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War Goethe nun glücklich?
Gewiß, seiner Liebe fühlte er sich sicher. Und Wonne durchrieselte ihn, so oft er Lilis ansichtig wurde oder das Bild der Abwesenden im Geiste vor sich beschwor. Aber dazwischen lagen viele Stunden, wo sein Dämon mit ihm haderte und seine » animula vagula« ihn unstet von einem zum andern trieb.
Vielerlei begann er. Fast alles warf er nach kurzem wieder fort. Hundert dichterische Pläne keimten in ihm, durchschwirrten sein Gehirn, durchkreuzten einander, wollten nicht zur Ruhe gelangen.
Dann wieder, plötzlich, packte ihn etwas wie Angst vor sich selbst. Wer war er? War er nicht der ärgste Blender? War er nicht ein wahrer Tunichtgut und durch Schlamm und Sümpfe gewatet? Wie durfte er es wagen, ein reines Mädchen wie Lili an sich zu fesseln? Er, der soviel Schuld auf sich geladen hatte! Der eine Friederike, dieses Wunderbild arglosen Vertrauens und ungeschmälerter Hingebung, enttäuscht, verlassen, unglücklich gemacht hatte! War er nicht von ihrem anklagenden Bilde bis in die Träume seiner Tage und Nächte verfolgt worden? Hatte er es nicht in dichterischen Gestalten – wie oft schon! – selbstquälerisch heraufbeschwören müssen? Und Lotte? Und Maxe Laroche? Und die vielen anderen, die mehr oder weniger flüchtig und reizspendend seinen Lebensweg gekreuzt hatten? Durfte er Lili ihnen zugesellen?
Sie war für ihn das Sinnbild der Reinheit. Mehr noch als ihre Schönheit und Anmut rührten ihn ihre Unschuld und Güte. Er stand davor und bewunderte. Wie sein Faust, den er so tief in der Seele trug, fühlte er ein anbetendes Verlangen – und gleich daneben eine seltsame Furcht, geboren aus Zweifel und bohrender Zerknirschtheit. Er wußte selbst nicht, wie ihm war. Manchmal wand er sich in einem Gefühl wie von folternder Ungewißheit. Aber dann bäumte sich jählings wieder sein Trotz. Er fühlte den Ruf seines Genius, der ihn zu hohen Leistungen bestimmte. Nur eines kannte und anerkannte er als wahrhaft zwingende Verpflichtung: das ewig-rege Gebot seines prophetisch aufgewühlten Inneren! Diesem Folge zu leisten, ihm zu gehorchen, war das, was der Geist von ihm zu fordern hatte. Alles mußte er diesem opfern, mußte er nicht jetzt sogar vor seiner Liebe zittern? Lag hier nicht eine Schlinge, die ihn seiner Aufgabe zu entfremden drohte? Lili, eine – Gefahr? Er hätte weinen mögen! Alles an ihr war so lieb, so gut! Und versprach ihm die Fülle wahren Erdenglücks! Und dennoch rief ihn manchmal eine herrische Stimme an, dieses alles fahren zu lassen – weil anders seine Bestimmung war!
»Könnt' ich von ihr los!« stöhnte es manchmal aus seinem verborgensten Inneren.
Konnte es eine schlimmere Plage und Ungewißheit für ihn geben?
Eines Morgens erwachte er, als die Sonne hell zu ihm ins Zimmer schien. Ein breiter goldener Strahl, in dem zitternde Stäubchen tanzten, ergoß sich leuchtend durch das Fenster. Mit beiden Füßen sprang er in einem Satz aus seinem Bett. Entgegen allen Wirrsalen dieser Tage fühlte er sich erfreulich frisch und zuversichtlich.
Sofort regte sich eine freudige Kampfstimmung in ihm. Und wie mit einem Schlage stand plötzlich, wie fernes Geistergrüßen, seine Prometheusgestalt vor ihm, wuchs aus ihm heraus, in hellem Titanentrotz. Den Olympiern die Fackel ihres Feuers zu entwenden und sie den Menschen zu bringen, zur wohltätigen Erleuchtung ihrer Geistesnacht – war das nicht ein herrliches Unternehmen? Durfte ein Prometheus sich nicht als Nebenbuhler der Götter fühlen – dieser geizigen Selbstlinge, die das Licht nur für sich haben wollten und es den armen Erdenwürmern nicht gönnten? Mochten sie ihm zürnen, die Götter, mochten sie ihn schmähen und ihn heimtückisch fesseln! Die Armseligen! Immer nur waren sie begierig nach Brandopfern und wollten unterwürfig beweihräuchert werden – als ob alles Gute nur von ihnen allein herrühre! Aber durfte nicht er, Prometheus, sich ihnen gleichdünken? Warum sollte er ihnen für das, was er geworden war, ewigen knechtischen Dank zollen? Als ob er nicht aus sich selbst heraus erstarkt wäre! Aus eigener Kraft und eigenem Antrieb!
»Hast Du nicht alles selbst vollendet,
Heilig-glühend Herz?«
Da standen die Worte! So empfand er es. Der Titan hatte recht. Nur vor Göttern und Götzen, und wer immer als ihresgleichen sich aufspielte, niemals sich beugen! Wer waren denn diejenigen, die sich vermaßen, Menschen zu regieren und sich als eine geheimnisvolle »Oberschicht« zu fühlen? Elende Paragraphenschwitzer zumeist und Nichtskönner! Sie – die »Götter auf Erden«? Die alles zu machen, alles in Gang zu bringen wähnten? Und die doch Nichtse waren gegenüber dem wahrhaft produktiven Menschen! Wie sprach doch sein Prometheus?
»Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und Dein nicht zu achten,
Wie ich!«
Herrlich dieser Prometheustrotz! Im Tiefsten das Gleiche wie der in ihm lebende Dichtertrotz! Darum hatte er es auch so nachfühlen und aussprechen können! Darum fühlte er sich so von innen her berauscht und durchglüht, wenn er sich in diese Titanengestalt versenkte!
Freilich, wenn er nun weiter dachte und sich das fernere Schicksal des armen Prometheus vergegenwärtigte, dann entstand doch in ihm ein leises und wunderliches Stocken. War nicht Prometheus, zur Strafe für seine Auflehnung, von eben dem Göttervater, den er gelästert hatte, an einen einsamen Felsen geschmiedet worden? Und jeden Morgen erschien der dienende Adler des Zeus und hackte dem gefesselten Aufrührer unter folternden Schmerzensqualen die Leber weg, die immer wieder, zum Entsetzen des Gepeinigten, aufs neue nachwuchs?
Dann trösteten ihn mitleidige Okeaniden – oder suchten wenigstens ihn zu trösten! – und lieblich erschollen ihre weichherzigen Gesänge aus fraulichen Munden. Doch ob diese wohl je das Ohr des Gemarterten erreichten? Es gibt Schmerzen, die so furchtbar sind, daß selbst Frauenliebe sie nicht auslöschen, kaum lindern kann. Man muß ein Heros sein, ein götterstarker, um sie ertragen zu können. Prometheus war einer. Doch auch er – der dichtende Nachfühler und Nachgestalter jenes Titaniden?
Ein beklommenes Gefühl wirrte sich in ihm empor, seine bisher so hochgehende Wallung durchkreuzend. Das überwitzige Stimmchen in seinem Inneren flüsterte ihm zu, daß er selbst nicht zum Märtyrer und zu standhafter Leidensprobe geboren sei. In ihm war und lebte unzähmbarer Drang nach menschlichem Glück, nach innerer Harmonie und nach Frieden mit dem Schicksal. Sich selbst wollte er solches schaffen, und als Dichter die Menschen lehren, es auch ihrerseits zu erringen. Das, fühlte er, war seine Sendung. Nicht die eines Aufrührers – eher die eines Beschwichtigers. Doch darum, er hoffe es, zugleich eines Glückspenders.
Seine Prometheusdichtung aber – das ward ihm plötzlich zur Gewißheit – würde er niemals vollenden! Was er nicht innerlich ganz und bis zu Ende durchleben konnte, das konnte er auch nicht gestalten. Zu ehrlich und phrasenfeindlich war sein dichterisches Sichbekennen.
Er fühlte sich wieder auf der Erde: als ein simpler Mensch mit Fehlern und Gebrechen. Und gern hätte er jetzt einen Freund zur Stelle gehabt, sich ihm zu bekennen und zu offenbaren: in der seltsam widerspruchsvollen Stimmung, die ihn alle diese Tage beherrscht hatte – und die nun aufs neue aus ihm erwachsen war ...
Da klopfte es an seine Tür, Christine, die alte Wirtschaftsmagd, erschien und reichte einen Brief herein.
»Von den Herren Grafen Stolberg, aus Hannover«, sagte sie geheimnisvoll-wichtigtuerisch und war gleich wieder verschwunden.
Goethe starrte auf die Aufschrift mit der wohlbekannten Hand seines Freundes Christian Stolberg, in der sich Flüchtigkeit und Selbstbewußtsein eigentümlich paarten. Riß dann den Brief auf und sah, daß beide Brüder, Christian und Friedrich Leopold, an ihn schrieben und voll Enthusiasmus ihren bevorstehenden Besuch in Frankfurt ankündigten. Zugleich baten sie um freundliche Aufmerksamkeit für ein einliegendes Schreiben von Frauenhand, dessen Urheberin sie indes nicht verrieten.
Goethe fühlte sich sogleich durch dieses zweite Schreiben seltsam gefesselt. Schon die Schriftzüge sprachen lebendig auf ihn ein. Es lag soviel echte Fraulichkeit in diesen großen und schrägliegenden Lettern, und zugleich soviel Offenheit, soviel Stolz. Unterschrieben war der Brief, schlicht und kurz, »Eine Freundin«, sonst ohne Namensnennung.
Er las – und sofort umwehte ihn eine Atmosphäre von Wärme, Liebe, natürlichem Verständnis. Welch wundersamer Gleichklang der Herzen!
Ob er glücklich sei? fragte die Schreiberin. Und fühlte sich durch ihr inniges Mitleben mit dem Dichter von »Werthers Leiden« dazu berechtigt. Wie sie diese Dichtung in sich aufgenommen und bis ins Letzte und Feinste sich damit durchdrungen hatte – doch ganz aus dem Instinkt heraus, ohne künstliche Tüftelei – das quoll wie Offenbarung einer sich entschleiernden Seele dem Lesenden entgegen. Und dabei zugleich dieser deutliche Ton von vornehmer Selbstbehauptung, weit entfernt von allem Sichheranschmeißen, Sichwichtigmachen!
Goethe starrte in das Schreiben hinein, wie in dumpfer Benommenheit! Wer sprach da zu ihm aus weiter Ferne, wie mit leiser, doch tief-eindringlicher Geisterstimme? Welch ein Wunder begab sich mit ihm – gerade jetzt, in dieser aufgewühlten Stimmung, wo er so voll Bangnis gedürstet hatte, nach freundschaftlich-seelenvoller Berührung?
Nach einem Menschen hatte er gesucht – und da öffnete sich ihm, unerwartet, eine Schwesterseele!
Und rasch, besinnungslos eilte er zum Schreibtisch. Nahm den Gänsekiel zur Hand – und hurtig flogen seine Worte aufs Papier.
»Meine Teuere – ich will Ihnen keinen Namen geben – denn was sind Namen: Freundin, Schwester, Geliebte, Braut, Gattin – oder ein Wort, das einen Komplex von all diesen Namen begriffe – gegen das unmittelbare Gefühl, zu dem –«
Er mußte abbrechen. Was war er eigentlich im Begriffe zu schreiben? Wer war die Fremde, der er, so hastig antwortend, gleich sein Herz auszuschütten sich anschickte? Eine Fremde?! Wunderliches Gefühl! Ihm war, als sei sie eine ihm seit vielen Jahren Vertraute.
Noch einmal stürzte er zum Schreibtisch und schrieb ein paar Worte:
»– ich kann nicht weiterschreiben! Ihr Brief hat mich in einer wunderlichen Stunde gepackt. Adieu, gleich im ersten Augenblick! –«
Er ließ die Feder fallen. Später wollte er mehr schreiben. Jetzt nicht, jetzt nicht! Er mußte erst irgendwie fertig werden mit diesem Erlebnis.
Denn ein Erlebnis war es – das fühlte er ganz unweigerlich: dieser Brief der bisher Unbekannten, aus irgendeinem rätselumsponnenen Weltwinkel heraus – der wohl hoch oben im Norden zu suchen war –, vielleicht benachbart jenem Thule, das er so manchesmal mit seiner dichterischen Einbildung umschweifte.
Eine Geisterstimme ...! Eine Geisterstimme ...?