erwägungen (geschweige von Vorurteilen) verleiten läßt. Wenn der wahre Sinn einer Stelle nicht mit der Wahrheit ihres Inhalts verwechselt werden soll, so darf derselbe nur aus dem Sprachgebrauch und aus Erwägungen auf rein biblischem Standpunkt ermittelt werden. Der größeren Deutlichkeit halber will ich das an einem Beispiel erläutern. Die Aussprüche des Moses, daß »Gott ein Feuer« und daß »Gott ein eifervoller Gott ist«, sind vollständig klar, solange wir nichts anderes wissen wollen, als was diese Worte bedeuten. Deshalb rechne ich sie zu den klaren, obgleich sie in Hinsicht auf Wahrheit und Vernunft sehr dunkel sind. Allein, wiewohl ihr buchstäblicher Sinn mit der natürlichen Vernunft im Widerspruch steht, so muß dennoch dieser Sinn, der buchstäbliche nämlich, als der richtige angesehen werden, wenn er nicht auch den der Geschichte der Bibel entnommenen Grundsätzen und Hauptlehren widerstreitet. Umgekehrt müßten diese Aussprüche, wenn es sich wirklich ergeben sollte, daß sie nach ihrer buchstäblichen Auffassung den der Bibel entnommenen Grundsätzen widersprechen, auch dann anders (nämlich bildlich) ausgelegt werden, wenn ihr buchstäblicher Sinn mit der Vernunft vollkommen übereinstimmen würde. Um also zu erfahren, ob Moses geglaubt hat, Gott sei ein Feuer oder nicht, darf man ja nicht aus der Übereinstimmung oder dem Widerspruch eines solchen Glaubens mit der Vernunft einen Schluß ziehen, sondern bloß aus andern Aussprüchen von Moses selbst. Da nämlich Moses an vielen Stellen auch deutlich lehrt, daß Gott keine Ähnlichkeit habe mit sichtbaren Dingen, die am Himmel, auf der Erde oder im Wasser sind, so ist man zu dem Schluß genötigt, daß entweder der eine Ausspruch, oder die andern alle bildlich aufzufassen sind. Nun darf man aber vom buchstäblichen Sinn so wenig als möglich abgehen; daher haben wir zu untersuchen, ob der vereinzelte Ausspruch »Gott ist ein Feuer« nicht etwa einen andern Sinn als den buchstäblichen zuläßt, d. h. ob das Wort Feuer nicht auch etwas andres als das gewöhnliche Feuer bezeichnet. Ergiebt sich dies aus dem Sprachgebrauch nicht, so kann dieser Ausspruch auch nicht anders ausgelegt werden, mag er mit der Vernunft noch so sehr im Widerspruch stehen; umgekehrt müßten alsdann die andern entgegenstehenden Aussprüche, so sehr sie mit der Vernunft übereinstimmen, mit dem einen in Einklang gesetzt werden. Ließe sich auch das nicht, dem Sprachgebrauch gemäß, bewerkstelligen, so wäre eben der eine Ausspruch mit den andern überhaupt unvereinbar und wir müssen die Sache dahingestellt sein lassen und uns eines Urteils darüber enthalten. In der That wird aber das Wort Feuer für Zorn und Eifersucht gebraucht (s. Hiob Kap. 31, V. 12). Daher lassen sich diese Aussprüche des Moses ganz gut mit einander vereinigen, indem wir berechtigt sind, anzunehmen, daß die beiden Aussprüche »Gott ist ein Feuer« und »Gott ist eifervoll« eins und dasselbe bedeuten. Da ferner Moses deutlich lehrt, daß Gott eifervoll, aber nirgends, daß er von Leidenschaften und Gemütsbewegungen frei ist, so können wir überzeugt sein, daß Moses dies wirklich glaubte oder wenigstens lehren wollte, so sehr auch dieser Ausspruch nach unserer Ansicht der Vernunft widerstreitet. Denn es ist wie gesagt ganz unstatthaft, den Sinn der Bibel zu verdrehen, um ihn mit den Eingebungen unsrer Vernunft und den Ansichten, welchen wir huldigen, in Einklang zu setzen; das Verständnis der ganzen Bibel kann nur aus ihr allein geschöpft werden.
Drittens endlich muß die Geschichte der Bibel über das Schicksal sämtlicher prophetischen Bücher Nachricht geben, soweit dasselbe heutigen Tags noch ermittelt werden kann. Zunächst über Leben, Sitten und Beschäftigung des Verfassers eines jeden Buches, wer er gewesen, bei welcher Veranlassung, zu welcher Zeit, für wen und in welcher Sprache er geschrieben. Sodann über das Schicksal der einzelnen Bücher selbst: wie man das betreffende Buch zuerst erhalten hat und in wessen Hände es gekommen sei, ferner über die verschiedenen Lesarten, die von ihm vorhanden sind und welche Personen beschlossen haben, es unter die heiligen Bücher aufzunehmen, endlich auch, wie alle Bücher, die uns für heilig gelten, zu einem Ganzen vereinigt wurden. Das alles, sage ich, muß eine Geschichte der Bibel enthalten. Denn um zu wissen, welche Aussprüche als Gesetze und welche als Sittenlehren aufgestellt werden, muß man das Leben, die Sitten und die Beschäftigung der Verfasser kennen. Dazu kommt noch der Umstand, daß man die Worte von jemand um so leichter auslegen kann, je genauer man weiß, wie er leibte und lebte. Um ferner die ewigen Lehren nicht mit solchen zu verwechseln, die nur zu gewissen Zeiten oder nur einzelnen Menschen von Nutzen waren, muß man wissen, bei welcher Veranlassung, zu welcher Zeit und für welches Volk oder Zeitalter die Lehren alle geschrieben worden sind. Endlich muß man auch die übrigen Umstände wissen, die ich erwähnt habe, um außer der Autorschaft eines jeden Buches auch noch zu erfahren, ob es von fälschenden Händen hat verunstaltet werden können oder nicht; ob sich Irrtümer eingeschlichen haben und ob sie von kundigen und glaubwürdigen Männern verbessert worden sind. Alles das zu wissen ist von größter Wichtigkeit, damit wir nicht in blindem Eifer alles für bare Münze nehmen, was uns geboten wird, sondern nur was gewiß ist und nicht bezweifelt werden kann.
Erst wenn wir eine solche Geschichte der Bibel besitzen und uns fest vornehmen, nur solche Lehren als unzweifelhaft prophetische zu betrachten, die aus dieser Geschichte folgen oder mit aller Bestimmtheit aus ihr gefolgert werden können, erst dann ist es Zeit, daß wir uns anschicken, den Sinn der Propheten und des heiligen Geistes zu erforschen. Auch hierzu ist eine Methode und Ordnung erforderlich, derjenigen ähnlich, welche bei der Erklärung der Natur aus ihrer Geschichte in Anwendung kam. Bei der Forschung über die Naturerscheinungen suchen wir vor allem das Allgemeinste, der ganzen Natur Gemeinsame zu ergründen, nämlich Bewegung und Ruhe, und ihre Gesetze und Regeln, welche die Natur stets beobachtet und durch welche sie ununterbrochen wirkt, und von diesen schreiten wir allmählich zum minder Allgemeinen fort. Ganz ebenso muß aus der Geschichte der Bibel zuerst erforscht werden, was das Allgemeinste, was Grundlage und Untergrund der ganzen Bibel ist, und was darin als ewige, und allen Sterblichen höchst heilsame Lehre von sämtlichen Propheten empfohlen wird. Dahin gehört z. B., daß es einen einzigen und allmächtigen Gott giebt, der allein angebetet werden darf, der für alle Wesen sorgt und diejenigen besonders liebt, welche ihn anbeten und den Nebenmenschen wie sich selbst lieben u. s. f. Dieses und ähnliches, sage ich, lehrt die Bibel überall so klar und so deutlich, daß kein Mensch über den Sinn der Bibel in diesem Betreff jemals im Zweifel war. Was aber Gott ist und in welcher Weise er alle Dinge sieht und sich um sie bekümmert, dieses und ähnliches lehrt die Bibel nicht ausdrücklich und als ewige Wahrheit; vielmehr haben die Propheten selbst darüber sehr verschieden gedacht, wie oben gezeigt wurde. Darum kann über derlei Dinge eine Lehre des heiligen Geistes nicht aufgestellt werden, auch wenn man sich mit der natürlichen Vernunft sehr wohl eine bestimmte Ansicht darüber bilden kann.
Hat man nun die allgemeine Lehre der Bibel richtig erforscht, so schreitet man zu andern Dingen fort, welche minder allgemein, aber doch den gewöhnlichen Lebenswandel betreffen und aus jener allgemeinen Lehre wie Bäche herausfließen. Dahin gehören alle besondern äußerlichen Handlungen wahrer Tugend, die bloß bei gewissen Veranlassungen geübt werden können. Das Dunkle oder Zweideutige, das hierbei in der Bibel vorkommt, ist mit der allgemeinen Lehre der Bibel aufzuhellen und klar zu stellen, und bei etwa vorkommenden Widersprüchen wäre zu erwägen, bei welcher Gelegenheit, zu welcher Zeit und für wen die betreffenden Stellen geschrieben wurden. Wenn z. B. Christus sagt: »Selig sind die Traurigen, denn sie werden Trost empfangen«, so wissen wir aus diesen Worten allein noch nicht, welche Traurigen er im Sinne hat. Da er aber später lehrt, daß wir um kein Ding Sorge tragen sollen, außer um das Reich Gottes und dessen Gerechtigkeit, was er als höchstes Gut empfiehlt (s. Matth. Kap. 6, V. 33), so folgt daraus, daß er unter den Traurigen niemand anders versteht, als Menschen, welche traurig sind, weil das Reich Gottes und die Gerechtigkeit von den Menschen vernachlässigt wird; denn hierüber sind nur solche Menschen betrübt, welche das Reich Gottes oder die Tugend allein lieben, andere Güter aber gänzlich verachten.
Ebenso verhält es sich mit einem andern Ausspruch Christi, welcher lautet: »Aber dem, der dich auf den rechten Backen schlägt, sollst du auch den linken darbieten u. s. f.« Hätte Christus solches als Gesetzgeber den Richtern als Richtschnur gegeben, so würde er mit dieser Vorschrift das mosaische Gesetz umgestoßen haben, wogegen er sich aber ganz deutlich ausspricht (s. Matth. Kap. 5, V. 17). Wir müssen daher darauf achten, wer das gesagt hat, zu wem und wann er es gesagt hat. Gesagt hat es Christus, der nicht als Gesetzgeber Gesetze erließ, sondern als Lehrer Lehren erteilte; da er (wie oben gezeigt) nicht sowohl das äußerliche Handeln als vielmehr die Gesinnung bessern wollte; und er hat dieses Wort zu unterdrückten Menschen gesagt, die in einem verderbten Staat lebten, wo die Gerechtigkeit gänzlich vernachlässigt wurde und dessen baldigen Untergang er voraussah. – Ganz dasselbe, was hier Christus mit Rücksicht auf den baldigen Untergang der Stadt lehrt, hat auch Jeremia zur Zeit der ersten Zerstörung Jerusalems, also unter ähnlichen Zeitverhältnissen, gelehrt (s. Klagelieder Kap. 3, Buchstabe Tet und Jod). Da die Propheten also nur in Zeiten der Bedrückung dieses lehrten, niemals aber ein derartiges Gesetz erlassen wurde, vielmehr Moses (der nicht in Zeiten der Unterdrückung geschrieben hat, sondern wohlgemerkt! einen guten Staat zu begründen bemüht war) angeordnet hat, Auge mit Auge zu sühnen, obgleich auch er Rache und Haß gegen den Nebenmenschen verdammt hat, so können wir aus diesen Grundlehren der Bibel allein die Folgerung ziehen, daß die in Rede stehende Lehre von Christus und Jeremia, daß man ein Unrecht sich gefallen lassen und den Schlechten in allen Dingen nachgeben soll, nur am Platze ist in Ländern, in denen die Gerechtigkeit vernachlässigt wird und in Zeiten der Bedrückung, keineswegs in einem ordentlichen Staat. In einem ordentlichen Staat, in welchem die Gerechtigkeit gehandhabt wird, ist vielmehr jeder, der sich als ein Gerechter benehmen will, verpflichtet, ein ihm geschehenes Unrecht vor den Richter zu bringen (s. 3. Buch Mose Kap. 5, V. 1), nicht aus Rachsucht (s. 3. Buch Mose Kap. 19, V. 17 und 18), sondern in der Absicht, die Gerechtigkeit und die Gesetze des Vaterlandes zu schützen und den Schlechten in der Schlechtigkeit keinen Vorschub zu leisten. Das alles stimmt mit der natürlichen Vernunft vollständig überein.
Ich könnte noch viel solche Beispiele anführen, doch dürften die vorstehenden meine Meinung und den Nutzen der angegebenen Methode zur Genüge klar gemacht haben und darauf allein kommt es mir hier an.
Indessen habe ich bisher nur über das richtige Verständnis solcher biblischen Aussprüche Anweisung gegeben, welche den Lebenswandel betreffen und daher leichter zu verstehen sind; denn hierüber herrscht in Wirklichkeit kein Gegensatz unter den biblischen Schriftstellern. Dagegen können andere Stellen, die in der Bibel vorkommen und. rein spekulativer Art sind, nicht so leicht ergründet werden, der Weg zu ihnen ist enger. Denn da die Propheten in spekulativen Dingen (wie schon gezeigt) verschiedene Ansichten hatten und die Darstellung der Begebenheiten den Vorurteilen je des betreffenden Zeitalters stark angepaßt ist, so können wir durchaus nicht den Sinn des einen Propheten aus deutlicheren Stellen bei einem andern Propheten folgern oder erklären, wenn es nicht ganz feststeht, daß beide eine gleiche Ansicht gehabt haben. Daher will ich in Kürze auseinandersetzen, wie man in solchen Fällen den Sinn der Propheten durch die Geschichte der Bibel finden kann.
Auch hier muß mit dem Allgemeinsten begonnen werden, indem man zuvörderst aus den deutlichsten Aussprüchen der Bibel sich darüber zu unterrichten sucht, was Prophetie oder Offenbarung ist und worin sie hauptsächlich besteht, ferner was ein Wunder ist, und so weiter zu den gewöhnlichsten Dingen. Von da muß zu den Meinungen jedes einzelnen Propheten geschritten werden und von hier wiederum geht man weiter, um den Sinn jeder Offenbarung oder Prophetie, jeder Geschichte und jedes Wunders im Einzelnen zu ermitteln. Welche Vorsicht hierbei nötig ist, damit man nicht den Sinn der Propheten und Geschichtschreiber mit dem Sinn des heiligen Geistes und mit der Wirklichkeit verwechsele, habe ich oben an der geeigneten Stelle an vielen Beispielen gezeigt, weshalb ein näheres Eingehen darauf hier nicht nötig ist. Nur das eine habe ich noch über den Sinn der Offenbarungen zu bemerken, daß wir mit dieser Methode nur das Verständnis von dem erlangen können, was die Propheten wirklich gesehen oder gehört haben, keineswegs aber was sie mit ihren Sinnbildern bezeichnen oder darstellen wollten. Darüber können wir nur Vermutungen haben, etwas Sicheres läßt sich darüber aus der Bibel nicht folgern.
Die Art und Weise der Bibelauslegung hätten wir damit angegeben und dabei zugleich bewiesen, daß dies der einzig sichere Weg ist, ihren wahren Sinn zu ergründen. Ich gebe zwar zu, daß diejenigen noch mehr Gewißheit darüber haben – vorausgesetzt daß es solche giebt – die im Besitze einer von den Propheten selbst herrührenden sicheren Überlieferung oder wahren Auslegung sind, wie die Pharisäer sich einbilden, oder die einen Priester haben, der über die Auslegung der Bibel nicht irren kann, wie die römischen Katholiken sich rühmen. Da wir aber über diese Tradition selbst ebensowenig Gewißheit haben können, wie über die Autorität des Papstes, so können wir auch auf diese Behauptungen nichts Sicheres bauen. Diese haben schon die ältesten Christen, jene schon die ältesten jüdischen Sekten geleugnet. Bedenkt man vollends die Reihe von Jahren, (um von andern Dingen zu schweigen,) welche jene Überlieferung nach der Annahme der Pharisäer, die es von ihren Rabbinen haben, von Moses an durchlaufen hat, so muß man sie als falsch bezeichnen, was ich an einem andern Ort zeigen will. Eine solche Überlieferung muß uns daher sehr verdächtig sein. Zwar müssen wir auch bei unserer Methode eine gewisse Überlieferung der Juden als unverfälscht annehmen, nämlich die sprachliche Bedeutung der hebräischen Wörter, die wir von ihnen empfangen haben; allein wir sind berechtigt, jene Überlieferung zu bezweifeln, diese nicht. Denn niemand konnte es jemals von Nutzen sein, die Bedeutung eines Worts zu ändern, wohl aber nicht selten den Sinn einer Rede. Auch hätte jenes nur äußerst schwer geschehen können; denn wer die Bedeutung eines Worts ändern wollte, müßte auch alle Schriftsteller, die in jener Sprache geschrieben und das betreffende Wort in seiner angenommenen Bedeutung gebraucht haben, nach dem Geist und Sinn jedes einzelnen erklären, oder er könnte nur mit größter Behutsamkeit seine Fälschung ausführen. Ferner wird die Sprache nicht bloß von den Gelehrten, sondern auch vom Volk erhalten, der Sinn der Reden aber und die Bücher bloß von den Gelehrten; daher ist es gut denkbar, daß die Gelehrten den Sinn einer Rede in einem recht seltenen Buche, das sie im Besitze hatten, ändern oder fälschen konnten, nicht aber die Bedeutung der Wörter. Hierzu kommt noch, daß jemand, der die Bedeutung eines Worts, an die er gewöhnt ist, mit einer andern vertauschen will, es nur äußerst schwer zustande brächte, im Sprechen und Schreiben das Wort stets in der neuen Bedeutung anzuwenden. Aus diesen und andern Gründen dürfen wir uns überzeugt halten, daß es niemand einfallen konnte, eine Sprache zu verfälschen, wohl aber häufig den Sinn eines Schriftstellers, entweder durch Änderung des Textes oder durch verkehrte Auslegung.
Wenn nun diese unsere Methode (die sich auf den Grundsatz gründet, daß das Verständnis der Bibel aus ihr allein geschöpft werden muß) die einzig richtige ist, so muß man überall, wo sie uns im Stich läßt, die Hoffnung auf richtiges Verständnis der Bibel gänzlich aufgeben. Ich will nun aber ihre Schwierigkeiten oder ihre Unzulänglichkeit für ein vollständiges und sicheres Verständnis der heiligen Schriften näher beleuchten.
Eine große Schwierigkeit erwächst bei dieser Methode hauptsächlich daraus, daß sie eine genaue Kenntnis der hebräischen Sprache erfordert. Woher sollen wir die bekommen? Die alten hebräischen Sprachgelehrten haben über die Grundregeln und die Lehre dieser Sprache der Nachwelt nichts hinterlassen; wenigstens besitzen wir nichts von ihnen, kein Wörterbuch, keine Grammatik und keine Rhetorik. Das hebräische Volk hat allen Schmuck, alle Zierde verloren, (nach so viel erlittenen Niederlagen und Verfolgungen kein Wunder); nur einzelne Bruchstücke seiner Sprache und Litteratur sind ihm erhalten worden. Fast alle Namen von Früchten, Vögeln, Fischen und vielen andern Dingen sind durch der Zeiten Ungunst verloren gegangen. Ferner ist die Bedeutung vieler in der Bibel vorkommenden Namen und Wörter teils ganz unbekannt, teils zweifelhaft, so daß darüber gestritten wird. Dies alles, wie auch besonders eine Lehre von den Redensarten dieser Sprache, vermissen wir, denn die Redensarten und Ausdrucksweisen, die dem hebräischen Volk eigentümlich waren, hat die zerstörende Macht der Zeit in der Erinnerung der Menschen beinahe ganz verwischt. Deshalb werden wir nicht immer, wie wir gern möchten, die verschiedenen Bedeutungen, die jede Rede nach dem Sprachgebrauch haben könnte, herausbringen können, und wir werden vielen Reden begegnen, deren Sinn ganz dunkel und unverständlich bleiben wird, wenn auch ihre Wörter im einzelnen genau bekannt sind.
Zu diesem Mißstand, daß wir eine vollständige Geschichte der hebräischen Sprache nicht haben können, gesellt sich noch der weitere, daß aus dem Bau und der Natur dieser Sprache so viel Doppelsinnigkeit entspringt, daß es ganz unmöglich ist, eine Methode zu finden, durch welche sich der wahre Sinn aller Reden in der Bibel mit Sicherheit ermitteln ließe. Denn neben den allen Sprachen gemeinsamen Ursachen des Doppelsinns sind in dieser Sprache noch besondere vorhanden, deren Anführung ich der Mühe wert erachte.
Erstens entspringt in der Bibel häufig Doppelsinn und Dunkelheit aus dem Umstand, daß die verschiedenen Buchstaben eines Sprachwerkzeugs oft mit einander vertauscht werden. Die Hebräer teilen nämlich das ganze Alphabet in fünf Klassen, nach den fünf Sprachwerkzeugen, nämlich Lippen, Zunge, Zähne, Gaumen und Kehle. Z. B. אחעה Alpha, Ghet, Hgain, He Diese Benennung bezw. Schreibart der Namen hebräischer Buchstaben, welche der üblichen nicht ganz entspricht, hat ein philologisches Interesse, indem daran ersichtlich ist, wie die spanischen Juden zu Spinoza's Zeit die betreffenden hebräischen Buchstaben nannten, resp. aussprachen. Aus diesem Grunde habe ich hier und im folgenden die Schreibart des Originals beibehalten. (Anmerkung des Übersetzers.) werden Kehlbuchstaben genannt und sie werden ohne den geringsten Unterschied – mir wenigstens ist keiner bekannt – einer für den andern gebraucht. So wird אל el, was »zu« bedeutet, häufig für על hgal gesetzt, was »über« bedeutet, und so umgekehrt. Daher kommt es, daß alle Teile einer Rede öfters entweder doppelsinnig oder als Wörter ohne Bedeutung erscheinen.
Eine weitere Ursache des Doppelsinns in den Reden ist die mannigfaltige Bedeutung der Bindewörter und Beiwörter. Z. B. mit ן vau wird abwechslungsweise bald eine Verbindung, bald eine Trennung ausgedrückt; es heißt: »und«, »aber«, »weil«, »jedoch«, »alsdann«. Ebenso hat כי ki sieben oder acht Bedeutungen, nämlich: »weil«, »obgleich«, »wenn«, »da«, »wie«, »denn«, »Verbrennung« u. s. f. Und so beinahe alle Partikeln.
Eine dritte Quelle vielen Doppelsinns ist der Umstand, daß dem Zeitwort im Indikativ mehrere besondere Zeitformen fehlen, nämlich das Präsens, das Präteritum imperfectum, das Plusquamperfectum und das Futurum perfectum und andere in andern Sprachen sehr gebräuchliche Zeitformen; im Imperativ und Infinitiv fehlen außer dem Präsens sämtliche Zeiten; für den Subjunktiv giebt es gar keine Zeitform. Zwar können alle diese fehlenden Tempus- und Modusformen nach gewissen aus den Grundgesetzen der Sprache abgeleiteten Regeln leicht, ja mit großer Feinheit ausgedrückt werden; allein die ältesten Schriftsteller haben dieselben ganz außer Acht gelassen und gebrauchen durcheinander das Futurum für das Präsens und Präteritum, und umgekehrt das Präteritum für das Futurum, ferner den Indikativ für den Imperativ und Subjunktiv, infolge dessen ihre Reden viel Zweideutiges enthalten.
Außer diesen drei Ursachen des Doppelsinns in der hebräischen Sprache sind noch zwei weitere hervorzuheben, deren jede noch viel belangreicher ist. Die erste besteht darin, daß die Hebräer keine Buchstaben für die Vokale haben; die zweite darin, daß sie die Satzteile nicht durch Interpunktionszeichen zu trennen pflegten und dies auch sonstwie nicht ausdrückten oder andeuteten. Zwar werden gewöhnlich beide, Vokalbuchstaben und Interpunktionszeichen, durch Punkte und Accentzeichen ergänzt, doch können wir uns auf diese nicht verlassen, da sie in viel späterer Zeit von Leuten erfunden und eingeführt wurden, deren Autorität wir nicht gelten lassen können. Die Alten selbst haben ohne Punkte (d. h. ohne Vokal- und Accentzeichen) geschrieben (was durch zahlreiche Zeugnisse feststeht), die Späteren haben beides hinzugefügt, so wie sie die Bibel auszulegen für gut fanden. Daher sind die jetzt vorhandenen Accente und Punkte bloße Auslegung der Neueren und verdienen nicht mehr Glauben und Autorität, als andere Erklärungen gewöhnlicher Autoren. Wem dies unbekannt ist, der kann sich nicht denken, wie man den Verfasser des Hebräerbriefes entschuldigen kann, daß er in Kap. 11, V. 21 den Text im 1. Buch Mose Kap. 47, V. 31 ganz anders ausgelegt hat, als er im punktierten hebräischen Text lautet. Als ob der Apostel den Sinn der Bibel von den Punktisten hätte lernen müssen! Mir wenigstens scheint es, daß der Fehler auf Seiten der Punktisten ist. Ich will die zwei verschiedenen Auslegungen anführen, damit jeder sich ein Urteil darüber bilden und zugleich sehen kann, daß diese Verschiedenheit lediglich dem Mangel an Vokalzeichen zuzuschreiben ist. Die Punktisten haben die Stelle mit ihren Punkten so ausgelegt: »Und Israel beugte sich über« oder (wenn man den Buchstaben ע Hgain in den Buchstaben des gleichen Sprachwerkzeugs א Aleph verwandelt) »gegen den Kopf des Bettes«. Der Verfasser des Hebräerbriefes dagegen: »Und Israel beugte sich über den Kopf des Stabes«, indem er nämlich ַַמַטֶּה matte liest, statt מִטָּה mitta, wie andere lesen; ein Unterschied, der bloß von den Vokalzeichen herrührt. Da nun aber in jener Erzählung nur von dem Alter Jakobs die Rede ist, nicht wie im folgenden von seiner Krankheit, so ist es viel wahrscheinlicher, daß der Erzähler sagen wollte, Jakob habe sich über den Kopf des Stabes (dessen Greise von hohem Alter zur Stütze bedürfen) als über den Kopf des Bettes gebeugt, zumal auch bei dieser Auslegung eine Vertauschung der Buchstaben nicht angenommen zu werden braucht. – Mit diesem Beispiel habe ich nicht bloß die Stelle im Hebräerbrief mit dem Text in der Genesis in Einklang bringen, sondern auch hauptsächlich zeigen wollen, wie unzuverlässig unsere heutigen Punkte und Accente seien. Wer also die Bibel ohne Voreingenommenheit auslegen will, muß an denselben zweifeln und auf eigene Hand prüfen.
Bei dieser Beschaffenheit und Natur der hebräischen Sprache (um wieder auf unsern eigentlichen Gegenstand zurückzukommen) muß, wie jeder leicht ermessen kann, so viel Doppelsinn entstehen, daß es keine Methode geben kann, mit welcher überall Bestimmtheit in der Auslegung zu erreichen wäre. Vergebens hoffen wir, durch gegenseitige Vergleichung der Reden (nach unserer obigen Auseinandersetzung der einzige Weg zur Ermittlung der wahren Bedeutung unter den vielen, welche nach dem Sprachgebrauch möglich sind) dies bewerkstelligen zu können; da einerseits bei solcher Vergleichung nur in einzelnen Fällen die eine Rede durch die andere aufgehellt werden kann, indem ja kein Prophet beim Niederschreiben einer Stelle beabsichtigt hat, die Worte eines andern oder auch seine eigenen Worte in einer andern Stelle zu erläutern; anderseits der Sinn des einen Propheten oder Apostels etc. nicht aus dem Sinn eines andern gefolgert werden kann; bloß in Dingen, die den Lebenswandel betreffen, ist dies statthaft, wie bereits klar gezeigt wurde, nicht aber wo von spekulativen Dingen die Rede ist, oder wo über Wunder oder Begebenheiten berichtet wird.
Ich könnte diese meine Behauptung, daß in den heiligen Schriften viele unerklärbare Stellen vorkommen, an einigen Beispielen nachweisen; doch will ich jetzt lieber darauf verzichten und zu anderem übergehen, was noch erörtert werden muß, nämlich zu den weiteren Schwierigkeiten und Mängeln in der wahren Methode der Bibelauslegung.
Eine weitere Schwierigkeit in dieser Methode erwächst daraus, daß sie eine Geschichte dessen erfordert, was mit jedem Buch in der Bibel von seiner Entstehung an sich zugetragen hat; darüber wissen wir aber nur sehr wenig. Bei vielen Büchern kennen wir entweder die Verfasser oder (wenn man lieber will) die Personen, welche sie niederschrieben, gar nicht, oder wir sind über sie in Zweifel, wie ich im folgenden ausführlich zeigen werde. Ferner wissen wir weder, bei welchem Anlaß, noch auch zu welcher Zeit diese von unbekannter Hand herrührenden Bücher geschrieben worden sind. Ebensowenig wissen wir, in welche Hände alle diese Bücher geraten sind, in welchen Exemplaren ihre verschiedenen Lesarten vorkommen und ob es nicht auch noch weitere Lesarten gegeben hat. Wie wichtig es aber ist, das alles zu wissen, habe ich an geeigneter Stelle kurz angegeben; indessen habe ich dort absichtlich einiges ausgelassen, was hier in Betracht zu ziehen ist.
Lesen wir ein Buch, das unglaubliche und unbegreifliche Dinge enthält oder in recht dunklen Ausdrücken abgefaßt ist, und wir kennen weder seinen Verfasser noch Zeit und Anlaß seines Entstehens, so werden wir uns vergebens bemühen, über seinen wahren Sinn Gewißheit zu erlangen. Denn da wir von allen diesen Dingen keine Kenntnis haben, so können wir auch nicht wissen, was der Verfasser beabsichtigte oder beabsichtigen konnte. Sind uns dagegen diese Dinge genau bekannt, so haben wir einen genau abgegrenzten Vorstellungskreis, so daß wir uns von keinem Vorurteil einnehmen lassen und weder über den Verfasser noch über den, für welchen er schrieb, mehr oder weniger als recht ist denken, und bei allen Dingen im Auge behalten, was der Verfasser im Sinn haben konnte, oder was Zeit und Anlaß erheischte.
Ich denke, daß dies jedermann einleuchten wird. Denn wie oft kommt es vor, daß wir Geschichten, die einander sehr ähnlich sehen, in verschiedenen Büchern lesen und dieselben doch ganz verschieden beurteilen, weil wir nämlich auch von ihren Verfassern verschiedene Vorstellungen haben. So entsinne ich mich, in früherer Zeit in einem Buche von einem Mann gelesen zu haben, welcher der rasende Roland hieß und auf einem geflügelten Ungeheuer durch die Luft zu reiten pflegte, in jede Gegend flog, die ihm beliebte, ganz allein eine Menge Menschen und Riesen niedermetzelte und dergleichen Phantasiestücke mehr, welche, vernünftig betrachtet, durchaus unbegreiflich sind. Eine ganz ähnliche Geschichte hatte ich bei Ovid über Perseus gelesen, und eine ähnliche wiederum in den Büchern der Richter und Könige über Simson (welcher allein und ohne Waffen tausende von Menschen niedermetzelte) und über Elias, der durch die Luft flog und mit feurigen Pferden auf feurigem Wagen gen Himmel fuhr. Diese Geschichten, sage ich, sind einander ganz ähnlich und doch bilden wir uns über jede ein besonderes Urteil. Der erste, urteilen wir, wollte bloß ein Märchen schreiben; der zweite politische Vorgänge; der dritte heilige Dinge. Dieses verschiedene Urteil hat aber nur in den verschiedenen Meinungen seinen Grund, die wir von den Verfassern dieser Geschichten hegen. Es ist also klar, daß wir vor allen Dingen die Verfasser kennen müssen, wenn wir Schriften von dunklem oder unbegreiflichem Inhalt auslegen wollen.
Aus gleichen Gründen sind wir bei dunklen Geschichten nur dann imstande, unter verschiedenen Lesarten die richtige herauszufinden, wenn wir wissen, welche Personen die Exemplare besessen haben, in welchen diese verschiedenen Lesarten vorkommen, und ferner, ob nicht noch manche andere Lesarten in Exemplaren von Männern von größerer Autorität vorhanden gewesen sind.
Endlich ist bei manchen biblischen Büchern noch ein weiterer Übelstand vorhanden, der ihre Auslegung nach unserer Methode erschwert: daß wir sie nicht mehr in der Sprache besitzen, in welcher sie ursprünglich geschrieben waren. Denn das Evangelium Matthäi und ohne Zweifel auch der Hebräerbrief waren nach allgemeiner Annahme im Originaltext hebräisch abgefaßt, derselbe ist aber nicht mehr vorhanden. Vom Buche Hiob ist es zweifelhaft, in welcher Sprache es niedergeschrieben worden ist. Aben Hezra versichert in seinem Kommentar, es sei aus einer andern Sprache ins Hebräische übersetzt worden und das sei die Ursache, weshalb es so viel dunkle Stellen enthalte. Über die apokryphischen Bücher sage ich nichts, da sie von ganz anderer Bedeutung sind.
Alle diese aufgeführten Schwierigkeiten hat also die Methode der Bibelauslegung aus ihrer eigenen Geschichte, soweit wir eine solche haben können. Ich halte dieselben für so groß, daß ich ohne Bedenken behaupte, in den meisten Stellen der Bibel kennen wir den wahren Sinn entweder gar nicht, oder doch nur vermutungsweise. Anderseits muß indessen hier nochmals hervorgehoben werden, daß alle diese Schwierigkeiten dem Verständnis der Propheten nur insoweit im Wege sind, als es sich um unbegreifliche Dinge und um Erlebnisse der Einbildungskraft handelt, nicht aber um Dinge, die wir mit der Vernunft erfassen und von denen wir uns leicht einen klaren Begriff bilden können. Denn Dinge, die ihrer Natur nach leicht begriffen werden, können niemals so dunkel ausgedrückt werden, daß man sie nicht leicht verstehen könnte; wie das Sprichwort sagt: Dem Verständigen genügt ein Wort. Euklid, der nur höchst einfache und sehr verständliche Dinge geschrieben hat, wird in jeder Sprache leicht von jedermann verstanden. Denn um seinen Sinn zu treffen und über seine wahre Meinung Gewißheit zu erlangen, braucht man die Sprache, in welcher er geschrieben hat, nicht vollständig zu kennen, es genügt eine oberflächliche, ja schülerhafte Kenntnis derselben; auch braucht man weder über Leben, Beschäftigung und Sitten des Verfassers etwas zu wissen, noch in welcher Sprache, für wen und wann er geschrieben hat, noch die Schicksale des Buches oder seine verschiedenen Lesarten, und ebensowenig, welche Personen seine Annahme beschlossen haben. Was hier von Euklid gesagt ist, gilt von jedem andern Schriftsteller, der über Dinge schrieb, die durch sich selbst verständlich sind. Darum ist die Annahme gerechtfertigt, daß wir bei Sittenlehren den Sinn der Bibel aus ihrer Geschichte, die wir haben können, leicht erraten und über ihre wahre Meinung Gewißheit erlangen können. Denn die Lehren der wahren Frömmigkeit werden mit den gebräuchlichsten Worten ausgedrückt, weil sie allgemein giltig, einfach und leicht verständlich sind, und weil ferner das wahre Heil und die wahre Glückseligkeit in der wahren Seelenruhe besteht, diese wahre Seelenruhe aber nur durch vollständig klare Erkenntnis erworben wird. Es folgt also aufs deutlichste, daß wir über den Sinn der Bibel in Dingen, die zum Heil und zur Seligkeit notwendig sind, Gewißheit erlangen können; deshalb brauchen wir auch um alles übrige nicht allzusehr bekümmert zu sein, da es doch zum größten Teil mit der Vernunft und Erkenntnis nicht erfaßt werden kann und also weit mehr seltsam als nützlich ist.
Damit glaube ich die wahre Methode der Bibelauslegung genau angegeben und meine Ansicht darüber genau dargelegt zu haben. Unzweifelhaft hat bereits jeder Leser bemerkt, daß diese Methode keine andere Erleuchtung erheischt als die der natürlichen Vernunft. Denn das Wesen und der Vorzug dieser Erleuchtung besteht hauptsächlich in der Ableitung und Folgerung des Unbekannten aus dem Bekannten oder als bekannt Vorausgesetzten durch richtige Schlußfolgerung, und etwas anderes verlangt meine Methode nicht. Und wenn ich auch zugeben muß, daß diese Methode nicht ausreicht, um über alles, was in der Bibel vorkommt, sichere Aufklärung zu geben, so liegt doch die Schuld nicht an der Methode selbst, sondern es rührt dies daher, daß der Weg, den sie als den wahren und richtigen zeigt, bis heute noch niemals gepflegt und von niemand betreten worden war, weshalb er im Laufe der Zeit sehr beschwerlich und unwegsam geworden ist, wie aus den von mir dargelegten Schwierigkeiten aufs deutlichste erhellen wird.
Es sind nun aber auch die gegnerischen Ansichten zu untersuchen. Zunächst die Ansicht derjenigen, welche behaupten, die natürliche Vernunft besitze nicht die Fähigkeit, die Bibel auszulegen, sondern dazu sei eine übernatürliche Erleuchtung unbedingt erforderlich. Was aber das für eine Erleuchtung sein soll, das zu erklären, überlasse ich jenen selbst. Ich für meine Person kann mir die Sache nicht anders denken, als daß jene Leute mit ziemlich dunklen Ausdrücken ebenfalls zu verstehen geben wollten, daß sie über den wahren Sinn der Bibel in vielen Fällen im Zweifel seien. Denn wenn man ihre Erklärungen genau besieht, so enthalten sie ganz und gar nichts Übernatürliches, ja im Grunde nichts als bloße Vermutungen. Man vergleiche sie doch nur mit der Erklärung derer, welche offen gestehen, daß sie keine andere Erleuchtung hätten, als die natürliche und man wird finden, daß sie diesen ganz ähnlich sind, daß sie rein menschlich, durch langes Nachdenken ersonnen und mit Mühe gefunden wurden. Wenn sie aber sagen, daß die natürliche Erleuchtung dazu nicht ausreicht, so ist das offenbar falsch aus doppeltem Grunde. Erstens haben wir bereits gesehen, daß die Schwierigkeit in der Bibelauslegung keineswegs von dem Unvermögen der natürlichen Erleuchtung herrührt, sondern von der Nachlässigkeit (um nicht zu sagen Schlechtigkeit) jener Menschen, welche es versäumt haben, eine Geschichte der Bibel abzufassen, zu einer Zeit, wo dies noch möglich war. Zweitens aber soll dieses übernatürliche Licht (wie alle einräumen, so viel ich weiß) ein göttliches Geschenk sein, das nur den Gläubigen verliehen ist. Nun haben aber die Propheten und Apostel nicht bloß den Gläubigen, sondern auch und hauptsächlich den Ungläubigen und Schlechten gepredigt, welche also ebenfalls fähig gewesen sein mußten, den Sinn der Propheten und Apostel zu verstehen; andernfalls müßten uns die Propheten und Apostel wie Leute vorkommen, die kleinen Kindern vorgepredigt haben, nicht vernunftbegabten Männern. Auch Moses hätte seine Gesetze vergebens vorgeschrieben, wenn sie nur von Gläubigen hätten verstanden werden können; denn diese bedürfen keines Gesetzes. Denjenigen also, welche zum Verständnis der Propheten und Apostel ein übernatürliches Licht brauchen, fehlt eben, wie es scheint, das natürliche Licht, und ich bin weit entfernt, zu glauben, daß solche Leute ein übernatürliches göttliches Geschenk besäßen.
Eine ganz andere Ansicht hat Maimonides. Er meint, jede Bibelstelle sei verschiedener, ja sogar entgegengesetzter Deutungen fähig, und wir könnten erst dann von einer Stelle mit Sicherheit behaupten, daß wir ihren wahren Sinn erfaßt hätten, wenn wir bestimmt wissen, daß die betreffende Stelle nach unserer Auslegung nichts enthalte, was mit der Vernunft nicht übereinstimmt oder ihr gar widerspricht. Denn fände sich, daß die Stelle nach ihrem Wortsinn der Vernunft widerspricht, so müßte sie nach seiner Meinung anders ausgelegt werden, wenn sie auch noch so klar sein sollte. Dies behauptet er klar und deutlich im Buche More Nebuchim Teil 2, Kap. 25 mit folgenden Worten: »Wisse, daß ich nicht deswegen zu sagen mich scheue, die Welt sei von Ewigkeit her, weil die Stellen der Bibel über die Schöpfung der Welt dem entgegenstehen. Denn es giebt nicht mehr Stellen, welche lehren, die Welt sei geschaffen, als Stellen, welche lehren, Gott sei körperlich. Auch sind die Zugänge zur Deutung jener Stellen, welche von der Schöpfung der Welt handeln, uns weder verschlossen, noch versperrt, sondern wir hätten sie deuten können, wie dort, wo wir Gott die Körperlichkeit absprachen. Vielleicht wäre dies sogar noch leichter gegangen und wir hätten, um die Ewigkeit der Welt behaupten zu können, die betreffenden Stellen weit bequemer umdeuten können, als die andern Stellen, um Gott, gelobt sei er, die Körperlichkeit abzusprechen. Wenn ich aber dies dennoch nicht thue und es auch nicht glaube (nämlich daß die Welt ewig wäre), so hat das zweierlei Ursachen: Erstens, weil die Unkörperlichkeit Gottes klar bewiesen ist, weshalb alle Stellen, die im buchstäblichen Sinne damit im Widerspruch stehen, umgedeutet werden müssen. Denn in diesem Falle müssen sie notwendig eine Deutung (eine andere als die buchstäbliche) zulassen. Für die Ewigkeit der Welt dagegen ist kein Beweis geliefert worden; es ist also nicht nötig, der Bibel Gewalt anzuthun und die betreffenden Stellen umzudeuten um einer Meinung willen, die uns zwar einleuchtet, die wir aber doch vielleicht wieder mit der entgegengesetzten vertauschen, wenn irgend ein Grund dafür sprechen sollte. Die zweite Ursache ist, weil der Glaube an die Unkörperlichkeit Gottes mit den Grundlehren des Gesetzes nicht im Widerspruch steht u. s. f. Dagegen zerstört der Glaube an die Ewigkeit der Welt im Sinn des Aristoteles das Gesetz von Grund aus u. s. f.«
Das sind die Worte des Maimonides, aus welchen klar ersichtlich ist, was ich oben gesagt. Denn wenn er von der Ewigkeit der Welt durch die Vernunft überzeugt gewesen wäre, so hätte er kein Bedenken getragen, die Bibel zu drehen und zu deuten, bis sie scheinbar dasselbe lehren würde; ja er wäre sofort überzeugt gewesen, daß die Bibel die Ewigkeit der Welt habe lehren wollen, so deutlich sie überall das Gegenteil lehrt. Er konnte sich also von dem wahren Sinn einer Bibelstelle, bei aller Klarheit derselben, nicht für überzeugt halten, so lange ihm die Wahrheit der Sache selbst zweifelhaft war oder nicht ganz fest stand. Denn so lange uns die Wahrheit einer Sache nicht fest steht, können wir nicht wissen, ob die Sache mit der Vernunft übereinstimmt oder im Widerspruch mit ihr steht, und folglich können wir auch so lange nicht wissen, ob der buchstäbliche Sinn wahr oder falsch sei.
Wäre diese Ansicht richtig, so würde ich unbedingt zugeben, daß wir zur Bibelauslegung neben der natürlichen Erleuchtung noch eine andere nötig haben. Denn beinahe der ganze Inhalt der Bibel kann nicht aus Grundsätzen, die auf der natürlichen Vernunft beruhen, abgeleitet werden (wie schon gezeigt); somit können wir uns von der Wahrheit desselben durch die Beweiskraft der natürlichen Vernunft nicht überzeugen und folglich auch nicht von dem wahren Sinn oder der wahren Bedeutung der Bibel, sondern es wäre dazu eine andere Erleuchtung nötig. Es würde, wenn diese Ansicht wahr wäre, weiter folgen, daß die Menge, welche nur sehr selten von Beweisen etwas wissen will und auch keine Zeit hat, sich damit zu befassen, in Bezug auf die Bibel sich nur auf die Autorität und die Zeugnisse der Philosophen verlassen könne und demzufolge annehmen müsse, daß die Philosophen in der Auslegung der Bibel nicht irren könnten. Es wäre dies fürwahr eine ganz neue Kirchen-Autorität und ein neues Priester- oder Papsttum, das vom Volk mehr verlacht als verehrt würde. – Nun erfordert zwar auch unsere Methode die Kenntnis der hebräischen Sprache, womit sich zu befassen die Menge ebenfalls keine Zeit hat; trotzdem kann ein solcher Einwand gegen uns nicht erhoben werden. Denn das Volk der Juden und Heiden, welchem einst die Propheten und Apostel gepredigt und für welches sie geschrieben haben, verstand die Sprache der Propheten und Apostel. Den Sinn ihrer Worte hat es daher sehr wohl begriffen, aber keineswegs die Gründe dessen, was sie lehrten und die sie nach der Meinung des Maimonides gleichfalls hätten wissen müssen, um den Sinn der Propheten begreifen zu können. Es folgt daher aus unserer Methode nicht, daß das Volk sich mit dem Zeugnis der Ausleger beruhigen müsse. Denn ich weise auf ein Volk hin, dem die Sprache der Propheten und Apostel geläufig war; Maimonides aber wird auf kein Volk hinweisen können, das die Gründe der Dinge begreift und den Sinn der Propheten daraus erkennt. Was aber das heutige Volk betrifft, so habe ich schon gezeigt, daß alles, was zur Glückseligkeit nötig ist, in jeder Sprache leicht verstanden werden kann, auch wenn man dessen Begründung nicht weiß, weil es das alltägliche und praktische Leben betrifft. Dieses Verständnis befriedigt das Volk, nicht aber das Zeugnis der Ausleger; in allem übrigen aber geht es ihm ganz wie den Gelehrten selbst.
Ich will indessen zur Ansicht des Maimonides zurückkehren, um sie noch genauer zu untersuchen. Er muß einmal voraussetzen, daß die Propheten in allen Dingen miteinander übereinstimmten und große Philosophen und Theologen waren, da er meint, sie hätten aus der Wahrheit einer Sache ihre Schlüsse gezogen. Daß dies falsch ist, habe ich im zweiten Kapitel nachgewiesen. Ferner muß er voraussetzen, daß der Sinn der Bibel nicht aus ihr selbst sich ergeben könne. Denn da die Wahrheit der Sache sich nicht aus der Bibel selbst ergiebt, (indem sie keine Beweisführungen enthält, noch über die Dinge, über welche sie redet, Definitionen giebt und auf ihre ersten Ursachen zurückführt,) so kann nach der Ansicht des Maimonides der Sinn der Bibel aus ihr selbst sich weder ergeben noch ermittelt werden. Daß das gleichfalls falsch ist, erhellt aus dem vorliegenden Kapitel. Denn ich habe mit Gründen und Beispielen nachgewiesen, daß der Sinn der Bibel aus ihr selbst sich ergiebt und auch aus ihr selbst ermittelt werden kann, auch wo sie von Dingen redet, die auf der natürlichen Vernunft beruhen. Er setzt endlich noch voraus, daß es uns erlaubt wäre, die Worte der Bibel unsern vorgefaßten Meinungen gemäß zu deuten und zu drehen, und den Wortsinn, auch den klarsten und unzweideutigsten, zu verleugnen und in irgend einen andern zu verkehren. Daß ein solches Verfahren über die Grenzen des Erlaubten hinausgeht und eine Verwegenheit ist, abgesehen davon, daß sie dem, was in diesem Kapitel und in früheren bewiesen wurde, schnurstracks zuwiderläuft, muß jedermann einsehen. – Aber selbst diese weitgehende Freiheit zugestanden: was richtet er denn damit aus? Gar nichts. Denn da das, was die Bibel enthält, größtenteils gar nicht bewiesen werden kann, so können wir ihren Sinn auf diese Weise auch nicht ergründen; er kann also nach dieser Regel überhaupt weder gedeutet noch ausgelegt werden. Schlägt man dagegen unsere Methode ein, so kann man sich vieles dieser Art erklären und mit Sicherheit darüber sprechen, wie bereits durch Gründe und tatsächlich gezeigt wurde. Was aber seiner Natur nach begreiflich ist, davon kann der Sinn leicht aus dem Text selbst ermittelt werden, wie wir ebenfalls schon gezeigt haben. Daher ist die Methode des Maimonides ganz und gar wertlos. Dazu kommt noch, daß sie sowohl dem Volk beim schlichten Lesen der Bibel, wie denen, welche eine andere Methode befolgen, jede Gewißheit über den Sinn der Bibel ganz und gar benimmt. Deshalb verwerfe ich diese Ansicht des Maimonides als schädlich, wertlos und widersinnig.
Was ferner die Überlieferung der Pharisäer anbelangt, so wurde schon früher bemerkt, daß die Pharisäer selbst darüber keine Gewißheit hatten. Die Autorität der römischen Priester aber müßte sich auf ein Zeugnis von größerem Gewicht stützen; das allein ist der Grund, weshalb ich sie verwerfe. Denn würde diese Autorität aus der Bibel selbst ebenso bestimmt nachzuweisen sein, wie die der ehemaligen jüdischen Priester, so würde ich kein Gewicht darauf legen, daß es unter den römischen Priestern auch Ketzer und schlechte Menschen gegeben hat. Gab es doch auch unter den ehemaligen jüdischen Priestern Ketzer und schlechte Menschen, welche das Priesteramt durch verwerfliche Mittel erlangt hatten, und dennoch bildeten sie auf Anordnung der Bibel die oberste Behörde in Sachen der Gesetzesauslegung. S. 5. Buch Mose Im Original ist Exod. zitiert; offenbar fehlerhaft, indem es Deut. heißen muß, wo sich die beiden Stellen, welche Spinoza meint, finden. (Anmerkung des Übersetzers.) Kap. 17, V. 11 und 12 und Kap. 33, V. 10, und Maleachi Kap. 2, V. 8. Da aber die römischen Priester ein solches Zeugnis nicht aufweisen, so bleibt ihre Autorität sehr verdächtig. Damit aber niemand von dem Priestertum der Hebräer den Trugschluß ziehe, daß folglich auch die katholische Religion ein Priestertum nötig hat, bemerke ich folgendes: Die mosaischen Gesetze, welche das öffentliche Recht des Landes bildeten, bedurften notwendig zu ihrer Aufrechthaltung einer öffentlichen Autorität. Denn wenn es jedem frei stünde, das öffentliche Recht nach seinem Gutdünken auszulegen, so könnte kein Staat bestehen, sondern er würde zerfallen und das öffentliche Recht wäre nur ein Privatrecht. Ganz anders verhält es sich mit der Religion. Denn da sie nicht eigentlich in äußerlichen Handlungen, sondern in der Einfalt und Wahrhaftigkeit der Seele besteht, so gehört sie nicht dem öffentlichen Recht und der öffentlichen Autorität an. Denn die Einfalt und Wahrhaftigkeit der Seele wird den Menschen nicht durch die Macht der Gesetze, noch durch die öffentliche Autorität eingeflößt, wie denn überhaupt niemand mit Gewalt oder durch Gesetze gezwungen werden kann, selig zu werden. Dazu gehört vielmehr eine gütige, brüderliche Ermahnung, eine gute Erziehung und vor allem eigenes, freies Urteil. Da also das unbeschränkte Recht der freien Meinung auch in der Religion einem jeden zusteht und es sich nicht denken läßt, daß jemand dieses Recht aufgeben könne, so muß auch jedermann das unbeschränkte Recht und die höchste Autorität besitzen, über die Religion frei zu denken und folglich auch, sich dieselbe zu deuten und auszulegen. Denn aus keinem andern Grunde hat die Obrigkeit die höchste Autorität in der Auslegung der Gesetze und das entscheidende Urteil in öffentlichen Angelegenheiten, als weil es sich dabei um das öffentliche Recht handelt. Aus eben diesem Grunde aber muß jedermann selbst die höchste Autorität besitzen, die Religion auszulegen und über sie zu urteilen; weil es sich nämlich hierbei um das Recht des Einzelnen handelt. Weit entfernt also, daß man von der priesterlichen Autorität bei den Hebräern in der Auslegung der Landesgesetze auf die Autorität des römischen Priestertums im Auslegen der Religion einen Schluß ziehen könnte, läßt sich im Gegenteil viel leichter aus demselben schließen, daß jeder in eigner Person diese Autorität besitzt.
Wir können auch hieran sehen, daß unsere Methode der Bibelauslegung die beste ist. Denn wenn jeder selbst die höchste Autorität besitzt, sich die Bibel auszulegen, so kann es auch bei der Bibelauslegung keinen andern Wegweiser geben als die natürliche Vernunft, welche ein Gemeingut aller Menschen ist, also weder eine übernatürliche Erleuchtung, noch eine äußere Autorität. Denn sie darf dann nicht so schwierig sein, daß sie nur von recht scharfsinnigen Philosophen gehandhabt werden kann, sondern muß für das natürliche und allgemeine Denkvermögen der Menschen passen, was bei unserer Methode nachgewiesenermaßen der Fall ist. Denn wir haben gesehen, daß die Schwierigkeiten, welche sie hat, von menschlicher Nachlässigkeit herrühren, aber nicht in ihrem Wesen begründet sind.