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Züricher Literatenzunft

Im Hause »Zum Waldries« in der Spiegelgasse zu Zürich herrschte eitel Freude. Ein gar lieber Gast war, lange erwartet, endlich angekommen. Mit dunkelblitzenden Augen war er unvermutet ins Zimmer getreten, und ehe Vater Lavater sich die Lesebrille von den Augen hatte nehmen können, war er auch schon umarmt und fühlte sich auf beide Wangen geküßt.

»Da bin ich, Herzensbruder – ganz so, wie ich gewachsen bin! Und nun wirst Du mich eine Woche lang nicht mehr los!«

Goethes ansteckendes Lachen schallte hell durch die Stube. Und auch Lavater lachte und umarmte den Freund.

»Wibele! Wibele!« rief er alsdann und riß die Tür auf. »Schnell komme! Der Goethe ischt da!«

Doch ehe »Wibele« kam, stürmten und purzelten zwei Kinder herein, standen dann wie verdutzt still und schauten zu Goethe empor.

Der zog sie an sich und küßte sie.

»Ja, ich bin's, der Onkel Goethe aus Frankfurt! Und wer seid denn Ihr?«

»Das sind meine Herzenswürmeli, das Jacöble und das Anneli«, sagte der Vater voll Stolz. »Und da kommt auch das große Anneli, mein Wibele! Unser allerliebschtes Kindermütterchen!«

Frisch, fröhlich und ungeziert streckte Frau Anna dem Gast beide frischgewaschenen und rötlich blinkenden Hände entgegen.

»Sei uns willkommen, Goethe!« sagte sie. »Mei' Kaschperli hat alleweil von Dir gered't – und nun sind wir froh, daß Du endlich kemme bischt.«

Das trauliche »Du« aus dem Munde der Frau, die er zum ersten Male sah, klang Goethe wie Labsal ins Ohr. Und so fühlte er sich gleich im Lavater-Hause heimisch.

Wieviel hatte er sich mit dem Freunde zu erzählen. Wieviel Wichtiges auch über ihre gemeinsame Arbeit an den »Physiognomischen Fragmenten« zu besprechen. Stundenlang saßen sie beisammen und wurden des Geplauders nicht müde. An das gelegentliche Schwyzer-Dütsch Lavaters mußte sich zwar Goethe aufs neue gewöhnen und manchmal gab es ein Gelächter, wenn er etwas mißverstand. Doch die sanfte, liebreich alles ausgleichende Art des um acht Jahre älteren Predigers und stillen Gelehrten breitete eine so angenehme Atmosphäre aus, daß man auch ohne Worte einander verstanden hätte. Die ganze Wohnung, in ihrer gepflegten Nettigkeit und sauberen Geputztheit, hatte etwas Anheimelndes. Und als der Hausherr seinen Gast gar auf den ins Freie gebauten Altan führte und ihm den herrlichen Fernblick wies, über die unterwärts gelagerte Stadt, über den sich einschmiegenden See, die gesegneten Ufer und das umgebende, bis zu höchsten Schneefirnen aufsteigende Gebirge, da geriet dieser in helles Entzücken.

Nach eingenommenem einfachen, aber herzlich zubereitetem Mahle erhielt Goethe Gelegenheit, seinen Gastwirt auch in dessen priesterlicher Amtstätigkeit kennenzulernen. Da Lavater Nachmittagspredigt hatte, ließ Goethe es sich nicht nehmen, ihn in die Kirche zu begleiten, und dort traf er auch die beiden Stolberg und Haugwitz wieder an. Sie hatten vernommen, daß Lavater, der soeben in eine neue Hauptstellung eingerückt war, vor seiner alten Gemeinde eine Abschiedspredigt halten würde, und so waren sie dort hingeeilt, in der richtigen Vermutung, auch Goethe dort vorzufinden.

Die bis zum letzten Plätzchen gefüllte Kirche versammelte eine ungemein andächtige und hingebungsvolle Gemeinde. Und doch war Lavater, wie Goethe sofort empfand, keineswegs das, was man einen glänzenden Kanzelredner nennt. Aber die Rührung und herzliche Innigkeit, mit der er sprach, hatte um so mehr etwas Menschlich-Erwärmendes, das unmittelbar die Seelen ergriff. Als er zum Schluß seiner Predigt sich direkt an die Waisenkinder wandte, die seiner Obhut neu anvertraut waren, gewann seine ganze Sprechart etwas so Zutraulich-Väterliches, daß viele Augen sich mit Tränen füllten und die Grafen Stolberg in laute Begeisterung ausbrachen.

Nach der Andachtsstunde lernten sie dann Lavater persönlich kennen. Und sogleich war die innere Berührung hergestellt. Auch Lavater gewann an den hochgewachsenen nordischen Menschen, die ihm mit soviel Enthusiasmus entgegenkamen, große Freude. Er lud sie gleich in seine Wohnung ein, wo er alsbald das brüderliche Du mit ihnen austauschte. »Deine Freunde«, sagte er zu Goethe, »sind ganz unbeschreibliche Menschen. Soviel poetisches Gefühl, Genie, Geschmack – und soviel simple naive Menschlichkeit!« Nur ein wenig zu wild waren sie ihm. »Zahm! Zahm!« rief er ihnen des öfteren zu, wenn sie in ihrem Überschwang oder Zorn herausbrausten, oder gar die blutdürstigen Tyrannenhasser spielten.

So war Goethe im Nu in Zürich eingelebt. Die Stadt selbst, mit ihrer dumpfen und winkeligen Verbautheit und ihren umgebenden Wällen, Türmen und Zugbrücken, sagte ihm zwar weniger zu – aber um so mehr berauschte ihn die Landschaft. Sogleich machte er sich mit den drei Freunden daran, die Umgebung zu durchpirschen. Sie waren begeistert, »Schweizer Luft« zu atmen und glaubten hier eine besondere »Freiheit« zu kosten und dem Ur- und Naturzustand der Menschheit nähergerückt zu sein als jemals sonst.

Die Stolbergs schämten sich jetzt, in einem vornehmen Gasthof, »Das Schwert« geheißen, abgestiegen zu sein. Hier, in dem Vaterlande Rousseaus, konnte sich das nicht geziemen. So mieteten sie vor den Toren der Stadt, nahe dem aus dem Gebirge herniederschäumenden Flusse Sihl, sich eine Stube in einem Bauernhause, wo sie auf Strohsäcken und harten Matratzen schliefen.

Doch noch nicht genug damit des »Naturlebens«! Jeder suchte sich außerdem noch eine Höhle, wo er sich tagsüber aufhielt – und Fritz Stolberg war außer sich vor Stolz, daß er als erster eine fand, bergeinwärts gelagert und mitten unter dem Schatten von Eichen-, Nuß-, Dorn-, Eschen- und Wildapfelbäumen und Gebüsch. Ein Moosstück darin diente ihm als Sitz und der krumme Wurzelast einer Tanne war sein Fußschemel. Dort pflegte er zu ruhen und Homer oder Ossian zu lesen. Auch Christian und Haugwitz fanden ihre Höhlen, die sie sich zu Wohnsitzen umgestalteten. Wer als Besucher kam, mußte sich durch lautes Schreien melden. Paßte ihnen seine Nase, so wurde er aufgenommen; im anderen Falle, durch Verkriechen in den Höhlen, rücksichtslos abgewiesen.

Das Ansinnen, diesen »Rousseauschen Naturdienst« mitzumachen, lehnte Goethe respektvollst ab. Er wollte aus einem Gedanken, dem er mit Ehrfurcht anhing, nicht ein Theaterspielen machen. Vor allem haßte er alles Literatengetue: denn das war es ja doch, was die dreie da veranstalteten – trotz aller hervorgekehrten Primitivität, die schließlich anderen Leuten imponieren sollte! Der Dichter sah genug zünftige Literatur in Zürich um sich aufgestapelt. Er brauchte nicht auch noch die erkünstelte hinzunehmen!

Ja, das war wirklich merkwürdig, wie sehr dieses Zürich von Anhängern der »anmutigen Gelehrsamkeit« überlaufen war und wimmelte! Seit Bodmer mit seinen Betrachtungen über die »Poetischen Gemälde der Dichter« und Breitinger mit seinem System einer »Kritischen Dichtkunst« hervorgetreten waren und beide im Gegensatz zu dem steifleinenen Magister Gottsched in Leipzig, als dem Verfechter einer pedantischen Naturnachahmung, die »Einbildungskraft« auf den Thron gehoben hatten, waren diese beiden Züricher zu Vorkämpfern eines neuen Dichtergeschlechtes geworden und hatten ihre Vaterstadt in den Mittelpunkt der literarischen Bewegung gerückt. Das lag freilich schon um einige Jahrzehnte zurück und hatte vor einem Vierteljahrhundert mit dem Besuch des jungen Klopstock seinen Höhepunkt erreicht. Aber auch heute noch hegte Zürich, ob auch in seiner Bedeutung zurückgedrängt, nicht geringe literarische Prätentionen – als ob es berufen sei, gleichsam die letzten poetischen Weihen zu erteilen. Darüber lachte Goethe und amüsierte sich nicht wenig, wenn die gespreizt tuende und doch vielfach so eingetrocknete Professorenwelt der »Breitinger, Steinbrüchel und Kompagnie« ihm gegenübertrat. Er ließ sie gleichsam wie belustigende Marionetten an sich vorüberwackeln.

Anders stand es mit Bodmer, der immerhin selbst ein Stück Poet war und sich in seinem hohen Alter von siebenundsiebzig Jahren einen anerkennenswerten Rest von jugendlicher Frische und Begeisterungsfähigkeit bewahrt hatte. Als Goethe ihn mit den beiden Stolberg besuchen ging, erlebten sie bei dem klugen und geistig beweglichen Alten eine angeregte und köstliche Stunde. Mochte er auch ehedem über die »neuen Umstürzler«, vor allem Herder und Goethe, weidlich gewettert haben: als der erklärte Führer des jungen Geschlechts ihn in eigener Person aufsuchte, um ihm seinen Respekt zu bezeugen, dünkte ihm dies eine fühlbare Auszeichnung und versetzte ihn in unverhohlene Freudenwallung.

In Schlafrock und Pantoffeln, ein schwarzseidenes Käppchen über die hohe Stirn zurückgeschoben, kam er im Trippelschritt eilfertig herbei, ein kurzes spanisches Rohr eifrig vor sich hinstoßend. Unter buschigen Brauen stachen ein paar graue Blitzaugen lebhaft hervor und die scharf vorspringende Hakennase krümmte sich schier noch ganz besonders vor angefachter Neugier. Doch schien er immerhin noch weit mehr um den Eindruck besorgt, den er selbst auf die jungen Leute machte, als daß er diese studiert und beobachtet hätte. In seiner kindlichen, fast rührenden Eitelkeit fühlte er sich durch die Lobsprüche und Respektsbezeugungen, die er zu hören bekam, in solch hohem Grade geschmeichelt, daß er in die heiterste Laune geriet und ordentlich geistige Pfauenräder schlug.

Er ließ sich sogar seinerseits zu Komplimenten herbei – obwohl es immerhin zweifelhaft blieb, ob sie nicht versteckte Zweideutigkeiten und Nadelstiche enthielten. Goethe, meinte er, habe ihm die Freude machen wollen, daß er, Bodmer, ihn noch vor seinem Ende sähe; und so wolle er gewiß nicht bereuen, daß er siebenundsiebzig Jahre lang auf diesen hohen Augenblick gewartet habe. In seinen Lebensanschauungen verstand er sich jedenfalls mit den Stolbergs besser als mit Goethe. Als dieser im Laufe des Gesprächs sich als klaren Bewunderer Julius Cäsars bekannte und die Brutus und Cassius schalt, die ihn hinterrücks niederdolchten, sah er sofort eine dreiköpfige Phalanx sich gegenüber. Bodmer tat sich vor allem nicht wenig darauf zugute, daß er die schlagfertige Entgegnung fand: Cäsar habe sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als die Republik, seine Mutter, zu töten! Doch derlei Kontroversen störten das gute Einvernehmen nicht, und Bodmer mühte sich, eifrig ausforschend, von Goethes »Doktor Faustus« etwas zu hören: worauf dieser freilich mit äußerster Zurückhaltung ausweichend antwortete. Zu sehr fühlte er in seinem Innern das Unvereinbare der beiderseitigen poetischen Vorstellungswelten, als daß er das Beste, das er in seinem Innern bewegte, der Neugier und Besserwisserei eines sensationslustigen Greises preisgeben mochte.

Auch Salomen Geßner wurde, auf Lavaters Anraten, aufgesucht. Goethe tat es gern, weil er die Vereinigung poetischer und malerischer Fähigkeiten, die er in gleicher Weise an sich selbst erstrebte, bei Geßner bereitwillig anerkannte. Er fand einen frohlaunigen, durchaus natürlichen und uneitlen Mann, der indes etwas schwer an sich herankommen ließ. Er bewohnte ein ganz mit Rebenlaub bewachsenes ländliches Haus und hatte lauter zierlich geschnitzte und weißlackierte Möbel, die mit grünen, seidenen Kissen belegt waren. An den Wänden und über den Türen prangten gemalte Blumengewinde, von des Dichters eigener Hand, sehr heiter und dekorativ.

Wohl am heimischsten aber fühlte sich Goethe, abgesehen von Lavater selbst, bei dessen Bruder Diethelm, den er von seiner Leipziger Studentenzeit her flüchtig kannte. Dieser gehörte nicht zur literarischen Zunft; er war Apotheker und hatte eine wohlgeordnete Sammlung von Mineralien und Versteinerungen. Sich darin umzuschauen und das einzelne sich erklären zu lassen, dünkte den Naturfreund und Poeten besonders reizvoll. Es war ihm, als ob er sich im Anblick dieser realen und echten Dinge von dem oftmals geschraubten und selbstgefälligen Wesen derer, die sich als seine Kollegen brüsteten, in wohltuender Weise entspannen dürfe.


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