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Die »Zwirnsfädchen« lösen sich

Das Wohnzimmer der Villa d'Orville lag im Glanz heller Vormittagssonne.

Glitzernd umspielte sie Gläser und Geschirr, mit deren Einräumen in die große Kredenz die am Boden kniende Hausfrau emsig beschäftigt war. Glöckchenhaftes Klirren durchsummte das sonst in Schweigen gebadete Zimmer.

In einem Sessel versunken und ganz in seine Träume versponnen, nahm Goethe von seiner Umgebung kaum etwas wahr. Er sah auch nicht Lili, die, nachdem sie der Tante geholfen, sich mit Handarbeiten zu schaffen machte. Weit, weit weg war alles gegenwärtige Leben dem Dichter abgerückt. Sein Geist schweifte Jahrhunderte zurück, in den fernen Niederlanden, wo ein strahlender Held, Egmont, Prinz von Gaure, vom Volke bejubelt, von einem herrlichen Mädchen geliebt, doch von den spanischen Machthabern gehaßt und in den Tod gejagt wurde. Seit den letzten Wochen beschäftigte den Träumer dieser Vorwurf, der, dunkel wogend und hell durchblitzt, ihn wie mit Faszination umstrickte und im Schlafen wie im Wachen nicht mehr losließ.

Da schlug plötzlich, wie aus ungreifbarer Ferne, Lilis spotthelle Stimme an sein Ohr.

»Möchtest Du mir nicht das Seidengarn halten, alter Träumer?«

Fast erschrocken fuhr Goethe aus seiner Entrückung empor. Dann starrte er Lili wie entgeistert an.

Diese brach in ein belustigtes Mädchenlachen aus.

»Da schau einer diesen sonderbaren Liebhaber an! Wenn sein Mädchen ihn anruft, erschrickt er wie vor einer alten Hexe!«

Stotternd versuchte Goethe sich zu entschuldigen. Er kam sich selbst ein wenig lächerlich vor. Aber konnte Lili denn wissen, was ihn innerlich fest und von ihr fernhielt? Sprechen konnte er ja von diesen Dingen nicht mit ihr. Es hätte sie gelangweilt und sie hätte ihn kaum verstanden.

Linkisch hatte er den ihm zugeworfenen Seidenknäuel aufgeschnappt und schlug nun das glitzernde Gespinst vorsichtig um beide Handgelenke. Dann blickte er auffordernd zu Lili hinüber.

Diese begann wieder mit ihrer Wickelarbeit, während Frau d'Orville, nach einem zweifelnden Seitenblick auf das eigenartige Liebespaar, taktvoll zur Tür hinaus entschlüpfte.

Goethe aber verfiel aufs neue in sein Geträume. Die gegenwärtige Situation eines gescholtenen und gnädig geduldeten Verehrers, der bescheiden saß und gehorsam das Garn hielt, entrückte ihn in ein poetisches Bild, das er unwillkürlich in den ihn beschäftigenden Dramenstoff irgendwie einzubauen trachtete. Ihm schwebte die Figur eines treuherzigen, opferbereiten, halb-übersehenen Liebhabers vor, dessen Elemente sich ihm aus eigenen und fremden Erfahrungen rasch zusammenfügten. Innerlich beschäftigt, diese Gestalt sich seelisch zu vergegenwärtigen, wurde er durch einen neuen unwirschen Anruf Lilis jäh unterbrochen.

»Was ist denn nur in Dich gefahren«, vernahm er ihre erboste Stimme, »daß Du mir gar nicht einmal zuhörst?! – Hast Du nicht vernommen, daß ich Dich etwas gefragt habe?«

»Du hast mich etwas gefragt?« scheuchte Goethe empor. »Verzeih! Ich dachte gerade an etwas anderes!«

»Das hab' ich gemerkt!« fuhr Lili auf und warf voll Ärger den Knäuel auf den Tisch, daß er herniederrollte. »Ich bin Dir ja nicht mal soviel wert, daß Du nur aufpaßt, wenn ich zu Dir spreche! – Der Herr Poeta hat Wichtigeres zu bedenken! Man ist ja nur ein dummes, kleines Mädchen, unwert der Aufmerksamkeit eines so hochtrabenden Geistesritters!«

Goethe suchte zu besänftigen. Aber Lili, völlig aufgebracht, redete sich in immer größere Hitze hinein, und so konnte es nicht fehlen, daß viel aufgespeicherter Groll nach und nach, aufplatzend und unbedacht, zum Vorschein kam.

Solch ein Hochmut stehe dem gestudierten Enkel eines eingewanderten thüringischen Schneidergesellen freilich schlecht zu Gesicht. Aber man habe sie ja oft genug gewarnt von seiten ihrer doch wahrlich ganz anders gestellten Verwandten! Sie freilich habe in blinder Voreingenommenheit niemals hören wollen! Hierauf erging Lili sich in weiteren Exklamationen über ihre vornehme halbfranzösische Herkunft, über ihre exquisite bürgerliche Erziehung, über Ansehen und Reichtum des Bankhauses Wegelin & Schönemann und schließlich gar über den unüberwindlichen Gegensatz streng-lutherischer und reformierter Konfession. Lauter Geschwätz, das Goethe nur garzugut kannte, indes aus Lilis Munde nie vernommen hatte.

Daß sie dieses jetzt sich zu eigen machte, riß plötzlich gleichsam eine Nebelschicht auseinander. So hatten also die beiderseitigen familiären Gegensätze sich in der Stille derart verdichtet, daß sie nun beinahe wie seelische Schranken sich zwischen sie stellten! Solange dies nur äußere Momente gewesen waren, hatte man darüber hinwegsehen können. Aber jetzt, wo sich zeigte, daß sie auch ins Innere vorgedrungen waren und Lilis bisher so gläubig-reine Seele mit ihrem Gift zu verwirren drohten, rückte alles in ein neues, unendlich trauriges Licht. Seine eigenen Gemütszweifel und inneren Bedenklichkeiten, zum Teil gestützt auf trübe Ahnungen und Beobachtungen, traten als weitere Dissonanzen hinzu – und wie all dieses im Blitzlicht der Gedanken ihn jäh überschauerte, fühlte Goethe mit Schmerz, daß in seinem Inneren sich etwas zusammenkrampfte und zuschloß.

Unfähig, eine bestimmt präzisierte Erwiderung zu finden – da in ihm selbst noch alles gärend durcheinanderschoß –, begnügte er sich mit einer Art von halber Zustimmung. Er griff dann Lilis Hände, blickte ihr längere Zeit stumm und bedeutsam in die Augen, und als er fühlte, wie es beängstigend in ihm aufzuckte, nahm er raschen Abschied, mit einem flüchtigen, fast konventionellen Handkuß.

Was hatte dieses überstürzte Davongehen zu bedeuten?

Etwas in Goethes Innerem raunte, daß dies das Ende sei. Doch lehnte sich in seinem Herzen noch manches dawider auf. Um so mehr mußte er trachten, mit sich ins reine zu kommen. Und mußte darum einsam sein.

So schritt er davon – äußerlich steif und gefaßt, innerlich mehr denn jemals aufgewühlt.

Auch in Lili kämpften böse Ahnungen. Vor allem aber fühlte sie, wie dieser bald so machtvoll faszinierende und alles andere überragende, bald so seltsam-widerspruchsvolle, hysterisch-überreizte und schwer zu ertragende junge Mensch seine Herrschaft über sie verlor – ja anfing ihr gleichgültig zu werden. Mochte kommen, was da wollte. Sie war gefaßt.

Noch am gleichen Nachmittage packte Goethe sein Ränzel, setzte sich in sein Schiffchen und fuhr nach Frankfurt hinunter.

Als Lili wenige Tage später gleichfalls in ihr Elternhaus heimkehrte, gingen sie einander aus dem Wege, und als sie in der Komödie einander begegneten, sprachen sie »sieben Worte« miteinander, kühl und artig, wie gleichgültige Bekannte. Noch hätten sie einander auf einem Ball treffen sollen, auf den sie sich früher verabredet hatten und zu dem Goethe sich einen altdeutschen Ritteranzug in Schwarz und Gelb eigens hatte anfertigen lassen. Doch diese Verabredung ging zurück. Lili hatte – wegen einer leichten Erkältung! – beschlossen, den Ball nicht zu besuchen.

Gut, so würden sie einander also nicht treffen! Für den hübschen Maskenanzug würde sich gewiß eine andere Verwendung finden lassen. An Gelegenheit und Abwechslung fehlte es Goethe ja niemals.

 

Es traf sich, daß in diesen Tagen Hofrat Zimmermann aus Hannover – der berühmte Arzt und Schriftsteller, mit dem er sich in Straßburg so gut verstanden hatte – in Frankfurt eingetroffen war und als willkommener Gast im Goetheschen Hause abstieg. In seiner Begleitung befand sich seine sechzehnjährige Tochter, das niedliche Urselchen, ein scheu-holdes, noch kindhaft-unerschlossenes Mädchen, das sich sofort an Frau Rat mit innigem Zutrauen anschloß. Mit dem weltmännisch-erfahrenen Vater aber fand der junge Dichter sehr bald wieder den anregenden Kontakt.

Nichts Willkommeneres hätte ihm grade in diesen Tagen sich ereignen können. Jetzt zeigte er sich nach außen hin von besonderer Lebhaftigkeit und nahm an den Dingen dieser Welt gesteigerten Anteil. So hoffte er am besten den ihn beschleichenden Gedanken an Lili entgehen zu können.

Es ging auch ganz gut, solange er tagsüber im Trubel und unter Menschen war. Dann sog er das Getümmel mit Begierde in sich ein und nahm lebhaft daran teil. Mitunter – welch Glück! – legte es sich über ihn wie völliges Vergessen ...

Doch wenn er nachts seine Stube betrat, in der er so viel an Lili gedacht, so oft sich um sie gesehnt und gebangt hatte, dann schlichen sich Erinnerungen wie geheime Mahner an ihn heran, um schließlich wie in Sturzbächen über ihn herzufallen. Um ihnen zu entrinnen, mußte er sich niedersetzen und schreiben. Doch was er sich selbst zu beichten hatte, das mußte er, um nicht ins Leere sich zu verströmen, irgendwie einer fremden Brust anvertrauen; einer fühlenden, aus der ihm, ob auch zunächst bloß im Geiste, eine Antwort entgegentönte. Das war immer wieder die unsichtbare ferne Freundin und Beichtschwester, der er sein Herz ausschüttete, um sich aus seinen Nöten zu befreien. Wie innere Wärme strömte es auf ihn zurück: das war, was er brauchte, was ihn beruhigte.

So saß er dann und schrieb. Wie er aufs tiefste sich danach sehnte, in ergreifendem wahren Genuß und Leiden jene Seligkeit, die sonst Menschen gegönnt ward, auch seinerseits zu empfinden! Sollte er denn ewig »auf den Wogen der Einbildungskraft und überspannten Sinnlichkeit himmelauf und höllenab getrieben werden?« Dann fühlte er, wie seine innere Unruhe vor dem bunten Außenwirbel doch nicht völlig hatte entweichen können. Wie die ungeklärten Gedanken an Lili ihn heimlich jetzt begleiteten. Wie jede zufällige, ob auch ganz kurze Begegnung mit ihr ihn gleichsam aus sich heraus warf. »Wär' ich das los!« strudelte es aus ihm hervor. »Und doch zittere ich vor dem Augenblick, da sie mir gleichgültig, ich hoffnungslos werden könnte!«

Vergeblich suchte er das Steuer zu halten. Würde er sich retten können – oder würde er stranden? Loskommen wollte er – und konnte doch von dem Mädchen nicht ab! »Heute früh regte sich's wieder zu ihrem Vorteil in meinem Herzen!« Dann suchte er sich allerhand Läppereien um die Ohren zu schlagen, um nur die aufreibenden Verwirrungen seines Innern zu betäuben!

Doch er wäre nicht Goethe gewesen, wenn er nicht trotzdem wieder einen Moment erhebender Sammlung aus sich heraus geschaffen hätte. »Gustgen«, schrieb er, »wenn ich das Blatt zurücksehe: welch ein Leben –! Soll ich fortfahren? Oder mit diesem auf ewig endigen? – Und doch, Liebste, wenn ich wieder so fühle, daß mitten in all dem Nichts sich doch wieder so viele Häute von meinem Herzen lösen, so die konvulsiven Spannungen meiner kleinen närrischen Komposition nachlassen, mein Blick heiterer über die Welt, mein Umgang mit den Menschen sichtbarer, fester, weiter wird, und doch mein Innerstes immer, ewig, allein der heiligen Liebe gewidmet bleibt, die nach und nach das Fremde durch den Geist der Reinheit – der sie selbst ist! – ausstößt und so endlich lauter werden wird, wie gesponnen Gold: da laß ichs denn so gehen (betrüge vielleicht mich selbst) und danke Gott! – Gute Nacht. Addio. Amen.«


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