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Aufbruch des Genies

In der Tat, die beiden Stolberg und ihr Freund Haugwitz dünkten Goethe wie vom Himmel gesandt, um endlich seinen Entschluß zur Reife zu bringen, unhaltbar gewordenen Verhältnissen zu entfliehen. Bis dahin hatte ihm die Kraft hierzu gefehlt. Jetzt aber faßte er seinen Entschluß. So tief es ihn innerlich schmerzen mochte, sich von Lili, und sei's auch nur zeitweilig, loszureißen – wollte er sich selbst nicht aufgeben, es mußte geschehen!

»Ich wäre ein Tor«, beichtete er in jenen Tagen durch Fernandos Mund in seiner »Stella«, »ein Tor, mich fesseln zu lassen! Dieser Zustand erstickt alle meine Kräfte. Dieser Zustand raubt mir allen Mut der Seele. Er engt mich ein! Was liegt nicht alles in mir? Was könnte sich nicht alles entwickeln? Ich muß fort – in die freie Welt!«

Vor allem war es der Widerstand von Lilis weitverzweigter Verwandtschaft gegen das Verlöbnis mit diesem »exzentrischen Doktor Goethe«, was ihn in Harnisch brachte. Das wagte sich einstweilen bloß als Gezischel hervor. Aber es genügte völlig, um Lilis reine Seele in hellen Aufruhr zu bringen. Aufs tiefste verletzt und unter Weinen sank sie ihrem Verlobten an die Brust.

Goethe biß die Zähne zusammen. Das arme Kind, dem man so herzlos zusetzte, tat ihm im Innersten leid. Doch was war von dieser ganzen Verwandtschaft anderes zu erwarten gewesen? Er kannte sie genau, diese abgetakelte Gesellschaft! Nichts anderes verlangte sie von ihm, als daß er, in erheuchelter Demut, zusammenknicken und vor ihr seine Reverenzen machen sollte. Dann würde er in Gnaden aufgenommen werden. Aber sollte er sich selig und beglückt fühlen, wenn alte, auf »Jung« geschminkte Tanten ihn huldreich anlächelten oder feistglänzende Onkels ihm wohlwollend auf die Schulter klopften? Ein Dichter war er, ein Neudenker menschlicher Gesellschaftsformen, und urtümlich verwurzelt mit allem, was ursprünglich und aus der Natur geboren ist! Wer konnte von ihm verlangen, daß er sich irgendwelchem Schnickschnack unterwerfen sollte, der als »ewige Krankheit« sich durch Geschlechter und Generationen fortgeerbt hatte, um heutzutage fast jeglichen Sinn zu verlieren?

Ein wilder Hohn wuchs in ihm hoch, der stürmisch nach Entladung drängte. Der irgendwie auch dichterisch seinen Ausdruck finden mußte.

Er hatte da, unter älteren Papieren, den hinskizzierten Entwurf zu etwas in dramatischer Form aufgestöbert: betitelt »Hanswursts Hochzeit«. Ein paar Szenen waren in Knüttelversen niedergeschrieben, in einer Manier, die er jetzt bereits als überholt betrachtete, aus der jedoch vor allem eine derbe und kecke Gesinnung ihm entgegenschlug, die ganz seiner gegenwärtigen Stimmung entsprach. Goethe lachte, als er in die schlimmen Verszeilen hineinguckte und die vor Übermut strotzende Liste der satirisch-ersonnenen »Hochzeitsgäste« überflog. Wetter, da hatte er sich nicht gerade innerhalb der ängstlich abgesteckten Grenzen eines bürgerliche» Wohlanstandes gehalten! Und in der tollen Laune, die in ihm hochschoß und die durch seinen »Verwandtenhaß« noch genährt wurde, setzte er noch mancherlei Schärfen und Spitzen auf. Las es voll Behagen durch, schob es aber dann diskret in die Schublade zurück. Derlei gehörte nicht vor fremde Augen.

 

Inzwischen drängten die Brüder Stolberg zu baldiger Abreise.

Sie hatten ihre Pläne gemacht und wollten fort. In ihnen rumorte ein Fieber der Unruhe, sie konnten es nirgendwo lange aushalten. In Frankfurt wähnten sie, nach einer Woche, schon überlang geblieben zu sein.

In Goethe gärte es gleichfalls, fortzukommen. Und dennoch zauderte er, haschte nach Vorwänden, die Reise aufzuschieben. Der Abschied von Lili fiel ihm schwerer, als er es sich eingestehen mochte. Um so mehr, als er entschlossen war, heimlich fortzugehen. Ihm war nicht ganz lauter dabei zumute. Doch es mußte so sein.

Er wollte den Versuch machen, Lili zu vergessen!

Das war eine Sache, die er mit sich allein abmachen mußte. Abhaltungsversuche oder gar Tränen hätten ihn rasend gemacht.

Doch noch einmal mußte er sie sehen. In aller inneren Verschwiegenheit.

Lili war noch in Offenbach. Dahin dirigierte er eines schönen Nachmittags seine Freunde. Er verstand es so einzurichten, daß sie in einem kleinen Gasthaus, mit hübscher Laube im Freien – »Zur Rose« hieß es – einkehrten und sich mit der Wirtstochter, einem gefälligen Mädchen, die Zeit vertrieben. Er selbst absentierte sich auf ein knappes Stündchen, dem Drange seines Herzens zu genügen.

Er traf sie im Garten, im Spiel mit den Kindern. Sie haschten einander auf dem Rasen und es gab ein fröhliches Gelärm und Gelache. Goethe stand eine Weile hinter einem Busch und guckte auf Lili. Wie reizvoll alle ihre Bewegungen waren! Wie entzückend die schlanken Arme, wenn sie nach den Kindern griff und dann ein gefangenes mit halb sieghafter, halb zärtlicher Gebärde an sich zog! Leise trat der Lauscher vor, in stiller Bewegung. Lili, als sie ihn erblickte, unterbrach ihr Spiel, blieb aber stehen. Ihr Auge, während sie den Herankommenden musterte, zeigte einen getrübten und verschleierten Ausdruck.

»Läßt Du Dich wirklich einmal wieder blicken? Ich dachte schon, Du wärest nur noch für die Grafen Stolberg da!« Mit eintöniger Stimme ließ sie diese Worte fallen.

Goethe entschuldigte sich – was er fast niemals tat. Aber es war ihm so schwer ums Herz, daß er keinerlei Verstimmung hätte aufkommen lassen können. Ein Glück, daß die Kinder ihn jubelnd begrüßten und an ihm emporsprangen. So konnte er seine Bewegung verbergen.

Er reichte Lili die Hand. Sie legte die ihrige merkwürdig kühl und gelassen in die seinige. Er versuchte sie an sich zu ziehen. Doch sie widerstrebte.

Er setzte sich dann neben sie auf eine Gartenbank – ohne daß sie einander berührten. Doch sprachen sie recht freundlich zusammen, immer von Zeit zu Zeit durch die Kinder unterbrochen. So gern hätte Goethe mehr Wärme gezeigt. Indes war ihm das Herz wie verschnürt.

Er fragte nach Frau d'Orville. Sie war zu ihrem Gatten in die Stadt gefahren. Besuch war gleichfalls nicht zu erwarten. So hätte er bleiben können; mit Lili, indem er sie zum Auftauen gebracht hätte, ganz intim sich aussprechen können. Er vermochte es nicht. Innerlich weinte er beinahe, doch seine Lippen blieben trocken und dürr.

Lilis Feinsinn spürte, daß bei ihrem Freunde seelisch etwas nicht in Ordnung war. Das machte sie mitleidig und sie kam ihm mit holder Freundlichkeit, wenn auch ohne betonte Wärme, entgegen. Ihr Blick war gütig und in ihrer Stimme lag Weichheit. Und dennoch war ihr Innerstes wie gehemmt. Goethe fühlte, wie sie ihrem Herzen wehrte – ihrem Herzen, in dem trotz allem die Liebe für ihn schlug!

Das machte ihn dermaßen verwirrt, daß es ihm vorübergehend die Stimme verschlug. Er, dem sonst die Worte leicht und anmutsvoll vom Munde flossen, kämpfte mit dem Ausdruck, stockte zuweilen, versprach sich.

Er erzählte von Reisen – nicht von der, die er plante, sondern von solchen, die er früher einmal gemacht hatte. Von der Rheinreise im vorigen Sommer, mit Lavater und Basedow. Von Besuchen in Darmstadt und Heidelberg. Beinahe hätte er sich verraten, doch lenkte er rechtzeitig wieder ein.

Lili schien gänzlich ohne Arg. Sie erwärmte sich sogar langsam und nahm an allem, was Goethe berichtete, kindlich-interessierten Anteil. Als er aufstand, um sich zu verabschieden, verhehlte sie kaum ihre Verwunderung, wie früh er ginge. Stahl sich nicht gar ein Tränchen in ihr Auge?

Jetzt widerstrebte sie nicht, daß er sie vorsichtig in die Arme zog und leise auf ihr Blondhaar küßte. Dann blickten sie einander in die Augen: Lili ganz hell und offen, Goethe ein wenig verschämt. Wohl nahm sie es wahr, wußte es aber nicht zu deuten. Fragen mochte sie nicht.

So gingen sie auseinander. Mit raschen Schritten entfernte sich Goethe, scheu. Als er am Gartentor sich noch einmal verstohlen umdrehte, war Lili schon wieder mitten im Spiel mit den Kindern und nahm seiner nicht wahr. Leise klinkte er das Pförtlein hinter sich zu.

 

Im Wirtshaus zur Rose fand er seine Freunde Stolberg in vergnügtester Laune. Von der Laube her schallten ihre hellen Stimmen, unterbrochen von Gelächter, bis auf die Gasse hinaus. Sie hatten Freundschaft geschlossen mit der Wirtstochter Lotte. Den Kopf in ihrem Schoß, lag Christian auf der Bank, in seliger Verliebtheit, schon ganz als Pascha sich fühlend. Fritz aber mochte dem Wein eifrig zugesprochen haben. Er stand da, mit leicht-gerötetem Kopf und hielt eine launige Ansprache, indem er sich in die Rolle eines Pfarrers versetzte, der einem jungen Paare gute Lebensregeln mit auf den Weg gibt.

Goethes Wiederkunft wurde mit lautem Hallo begrüßt. Doch war er noch nicht in der Stimmung, hier richtig mitzutun. Er begnügte sich mit ein paar halbneckisch gemeinten Worten, setzte sich dann auf einen Schemel und starrte in das vor ihm hingestellte Weinglas. Woraufhin Fritz sich veranlaßt sah, sich nun seinerseits an ihn zu wenden und ihm seinen offenbaren Trübsinn, als Kränkung des zur Heiterkeit rufenden Gottes Bacchus, vorzuwerfen. Goethe mochte nicht Spielverderber sein, konnte sich aber zu dem launischen Übermut, den man von ihm verlangte, nicht emporschwingen.

Das Mädchen Lotte hatte ihn still beobachtet, machte sich jetzt sanft von Christian los, trat zu Goethe heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Soll ich Ihnen zutrinken, Herr Doktor?« fragte sie freundlich und ergriff das noch unberührte Glas.

»Bitte, bitte«, erwiderte Goethe zerstreut.

»Also dann, auf Ihr Wohl und auf das, was wir lieben!« Sie tat einen ziemlich guten Zug.

»Prost!« brüllten die beiden Stolberg, wie aus einem Munde. Goethe blickte bloß auf und nickte dem Mädchen zu.

Dieses tat jetzt sehr geschäftig, fragte, ob die Herren noch weitere Wünsche hätten, lief ins Haus und kehrte mit Obst zurück. Dann saß sie wieder auf der Bank, ließ sich von Christian getrost um die Hüfte fassen, wandte sich aber ebenso an die übrigen und plauderte munter drauf los. Sie guckte dabei Goethe öfters an, der seine dunklen Augen in träumerischer Zerstreutheit zu ihr hingleiten ließ – ohne weiter Notiz von ihr zu nehmen.

Lottchen, immer im Arme Christians, der auf keine Weise von ihr loslassen mochte, erzählte zutraulich und artig von ihren häuslichen Verhältnissen. Wie sie, als Tochter des Flickschusters Nagel, mit verdienen helfen müsse; und wie ihr dies beim Weinausschank auch ganz gut gelänge, da die Offenbacher Jungen sie alle gern hätten. Warum solle sie auch nicht gefällig sein? Manch einer lohnte es ihr und so käme sie mit ihren Angehörigen immerhin leidlich durch. Ihre Hauptfreude sei, sich von ihren besseren Gästen und Verehrern Schattenrisse auszubitten und diese in ihrem Stübchen, unten in der Kellerwohnung, aufzuhängen. Sie habe schon eine ganz hübsche Sammlung beisammen. Ob die Herren sie nicht sehen wollten?

So stiefelten die drei denn wohlgemut die schmale, dunkle Holzstiege hinab, um sich Lottchens Silhouettenbilder anzuschauen. Natürlich mußten sie ihr auch welche versprechen, was große Freude bei ihr wachrief. Christians Verliebtheit wuchs zusehends. Er wollte gar nicht wieder fort und erklärte, dableiben zu wollen, während die andern zum Heimweg drängten. Lottchen wußte nicht recht, wie sie sich verhalten sollte, war ziemlich verlegen und blickte Goethe fragend an. Dieser mochte ihr als der Würdigste von den dreien erscheinen, vielleicht grade, weil er so wenig gesprochen und sich am meisten zurückgehalten hatte.

Er klopfte ihr auf die Wange und sagte, sie sei ein wahrhaftiges, gutes Kind und möge nur tun, was das Herz ihr heiße. Damit zog er Fritz Stolberg aus der Stube und ließ Christian daselbst zurück. Dieser rief ihnen etwas nach. Sie hörten aber nicht drauf hin und schritten fürbaß.

Am folgenden Morgen – man schrieb den vierten Mai – ging ein eifriges Packen los. Denn gleich nach dem Frühstücksimbiß sollte fortgeritten werden, zunächst gen Darmstadt. Alle vier hatten sich, um völlig stilgerecht auftreten zu können, Werthertrachten anfertigen lassen: blauen Frack, gelbe Hosen und Weste, runde graue Hüte, dazu Stulpenstiefel. In dieser Montur mußten sie die Welt sich zu Füßen liegen sehen!

Alle waren in fröhlichster Stimmung. Auch Goethe, der sich ganz wieder zurückgefunden hatte. Es wallte in ihm vor Reiselust, vor Drang, in die weite Welt hinauszureiten. Die Gedanken an Lili scheuchte er geflissentlich zurück, schien sich aber um so mehr an Christian Stolbergs prahlerischen und liebesseligen Erzählungen zu weiden. Danach mußte Lottchen Nagel ein wahres Wunderexemplar von einem Weibsbildchen sein. »Und so anständig – so anständig! Wenn man denkt: als freies Liebchen! Ganz überall mit dem Herzen dabei! Sowas find't man sonst nicht mehr!« Nur Fritz naserümpfte dazu. Er hatte in Hamburg ein englisches Fräulein kennengelernt, eine Miß Hanburry, und sich schwer in sie verliebt. Er schwur Stein und Bein darauf, sie heiraten zu wollen. Worüber keiner mehr lachte als sein Bruder Christian.

Als die drei Kavaliere hoch zu Roß auf dem Großen Hirschgraben erschienen, wurde auch Goethes Gaul vorgeführt und bepackt. Die Eltern standen auf der Treppe und ließen ihren Sohn nicht ohne Kuß von dannen ziehen. Gleich darauf schwang dieser sich hurtig und munter in den Sattel. Es gab ein tolles Getrappel auf dem holprigen Hirschgrabenpflaster – und im Hui war die kleine Kavalkade um die Ecke verschwunden.

Mutter Goethe schaute den Entschwundenen noch eine kleine Weile nach. Wischte sich dann mit dem gekrausten Zipfel ihrer seidenen Tändelschürze ein paar Tränlein aus den Augen und folgte ihrem gestrengen Gatten in den dunklen Hausflur.


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