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Es wird gezeigt, daß in einem freien Staat jedem erlaubt ist, zu denken was er will, und zu reden, wie er denkt.
Ließen sich die Geister ebenso leicht beherrschen wie die Zungen, so würde jeder Herrscher in Sicherheit regieren und eine gewaltthätige Regierung würde es nicht geben, denn alle Unterthanen würden alsdann nach dem Sinne der Regierenden leben, und ihr Urteil über wahr und falsch, gut und böse, gerecht und ungerecht, würde immer den Beschlüssen der Regierenden entsprechen. Es ist aber schlechterdings nicht möglich, daß sich der Geist dem Recht eines andern unbedingt ergiebt, wie ich schon zu Anfang des 17. Kapitels bemerkt habe. Niemand kann sein natürliches Recht, oder seine Fähigkeit, frei zu denken und über alles frei zu urteilen, auf einen andern übertragen, und ebensowenig kann er dazu gezwungen werden. Daher kommt es, daß eine Regierung als gewaltthätig bezeichnet wird, wenn sie sich auf die Geister erstreckt, und daß die höchste Majestät als eine solche erscheint, die den Unterthanen ein Unrecht zufügt und ihr Recht sich anmaßt, wenn sie jedem vorschreiben will, was er als wahr anerkennen und als falsch verwerfen soll, und durch welche Ansichten jeder sein Herz zur Ehrfurcht gegen Gott bewegen lassen soll. Denn hierzu hat jeder Mensch das Recht und niemand kann dasselbe abtreten, auch wenn er wollte.
Ich gestehe zwar, daß das Urteil auf mannigfache und beinahe unglaubliche Weise beeinflußt werden kann, und daß man sogar von dem Munde eines andern, selbst wenn man nicht unmittelbar seiner Herrschaft unterworfen ist, dermaßen abhängig sein kann, daß man förmlich sein Untergebener heißen könnte. So viel aber auch die Kunst hierin zu leisten vermocht haben mag, so hat man doch noch niemals den Menschen das Bewußtsein zu rauben vermocht, daß jeder an seinem eigenen Kopf genug habe und daß die Ansichten so gut wie der Geschmack verschieden seien. Selbst Moses, der nicht auf hinterlistige Weise, sondern durch göttliche Fähigkeiten das Urteil seines Volkes stark beeinflußt hatte, da er für einen göttlichen Mann gehalten wurde, dessen Worte und Thaten von Gott eingegeben waren, konnte dennoch üblen Nachreden und schiefen Auslegungen nicht entgehen; noch viel weniger können es andere Monarchen. Wäre dies überhaupt irgend möglich, so wäre es doch nur in einem monarchischen Staat denkbar, am wenigsten aber in einem demokratischen, in welchem alle oder doch sehr viele Bürger die Regierung inne haben, wie jeder leicht begreifen wird.
Mögen daher die höchsten Gewalten noch so sehr als Inhaber des unbeschränkten Rechts und Ausleger des Rechts und der Frömmigkeit gelten, so werden sie es doch nie verhindern können, daß die Menschen sich über alle Dinge ihr eigenes Urteil bilden, und je nachdem bald von dieser bald von jener Stimmung erfaßt werden. Wohl ist es wahr, daß die höchsten Gewalten das Recht haben, jeden, der nicht in allem unbedingt mit ihnen übereinstimmt, als einen Feind zu betrachten. Allein es handelt sich hier nicht darum, ob sie das Recht dazu haben, sondern ob es vorteilhaft ist. Ich gebe zu, daß sie das Recht haben, gewaltthätig zu regieren und die Bürger wegen der geringfügigsten Dinge hinrichten zu lassen; aber kein Mensch wird behaupten, daß ein derartiges Verfahren der gesunden Vernunft entspricht. Ja, weil dergleichen nicht ohne große Gefahr für den ganzen Staat geschehen kann, so können wir ihnen sogar die unbeschränkte Macht zu solchen Dingen absprechen, und dementsprechend auch das unbeschränkte Recht, da wir gesehen haben, daß das Recht der höchsten Gewalten sich nicht weiter erstreckt als ihre Macht.
Wenn also niemand sich seiner Freiheit im Urteilen und Denken entäußern kann, vielmehr jedermann vermöge des höchsten Naturrechts Herr seiner Gedanken ist, so folgt, daß der Erfolg nur ein höchst unglücklicher sein kann, wenn der Staat es dahin bringen will, daß die Menschen, trotz ihrer verschiedenen, sogar widersprechenden Ansichten, in ihrem Reden sich nach der Vorschrift der höchsten Gewalten richten. Nicht bloß der Volksmasse, auch den klügsten Menschen ist das Schweigen nicht immer gegeben. Es ist eine allgemeine Schwachheit der Menschen, daß sie andern ihre Absichten anvertrauen, auch wo das Schweigen geboten ist. Daher wird der Staat die gewalttätigste Regierung haben, in welchem die Freiheit verweigert wird, so zu reden und zu lehren, wie man denkt; und umgekehrt wird der Staat die erträglichste Regierung haben, in welchem sich jedermann dieser Freiheit erfreut. Indessen können wir bei alledem nicht verkennen, daß die Majestät durch Worte ebensogut wie durch Thaten verletzt werden kann. Wenn es daher auch unmöglich ist, diese Freiheit den Unterthanen gänzlich zu entziehen, so müßte es anderseits doch wieder überaus schädlich sein, dieselbe in vollem Umfang einzuräumen. Es liegt uns daher ob, zu untersuchen, inwieweit jedem diese Freiheit, dem Frieden des Staats und dem Rechte der höchsten Gewalten unbeschadet, gewährt werden könne und müsse. Wie ich zu Anfang des 16. Kapitels erwähnt habe, ist dies meine Hauptaufgabe.
Aus den oben entwickelten Grundlagen des Staates folgt aufs klarste, daß dessen letzter Zweck nicht ist, zu herrschen, oder die Menschen in Furcht zu halten und dem Recht eines andern zu unterwerfen, sondern im Gegenteil jeden von Furcht zu befreien, damit er in größtmöglicher Sicherheit leben könne, d. h. damit er sein natürliches Recht zum Dasein ohne eigenen und fremden Schaden am besten bethätigen könne. Es ist, behaupte ich, nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern im Gegenteil zu erzielen, daß Geist und Körper ungehemmt ihre Kräfte entfalten, daß die Menschen von ihrer freien Vernunft Gebrauch machen, und es vermeiden, haßerfüllt, zornig oder arglistig einander zu bekämpfen, oder feindselige Gesinnungen gegen einander zu hegen. Der Zweck des Staates ist also im Grunde die Freiheit.
Wir haben ferner als das wesentliche Erfordernis zur Bildung eines Staates die Einrichtung bezeichnet, daß die gesamte Macht, Beschlüsse zu fassen, entweder allen seinen Gliedern, oder einigen, oder einem einzigen zusteht. Denn da das freie Urteil der Menschen sehr verschieden ist und jeder allein alles zu wissen glaubt, es auch nicht möglich ist, daß alle im Denken und Reden völlig übereinstimmen, so könnten sie unmöglich in Frieden miteinander leben, wenn nicht jeder sein Recht, nach eigenem Beschluß zu handeln, abtreten würde. Nun hat aber jeder nur sein Recht, nach eigenem Beschluß zu handeln, aufgegeben, nicht aber sein Recht zu denken und zu urteilen. Ohne Verletzung des Rechts der höchsten Gewalten kann man daher nicht gegen deren Beschluß handeln, wohl aber in jeder Hinsicht denken und urteilen, und folglich auch sprechen, sofern man nur in schlichter Weise spricht oder lehrt, und mit der Vernunft allein, nicht aber mit Täuschung, Leidenschaft oder Haß seine Ansichten geltend macht, oder in der Absicht, etwas im Staat auf Grund der eigenen Willensmeinung einzuführen. Wenn z. B. jemand zeigt, daß dieses oder jenes Gesetz mit der gesunden Vernunft im Widerspruch steht und daher für dessen Aufhebung eintritt, so macht er sich wahrlich um den Staat verdient als der besten Bürger einer, sofern er nur seine Ansicht dem Urteil der höchsten Gewalt (der es allein zusteht, Gesetze zu geben und aufzuheben) unterwirft, und in keinem Punkte gegen das betreffende Gesetz handelt, so lange es nicht aufgehoben ist. Thut er dies hingegen, um die Obrigkeit der Ungerechtigkeit zu beschuldigen und beim Volke verhaßt zu machen, oder geht er darauf aus, das betreffende Gesetz auf aufrührerischem Wege, gegen den Willen der Obrigkeit, abzuschaffen, so ist er ein ausgemachter Unruhstifter und Empörer.
Wir sehen also, auf welche Weise jedermann, ohne dem Recht und der Autorität der höchsten Gewalten zu nahe zu treten, mit andern Worten ohne den staatlichen Frieden zu beeinträchtigen, sagen und lehren kann, was er denkt; wenn er nämlich den Beschluß über alle Handlungen den höchsten Gewalten überläßt und nicht gegen ihren Beschluß handelt, sollte er dadurch auch oft genötigt sein, anders zu handeln, als es nach seiner Meinung und Ueberzeugung gut ist. Dies kann er der Gerechtigkeit und Frömmigkeit unbeschadet thun, ja er muß es thun, wenn er ein gerechter und frommer Mensch sein will. Denn die Gerechtigkeit hängt, wie früher gezeigt wurde, von dem Beschluß der höchsten Gewalten allein ab, daher kann nur derjenige ein Gerechter heißen, der den von den höchsten Gewalten gefaßten Beschlüssen gemäß lebt. Die höchste Frömmigkeit ist aber (nach den Ausführungen des vorigen Kapitels) diejenige, welche den Frieden und die Ruhe des Staates fördert, und diese können unmöglich erhalten werden, wenn jeder nach seinem persönlichen Gutdünken leben dürfte. Es ist darum auch gottlos, etwas nach eigenem Gutdünken gegen den Beschluß der höchsten Gewalt zu thun, deren Unterthan man ist, weil, wenn dies jedermann gestattet sein würde, der Untergang des Staats die notwendige Folge sein müßte. Es kann sogar der Einzelne eigentlich gar nicht gegen den Beschluß und die Vorschrift der eigenen Vernunft handeln, wenn er den Beschlüssen der höchsten Gewalt gemäß handelt, da er von der Vernunft selbst zu dem Entschluß bewogen wurde, das Recht, nach eigenem Ermessen leben zu dürfen, auf die Staatsgewalt zu übertragen.
Wir können dies auch durch die Praxis bestätigt finden. In den Versammlungen der höchsten wie der niederen Staatsgewalten wird selten ein Beschluß einstimmig gefaßt, und dennoch gilt der Beschluß als ein solcher, der von allen gemeinschaftlich gefaßt worden, von denen, die dagegen gestimmt haben ebenso gut wie von denen, die dafür gestimmt haben, und diesem Beschluß gemäß wird gehandelt.
Ich kehre jedoch wieder zu meiner Aufgabe zurück. Auf welche Weise jedermann von seinem freien Urteil Gebrauch machen kann, ohne das Recht der höchsten Gewalten anzutasten, haben wir aus den Grundlagen des Staates ersehen. Wir können aber mit Hilfe derselben nicht minder leicht bestimmen, welche Ansichten in einem Staate als aufrührerisch zu betrachten sind. Solche Ansichten sind aufrührerisch, mit deren Aufstellung der Vertrag hinfällig wird, kraft dessen sich jeder des Rechts, nach einem Gutdünken zu handeln, begeben hat. Wenn z. B. jemand die Ansicht aufstellt, die höchste Gewalt sei einem andern Rechte unterworfen, oder niemand brauche sein Versprechen zu halten, oder jeder solle nach eigenem Gutdünken leben, und andere Ansichten dieser Art, welche dem vorerwähnten Vertrag schnurstracks zuwiderlaufen, so ist er ein Aufrührer, nicht sowohl wegen dieses seines Urteils oder seiner Meinung, als vielmehr wegen der That, welche solche Urteile einschließen, da er eben dadurch, daß er eine derartige Ansicht hegt, der höchsten Gewalt stillschweigend oder ausdrücklich die versprochene Treue bricht. Demnach sind andere Meinungen, welche keine That einschließen, nämlich keinen Vertragsbruch, auch keine Handlungen der Rache und des Zorns u. s. f., nicht aufrührerisch. Dies könnten sie allenfalls in einem recht heruntergekommenen Staate sein, wo abergläubische und ehrgeizige Menschen, welche keinen Freimütigen ertragen können, einen so großen Namen erlangt haben, daß ihre Autorität bei der Menge mehr gilt als die Autorität der Staatsgewalt. – Ich bestreite indessen nicht, daß es außerdem noch gewisse Ansichten giebt, welche sich einfach nur um wahr oder nicht wahr zu drehen scheinen und dennoch in schlimmer Absicht aufgestellt und verbreitet werden. Ich habe dieselben schon im 15. Kapitel näher angegeben, doch so, daß die Vernunft dabei dennoch frei bleibt. – Bedenkt man endlich noch, daß die Treue gegen den Staat, ebenso wie die gegen Gott, in den Werken allein sich bekundet, nämlich in der Nächstenliebe, so werden wir nicht zweifeln können, daß ein guter Staat das freie Philosophieren jedermann gestattet, ebensogut als es der Glaube nach unserer obigen Ausführung gestattet.
Ich gebe zwar zu, daß aus dieser Freiheit bisweilen auch Unannehmlichkeiten entspringen können; allein welche noch so weise Einrichtung hat es jemals gegeben, aus welcher nicht die eine oder andere Unannehmlichkeit entsprungen wäre. Wer alles durch Gesetze regeln will, wird die Handlungen eher verschlechtern, als verbessern. Was man nicht hindern kann, muß man eben notgedrungen gewähren lassen, wenn auch manchmal Schaden daraus erwächst. Wie viele Uebel entspringen nur aus Ueppigkeit, Neid, Trunkenheit! Man duldet sie aber, weil man sie durch gesetzliche Maßregeln nicht hindern kann, obschon sie wirkliche Laster sind. Um so mehr muß die Gedankenfreiheit gewährt werden, die entschieden eine Tugend ist und nicht unterdrückt werden kann.
Hierzu kommt noch, daß sämtliche Unannehmlichkeiten, welche aus ihr entspringen, durch die Autorität der Obrigkeit vermieden werden können (wie ich gleich zeigen werde); abgesehen davon, daß diese Freiheit zur Förderung der Wissenschaft und Künste höchst notwendig ist. Denn diese kann man nur dann mit gutem Erfolge pflegen, wenn man ein freies, von keinen Vorurteilen eingenommenes Urteil hat.
Gesetzt aber auch, diese Freiheit könnte unterdrückt und die Menschen könnten so geknechtet werden, daß sie nicht zu mucksen wagen, ohne Erlaubnis der höchsten Gewalten, so wird es doch sicherlich niemals so weit kommen, daß die Menschen auch nicht anders denken, als es den höchsten Gewalten genehm ist. Die notwendige Folge wäre, daß die Menschen täglich anders reden als sie denken, wodurch notwendig die Treue, die dem Staate doch überaus nötig ist, untergraben, und die verächtlichste Heuchelei und Treulosigkeit gehegt würde, die Quelle des Betrugs und des Verderbens für alle guten Künste. – Weit entfernt indessen, daß es dahin kommen kann, nämlich daß alle Menschen nur vorschriftsgemäß sprechen, werden die Menschen gerade um so hartnäckiger auf Redefreiheit bestehen, je mehr man sie ihnen zu nehmen trachtet; und zwar keineswegs die Geizigen, die Heuchler und andere Seelenschwächlinge, deren höchste Seligkeit darin besteht, das Geld im Kasten anzusehen und den Bauch zu füllen, sondern solche Leute, welche infolge ihrer guten Erziehung, ihrer reinen Sitten und ihrer Tugend die Freiheit lieben.
Die Menschen sind größtenteils so beschaffen, daß ihnen nichts unerträglicher ist, als wenn Ansichten, die sie für richtig halten, als Verbrechen betrachtet werden, und wenn ihnen das, was sie zu frommen Gesinnungen gegen Gott und gegen Menschen anregt, als Sünde angerechnet wird. Die Folge ist, daß man die Gesetze verwünscht und gegen die Obrigkeit sich alles herausnimmt, und daß man es nicht für schändlich, sondern für höchst verdienstlich hält, um dieser Ursache willen Empörungen anzustiften und alle möglichen Frevel zu begehen. Da also die menschliche Natur offenbar so beschaffen ist, so folgt, daß Gesetze, welche gegen Ansichten gerichtet sind, nicht die schlechten, sondern die edlen Menschen treffen, daß sie die Uebelwollenden nicht in Schranken hallen, sondern vielmehr die Redlichen erbittern, und daß sie nicht aufrecht erhalten werden können, ohne daß der Staat in hohem Grade gefährdet wird.
Hierzu kommt noch, daß solche Gesetze ganz nutzlos sind. Denn diejenigen, welche die von den Gesetzen verfehmten Meinungen für richtig halten, werden den Gesetzen nicht gehorchen können; diejenigen dagegen, die sie als falsch verwerfen, erblicken in den Gesetzen, welche jene Meinungen verfehmen, eine Art von Vorrecht für sich selbst, und triumphieren so sehr über dieselben, daß die Obrigkeit später, wenn sie dieselben abschaffen wollte, es nicht mehr vermöchte. – Hierzu kommt weiter, was oben in Kapitel 18 aus der Geschichte der Hebräer unter Punkt Zwei abgeleitet wurde.
Wie viele kirchliche Spaltungen endlich sind großenteils daraus entstanden, daß die Obrigkeit die Streitigkeiten der Gelehrten durch Gesetze beilegen wollte! Denn wenn die Menschen nicht hoffen dürften, Gesetz und Obrigkeit auf ihre Seite zu ziehen, über ihre Gegner unter dem allgemeinen Beifall der Menge zu triumphieren und Ehren zu gewinnen, so würden sie niemals mit so großer Bösartigkeit streiten und sich nicht von so heftiger Wut ergreifen lassen. Nicht die Vernunft allein, auch die Erfahrung lehrt dies durch alltägliche Beispiele; nämlich daß solche Gesetze, welche vorschreiben, was jeder zu glauben hat und verbieten, gegen diese oder jene Meinung zu reden oder zu schreiben, häufig aus keinem andern Grunde geschaffen worden sind als aus Zuvorkommenheit oder vielmehr aus Nachgiebigkeit gegen fanatische Menschen, welche keine freie Gesinnung dulden können und durch eine gewisse finstere Autorität die Gottergebenheit der unruhigen Menge leicht in Raserei umwandeln und gegen wen sie wollen aufhetzen können.
Wäre es denn aber nicht viel zweckmäßiger, die Aufregung und Wut der Menge zu zügeln, als nutzlose Gesetze zu geben, die nur von Personen, welche die Tugend und die Künste lieben, verletzt werden können, und den Staat so einzuengen, daß er keine edlen Männer ertragen kann? Denn kann es ein größeres Unglück für den Staat geben, als wenn ehrbare Männer, weil sie anders denken und sich nicht verstellen können, wie Verbrecher des Landes verwiesen werden? Was, sage ich, kann verderblicher sein, als wenn Menschen, die sich keines Verbrechens und keiner Uebelthat schuldig gemacht haben, bloß weil sie freien Geistes sind, für Feinde gehalten und zum Tode geführt werden, und das Schaffot, das Schreckbild der Schlechten, zur schönsten Schaubühne sich verwandelt, wo das erhabenste Beispiel von Selbstverleugnung und Tugend zur offenbaren Schmach der Majestät dargeboten wird? Denn die sich ihrer Rechtschaffenheit bewußt sind, fürchten den Tod nicht wie Verbrecher und bitten die Strafe nicht ab; weil ihre Seele nicht von Reue über eine schlechte That beklommen ist, und sie es nicht als Strafe, sondern als ehrenvoll und glorreich betrachten, für die gute Sache und für die Freiheit zu sterben. Wem soll also ein Beispiel gegeben werden mit einem solchen Tode, dessen Anlaß die Stumpf- und Schwachsinnigen nicht kennen, die Aufrührerischen verwünschen und die Redlichen lieben? Fürwahr, niemand kann sich daran ein Exempel nehmen, als allenfalls zur Nachahmung, oder zur Heuchelei.
Soll also nicht äußerlicher Schein, sondern Treue geschätzt sein, und sollen die höchsten Gewalten die Zügel der Regierung fest in den Händen haben, und nicht gezwungen sein, sie den Empörern abzutreten, so muß die Freiheit des Urteils notwendig gewährt und müssen die Menschen so regiert werden, daß sie trotz offenbar verschiedener, ja entgegengesetzter Ansichten in Eintracht nebeneinander leben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dies die beste und mit den wenigsten Unannehmlichkeiten verbundene Art der Regierung ist, da sie der Natur des Menschen am meisten entspricht. Denn in einem demokratischen Staate (welcher dem natürlichen Zustand am nächsten steht) haben sich, nach unserer Darlegung, alle vertragsmäßig verpflichtet, nach dem Beschluß der Gesamtheit zu handeln, nicht aber auch danach zu urteilen und zu denken. Weil sie nämlich nicht gleichen Sinnes sein können, sind sie dahin übereingekommen, daß dasjenige die Kraft einer Verordnung haben soll, was die meisten Stimmen hat, wobei sie sich die Autorität vorbehalten haben, diese Verordnung wieder aufzuheben, sobald sich etwas besseres findet. Je weniger also den Menschen die Freiheit des Urteils gewährt wird, desto mehr entfernt man sich von dem Zustand, welcher der Natur am meisten entspricht, und desto gewaltthätiger ist folglich die Regierung.
Für die Behauptung aber, daß aus dieser Freiheit keine Nachteile entspringen, welche durch die Autorität der höchsten Gewalt allein nicht vermieden werden könnten, und daß nur bei dieser Freiheit die Menschen, trotz offenbar entgegengesetzter Meinungen, leicht abgehalten werden, einander zu schädigen, dafür sind naheliegende Beispiele vorhanden und ich brauche solche nicht lange zu suchen. Die Stadt Amsterdam bietet ein solches Beispiel. In ihrem prächtigen Gedeihen und in der Bewunderung aller Völker zeigt sich die Frucht dieser Freiheit. In diesem herrlich blühenden Staat und dieser vortrefflichen Stadt leben alle Menschen, welchem Volk und welcher Sekte sie auch angehören, in größter Eintracht. Und will man da jemand sein Vermögen anvertrauen, so fragt man nur danach, ob derselbe reich oder arm, und ob seine Handlungsweise redlich oder unredlich sei; um die Religion oder Sekte aber kümmert man sich nicht, weil das bei dem Richter gar nicht in Betracht kommt, um in einer Klagsache Recht oder Unrecht zu bekommen. Die Anhänger der verhaßtesten Sekte werden durch die öffentliche Autorität und die Hilfe der Obrigkeit geschützt (wenn sie anders niemand schädigen, jedem das Seine lassen und anständig leben). – Als dagegen in früherer Zeit, da der Religionsstreit zwischen den Remonstranten und Kontraremonstranten herrschte, die Staatsmänner und Provinzialstände anfingen, sich einzumischen, artete der Streit schließlich in eine Religionsspaltung aus, und viele damalige Vorkommnisse bestätigen, daß Gesetze, welche in Bezug auf die Religion erlassen werden, nämlich zur Beilegung religiöser Streitigkeiten, die Menschen mehr aufregen, als bessern; daß sich andere durch solche Gesetze eine schrankenlose Freiheit herausnehmen; daß überdies religiöse Spaltungen eher in großer Liebe zur Wahrheit, (die doch die Quelle der Leutseligkeit und Sanftmut ist,) als in großer Herrschsucht ihren Ursprung haben. Hieraus erhellt sonnenklar, daß jene Leute, welche die Schriften anderer verdammen und die leicht bewegliche Menge gegen die betreffenden Verfasser aufrührerisch aufhetzen, weit mehr Religionsabtrünnige sind, als die Verfasser selbst, welche meistens nur für die Gelehrten schreiben und nur die Vernunft zu Hilfe rufen. Nicht minder erhellt, daß die wahren Friedensstörer jene sind, die in einem freien Staate die Freiheit des Urteils, die nicht unterdrückt werden kann, aufheben wollen.
Aus dem Vorstehenden ergiebt sich:
Erstens, daß den Menschen die Freiheit, so zu reden, wie sie denken, unmöglich genommen werden kann.
Zweitens, daß diese Freiheit ohne das Recht und die Autorität der höchsten Gewalten zu beeinträchtigen, jedem gewährt werden kann, und daß sich auch jeder, ohne das Recht der höchsten Gewalten zu beeinträchtigen, im Besitz dieser Freiheit erhalten kann, wenn er sich durch sie nicht herausnimmt, etwas als Recht im Staate einzuführen, oder dem geltenden Gesetze zuwider zu handeln.
Drittens, daß jeder im Besitze dieser Freiheit sein kann, ohne daß der Frieden des Staats dadurch gestört wird, und daß keine Unannehmlichkeit daraus entsteht, die nicht leicht verhindert werden könnte.
Viertens, daß auch ohne Beeinträchtigung der Frömmigkeit jeder im Besitze dieser Freiheit sein kann.
Fünftens, daß Gesetze, welche spekulative Dinge betreffen, völlig nutzlos sind.
Sechstens endlich ergiebt sich, daß diese Freiheit nicht bloß ohne Beeinträchtigung des Staatsfriedens, der Frömmigkeit und des Rechts der höchsten Gewalten gewährt werden kann, sondern zu deren Erhaltung gewährt werden muß. Denn da wo man dem entgegen diese Freiheit den Menschen zu entziehen sich bemüht, und die Meinung Andersdenkender vor Gericht zieht, statt deren Absichten, die allein zum Verbrechen führen können, da wird für die rechtlichen Leute ein Beispiel aufgestellt, welches eher wie ein Martyrium aussieht und die andern mehr erbittert, und eher das Mitleid, wo nicht die Rachsucht erregt, als abschreckt. Sodann werden die guten Künste wie auch die Treue untergraben und Heuchler und treulose Menschen großgezogen, und die Gegner triumphieren, weil man ihrem Haß nachgegeben hat und weil sie die Regierenden zu Anhängern ihrer Lehre gemacht haben, als deren Ausleger sie gelten; was dann die Folge hat, daß sie sich erfrechen, die Autorität und das Recht der Regierung sich anzumaßen, und ohne Scheu prahlen, sie seien unmittelbar von Gott gewählt und ihre Beschlüsse seien göttlich, wogegen die der höchsten Gewalten menschlich seien und darum den göttlichen, d. h. ihren Beschlüssen, weichen sollen.
Niemand kann verkennen, daß das alles mit dem Staatswohl in krassem Widerspruch steht.
Ich ziehe also, wie oben im 18. Kapitel, den Schluß, daß es für die Sicherheit des Staates das Ersprießlichste ist, wenn einzig und allein Liebe und Rechtschaffenheit als Frömmigkeit und Religion gelten, und wenn das Recht der höchsten Gewalten in geistlichen wie in weltlichen Dingen sich nur auf Thaten erstreckt, im übrigen aber jedermann gestattet ist, zu denken was er will, und zu reden, wie er denkt.
Damit habe ich den Gegenstand erledigt, dessen Behandlung der Zweck dieses Buches war.
Es erübrigt nur noch, ausdrücklich zu bemerken, daß ich mit Freuden bereit bin, alles, was ich geschrieben, der Prüfung und dem Urteil der höchsten Gewalten meines Vaterlandes zu unterwerfen. Sollten sie finden, daß ich etwas gesagt habe, was mit den Landesgesetzen im Widerspruch steht oder dem allgemeinen Wohl zum Schaden gereicht, so will ich es nicht gesagt haben. Ich weiß, daß ich ein Mensch bin und irren kann. Doch war ich ernstlich bestrebt, nicht zu irren, und besonders auch, daß alles, was ich schreibe, mit den Landesgesetzen, der Frömmigkeit und den guten Sitten in Einklang stehe.
Ende.