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Elftes Kapitel.

Untersuchung über die Apostel, ob sie ihre Briefe als Apostel und Propheten, oder als Lehrer geschrieben haben. Auch wird das Amt der Apostel näher beleuchtet.


Niemand, der das Neue Testament liest, kann bezweifeln, daß die Apostel Propheten waren. Weil aber nicht alles, was die Propheten sagten, sondern im Gegenteil sehr weniges ihnen geoffenbart war, wie am Schluß des zweiten Kapitels gezeigt wurde, so können wir zweifeln, ob die Apostel als Propheten infolge einer Offenbarung und eines ausdrücklichen Befehls, wie Moses, Jeremias und andere, oder ob sie als gewöhnliche Menschen und Lehrer ihre Briefe geschrieben haben; zumal Paulus im ersten Brief an die Korinther, Kap. 14, V. 6 zwei Arten von Predigten unterscheidet, die Predigt durch Offenbarung und die Predigt durch Erkenntnis. Deshalb sage ich, muß man zweifeln, ob sie in den Briefen prophezeien oder lehren. Fassen wir nun aber ihre Schreibart ins Auge, so finden wir, daß sie ganz anderer Art ist als die Schreibart der Propheten. Die Propheten bezeugen in der Regel überall, daß sie auf Gottes Geheiß reden; sie sagen nämlich: »So spricht Gott«, »spricht der Gott der Heerscharen«, »Spruch Gottes« u. dgl. Und zwar scheint dies nicht bloß bei Reden der Fall gewesen zu sein, welche sie in öffentlichen Versammlungen hielten, sondern auch in Briefen, welche Offenbarungen enthielten, wie der Brief zeigt, welchen Elia an Jehoram geschrieben (s. 2. Buch der Chronik Kap. 21, V. 12), und welcher anfängt: »So spricht Gott«. In den Briefen der Apostel dagegen lesen wir nichts dergleichen, im Gegenteil sagt Paulus im 1. Brief an die Korinther Kap. 7, V. 40, es sei seine eigene Meinung. Ja in sehr vielen Stellen bekundet sich in der Ausdrucksweise eine schwankende, unsichere Meinung, wie z. B. (im Römerbrief Kap. 3, V. 28): »Wir sind also der Meinung«, oder (Kap. 8, V. 18): »Denn ich halte dafür« und viele dergleichen. Daneben finden sich andere Redensarten, welche von der Autorität der Propheten weit abstehen, wie: »Solches sage ich euch aber als ein Schwacher, nicht aber auf Geheiß«, (s. Brief an die Korinther Kap. 7, V. 6), »Ich gebe den Rat als ein Mann, der treu ist durch die Gnade Gottes« (s. daselbst Kap. 7, V. 25) und so viele andere. Hiebei ist noch zu bemerken, daß wenn Paulus im erwähnten Kapitel davon spricht, daß er eine Lehre oder einen Befehl Gottes habe oder nicht habe, er damit nicht eine ihm von Gott geoffenbarte Lehre oder einen ihm von Gott geoffenbarten Befehl meint, sondern nur die Lehren, welche Christus seinen Jüngern auf dem Berge erteilt hat.

Richten wir außerdem unser Augenmerk auf die Art, wie in diesen Briefen die Apostel die evangelische Lehre darstellen, so werden wir gleichfalls einen großen Abstand gegen die Art der Propheten finden. Die Apostel geben überall Gründe an, so daß ihre Schriften nicht wie Prophezeiungen, sondern wie Abhandlungen aussehen. Die prophetischen Schriften dagegen enthalten reine Lehrsätze und Befehle, weil darin Gott als redend angeführt wird, und Gott seine Beschlüsse nicht begründet, sondern aus der unbeschränkten Machtvollkommenheit seines Wesens erläßt. Auch verträgt es sich nicht mit der Autorität des Propheten, Gründe anzugeben; denn wer seine Lehrsätze mit Gründen beweisen will, der unterwirft sie eben dadurch dem freien Urteil von jedermann; was bei Paulus, der seine Sätze begründet, in der That der Fall gewesen zu sein scheint, denn er sagt im 1. Korintherbrief Kap. 10, V. 15: »Ich rede zu euch als zu Weisen, urteilet ihr über das, was ich sage.« Ein weiterer Grund ist, daß die Propheten die geoffenbarten Dinge nicht durch die natürliche Vernunft, d. h. durch Vernunftgründe, begriffen haben, wie wir im 1. Kapitel gesehen haben.

Nun kommen zwar auch in den fünf Büchern Mose Stellen vor, wo etwas aus Schlußfolgerungen gezogen scheint, bei näherer Betrachtung aber wird es sich zeigen, daß diese Schlußfolgerungen auf keine Weise als zwingende Beweisgründe genommen werden können. Z. B. wenn Moses im 5. Buch Mose Kap. 31, V. 27 zu den Israeliten sagt: »Wenn ihr, so lange ich unter euch lebte, aufrührerisch gewesen seid gegen Gott, um wie viel mehr werdet ihr es nach meinem Tode sein«, so ist das gewiß nicht so gemeint, als ob Moses die Israeliten durch die Vernunft habe überzeugen wollen, daß sie nach seinem Tode von der wahren Gottesverehrung notwendig abfallen würden, denn es wäre das eine ganz falsche Beweisführung, was sich aus der Bibel selbst ergiebt, da die Israeliten standhaft blieben, so lange Josua und die Ältesten lebten und auch später noch unter Samuel, David, Salomo u. s. f. Jene Worte des Moses sind daher nicht anders als im Sinne einer Moralpredigt aufzufassen; Moses wollte damit in rhetorischer Weise den künftigen Abfall des Volkes im voraus sagen, wie sich ihm derselbe in seiner Einbildungskraft lebhaft darstellte. Wenn ich nicht sage, Moses habe diese Worte nicht in seiner prophetischen Eigenschaft als Offenbarung, sondern aus sich selbst gesprochen, um dem Volke seine Voraussage wahrscheinlicher zu machen, so hat das seinen Grund darin, daß im 21. Vers desselben Kapitels erzählt wird, Gott habe ebendieses mit andern Worten dem Moses geoffenbart, der wahrlich nicht durch Wahrscheinlichkeitsgründe von dieser Voraussage und Entschließung Gottes überzeugt zu werden brauchte; das aber war notwendig, daß sich dieselbe in seiner Einbildungskraft lebhaft darstellte, wie im 1. Kapitel dieses Buches gezeigt wurde, und dies konnte durch nichts besser geschehen, als dadurch, daß er sich die gegenwärtige Halsstarrigkeit des Volkes, die er so oft erfahren hatte, als zukünftige vorstellte. Und in dieser Weise sind alle Beweisgründe aufzufassen, die sich in den fünf Büchern Mose finden; nicht aus der Schatzkammer der Vernunft sind sie geholt, sondern es sind Redewendungen, durch welche er die Ratschlüsse Gottes nachdrücklicher ausdrückte und lebhafter vorstellte.

Indessen will ich nicht unbedingt bestreiten, daß die Propheten bei Offenbarungen auch Beweisgründe beibringen konnten; ich behaupte nur, je mehr die Propheten eigentliche Beweisgründe beibringen, desto mehr nähert sich ihre Erkenntnis über einen Offenbarungsgegenstand der natürlichen Erkenntnis. Es ist dies auch der beste Beleg für die übernatürliche Erkenntnis der Propheten, daß sie nämlich reine Lehrsätze, oder Gebote, oder Aussprüche geben. Moses, der größte Prophet, hat daher keine eigentlichen Beweisgründe angewendet.

Die weitläufigen Auseinandersetzungen und Beweisführungen des Paulus dagegen, wie solche im Römerbrief vorkommen, können daher, wie ich zugeben muß, nicht vermöge einer übernatürlichen Offenbarung geschrieben sein. Sowohl die Ausdrucksweise wie die Form der Abhandlung in den Apostelbriefen zeigt sehr deutlich, daß dieselben nicht vermöge einer Offenbarung und auf ein göttliches Geheiß niedergeschrieben wurden, sondern nur aus dem natürlichen Urteil der Apostel hervorgegangen sind. Sie enthalten auch nur brüderliche Ermahnungen, denen artige Wendungen eingestreut sind, dergleichen mit der prophetischen Autorität ganz und gar unverträglich sind, wie jene Entschuldigung des Paulus im Römerbrief Kap. 15, V. 15: »Ich habe etwas zu kühn an euch geschrieben, meine Brüder.« – Übrigens können wir das außerdem auch daraus schließen, daß den Aposteln nirgends befohlen wird, zu schreiben; es wird ihnen bloß befohlen, zu predigen, wohin sie kommen und ihre Worte durch Zeichen zu bekräftigen. Denn ihre persönliche Gegenwart und ihre Zeichen waren unbedingt nötig, die Völker zur Religion zu bekehren und darin zu bestärken, wie Paulus selbst im Römerbrief Kap. 1 V. 11 ausdrücklich äußert. »Denn ich habe großes Verlangen,« sagt er, »euch zu sehen, damit ich euch die Gabe des Geistes mitteile, auf daß ihr gestärkt werdet.«

Hier könnte man aber einwenden, daß man alsdann ebensogut schließen könnte, die Apostel hätten auch nicht als Propheten gepredigt, weil, wenn sie dahin und dorthin gingen, um zu predigen, sie das nicht auf besonderen Befehl thaten wie ehedem die Propheten. Wir lesen im Alten Testament, daß Jona nach Niniveh gegangen sei, um zu predigen, zugleich aber auch, daß er ausdrücklich dorthin gesendet, und daß, was er dort zu predigen hatte, ihm geoffenbart worden sei. So wird auch von Moses ausführlich berichtet, daß er als Gesandter Gottes nach Ägypten gegangen sei und zugleich, was er dem israelitischen Volke und dem König Pharao zu sagen und welche Zeichen er zu seiner Beglaubigung vor ihnen zu verrichten hatte. Jesaja, Jeremia, Ezechiel erhalten den ausdrücklichen Befehl, den Israeliten zu predigen. Auch haben die Propheten nichts gepredigt, wovon die Bibel nicht bezeugt, daß sie es von Gott vernommen haben.

Von den Aposteln dagegen lesen wir nichts dergleichen im Neuen Testament, wenn erzählt wird, daß sie dahin oder dorthin gingen, um zu predigen, sehr wenige Stellen ausgenommen. Im Gegenteil kommt manches vor, das deutlich zeigt, daß die Apostel die Ortschaften, wo sie predigen wollten, sich nach eigenem Ermessen gewählt haben. So z. B. jener Streit zwischen Paulus und Barnabas, der zum Zerwürfnis führte, worüber in der Apostelgeschichte Kap. 15, V. 37, 38 u. s. f. das Nähere nachzulesen. So ferner, daß sie sich manchmal umsonst vorgenommen haben, irgendwohin zu gehen, wie derselbe Paulus im Römerbrief Kap. 1, V. 13 bezeugt: »Zu diesen Zeiten habe ich mir oft vorgesetzt, zu euch zu kommen, bin aber verhindert worden«; im Kap. 15, V. 22: »Deshalb bin ich zu vielen Zeiten verhindert worden, zu euch zu kommen«; und im letzten Kapitel des 1. Korintherbriefes V. 12: »Meinen Bruder Apollo aber habe ich vielmal gebeten, mit den Brüdern zu euch zu reisen, er konnte sich aber durchaus nicht entschließen, zu euch zu kommen; wenn es ihm aber gelegen sein wird u. s. f.«. – Aus solchen Äußerungen und solcher Meinungsverschiedenheit der Apostel sowohl, wie auch daraus, daß, wenn sie irgendwohin zu predigen gingen, die Bibel nicht wie bei den alten Propheten bezeugt, sie seien auf Gottes Geheiß dahin gegangen, hätte ich schließen müssen, daß die Apostel, auch wenn sie predigten, als Lehrer, aber nicht als Propheten, auftraten.

Diese Frage ist jedoch leicht zu lösen, wenn wir auf den Unterschied in der Berufung der Apostel und der Berufung der alttestamentlichen Propheten genauer achten. Die letzteren nämlich waren nicht berufen, allen Völkern zu predigen und zu prophezeien, sondern nur dem einen und andern Volke, darum war bei jedem Volke ein ausdrücklicher und besonderer Befehl nötig. – Die Apostel dagegen waren berufen, allen Völkern ohne Unterschied zu predigen und alle zur Religion zu bekehren. Sie befolgten also den Befehl Christi, wohin sie auch immer gingen. Auch brauchte ihnen das, was sie predigen sollten, nicht erst geoffenbart zu werden, bevor sie gingen; waren sie doch Jünger Christi, zu welchen er selbst gesprochen hatte: »Wenn sie euch aber überantworten werden, so seid nicht besorgt, wie oder was ihr reden sollet, denn es soll euch zu jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollet etc.« (S. Matth. Kap. 10, V. 19 und 20).

Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß den Aposteln nur das besonders geoffenbart wurde, was sie mündlich predigten und zugleich mit Zeichen bekräftigten, (s. was anfangs des 2. Kapitels ausgeführt wurde,) was sie dagegen einfach, ohne Anwendung von Zeichen zur Bestätigung, schriftlich oder mündlich lehrten, das sagten oder schrieben sie aus ihrer Erkenntnis (der natürlichen nämlich); s. hierüber 1. Brief an die Korinther Kap. 14, V. 6.

Hierbei ist es von keiner Bedeutung, daß alle Briefe mit der Bestätigung des Apostelamtes beginnen, denn den Aposteln war, wie ich gleich zeigen werde, nicht bloß die Kraft zu prophezeien, sondern auch die Autorität zu lehren verliehen. In diesem Sinne gebe ich zu, daß sie als Apostel ihre Briefe geschrieben haben und dies mag der Grund sein, weshalb jeder Apostel seinen Brief mit der Bestätigung seiner apostolischen Sendung eröffnet. Vielleicht aber thaten sie das aus einem andern Grunde. Um nämlich den Sinn des Lesers desto leichter für sich einzunehmen und zur Aufmerksamkeit anzuregen, hielten sie es für zweckmäßig, vor allem zu bezeugen, daß sie dieselben Personen seien, welche allen Gläubigen aus ihren Predigten bekannt wären und durch klare Zeugnisse den Beweis gegeben hätten, daß sie die wahre Religion und den Weg des Heils lehrten. Denn ich finde, daß alles, was in diesen Briefen von der Berufung der Apostel, wie auch von dem heiligen und göttlichen Geist, den sie besaßen, gesagt wird, sich auf die von ihnen gehaltenen Predigten bezieht, die Stellen ausgenommen, in welchen »Geist Gottes« und »heiliger Geist« nur die gesunde, selige, gottgeweihte Seele bezeichnet (worüber im 1. Kapitel gesprochen wurde). Z. B. im 1. Korintherbrief Kap. 7, V. 40 sagt Paulus: »Selig aber ist sie, wenn sie also bleibet, nach meiner Meinung. Ich glaube aber auch, daß der Geist Gottes in mir ist.« Unter »Geist Gottes« versteht er seine eigene Seele, wie der Zusammenhang der Rede anzeigt. Er will nämlich sagen: Eine Witwe, welche keinen zweiten Mann ehelichen will, halte ich für selig nach meiner Meinung, der ich ehelos zu leben beschlossen habe und mich für selig halte. Dergleichen Stellen finden sich noch andere, deren Anführung ich jedoch nicht für notwendig erachte.

Muß man hiernach behaupten, daß die Briefe der Apostel von der natürlichen Vernunft allein diktiert wurden, so ist weiter zu untersuchen, wie die Apostel aus der natürlichen Erkenntnis allein Dinge lehren konnten, die außer dem Bereich der natürlichen Erkenntnis liegen. Denken wir indessen an das, was im 7. Kapitel dieses Buches über die Auslegung der Bibel gesagt ist, so wird jede Schwierigkeit alsbald gehoben sein. Denn wenn auch vieles in der Bibel unsere Begriffe übersteigt, so können wir doch mit Sicherheit darüber urteilen, wenn wir nur keine anderen Grundlagen zulassen, als die, welche sich aus der Bibel selbst ergeben. Auf dieselbe Weise konnten auch die Apostel aus den Dingen, welche sie gesehen, gehört oder auf dem Wege der Offenbarung vernommen hatten, vieles schließen und ableiten und es den Menschen lehren, wenn sie wollten. – Ferner liegt zwar die Religion, so wie sie von den Aposteln gepredigt wurde, die nämlich die Geschichte Christi ganz schlicht erzählten, außerhalb des Bereichs der Vernunft; ihr wesentlicher Inhalt aber, der hauptsächlich in sittlichen Lehren besteht, wie die ganze Lehre Christi, kann von jedermann mit dem natürlichen Verstande begriffen werden. – Endlich bedurften die Apostel keiner übernatürlichen Erleuchtung, um die Religion, die sie vorher durch Zeichen bewiesen hatten, der gewöhnlichen menschlichen Fassungskraft in einer Weise anzupassen, daß sie von jedermann gerne und mit ganzem Herzen angenommen wurde; und ebensowenig bedurften sie einer übernatürlichen Erleuchtung, um die Menschen zur Religion zu ermahnen. Das letztere war der eigentliche Zweck der Briefe; sie sollten die Menschen über den Weg unterrichten und ermahnen, welcher nach dem Urteil jedes Apostels am besten geeignet war, sie in der Religion zu bestärken. Hiebei muß an das etwas weiter oben Bemerkte erinnert werden, daß nämlich die Apostel nicht bloß mit der Kraft begabt worden waren, die Geschichte Christi als Propheten zu predigen, indem sie dieselbe mit Zeichen bestätigten, sondern auch mit der Autorität, über den Weg, den jeder Apostel für den besten hielt, Belehrung und Ermahnung zu erteilen. Diese doppelte Gabe drückt Paulus deutlich im 2. Brief an Timotheus Kap. 1, V. 11 folgendermaßen aus: »für welches ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel und Lehrer der Völker«; ebenso im 1. Brief an denselben Kap. 2, V. 7: »für welches ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel, (ich sage die Wahrheit durch Christus und lüge nicht,) als Lehrer der Völker mit Treue (wohlgemerkt) und Wahrheit«. Mit diesen Worten, sage ich, zeigt er seine Bestätigung in beiden Ämtern an, im Apostelamt und im Lehramt. Das eine dagegen, die Autorität, wen und wann er wolle zu ermahnen, bezeichnet er im Brief an Philemon V. 8 mit den Worten: »Obgleich ich viel Freiheit in Christus habe, dir zu gebieten, was geziemt, dennoch etc.«; wobei zu bemerken ist, daß es Paulus gewiß nicht erlaubt gewesen wäre, Gottes Befehl in Bitten zu verwandeln, wenn er das, was dem Philemon zu befehlen war, als Prophet von Gott vernommen und als solcher zu befehlen gehabt hätte. Mit der Freiheit, von welcher er hier schreibt, meint er also ganz gewiß die Freiheit im Ermahnen, welche er als Lehrer, nicht aber als Prophet hatte.

Indessen würde darum noch nicht mit hinlänglicher Sicherheit gefolgert werden können, daß die Apostel nach eigenem Ermessen den Weg, den jeder für den besten hielt, wählen konnten, sondern nur, daß sie vermöge ihres Apostelamts sowohl Propheten, als auch Lehrer gewesen seien; wenn wir nicht die Vernunft zu Hilfe rufen wollen, welche uns sagt, daß wer die Autorität zu lehren besitzt, sicherlich auch die Autorität besitzt, den Weg zu wählen, den er für den richtigen hält. Es genügt jedoch, die Sache aus der Bibel allein zu erweisen. Aus ihr ergiebt sich nämlich ganz deutlich, daß jeder Apostel einen besondern Weg gewählt habe, und zwar geht dies aus den Worten des Paulus im Römerbrief Kap. 15, V. 20 hervor: »Ich bin besonders darauf bedacht, nicht da zu predigen, wo der Name Christi schon angerufen ward, um nicht auf fremdem Grund zu bauen.« Gewiß, hätten alle Apostel den gleichen Weg gelehrt und die christliche Religion auf dem gleichen Grund gebaut, so hätte Paulus in keiner Beziehung die Grundlagen eines andern Apostels einen fremden Grund nennen können, da sie ja dieselben waren, wie die seinigen. Da er sie aber fremd nennt, so muß notwendig gefolgert werden, daß jeder Apostel die Religion auf einem eigenen Grund aufgebaut hat. Es erging daher den Aposteln in ihrem Lehramt ebenso wie andern Lehrern, welche eine eigene Lehrweise haben und daher immer lieber solche Personen unterrichten, welche noch ganz ungebildet sind und noch von niemand anders Unterricht genossen haben, weder in Sprachen, noch in Wissenschaften, die mathematischen nicht ausgeschlossen, an deren Wahrheit doch niemand zweifelt.

Wenn wir ferner die Briefe der Apostel mit einiger Aufmerksamkeit durchgehen, so werden wir finden, daß die Apostel zwar in der Religion selbst mit einander übereinstimmen, in ihren Grundlagen aber sehr von einander abweichen. Paulus, um die Menschen in der Religion zu bestärken und ihnen zu zeigen, daß das Heil von der Gnade Gottes allein abhängt, lehrt, daß niemand sich seiner Werke, sondern nur seines Glaubens rühmen könne, und daß niemand durch seine Werke gerechtfertigt werde (s. seinen Brief an die Römer Kap. 3, V. 27 und 28) und so seine ganze bekannte Lehre von der Vorherbestimmung. Jakobus aber in seinem Briefe lehrt ganz im Gegenteil, daß der Mensch durch seine Werke gerechtfertigt werde und nicht durch den Glauben allein (s. seinen Brief Kap. 2, V. 24) und faßt die ganze Lehre der Religion, unter Auslassung aller jener Erörterungen des Paulus, in sehr wenigen Worten zusammen.

Endlich sind zweifellos aus diesem Umstand, daß nämlich die Apostel die Religion auf verschiedenen Grundlagen aufgebaut haben, viele Streitigkeiten und Spaltungen entstanden, unter welchen die Kirche schon von den Zeiten der Apostel an unablässig gelitten hat und sicherlich auch fernerhin so lange leiden wird, bis endlich einmal die Religion von der philosophischen Spekulation losgemacht und auf die wenigen und einfachen Lehrsätze, welche Christus seinen Jüngern gelehrt hat, zurückgeführt sein wird. Dieses letztere war den Aposteln selbst nicht möglich, weil damals das Evangelium noch unbekannt war; sie mußten daher die neue Lehre, damit sie ihre Zeitgenossen nicht allzusehr verblüffe, dem Geiste derselben möglichst anpassen (s. 1. Brief an die Korinther Kap. 9, V. 19 und 20) und auf solchen Grundlagen aufbauen, die damals recht bekannt und anerkannt waren. Deswegen hat unter allen Aposteln keiner mehr philosophiert als Paulus, welcher berufen war, den Heiden zu predigen. Die andern dagegen, die den Juden predigten, welche die Philosophie geringschätzten, lehrten die Religion ohne philosophische Spekulationen, indem sie dieselbe dem Geist der Juden anpaßten (darüber s. den Brief an die Galater Kap. 2, V. 11) u. s. f. – Wie glücklich wäre unser Zeitalter, wenn wir es von allem Aberglauben frei wüßten! –


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