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Junger Vulkan

Trotzdem, als er eine Viertelstunde später beim Herzog ins Zimmer trat, war in Haltung und Antlitz wieder etwas von jener verschlossenen Gemessenheit da, durch die er zunächst, meist gegen seinen Willen, eine abkühlende Distanz schuf.

Ein längeres Spießrutenlaufen durch aufgepflanzte Reihen von Kammerjunkern, Kammerpagen und neugierigen Lakaien hatte ihn hinreichend ernüchtert.

Aber der junge Herr Herzog schien nichts Befremdendes zu bemerken. Mit eiligen Schritten kam er Goethe entgegen, schüttelte ihm kräftig beide Hände und drückte ihn erglühend an die Brust.

»Willkommen! Willkommen! Dreimal in Weimar willkommen!« stieß er freudig hervor.

»Hoheit haben befohlen!« Nicht anders kam es von Goethes Lippen. Und doch tat es ihm wohl, ein fürstliches Herz an seinem Busen schlagen zu hören!

»Ach was, befohlen?!« raunte der Herzog. »Von derlei soll zwischen uns beiden nicht die Rede sein! – Kommen Sie her, lieber Doktor, setzen Sie sich zu mir! Bei einem Täßchen Kaffee wollen wir gemütlich miteinander plaudern. Wir beide ganz allein! Das übrige Kroppzeug habe ich uns sorglichst ferngehalten. – Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr ich mich auf Sie gefreut habe! Und ich habe viel, schrecklich viel mit Ihnen zu bereden. – So ein Fürst hat's manchmal schwer. Alle Menschen machen so ernste, wie erstarrte Gesichter, wenn sie vor ihm stehen und sich kaum getrauen, etwas hervorzustottern. Aber Sie reden ja auch nichts, lieber Goethe! Oder bin ich es, der zuviel redet? Mein alter Fehler! Und was hab' ich denn groß zu sagen? – Ihnen zu lauschen, an Ihrer herrlichen Sprache mich zu erfreuen, das ist ja meine innerste Sehnsucht. Deshalb habe ich Sie ja eigens nach Weimar kommen lassen. – Aber so sagen Sie doch etwas, Herr Doktor Goethe!«

»Hoheit machen mich glücklich!«

Wie das nun abermals so ungeschickt, so betreten herauskam! Goethe hätte sich backpfeifen mögen, daß er nichts anderes zu sagen wußte! Aber seine fatale Natur war's, die ihn so widerborstig zurückhielt. Er mußte sich erst erwärmen, mußte nach und nach frei werden ...

»Wie leicht doch unsereiner einen glücklich machen kann!« spottete Karl August. »Und nun gar solch ein Gotteswunder, wie den berühmten Doktor Goethe aus Frankfurt am Main! Da steh' ich achtzehnjähriger Knabe da und bettele. Und weil ich das Unglück habe, ein Fürst zu sein, stoße ich auf verschlossene Lippen.«

»Aber nicht auf ein verschlossenes Herz!« vermochte Goethe sich endlich zu ermannen. »Hoheit müssen verzeihen, wenn ich fürs erste so ungelenk mich benehme. Man hat mich wie ein Wundertier draußen angeglotzt. Das wirft mich in gräßlicher Weise auf mich selbst zurück. – Aber wenn ich dann in Ihr frisches, derbes Jungengesicht blicke, lieber gnädiger Herr, dann wird mir gleich wieder wohl. Dann fühle ich den warmen Freundeshauch, der auf mich zukommt.«

»Das soll ein Wort sein!« rief Karl August erfreut. »Nieder mit den Schranken, die einen Fürsten hindern wollen, ein Mensch zu sein und wie ein Mensch Rede und Antwort zu stehen. Das ist ja immer schon das Tiefste meiner Sehnsucht gewesen: auch so sein zu dürfen, wie ich die andern um mich her sich bewegen und sich regen sehe! Und von keinem andern, sagt mir mein Gefühl, kann ich das mit solch vollen Maßen haben, wie von Ihnen, lieber Goethe. Das habe ich auf den ersten Blick gespürt, als ich damals in Frankfurt Ihnen gegenübertrat. Und die ganzen Monate hat's mir keine Ruhe gelassen, selbst auf meiner Brautfahrt nicht: daß ich solch einen Menschen, wie Sie einer sind, solch einzigen Menschen, zum Freund haben muß! Nicht allein, weil Sie ein großer Dichter sind, den ich aus tiefster Bewunderung verehre – es gibt Dichter, die einen bei näherer Bekanntschaft schmerzlich enttäuschen – nein, nur darum, weil der Dichter und der Mensch in Ihnen so völlig eins sind – in einem solchen Grade, daß, was der eine sagt und denkt und fühlt, in denkbar natürlichster Weise auch beim andern zum Vorschein kommt – als ob es gar nicht anders sein könnte! – Deshalb hänge ich so an Ihnen, lieber Goethe! Sie sind der Mensch, den ich von allen Menschen am meisten brauche! Weil ich Wahrheit von Ihnen empfangen kann! Weil ich diese hohe natürliche und geistige Überlegenheit in Ihnen spüre, die zwischen Dichter und Fürsten die Brücke bedingungsloser gegenseitiger Zuverlässigkeit, und darum echt menschlicher Zusammengehörigkeit schlägt. – Ist es albern, ist es wie ein Knabe gehandelt, daß ich Ihnen das so unverblümt gestehe, lieber Goethe? Daß ich sozusagen mit der Tür bei Ihnen ins Haus falle? Aber ich kann nicht anders! Zu lange schon hat es mir das Herz abgenagt, Ihnen dies alles zu sagen! – Und nun ist es heraus! Bitte, nehmen Sie es auf, wie ich es von Ihnen erhoffe: mit all Ihrer gütigen und freundlichen Nachsicht!«

»Sie erschüttern mich – herrlicher junger Mensch!« kam es halblaut und voll innerer Bewegtheit aus Goethe heraus. »Wann hat je mit solch rührender, kindlicher Offenheit ein junger Fürst zu einem ihm ergebenen Sterblichen gesprochen? Jedes Ihrer Worte soll eingebrannt sein in mein Herz. Mich Ihres Vertrauens, Ihrer Zuneigung wert zu erhalten, sei fortan mein innerstes Streben. Ja, ich fühle dies wie eine Aufgabe, die mir vom Schicksal bestimmt worden ist. Sooft Sie mich befragen und berufen werden, werde ich mich ungesäumt zu Ihrer Verfügung halten: wo immer auf Erden ich verweilen möge, in welcher Weltgegend, in welchem Erdenwinkel!«

»Am liebsten möchte ich Sie gleich immer bei mir behalten – als meinen Freund, als meinen Mentor!« platzte Karl August enthusiastisch heraus. Mit gerötetem Antlitz, mit leuchtenden Augen erhob er sich und streckte Goethe die Hand hin. Dieser ergriff sie und drückte, nicht ohne Feierlichkeit, einen Kuß auf die Mitte ihres Rückens. Aber sie innig zu schütteln, wie der junge Herzog es erwartet hatte, entschloß er sich nicht. Selbst in diesem Augenblicke gebot eine innere Stimme ihm, Distanz zu wahren und vor allem – seine persönliche Freiheit sich vorzubehalten!

»Nicht das!« sagte Karl August, und zog fast unwillig die Hand zurück, »überlassen wir das denen, die von mir etwas zu erbetteln haben! – Sie aber, Goethe, stehen als Gebender mir gegenüber. Es ist viel, was ich von Ihnen begehre. Über alles, was mich in der neuen Stelle, an die das Schicksal mich berufen hat, erwartet und was mich oft so stark beunruhigt und verwirrt, möchte ich mich mit Ihnen aussprechen. Die beamteten Ratgeber, gewiß, sie sind brave, ordentliche, wissende und kluge Menschen – nicht daran zu tippen! – aber ich brauche eben mehr! Oder besser noch: etwas von Grund aus anderes! Ich kann Ihnen das nicht so beschreiben. Sie müssen es erfühlen, lieber Goethe, und schon lese ich auf Ihrem Antlitz: Sie fühlen es wirklich. Die wahre Regierungskunst, so wie sie mir vorschwebt, klammert sich nicht an Akten und Paragraphen, sondern sie quillt aus dem Leben mit seinen tausend Verwicklungen und Geheimnissen – die zu deuten mein junger Verstand noch nicht ausreicht. Sie aber, mit Ihren tiefen Blicken, mit Ihrer Kunst des Seelenlesens, Sie können es. Wohl habe ich auch den guten und willigen Instinkt. Aber damit ich auf ihn vertrauen lerne und ihm die höhere Einsicht zugeselle, bedarf ich eben des Mentors, wie ich schon sagte. Es muß einer neben mir stehen, der, unabhängig von nüchternem Geschäftsgang, frei aus hellem Herzen heraus, mir sagt: So ist's richtig! So hat Gott es gemeint, als er Dich auf Deinen hohen Posten setzte!«

»Wie soll ich mich vermessen, Gottes Stimme auf mich zu nehmen?« warf Goethe ein.

»Durch wen spricht Gott deutlicher und mächtiger zu uns als durch den Dichter?« brauste es aus Karl August. »Etwa durch den bestallten Hofprediger, der doch auch wieder ein Beamter ist und die Bibelworte spitzfindig deutet? Man verschone mich mit dessen abgestempelten und abgezirkelten Weisheitssprüchen, mit diesem auswendiggelernten, eingefrorenen Zeug! Nein, einen lebendigen Menschen will ich befragen können, der die Welt täglich von neuem erlebt und recht eigentlich von neuem erschafft, wie er die Lebensströme in sich fühlt, die das Ganze bewegen! Und das kann nur ein Dichter sein, auf dem Gottes Gnade sichtbarlich ruht.«

»Ihr zu hohes Vertrauen, erhabener junger Herr, beschämt und belastet mich«, erwiderte Goethe, die Worte fast mühsam setzend. Allmählich aber sich erwärmend, fuhr er fort: »Doch frei heraus, ich fühle, wie Sie's meinen! Fühle es deshalb, weil es Gedankenketten in mir wachruft, die seit langem in mir klingen. Ja, was Sie aussprachen, ist mein eigenster Glaube: Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, und nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden und nicht im Gewordenen und Erstarrten! Was daher immer auch das Alter an hoher und reifer Erfahrung für sich in Anspruch nehmen mag, die wahrhaften und schöpferischen Triebkräfte ruhen doch stets bei der Jugend. Darum wollen wir, die wir jung sind, gewiß den Rat und selbst auch die Belehrung der Altgewordenen nicht verschmähen und uns getrost, wo es not tun mag, von ihnen bremsen lassen. Aber stolz und froh dürfen wir uns dessen bewußt bleiben, daß die neuen, lebenschaffenden Ideen doch allemal von uns ausgehen werden, den Jungen, eben deshalb, weil wir noch Zukunft in uns tragen! – Zwar bin ich, wie ich mir ausrechne, um acht ganze Jahre älter als Sie, hoher Herr, aber mit meinen Sechsundzwanzig darf ich wohl glauben, noch mitten im Strome der Jugend zu sein –«

»Mitten im Strome! Der rüstigste Fährmann und Steuermann!« warf Karl August heißblütig dazwischen.

»Wenn auch, leider schon, gegen mancherlei Klippen angerannt!« dämpfte Goethe.

»Haben den Kahn aber immer mutig herumgeworfen und aus Strudeln gerettet!« beteuerte Karl August.

»Nun ja, bin allenfalls, wie ich da stehe, mit heiler Haut davongekommen!« lachte Goethe. »Eben darum mag ich's nicht verlernt haben, auf meinen Stern zu vertrauen. Und wenn ich in diesem Sinne mich Ihnen verbünden darf, hoher Herr, so soll es aus vollem Herzen geschehen.«

»Topp! Das nehme ich an. Und danke Ihnen, lieber Goethe«, sprach der Herzog mit Wärme. »Darum vor allem vergönnen Sie mir, Sie näher kennenzulernen. Und seien Sie deshalb recht oft und ohne allen Zwang in meiner nächsten Nähe. Ich will Sie keineswegs plagen. Und verlange vorderhand auch keinerlei Versprechen oder gar Bindung von Ihnen. Sie mögen bleiben und gehen, ganz wie Sie wollen. Ein paar Wochen, ein paar Monate, ein Jahr lang, ganz wie's beliebt. Und je länger, desto besser. Verstehen Sie mich bitte recht: ich meine, Sie sollen bleiben, als mein Freund und als mein Gast! Ich will wirklich fürs erste nichts anderes als Ihre Gesellschaft genießen. Mit Ihnen reiten, mit Ihnen jagen, mit Ihnen lustig sein. Und wenn Sie mir dann hie und da etwas erzählen oder vorzuhalten haben, so wird es mir eine Wonne sein, Ihnen zu lauschen. – Nur gestatten Sie mir, Sie vor allem, und zwar heute abend schon, bei meiner Frau Mutter einzuführen, bis vor kurzem, nämlich zum Tage meiner Großjährigsprechung, der Herzogin-Regentin, Anna Amalia. Dort werden Sie auch viele Freunde unseres Hauses kennenlernen. Und ich gebe mich der Hoffnung hin: manche davon werden auch die Ihrigen werden.«

Der Herzog erhob sich und nickte huldvoll, unwillkürlich jetzt gebietender gnädiger Herr. Die Audienz war beendet.


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