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Wider Erwarten hatte Goethe bei den Gothaer fürstlichen Herrschaften ausgesprochenes Wohlwollen gefunden. Sein gezügeltes und sicheres Auftreten, dem Anmut und Festigkeit nicht ermangelten, nahm für ihn ein. Seine lustige Unterhaltungsgabe, seine klugen und besonnenen Antworten, seine Anhänglichkeit an die Person des jungen Herzogs weckten Sympathie und Vertrauen. Man ließ es beinahe als selbstredend durchblicken, daß Goethe demnächst dem Weimarer Hof in irgendeiner Form »attachiert« werden würde. So schien es die Korrektheit zu erfordern.
Auf der Heimfahrt wurden diese Eindrücke zwischen dem herzoglichen Paare und Goethe lebhaft besprochen. Und Karl August äußerte den Wunsch, nun in dringlicher Fassung, Goethe dauernd zu behalten, – welche Form auch immer für die einzugehenden Bindungen zu finden sein würde.
Mit dem Einspruch des Ministeriums, voran des so schwierigen Geheimrats von Fritsch, war natürlich zu rechnen. Aber dieser Widerstand mußte, wo nicht heut, so doch morgen gebrochen werden. Jedenfalls ließ der Regent, nach Weimar zurückgekehrt, seine Absicht deutlich kundtun, den Doktor juris Wolfgang Goethe aus Frankfurt am Main als ständigen Berater und Mitarbeiter für das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach zu gewinnen und demgemäß mit Sitz und Stimme in das Geheime Consilium zu berufen. Tags darauf traf pünktlich ein ausführliches Handschreiben des Freiherrn von Fritsch ein, worin dieser nicht bloß energischen Protest erhob, sondern, für den Fall der Ablehnung seines Einspruchs, die von ihm innegehabten Ämter und Funktionen gehorsamst zur Verfügung stellte.
Das war freilich mehr, als der Herzog erwartet hatte. Fritsch war ein unentbehrlicher Mann. Kein Zweiter war in dem Grade wie er bis in die letzten Einzelheiten eingearbeitet. Keiner überschaute so sämtliche Ressorts, keiner war in unbedingter Selbstlosigkeit und wahrhaft landesväterlicher Gesinnung so würdig des höchsten Vertrauens. Dies wußte auch Goethe, und da dieser Mann ihn aufs bestimmteste ablehnte, so bäumte sein Stolz sich dawider auf, irgendwie sich ihm aufnötigen zu lassen. Gewiß fühlte er sich, nachdem er Charlotten gefunden hatte und den wunderbaren Segen, der von dieser Frau ausströmte, kaum noch zu entbehren vermochte, an Weimar wie durch geheime Zauberbande bereits gefesselt. Aber durfte dies ihn dazu bringen, sich in ein Staatsamt einzudrängen, das der bestallteste Sachverwalter der Regierung mißtrauisch-verächtlich ihm vor die Füße warf? Alles in ihm empörte sich dawider. Deshalb ersuchte er, mit höflichem aber klarem Bedauern, den ihm freundschaftlich zuredenden Herzog, bei der Neukonstituierung des Geheimen Consiliums von seiner Person gnädigst absehen zu wollen.
Damit erreichte er jedoch nur, daß Karl August in Wut geriet, heftig mit dem Fuß aufstampfte und voll Erbitterung schrie: er lasse sich nicht mehr dreinreden, sein Entschluß sei gefaßt, er lasse es darauf ankommen – auf Biegen oder Brechen! Auch ein Staatsminister, lenkte er ein, sei ein Untertan und habe sich dem Willen seines höchsten Herrn zu fügen.
Goethe erlaubte sich zu bemerken, daß hier nichts überstürzt werden dürfe; und daß der Herzog ehedem geäußert habe, die Angelegenheit seiner Frau Mutter zu unterbreiten und deren gütige Vermittlung freundlich in Anspruch zu nehmen.
»Mag sein, daß ich hierzu mich entschließe, mag sein«, erwiderte der Herzog ein wenig besänftigt. »Aber zuvor müßte Madame Mère diesem großpatzigen Herrn Staatsminister einmal gründlich den Kopf waschen und ihm klar machen, wie er sich zu benehmen habe – dieser p. t. Herr von Fritsch!« – »Was Dich betrifft, mein lieber Goethe«, fuhr der Herzog fort, »so wird Mama ja davon entzückt sein, wenn es ihr gelingt, Deine allzu zartfühlenden Bedenken zu überwinden und die Hindernisse, die Dich noch stutzig machen, aus dem Wege zu räumen. Es dürfte Dir nicht verborgen geblieben sein, wie sehr die Herzogin Dich schätzt, nicht bloß als gottbegnadeten Dichter, sondern namentlich auch als Person! Sie wird es sich also sicherlich mit Eifer angelegen sein lassen, Dich ganz und für immer für unser freilich arg kleines – für Deinen hohen Ehrgeiz vielleicht viel zu kleines – Ländchen zu gewinnen. Denn selbstredend liegt es uns fern, den Herrn Doktor zur Liebe etwa zwingen zu wollen. Bei einem Menschen seines Schlages kann es doch nur auf ein freiwilliges und von innen her begeisterungsvolles Mittun ankommen. Sie dürfen es mir also getrost überlassen, lieber Goethe, die Sache in richtiger Form in die Wege zu leiten und zum Abschluß zu bringen. Ihre eigene Entschließung darf ich dann wohl Anfang künftigen Jahres erwarten.«
Goethe verneigte sich stumm und gemessen, zum Zeichen seines Einverständnisses. Ohne sich weiterhin auszulassen, verabschiedete er sich von seinem herzoglichen Freunde und verließ das Gemach.
Mancherlei Gedanken in sich umherwälzend, kam Goethe zu Hause an und fand auf seiner Stube ein dickes, wohlverschnürtes Bücherpaket. Es enthielt einen Stapel Exemplare seines Schauspiels »Stella«, die Sendung eines Berliner Verlegers, der ihm für das Recht der Herausgabe ganze zwanzig Taler gezahlt hatte. Ein nobler Mann! Andere druckten ihn einfach nach, ohne auch nur einen Batzen dafür herzugeben! Wirklich großartig, wie in dieser Zeit die Kunst des Dichtens ihren Mann ernährte!
Doch derlei Dinge hatten ihn noch nie sehr bekümmert. Konnte man denn überhaupt, was man innerlich, oft unter vielen Schmerzen, sich abgerungen hatte, kalt und geschäftlich in Geldeswert umrechnen? Absurd freilich blieb es, daß andere, an der Entstehung des Werkes völlig Unbeteiligte sich damit mästen durften; daß sie das aus dem Blut einer fremden Seele Hervorgegangene gewandt und pfiffig auf dem Markte verschacherten. Widersinn über Widersinn! Wie vieles mußte in deutschen Landen noch anders werden!
Weg mit diesen Gedanken! Das Buch war da – und Goethe konnte der Versuchung nicht widerstehen, es zur Hand zu nehmen und bald hier, bald da sich in den Inhalt zu vertiefen. Gefährliches Beginnen! Mit unwiderstehlicher Macht kamen sie noch einmal auf ihn zu, jene Zeiten seligsten Wähnens und strudelnden Irregehens, die ihn, voll holder Bedrängnis und verzweifelten Suchens – wann doch? – vor noch nicht einem Jahr! – im Innersten erfüllt und umgetrieben hatten. War dies wirklich alles einmal wahr gewesen? Versteht sich: nicht jedes Ereignis und jegliche Fügung – alles Äußere war ja freie Dichtung –, aber doch die hinter alledem verborgene seelische Substanz – das Letzte, Geheimste, Wertvollste, das in diesen Szenen enthalten war?! Und es durchströmte ihn mit rätseltiefer Gewalt und mit wahrhaft unheimlicher Helligkeit und Deutlichkeit – all das, was diesem »Schauspiel für Liebende« einmal den Lebenshauch eingeblasen hatte. Und, ob er wollte oder nicht, vom wirren Hintergrunde jener Tage löste sich vor allem eine einzelne Gestalt los, die Gestalt Lilis, die mit Zaubermacht auf ihn zuschritt, leuchtend, werbend – – ach, mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen, vor dem er, in der Phantasie selbst, immer noch erlag! Auch jetzt wieder erzitterte er förmlich vor der innersten Gefühlsmacht, die gegen seinen Willen, fast bedrohlich, in ihm aufstieg. Und unwillkürlich tastete er nach jenem goldenen Herzchen, das Lili ihm als Verlobungsgabe geschenkt und von dem er sich bis zu dieser Stunde nicht hatte trennen können. Immer noch hing es unter seinen Kleidern an seinem Halse.
War nicht sein eigenes Herz, sein Herz aus Fleisch und Blut, das er wild pochend in seiner Brust fühlte, jetzt einer anderen verschrieben – einer, die ihn mit lebenspendender Seelenmacht ausfüllte und durchdrang, wie Lili sie ihm niemals hatte schenken können? War nicht ein Neues gewaltig in ihm aufgewachsen, das sich nicht bloß seiner Sinne, nicht bloß seines Fühlens, seines Schwärmens, sondern auch seines Denkens, ja seiner ganzen Lebensführung mit Gewalt bemächtigte! Ganz neues Zukunftsland der Seele sah er vor sich, nie beschrittene glanzvolle Gefilde, die gerade auch den Dichter in ihm mit lockenden Verheißungen an sich zogen. Dem mußte er folgen, es war innerstes Gebot! Da gab's kein Widerstreben mehr!
Und darum Lili ganz aus seinem Herzen reißen?
Wie körperlicher Schmerz durchzuckte es ihn.
Noch hielt er das Buch krampfhaft in der Hand, in dem er soeben erst gelesen hatte. Noch waren alle Seiten lebendig, die mit gedruckten Lettern den bebenden Niederschlag gelebtesten Lebens enthielten.
Da fühlte er jählings, daß dieses Buch, eben jenes Exemplar, das er augenblicklich in Händen hielt, keinem anderen Menschen jemals gehören durfte als Lili. Ihr mußte er es schicken – sofort! Alles, was ein ganzes Jahr lang sein dichterischer Sang gewesen war, war an Lili gerichtet gewesen, sei es im Gedicht, sei es im Schauspiel, sei es im Singspiel. Hier lag es gleichsam im letzten seelischen Auszug vor ihm. Rasch boten sich ihm ein paar Verse dar, die dieses zum Ausdruck brachten und die er mit zitternder Hand vor die Titelseite des Buches schrieb.
Noch einmal hatte er Lili aus vollem Herzen gehuldigt.
Noch einmal! – – Zum letztenmal?
War, was er so ernst gemeint, so tief empfunden in das Buch eingetragen hatte, ein Abschiedswort gewesen?
Tränen wollten in ihm hochsteigen.
Und abermals griff seine Hand, suchend, nach jenem goldenen Herzchen – faßte das goldene Kettchen, an dem es hing, zupfte und zog daran – riß es hoch – und da baumelte Lilis Goldherz plötzlich, losgerissen, in seiner Hand!
Nie bisher hatte er dieses »Andenken verklungener Freuden« von seinem Leib entfernt – es war darauf hängengeblieben, wie etwas Untrennbares, ewig Zugehöriges.
Nun hielt er es von sich ab – und es war plötzlich ein totes Idol!
Zum ersten Male fühlte er, ganz tief und stark, daß nun auch Lili – und all das unselig-selige Erleben, das mit ihr verknüpft war, daß all dieses – – gestorben? –
Nein, das war unmöglich und konnte niemals sein! – – aber doch, daß es abgeschlossen – – beendet war!
Eben noch so aufgewühlt, so voll heimlicher Ekstase, fühlte er sich jetzt fast unheimlich gefaßt.
Mehr noch: wie entzaubert, fast wie innerlich ausgebrannt. Nicht einmal Schmerzen konnte er jetzt empfinden um Verlorenes. Es war eben einfach etwas zu Ende gegangen, wie alles in diesem Leben einmal zu Ende gehen muß.
Und wie er Herz und Kette jetzt nahm und in einer kleinen hübschen Pappschachtel, die ihm gerade zur Hand war, verschloß, deuchte ihm diese ein »Sarg der Erinnerung« zu sein – ein zärtlich gehegter, gewiß! Aber doch eben ein Sarg!
Und nun –?
Nun war er frei!
Frei?
Hatte er denn bloß nach dieser Freiheit sich gesehnt?
Er wollte aufrichtig mit sich zuwege gehen. Wozu sollte er mit sich Verstecken spielen?
Wollte nicht jenes Neue, das in seinem Herzen emporgewachsen war, daß er ihm Platz schaffen mußte? Vollen, reinen Platz – auf daß es blühen, wohnen und gedeihen konnte!
Charlotte! Lida! Geheimnisvolle!
Befreierin! Besänftigerin!
Nun rüste Du Dich, Königin zu werden! Regentin eines Herzens, das von jetzt ab für keine andere Frau schlagen wird, denn nur für Dich!
Hoheitsvolle! Lida! Charlotte!