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»Die Pratze her!«

So trieb es ihn also dennoch wie mit dämonischen Antrieben nach Offenbach zurück. Mochte er seiner »Schwäche« sich schämen, sie war stärker als er und hielt ihn unterjocht.

Mit eiligem Schritt über Feld wandernd, überließ er sich willenlos solch zwitterhaften Gefühlen. Etwas schalt in ihm, ja drohte in ihm – und dennoch trieb es ihn vorwärts. Schon sah er Dächer und Türme von Offenbach fernher winken. Er hätte haltmachen mögen, zaudern, umkehren! Unmöglich! Wie mit einer Hetzpeitsche trieb es ihn weiter. Und schon tauchte der d'Orvillesche Garten vor ihm auf, er strich das Gitter entlang, hörte Stimmengeflatter – und bereits hatte er – während das Herz ihm bis zum Halse schlug – das Pförtchen aufgerissen und war eingetreten.

Er fand große Gesellschaft vor. Lili hielt im Garten Cour ab. Eine Schar von Verehrern kreiste und scherwenzelte um sie herum. Sie selbst, im geblümten und bebänderten Reifrock, stand in deren Mitte, das hochgesteckte Haar in Puderduft weiß blinkend, Schönheitspflästerchen auf Kinn und Wange und kindlich nur in ihrem übermütigen Lachen und im Geleucht ihrer Augen. Einen mit blauer Seidenmasche geschmückten weißlackierten Stab hielt sie in der Hand und dirigierte damit den Schwarm ihrer Anbeter.

Zunächst noch unsichtbar, blieb Goethe stehen und musterte das eigenartige Bild. Die jungen Gecken, unter denen sich Cousin Manskopf naturgemäß am breitspurigsten hervortat, erschienen dem Dichter wie gackerndes, gurrendes Federvieh, das auf einem Geflügelhof um eine feine junge Herrin täppisch hin und her lief, und kreischend die Brosamen haschte, die sie aus lässiger Hand ihnen hinwarf.

Doch was hatte er für einen Grund, sich über diese Narren erhaben zu dünken? In welcherlei Anbetracht war er besser als sie?

Nur anders war er, nicht besser! Kein Hahn, kein Täuberich, kein Pfau, aber – längst wußte er's ja – ein Bär! Ein Bär, der einmal durchgebrochen war und sich auf eine kleine Weltreise begeben hatte – und der jetzt, reuig zurückgekehrt, von keiner anderen Sehnsucht getrieben wurde, als sich wonnig brummend vor den Füßen seiner stolzen Gebieterin einherzuwälzen ... Dann mochte sie ihn an einen Seidenfaden nehmen und triumphierend in ihrem Park spazierenführen!

Es zuckte in ihm, zurückzulaufen und sich, da ihn hinter seinem Busche noch niemand bemerkt hatte, einer peinlichen Begegnung zu entziehen.

Aber, wie durch heimtückische Zauberschlingen festgehalten, blieb er stehen. Er vermochte sich von Lilis Bild nicht loszureißen. Ob auch geziert und geputzt, dünkte sie ihn doch ungemein reizvoll. Und ihre helle, lachende Stimme flog, silbern wie ein Glöcklein, über den weiten Wiesenplan und befehligte in fließendem Französisch die folgsame Schar verliebter Jünglinge, die um sie herum ein seltsames Haschespiel trieben.

Sollte er sich in diese Schar mit einmischen? Verflixte Stimmen in ihm trieben ihn an, durch die Büsche vorzubrechen und es zu tun. Aber durfte er sich derart der Lächerlichkeit aussetzen? Lieber rührte er sich nicht und blieb weiter unsichtbar.

Überdies ging das Spiel allmählich seinem Ende zu. Frau d'Orville erschien in der Tür des Hauses, klatschte in die Hände und lud zu einer Tasse Schokolade ein. Dem konnten die galanten Courmacher nicht widerstehen. Mit Herrn Manskopf an der Spitze flatterten sie geschäftig ins Haus.

Lili aber – hatte sie etwas bemerkt? – ein eigentümliches Lächeln erschien auf ihrem Antlitz und spielte um die Mundwinkel –, Lili verzog sich in die nahegelegene Laube, ergriff die dort liegende Laute, klimperte ein wenig darauf herum und begann zu singen.

Voll holder Süßigkeit schwang sich ihr zarter Sopran, wie aus einer Lerchenkehle, in Fiorituren durch die Lüfte – so daß es den gebannten Lauscher wie mit rieselnden Seligkeiten überlief.

Jetzt konnte er sich nicht länger halten – er stürzte vor – und lag der Holden zu Füßen.

»Hier ist er, Dein Bär! Übe Gnade an ihm! Und nimm ihn huldvoll wieder auf!« stammelten seine Lippen.

Lili zog die Augenbrauen hoch und musterte ihn, die Erstaunte spielend, mit kritischer Miene.

Dann lachte sie hell und zwitschernd empor, schwang ihren Bänderstab und rief übermütig aus:

»Also in Demut zurückgekehrt, der durchgebrochene Bär?! Nun kusch und brav! Und den Kopf niedergebeugt – daß ich meinen Fuß darauf setzen kann!«

Die feine, atlasseidene Spitze ihres himmelblauen, rosettegeschmückten Schuhchens setzte sich zart und fest auf den zur Erde gebeugten »Bärennacken« und gleichzeitig glitt das wohlgeglättete Stabende über die untere Rückenpartie des »Untiers«.

Der Niedergekniete fühlte die doppelte Berührung. Wonnen durchströmten ihn, als wähnte er im Paradiese zu sein. Eine holde Schwäche durchdrang ihn, Betäubung legte sich um seine Schläfen.

»Wirst Du jetzt auch ganz demütig und ergeben sein? Und alles tun, was Deine Herrin Dir befiehlt?« fragte ein spitzes, kühles Stimmchen, in dem nur, ganz wie in der Ferne, ein Kichern kullerte.

»Mein Blut möchte ich dahingeben, um Deine Beete zu begießen!« schwur eine von Seligkeit berauschte, rauh gewordene Stimme.

»Oh, oh, das ist ja ein guter Bär, der solch schöne Sachen verspricht!« klang es wie huldvolle Anerkennung. »Dann kann er auch mal die brave Pratze geben, der gehorsame Bär! – Na, er besinnt sich wohl? Ziert sich wohl gar? – Die Pratze her, Du Untier! Eh, la menotte!« schrillte es scharf daher.

Langsam hob der Bär sein »zottiges Haupt«. Heiße Augen, in denen Demut und Auflehnung, Ergebenheit und Groll miteinander stritten, richteten sich groß auf das strenge Antlitz der Schönen. Stumm starrte er empor.

»Nun! Wird's bald? Die Pratze her!«

Auffordernd hielt sie die Fingerspitzen hin.

Da schob sich eine Hand ungefüge in die ihrige.

»So ist's brav! So will ich's haben! – Steh auf, Knecht! – Und zum Lohn und Dank darfst Du mir auch die Fingerspitzen küssen! – Das ist Honig für einen Bären!«

Heiße Lippen vergruben sich in den wohlgepflegten Handrücken des stolzen Dämchens, das vergebens die Hand zurückzuziehen suchte – diese steckte jetzt ganz in der Umklammerung des Bären. Es war, als wollte der wieder Erhörte seine Beute niemals hergeben.

Endlich fühlte die Hand sich wieder frei und kehrte zu ihrer Herrin zurück. Vor ihr aber stand ein nun gerade aufgerichteter junger Mensch, mit einem vom innerlichen Brande wie verzehrten und verzerrten Antlitz, und blickte die junge Dame, die mit der gebietenden Miene einer weihrauchheischenden Göttin vor ihm stand, aus seltsam flirrenden Augen an.

Lili erschrak beinahe vor diesem Blick. Doch blieb sie in ihrer Rolle. Halb sich abkehrend, winkte sie mit ihrem Bänderstab und ließ sich, wie in Herablassung, vernehmen:

»Er darf mir folgen – der Herr Kavalier!«

Ein kaum merkbares Lächeln still sich regenden Hohnes um die zusammengepreßten Lippen, schritt Goethe hinter ihr drein.


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