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Fünftes Kapitel.

Über den Grund der religiösen Gebräuche, und über den Glauben an die Geschichte, wiefern und wem er nötig sei.


Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, daß das göttliche Gesetz, welches den Menschen das echte Glück verleiht und das rechte Leben lehrt, Gemeingut aller Menschen ist; es wurde sogar aus der menschlichen Natur dergestalt abgeleitet, daß man annehmen kann, es sei dem menschlichen Geiste angeboren und gleichsam eingeschrieben. Da nun die religiösen Gebräuche, wenigstens die im Alten Testament, nur für die Hebräer angeordnet und nur für ihren Staat berechnet waren, so daß die meisten nur von dem ganzen Volk, nicht aber von jedem Einzelnen geübt werden konnten, so ist es gewiß, daß sie keinen Bestandteil des göttlichen Gesetzes ausmachen und daher auch zur Glückseligkeit und Tugend nichts beitragen; vielmehr betrafen sie bloß die Auserwählung der Hebräer, nämlich (nach unserer Ausführung im 3. Kapitel) ihre zeitliche leibliche Wohlfahrt und die Sicherheit ihres Staats, und sie konnten daher nur solange dieser Staat bestand von Wert sein. Wenn sie nun im Alten Testament auf ein Gesetz Gottes zurückgeführt werden, so geschah dies nur deshalb, weil sie durch die Offenbarung oder auf Grund geoffenbarter Lehren angeordnet worden sind. – Da aber die triftigsten Gründe bei den Theologen gewöhnlichen Schlags nicht hoch angeschlagen werden, so will ich das, was ich soeben aufgestellt, auch durch die Autorität der Bibel bestätigen und überdies, um es noch deutlicher zu machen, zeigen, warum und wie die religiösen Gebräuche zur Befestigung und Erhaltung des jüdischen Staats gedient haben.

Jesaja lehrt nichts deutlicher, als daß das göttliche Gesetz im eigentlichen Sinne des Worts jenes allgemeine Gesetz bezeichnet, welches in einer vernünftigen Lebensweise besteht, nicht aber die religiösen Gebräuche. Denn im 1. Kapitel, im 10. Vers, fordert er sein Volk auf, das göttliche Gesetz von ihm zu hören. Von demselben schließt er zuvörderst alle Arten von Opfern und Festen aus, sodann lehrt er das Gesetz selbst (s. V. 16 und 17) und faßt es in wenigen Worten zusammen, nämlich: Reinigung der Seele, Tugendhaftigkeit und Güte der Gesinnung und Handlungen wie auch Hilfeleistung den Armen.

Ein ebenso klarer Beleg ist die Psalmstelle Kap. 40, V. 7 und 9, wo der Psalmist Gott folgendermaßen anredet: »Opfer und Gabe hast du nicht begehrt; Ohren hast du mir gebohrt Eine Redensart, welche die Fähigkeit zu vernehmen bezeichnet. (Anmerkung des Verfassers.); Brandopfer und Sühnopfer hast du nicht verlangt; deinen Willen, mein Gott, will ich befolgen, denn dein Gesetz ist in meinen Eingeweiden.« Er nennt also nur das Gesetz ein göttliches, welches seinen Eingeweiden oder seinem Geiste eingeschrieben ist und schließt die religiösen Gebräuche davon aus, da sie bloß zufolge besonderer Verordnung, nicht aber von Natur aus gut und deswegen dem Geiste nicht eingeschrieben sind. Außer diesen Stellen giebt es in der Bibel noch andere, welche das bezeugen; doch genügt wohl die Anführung dieser beiden.

Daß nun aber die religiösen Gebräuche zur Glückseligkeit nichts beitragen, sondern bloß die zeitliche Wohlfahrt des Staats bezwecken, geht ebenfalls aus der Bibel selbst hervor, welche für deren Beobachtung nur leibliche Vorteile und Annehmlichkeiten verheißt, dagegen die Glückseligkeit nur für die Befolgung des allgemeinen göttlichen Gesetzes. In den sogenannten fünf Büchern Mose wird, wie oben schon bemerkt, nichts anderes verheißen, als dieses zeitliche Glück, nämlich Ehren, Ruhm, Siege, Reichtümer, Freude, Gesundheit. Zwar enthalten jene fünf Bücher neben den religiösen Gebräuchen auch viele Sittenlehren, aber nicht als solche, die für alle Menschen giltig sind, sondern als Vorschriften, welche in erster Linie der Fassungskraft und dem Geiste des hebräischen Volkes allein angepaßt sind und deshalb auch bloß die Wohlfahrt seines Staats bezwecken. So z. B. erteilt Moses das Verbot des Tötens und des Diebstahls nicht als Lehrer oder Prophet, sondern als Gesetzgeber und Herrscher; denn er begründet dasselbe nicht mit der Vernunft, sondern setzt eine Strafe darauf; Strafen aber können und müssen je nach dem Geiste der einzelnen Völker verschieden sein, was die Erfahrung zur Genüge lehrt. So auch hat Moses bei dem Verbot des Ehebruchs nur die Wohlfahrt des Gemeinwesens und Staats ins Auge gefaßt. Hätte er dasselbe als Sittenlehre erteilen wollen, die nicht bloß die staatliche Wohlfahrt, sondern die Seelenruhe und die wahre menschliche Glückseligkeit fördert, so hätte er nicht bloß die äußere Handlung, sondern auch die innere Gesinnung verdammt; wie Christus that, der nur allgemeine Lehren erteilte (s. Matth. Kap. 5, V. 28) und deswegen auch geistige Belohnung versprach, nicht leibliche, wie Moses. Denn Christus ist, wie ich schon gesagt habe, nicht gesendet worden, den Staat zu erhalten und Gesetze zu erlassen, sondern das allgemeine Gesetz zu lehren. Hieraus kann man leicht entnehmen, daß Christus das mosaische Gesetz keineswegs aufgehoben hat, da Christus überhaupt keine neuen Gesetze im Staate einführen wollte; vielmehr ließ er es sich ganz besonders angelegen sein, die Sittengesetze zu lehren und sie von den Staatsgesetzen zu trennen, und zwar that er dies namentlich wegen der Unwissenheit der Pharisäer, welche glaubten, daß derjenige selig lebe, der die Staatsgesetze oder das mosaische Gesetz aufrecht hält, während dieses doch wie gesagt nur politisch begründet war und nicht sowohl zur Belehrung als zur Nötigung der Hebräer dienen sollte.

Wir wollen nun wieder zu unserem Vorwurf zurückkehren und andere Bibelstellen anführen, welche für die religiösen Gebräuche nur leibliche Vorteile, die Glückseligkeit aber nur für das allgemeine göttliche Gesetz verheißen. Unter den Propheten hat das keiner klarer gelehrt als Jesaja. Im 58. Kapitel verdammt er die Heuchelei und empfiehlt die Freiheit des Menschen selbst und die Liebe gegen den Nebenmenschen, dafür verspricht er folgendes: »Dann wird hervorbrechen wie das Morgenrot dein Licht und deine Genesung wird in Bälde aufblühen, vor dir wird deine Gerechtigkeit wandeln und die Herrlichkeit Gottes wird dich versammeln Ein Hebräismus, der »Sterben« bezeichnet. »Zu seinen Vätern versammelt werden« bedeutet sterben. S. 1. Buch Mose Kap. 49, V. 29 und 33. (Anmerkung des Verfassers.) etc.« Hierauf empfiehlt er auch den Sabbath, für dessen gewissenhafte Beobachtung er folgendes verspricht: »Dann wirst du dich mit Gott ergötzen Das heißt soviel als: anständig ergötzen; wie man auch im Niederländischen sagt: Met Godt, en met eere (Mit Gott und mit Ehre). (Anmerkung des Verfassers.) und ich werde dich reiten Es bedeutet »herrschen«, wie man ein Pferd am Zügel hält. (Anmerkung des Verfassers.) lassen auf den Höhen der Erde und dich essen lassen das Erbe deines Vaters Jakob, wie der Mund Jehovahs gesprochen.« Wir sehen also, daß der Prophet für Freiheit und Liebe einen gesunden Geist im gesunden Körper und Gottes Herrlichkeit auch nach dem Tode verspricht, für die religiösen Gebräuche dagegen nichts als Sicherheit des Staats, Gedeihen und leibliches Glück. – Im 15. und 24. Psalm werden gar keine religiösen Gebräuche, sondern nur sittliche Lehren aufgeführt, weil nämlich diese Psalmen nur von der Glückseligkeit handeln, obzwar von ihr gleichnisweise gesprochen wird. Denn unzweifelhaft ist daselbst unter dem Berge Gottes, seinen Zelten und deren Bewohnung, die Glückseligkeit und Seelenruhe zu verstehen, aber nicht der Berg Jerusalem oder die Stiftshütte des Moses, da diese Orte von niemand bewohnt, sondern nur von Personen aus dem Stamme Levi verwaltet wurden. – Ferner versprechen auch alle im vorigen Kapitel angeführten salomonischen Sprüche die wahre Seligkeit nur für die Pflege der Erkenntnis und Weisheit, weil nämlich nur durch sie die Furcht Gottes erkannt und die Erkenntnis Gottes gefunden wird.

Daß aber die Hebräer nach der Zerstörung ihres Reiches nicht verpflichtet sind, die religiösen Gebräuche zu beobachten, erhellt aus Jeremia, der in der Weissagung über die Zerstörung Jerusalems, die er in Bälde hereinbrechen sieht, sagt: »Gott liebt nur diejenigen, welche wissen und erkennen, daß er Barmherzigkeit, Gericht und Gerechtigkeit in der Welt übt; deswegen werden in Zukunft nur die, welche solches einsehen, des Lobes würdig erachtet werden« (s. Kap. 9, V. 23), womit er sagen will, daß Gott nach der Zerstörung Jerusalems nichts besonderes von den Juden verlange, sondern in Zukunft nur die Beobachtung des für jedermann geltenden natürlichen Gesetzes erwarte. – Auch das Neue Testament bestätigt das vollauf; denn es werden darin, wie schon bemerkt, nur die Sittengesetze gelehrt und für sie wird das Himmelreich versprochen, dagegen wurden die religiösen Gebräuche von den Aposteln aufgehoben, als man das Evangelium auch andern Völkern, die unter andern Staatsgesetzen lebten, zu verkünden begann. Die Pharisäer freilich hielten auch nach dem Untergang des Staats diese religiösen Gebräuche oder doch einen großen Teil derselben aufrecht; sie thaten das aber mehr aus Gegnerschaft gegen das Christentum, als um Gott zu gefallen. Denn als sie nach der ersten Zerstörung Jerusalems in die babylonische Gefangenschaft geführt wurden, hörten sie sofort auf, die religiösen Gebräuche zu beobachten; denn damals hatten sie sich, so viel ich weiß, noch nicht in Sekten gespalten; ja sie sagten sich vom ganzen mosaischen Gesetze los, gaben das vaterländische Recht als gänzlich überflüssig der Vergessenheit Preis und fingen an, sich mit andern Völkern zu vermischen, wie wir aus Esra und Nehemia zur Genüge erfahren. Es ist daher kein Zweifel, daß die Juden nach Auflösung ihres Staats an das mosaische Gesetz ebensowenig gebunden waren als vor der Errichtung ihres staatlichen Gemeinwesens. Vor dem Auszug aus Ägypten, als sie noch unter andern Völkern lebten, hatten sie keine besonderen Gesetze und waren keinem andern Gesetz unterworfen, als dem natürlichen und auch ohne Zweifel den Gesetzen des Staats, in welchem sie lebten, soweit dieselben zu dem natürlichen göttlichen Gesetz in keinem Widerspruch standen. Wenn gleichwohl die Erzväter Gott Opfer dargebracht haben, so thaten sie das meiner Meinung nach, um ihren von Kindheit auf an Opfer gewöhnten Geist mehr zur Andacht anzuregen; denn von den Tagen des Enos an waren alle Menschen an Opfer gewöhnt, so daß sie durch diese besonders zur Andacht angeregt wurden. Also nicht auf Grund irgend eines von Gott anbefohlenen Gesetzes oder infolge einer Belehrung über die allgemeinen Grundlagen des göttlichen Gesetzes haben die Erzväter Gott Opfer dargebracht, sondern bloß, weil es damals gebräuchlich war. Wenn sie es aber dennoch auf Befehl eines andern thaten, so kann das kein anderer Befehl gewesen sein, als das Gesetz des Staats, in welchem sie lebten und dem auch sie gehorchen mußten (wie ich soeben und auch bereits im 3. Kapitel bei Erwähnung des Melchisedek hervorgehoben habe).

So hätte ich also meine Ansicht durch die Autorität der Bibel bestätigt und es erübrigt nur noch, zu zeigen, auf welche Weise und wiefern die religiösen Gebräuche zur Erhaltung und Befestigung des Hebräerstaates dienten. Es soll das so kurz als möglich mit allgemeinen Sätzen geschehen.

Die menschliche Gemeinschaft ist nicht bloß zum Schutz vor Feinden, sondern auch zur Herstellung vieler nützlichen Dinge gut und sogar höchst notwendig. Denn würden die Menschen einander nicht wechselseitig Hilfe leisten, so hätten sie weder Geschick noch Zeit genug, sich zu ernähren und zu erhalten. Denn nicht jeder ist zu jedem Werk brauchbar und der Einzelne wäre daher nicht einmal imstande, sich das anzuschaffen, was er selbst notwendig braucht. Kraft und Zeit, sage ich, würde dem Einzelnen fehlen, wenn er ackern, säen, ernten, mahlen, kochen, weben, nähen und noch viele andere zum Leben nötige Arbeiten verrichten müßte; um von den Künsten und Wissenschaften zu schweigen, welche nicht minder zur Vervollkommnung der menschlichen Natur und zur Glückseligkeit höchst notwendig sind. Wir sehen daher, daß Menschen, welche im barbarischen Zustand ohne staatliche Gemeinschaft leben, ein elendes fast tierisches Leben führen und daß sie auch das Wenige, was sie haben und das noch armselig und plump genug beschaffen ist, nicht ohne wechselseitige Hilfeleistung, sie sei, welche sie wolle, zustande bringen.

Wenn nun die Menschen von Natur so beschaffen wären, daß sie nichts anderes begehren würden, als was die reine Vernunft eingiebt, so würde die Gemeinschaft keine Gesetze brauchen, sondern es würde vollständig genügen, den Menschen die wahren Sittengesetze zu lehren, damit sie aus eigenem Antrieb und freier Seele das wahrhaft Nützliche thun. Die menschliche Natur aber ist ganz anders beschaffen. Ihren Nutzen suchen sie zwar alle, aber nicht von der gesunden Vernunft geleitet, sondern von Begierden und Leidenschaften angetrieben (ohne Rücksicht auf die Zukunft und andere Dinge) verlangen sie gewisse Dinge und halten dieselben für nützlich. Daher kommt es, daß keine Gemeinschaft bestehen kann ohne Regierung und Gewalt und folglich auch nicht ohne Gesetze, welche die Begierden der Menschen und ihren zügellosen Ungestüm mäßigen und einschränken.

Indessen unterwirft sich die menschliche Natur doch nicht unbedingt der Gewalt. »Maßlose Herrschaft hat niemand lange behauptet, nur die gemäßigte ist von Dauer«, wie Seneca der Tragiker sagt. Denn solange die Menschen bloß aus Furcht handeln, thun sie das, wozu sie ganz und gar keine Lust haben und nehmen keine Rücksicht auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit dessen, was geschehen muß, sondern sind nur darauf bedacht, sich nicht den Tod oder eine Strafe zuzuziehen. Ja sie können nicht umhin, sich über ein Unglück oder ein Übel des Herrschers zu freuen, wiewohl dasselbe auch ihnen selbst zum großen Nachteil gereicht, und ihm alles Böse zu wünschen und zuzufügen, soweit sie vermögen. Auch ist den Menschen nichts unerträglicher, als ihresgleichen dienen und sich von ihnen regieren lassen zu müssen, und endlich ist nichts schwerer, als den Menschen die Freiheit zu nehmen, nachdem sie ihnen einmal erteilt worden ist.

Hieraus folgt erstens, daß entweder die ganze Gesellschaft womöglich die Regierung innehaben muß, so daß alle nur sich selbst, aber keiner seines Gleichen unterworfen wäre; oder daß, wenn wenige Personen oder eine die Regierung inne hat, diese vor der gewöhnlichen Menschennatur etwas voraushaben, oder doch vorauszuhaben das Volk nach Kräften zu überzeugen suchen muß. Weiter folgt, daß die Gesetze in jedem Staat so beschaffen sein müssen, daß die Menschen nicht sowohl durch Furcht, als vielmehr durch Hoffnung auf einen recht heftig begehrten Vorteil zur Unterwerfung veranlaßt werden müssen, denn nur auf diese Weise erfüllt jeder willig seine Pflicht. Weil endlich der Gehorsam darin besteht, daß man die Gesetze lediglich wegen der Autorität der Regierung befolgt, so folgt daraus, daß in einem Gemeinwesen, wo die ganze Gesellschaft regiert und die Gesetze auf Grund allgemeiner Zustimmung erlassen werden, von Gehorsam keine Rede sein kann und daß das Volk gleich frei bleibt, ob die Gesetze vermehrt oder vermindert werden, weil es nicht nach der Autorität eines andern, sondern nach der eigenen Bestimmung handelt. Das Gegenteil ist der Fall, wo ein Einziger die Regierung unbeschränkt innehat; da vollziehen alle die Gesetze der Regierung auf Grund der Autorität eines Einzelnen. Einer solchen Regierung ist es darum schwer, etwa nötige neue Gesetze anzuordnen, wenn das Volk nicht von Anfang an zum Gehorsam erzogen wurde, und die einmal zugestandene Freiheit wieder rückgängig zu machen.

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen kehren wir zum Staate der Hebräer zurück. Diese waren, als sie aus Ägypten gezogen waren, an kein Gesetz irgend eines Volkes mehr gebunden und es stand ihnen daher frei, neue Gesetze nach Gutdünken zu erlassen oder ein neues Recht zu gründen, und einen Staat, in jeder beliebigen Gegend, und Länder in Besitz zu nehmen, welche sie wollten. Indessen waren sie zu nichts weniger fähig, als zur Anordnung weiser Gesetze und zur Einrichtung einer allgemeinen Volksregierung; denn fast alle waren ungebildeten Geistes und durch harte Knechtschaft heruntergekommen. Die Regierung mußte daher von einem Einzelnen geführt werden, der die andern befehligte, der mit Gewalt sie nötigen konnte, ihnen Gesetze vorschrieb und dieselben später auslegte. Diese Regierung konnte Moses auch leicht innehaben, weil er an göttlicher Tugend die andern überragte und das Volk überzeugte, daß er solche besaß und dies durch viele Zeugnisse bewies (s. 1. Buch Mose Kap. 14, letzten Vers und Kap. 19, V. 9). Er hat also durch die göttliche Kraft, die ihn erfüllte, Gesetze aufgestellt und dem Volke vorgeschrieben, dabei aber war er sehr beflissen, daß das Volk weniger aus Furcht als aus freiem Antrieb seine Pflicht erfüllte. Zwei Umstände haben ihn noch besonders zu diesem Verfahren veranlaßt: der widerspenstige Sinn des Volkes (der sich durch Gewalt allein nicht zwingen ließ) und der bevorstehende Krieg. Wenn dieser einen glücklichen Ausgang haben sollte, mußten die Krieger mehr aufgemuntert, als durch Strafen und Drohungen erschreckt werden; denn auf diese Weise beeifert sich jeder, durch Mut und Seelengröße sich auszuzeichnen und denkt nicht bloß, wie er die Strafe vermeide.

Aus diesem Grunde nun führte Moses durch göttliche Kraft und auf göttlichen Befehl die Religion im Staate ein, damit das Volk weniger aus Furcht, als aus Ergebenheit seine Pflicht erfüllte. Sodann beeinflußte er dasselbe durch Wohlthaten und versprach ihm im Namen Gottes allerlei für die Zukunft. Auch erließ er keine allzu strengen Gesetze; was jeder leicht bestätigen kann, der sie aufmerksam prüft, namentlich wenn er die Umstände ins Auge faßt, die zur Verurteilung eines Angeschuldigten erforderlich waren.

Damit endlich das Volk, das sein eigener Gesetzgeber nicht sein konnte, vom Munde des Herrschers abhängig sei, gestattete er diesen an die Knechtschaft gewöhnten Menschen überhaupt keine beliebigen Handlungen. Bei allem, was das Volk that, war es verpflichtet, an das Gesetz zu denken, und Gebote zu erfüllen, die allein von dem Gutdünken des Gesetzgebers abhängen. Nicht nach freiem Belieben, sondern nach einem festen und bestimmten gesetzlichen Befehl durfte es ackern, säen und ernten. Ebenso durfte es nicht essen, sich nicht ankleiden, nicht Haupt oder Bart scheren, keine Lustbarkeiten begehen, überhaupt nichts thun, als nach den in den Gesetzen vorgeschriebenen Geboten und Verordnungen. Damit nicht genug, mußten sie auch an den Thürpfosten, an den Händen und zwischen den Augen gewisse Zeichen haben, die sie beständig zum Gehorsam ermahnten.

Dies also war der Zweck der religiösen Gebräuche; sie sollten bewirken, daß die Menschen nichts aus eigenem Willen, sondern alles auf Befehl eines andern thäten, und in That und Gedanken unaufhörlich sich ihrer völligen Unselbständigkeit und Abhängigkeit von einander bewußt wären.

Aus alledem erhellt sonnenklar, daß die religiösen Gebräuche zur Glückseligkeit nichts beitragen und daß die, welche im Alten Testament enthalten sind, ja das ganze mosaische Gesetz, nur auf den Hebräerstaat und folglich bloß auf leibliche Vorteile berechnet waren.

Was nun die religiösen Gebräuche der Christen betrifft, nämlich die Taufe, das Abendmahl, die Feste, die äußerlichen Gebote und was sonst noch in der ganzen Christenheit eingeführt ist und immer eingeführt war, so sind sie, falls sie überhaupt von Christus oder den Aposteln eingesetzt worden sind, (was mir bis jetzt noch nicht feststeht,) nur als äußerliche Zeichen der allgemeinen Kirche eingesetzt worden, nicht aber als Dinge, welche zur Seligkeit etwas beitragen, oder etwas Heiliges in sich enthalten. Sind daher diese religiösen Gebräuche zwar nicht um der Regierung willen eingesetzt worden, so haben sie doch nur die Bedeutung eines äußerlichen Bandes für die christliche Religionsgesellschaft, und daher sind Personen, welche nicht unter Christen leben, nicht an sie gebunden; ja wer in einem Staate lebt, in welchem die christliche Religion verboten ist, ist verpflichtet, sich dieser religiösen Gebräuche zu enthalten und kann dessenungeachtet selig leben. Ein Beispiel liefert das japanische Reich; dort ist die christliche Religion verboten und die dort wohnenden Niederländer müssen sich auf Anordnung der ostindischen Gesellschaft aller äußerlichen gottesdienstlichen Handlungen enthalten.

Ich brauche dies wohl nicht auch noch mit andern Autoritäten zu stützen, und obgleich es mir leicht wäre, es aus den Grundlehren des Neuen Testaments abzuleiten und überdies mit deutlichen Aussprüchen zu beweisen, so unterlasse ich es dennoch, da es mich zu anderem drängt. Ich wende mich also zu einem Gegenstand, den ich als zweiten Punkt in diesem Kapitel zu behandeln mir vorgenommen, nämlich für wen und wiefern der Glaube an die biblischen Geschichten notwendig ist. Auf folgende Weise hoffe ich, solches mit der natürlichen Einsicht zu ermitteln.

Wenn jemand will, daß andere Leute etwas, das seine Wahrheit nicht in sich selbst trägt, glauben oder nicht glauben, so muß er, um sie dazu zu bewegen, seine Behauptung aus Zugestandenem ableiten und sie entweder durch die Erfahrung oder durch die Vernunft überzeugen, d. h. entweder durch sinnlich wahrnehmbare Thatsachen oder durch unbestreitbare, ihre Wahrheit in sich selbst tragende Sätze (Axiome). Ist nun die Erfahrung nicht derart, daß sie einen klaren und unzweideutigen Einblick gewährt, so kann sie zwar den Menschen zu einer bestimmten Annahme bewegen, aber sie wird doch den Geist nicht so kräftig überzeugen und dessen Nebel zerstreuen, wie eine aus unbestreitbaren Sätzen oder aus der bloßen Denkkraft und ihren Gesetzen abgeleitete Lehre, namentlich wenn es sich um geistige Dinge handelt, die nicht in die Sinne fallen. Eine solche Ableitung aus reinen Gedankenwahrheiten erfordert aber in der Regel eine mannigfache Verkettung von Begriffen, dazu noch die größte Vorsicht, Scharfsinn im Nachdenken und große Anstrengung, lauter Eigenschaften, welche nur selten beisammen angetroffen werden. Deshalb wollen die Menschen lieber durch die Erfahrung belehrt sein, als alle ihre Ansichten aus wenigen Axiomen ableiten und miteinander richtig verknüpfen.

Will darum jemand einem ganzen Volke, oder gar dem ganzen Menschengeschlecht eine Lehre beibringen, die jeder verstehen soll, so muß er seinen Gegenstand einzig und allein mit der Erfahrung belegen und seine Gründe und Definitionen der Fassungskraft des gewöhnlichen Volkes, welchem die meisten Menschen angehören, ganz bedeutend anpassen, er darf sie aber nicht philosophisch verknüpfen, noch darf er Definitionen geben, welche die bessere Verknüpfung der Gründe bezwecken; andernfalls wird er nur für Gelehrte schreiben, mit andern Worten: er wird nur von sehr wenigen Menschen verstanden werden können. Da nun die ganze Bibel für ein ganzes Volk in erster Linie, in zweiter für das ganze Menschengeschlecht geoffenbart worden ist, so muß notwendig ihr Inhalt der Fassungskraft der großen Volksmasse außerordentlich angepaßt und bloß durch die Erfahrung bestätigt werden. Ich will die Sache deutlicher auseinandersetzen.

Die rein spekulativen Lehren, welche die Bibel enthält, sind folgende: Es giebt einen Gott oder ein Wesen, welches alles geschaffen hat, alles mit größter Weisheit leitet und erhält und für die Menschen sorgt, nämlich für solche, die fromm und angemessen leben; denn die übrigen sucht er mit vielen Strafen heim und sondert sie von den Guten ab. – Diese Lehren belegt die Bibel lediglich mit der Erfahrung, nämlich mit den Geschichten, die sie erzählt und worüber sie keinerlei Definitionen giebt, vielmehr paßt sie alle Worte und Gründe der Fassungskraft des gewöhnlichen Volkes an. Denn obgleich die Erfahrung keinen klaren Begriff von diesen Dingen geben, noch lehren kann, was Gott ist und in welcher Weise er alles erhält und leitet und für die Menschen sorgt, so kann sie doch die Menschen insoweit darüber belehren und erleuchten, als erforderlich ist, um ihren Herzen Gehorsam und Demut einzuprägen.

Daraus ergiebt sich nun, wie ich denke, sehr deutlich, für wen und inwiefern der Glaube an die biblischen Geschichten nötig ist. Aus den vorstehenden Erläuterungen folgt nämlich aufs klarste, daß die Kenntnis dieser Geschichten und der Glaube daran für das gewöhnliche Volk, dessen Geist nicht fähig ist, die Dinge klar und bestimmt zu fassen, höchst notwendig ist. Es folgt weiter: Wer diese Geschichten leugnet, weil er an keinen Gott und keine Vorsehung glaubt, ist gottlos. Wer aber diese Geschichten nicht weiß und gleichwohl durch die natürliche Einsicht das Dasein Gottes und die andern erwähnten Lehren kennt und den rechten Lebenswandel führt, der ist ganz und gar selig, ja seliger als das gewöhnliche Volk, weil er neben dem wahren Glauben auch noch einen klaren und bestimmten Begriff davon hat. Es folgt endlich: Wer diese biblischen Geschichten nicht weiß und auch durch die natürliche Einsicht nichts kennt, ist, wenn auch nicht gerade gottlos oder verstockt, so doch kein rechter Mensch, ja er streift an das Tier und besitzt keine Gabe Gottes.

Es ist hier aber noch folgendes zu bemerken: Wenn ich sage, die Kenntnis der biblischen Geschichten sei dem gewöhnlichen Volk höchst notwendig, so meine ich damit nicht sämtliche in der Bibel enthaltenen Geschichten, sondern bloß die wichtigsten, welche allein und ohne die andern die gedachten Lehren recht deutlich beweisen und auf die Herzen der Menschen einen sehr starken Eindruck machen. Wären alle biblischen Geschichten zur Bekräftigung jener Lehren nötig, so daß erst aus der Gesamtbetrachtung sämtlicher in der Bibel enthaltenen Erzählungen ein Schluß gezogen werden könnte, so wäre es gewiß eine Aufgabe, die das allgemeine menschliche Begriffsvermögen, nicht bloß das gewöhnlicher Menschen übersteigt, in diesen Geschichten den Beweis für jene Lehren zu finden und die rechten Schlußfolgerungen zu ziehen. Denn wer vermöchte so viele Geschichten mit einemmal zu überblicken und noch dazu die vielen Nebenumstände und die Untergedanken, die er aus so vielen verschiedenen Geschichten zu folgern hätte. Ich für meine Person kann mir nicht einreden, daß jene Personen, die uns die Bibel in der Gestalt, in welcher wir sie besitzen, hinterlassen haben, einen solchen Riesengeist besessen haben, daß sie imstande gewesen wären, ein derartiges Beweismaterial zu bewältigen. Noch viel weniger kann ich glauben, daß man jene biblischen Lehren nicht soll verstehen können, wenn man von den Zwistigkeiten Isaaks, dem Rat Ahitophels an Absalom, dem Bürgerkrieg zwischen den Reichen Juda und Israel und andern Berichten dieser Art nichts weiß; oder daß den ersten Juden, die zu Mose Zeiten lebten, die biblische Lehre nicht ebenso leicht aus Geschichten hätte bewiesen werden können, als den Juden, welche zu Esras Zeit lebten. Doch hierüber später ausführlicher.

Das gewöhnliche Volk braucht also nur diejenigen Geschichten zu wissen, welche besonders geeignet sind, seinen Sinn zum Gehorsam und zur Demut zu bewegen. Das Volk selbst aber ist nicht befähigt, sich ein Urteil darüber zu bilden, da es sich weit mehr für die Erzählung selbst und den eigentümlichen und unerwarteten Ausgang der Begebenheiten interessiert, als für das, was die Erzählung lehrt. Daher ist es nicht genug, wenn das Volk diese Geschichten liest, sondern es braucht auch Geistliche oder Diener der Kirche, die seiner geistigen Schwäche zu Hilfe kommen.

Um jedoch von meinem Gegenstand nicht abzuschweifen, gelange ich zu dem Schluß, um den es mir hier besonders zu thun ist, nämlich daß der Glaube an Geschichten, welcher Art sie auch immer sein mögen, zu dem göttlichen Gesetze nicht gehört, und daß er weder die Menschen durch sich allein selig macht, noch einen andern Wert hat, als die in ihm enthaltene Lehre zu unterstützen, in welcher Hinsicht allein eine Geschichte vor der andern den Vorzug verdienen mag. Der Vorzug, den die im Alten und Neuen Testament enthaltenen Erzählungen vor andern weltlichen Erzählungen, und unter jenen selbst die einen vor den andern haben, beruht lediglich in den heilsamen Lehren, die aus ihnen folgen. Wer daher die biblischen Geschichten liest und an alles glaubt, aber nicht auf die Lehren achtet, welche die Bibel durch sie erteilen will, und seinen Lebenswandel nicht dadurch bessert, so ist es geradeso als ob er den Koran oder die von Dichtern verfaßten Schauspiele oder nur gewöhnliche Berichte mit der Aufmerksamkeit gewöhnlicher Menschen liest. Umgekehrt wer von jenen Geschichten gar nichts weiß und dennoch die heilsamen Lehren kennt und die rechte Lebensweise führt, ist, wie schon bemerkt, unbedingt selig und hat in Wahrheit Christi Geist in sich.

Die Juden haben freilich eine ganz andere Meinung. Sie behaupten, der wahre Glaube und die wahre Lebensweise helfen zur Seligkeit nichts, so lange sie die Menschen nur aus der natürlichen Vernunft schöpfen, nicht aber als Lehren, die dem Moses prophetisch geoffenbart wurden, anerkennen. Dies wagt Maimonides offen zu versichern, indem er im Abschnitt über die Könige Kapitel 8, Gesetz 11 schreibt: »Jeder, der die sieben Gebote Die Juden glauben, Gott habe dem Noah sieben Gebote gegeben und alle Völker seien verpflichtet, dieselben zu beobachten. Nur den Hebräern habe Gott außer diesen noch viele andere gegeben, um sie seliger als andere Völker zu machen. (Anmerkung des Verfassers.) annimmt und sie gewissenhaft beobachtet, gehört zu den Frommen der heidnischen Völker und ist ein Erbe der zukünftigen Welt; nämlich wenn er sie deswegen annimmt und befolgt, weil sie Gott im Gesetze vorgeschrieben und uns durch Moses geoffenbart hat, daß sie einst den Söhnen Noahs vorgeschrieben wurden. Wer sie aber nur befolgt, weil ihn seine Vernunft dazu bewogen hat, ist kein Eingesessener Die Rabbinen unterscheiden zwischen einem »gerechten Fremdling« ( ger zedek) und einem »eingesessenen Fremdling« ( ger toschab). Ein »gerechter Fremdling« ist ein Heide, der die jüdische Religion vollständig annimmt, also ein Proselyt; ein »eingesessener Fremdling« ein Heide, der unter Juden wohnt, aber nur die sieben noachidischen Gebote hält. und gehört nicht zu den Frommen und Weisen der heidnischen Völker.« Das sind die eigenen Worte des Maimonides, denen Rabbi Josef, Sohn des Schem Tob, in seinem » Kebod Elohim« oder »Herrlichkeit Gottes« betitelten Buche beifügt: Obwohl Aristoteles (der nach des Verfassers Meinung die beste Ethik geschrieben hat und den er über alle Philosophen stellt) nichts übergangen hat, was die wahre Ethik betrifft und was auch in seiner eigenen Ethik enthalten ist, so konnte ihm das doch zur Seligkeit nichts nützen, weil er seine Lehren nicht als prophetisch geoffenbarte göttliche Lehren erkennt, sondern als bloße Vorschriften der Vernunft. – Daß aber das alles die reinste Einbildung ist und weder in der Vernunft noch in der biblischen Autorität irgend einen Anhalt hat, sieht wohl jeder verständige Leser von selbst ein; weshalb es zu dessen Widerlegung genügt, es angeführt zu haben. Ebensowenig liegt es in meiner Absicht, die Ansicht derer zu widerlegen, welche behaupten, die natürliche Vernunft könne nichts Gesundes über dasjenige lehren, was die wahre Seligkeit betrifft. Wie wollen sie denn das mit der Vernunft beweisen, da sie sich selbst keine gesunde Vernunft zutrauen? Wenn sie aber etwas über die Vernunft zu besitzen sich rühmen, so ist das nichts als Einbildung und weit unter der Vernunft, wie schon ihr gewöhnlicher Lebenswandel genugsam bekundet. Doch darüber sind alle weiteren Worte überflüssig.

Nur das möchte ich noch hinzufügen, daß jeder aus seinen Werken erkannt werden kann. Wer also reichliche Früchte trägt, ich meine unter diesen Früchten Liebe, Freudigkeit, Friedfertigkeit, Langmut, Güte, Wohlthätigkeit, Treue, Sanftmut, Mäßigkeit, für den ist (wie Paulus im Brief an die Galater Kap. 5, V. 22 sagt) das Gesetz nicht gegeben, er ist, mag er durch die Vernunft oder durch die Bibel belehrt sein, in Wahrheit von Gott belehrt und ganz und gar selig.

Damit ist alles erledigt, was ich über das göttliche Gesetz zu sagen mir vorgenommen habe.


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