Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gravitätisch saß Herr kaiserlicher Rat Johann Kaspar Goethe in seinem Lehnsessel und schlürfte bedächtig seine Morgenschokolade aus feiner geblümter Porzellantasse. Vor ihm, auf den Knien, lag die neueste Nummer der »Frag- und Anzeigungsnachrichten« der würdigen freien Reichsstadt Frankfurt am Main. Weitsichtig, wie er war, studierte er, da er die Brille grundsätzlich verschmähte, aus solch weiter Entfernung die Neuigkeiten des Tages.
Ihm gegenüber hatte, sittsam und still, doch mit einem unverwischbar heiteren Schimmer auf dem noch jugendlichen Antlitz, seine Gattin Platz genommen, die Frankfurter Schultheißentochter Katharina Elisabeth, geborene Textor. Sie war um einundzwanzig Jahre jünger als ihr bereits fünfundsechzigjähriger gestrenger Eheherr, in dessen Gegenwart sie einen gewissen Anflug von beinahe ängstlicher, wenn auch mit List gepaarter Unterwürfigkeit kaum ganz verwinden konnte. Auch jetzt sprach sie, nachdem sie das Frühstück bereits beendet hatte, nur im leisesten Flüsterton mit der zu ihr hingeneigten Mamsell, die ihr das Abrechnungsbuch gereicht hatte, um die gemachten Ausgaben zu überprüfen und weiter notwendige Wirtschaftseinkäufe einzutragen.
Eine Weile dauerte schon das Gewisper hin und her.
Der Herr Rat hatte schon zweimal mit der Zeitung geraschelt, zum Zeichen, daß er nicht gestört sein wollte. Jetzt ließ er knurrend sich vernehmen:
»Hat denn das Weibergetratsch noch immer nicht ein Ende. Möchte wohl wissen, was das Frauenzimmer unablässig miteinander zu tuscheln hat!«
Die Mamsell machte erschrockene Kulleraugen, raunte hastig noch ein paar Brocken der Frau Rätin kaum hörbar ins Ohr, klappte das Haushaltungsbuch dienstfertig zu, knixte devot und schlüpfte aus dem Zimmer.
Frau Elisabeth blieb ruhig auf ihrem Stuhle sitzen und blickte den Gatten fragend und fast ein wenig spöttisch an.
»Und wo steckt der Herr Filius?« polterte dieser weiter los. »Neun Uhr hat's geschlagen und Seine Doktorliche Gnaden haben es noch nicht für nötig befunden, am Frühstückstisch zu erscheinen, geschweige denn seinen Anwaltspflichten nachzugehen!«
»Du vergißt, Vater«, klang es geschmeidig zurück, »daß heute Neujahrstag, also ein Feiertag ist, wo die Kanzleien geschlossen sind.«
»Das Recht geht unaufhörlich seinen Gang«, knurrte der Alte dagegen. »Wenn man nicht täglich auf der Schanze steht, werden bald das Unrecht und das Laster triumphieren. Da ist des Aumann sel. Wittib: die wird, weil sie, was ihr gutes Recht ist, zu einer neuen Ehe schreiten will, von ihrem habgierigen Sohne unaufhörlich bedrängt. Soll die arme Frau vielleicht das Nachsehen haben, weil ihr Herr Anwalt sich nicht um sie bekümmert? Oder soll –?«
»Da kommt der Wolfgang! Trag ihm Deine Klagen selber vor!« Nicht ohne heimliches Triumphgefühl warf Frau Elisabeth dies ihrem Gatten entgegen.
»Guten Morgen, liebe Eltern! Vor allem wünsch ich Euch beiden ein glückliches und fröhliches neues Jahr!«
Mit diesen Worten war der Sohn Wolfgang eingetreten, licht und heiter, daß die Sonne gleich heller zu scheinen schien. Er küßte die erstrahlende Mutter auf die helle, faltenlose Stirn und den Vater auf die breite Hand und saß dann so aufgeräumt und unbefangen am gedeckten Tisch, als habe er von dem kleinen Zwist, der seinetwegen ausgebrochen war, nicht das mindeste geahnt. Er ließ sich von der Mutter Schokolade reichen, suchte sich mit geübten Fingern ein paar knusprige Stücke Gebäck heraus, vertiefte sich mit Andacht in sein Frühstück und begann heiter von hunderterlei Dingen zu schwatzen, des öfteren mit possierlichen Wendungen, die der Mutter ein herzhaftes Lachen und selbst dem Vater ein gönnerhaftes Schmunzeln entlockten.
Aber der Herr kaiserliche Rat wälzte trotzdem in seinem schweren Gemüt die vielfältigen Besorgnisse, die er seines Sohnes wegen zu hegen sich nicht enthalten konnte. Und so rückte er denn unversehens und unvermittelt in seiner derben Art damit heraus und heischte in ziemlich ungemütlichem Ton Antwort auf seine Fragen.
Die Mutter, ein wenig erschrocken, machte ihrem Liebling heimliche Zeichen, daß er sich nicht ärgern und vor allem nicht scharfe Erwiderungen geben möchte. Doch dieser schien dessen gar nicht zu bedürfen. Er verstand es in ausgezeichneter Selbstbeherrschung, dem Vater in bescheidener und zugleich fester Art zu antworten. Er wußte ihm sogar Dank für die vielfältige und gerngespendete Beihilfe, die er von dem in juristischen Dingen wohlbewanderten Herrn Rat in seiner Advokaturspraxis fortlaufend empfing und die ihm sein Arbeiten und Auftreten ganz wesentlich erleichterte.
»Nun ja, ist ja schon gut, schon gut«, lenkte der Alte ein. »Aber mein Sohn muß doch auch daran denken, daß er mal einen Hausstand begründen soll und daß das ewige Herumflanieren –«
»Aber Vater«, unterbrach die Mutter. »Sie dürfen doch auch nicht ungerecht sein. Unser Wolfgang hat nun mal solch herrliche Gottesgaben mitbekommen und deshalb suchen ihn die Menschen und verehren ihn. War doch selbst der gefeierte Messiassänger, der Herr Klopstock aus Hamburg, erst vor wenigen Wochen unser Gast und hat den Wolfgang ganz wie seinesgleichen behandelt. Ja und auch fürstliche hohe Herrschaften, wie der Erbprinz von Sachsen-Weimar, als er mit seinem Hofstab hier durchreiste, hat den Wolfgang zu sich hinbefohlen und leutselig mit ihm verhandelt. Dem Mäxchen Klinger, der doch auch ein Literat und Verfasser von Theaterstücken ist, ist das nicht passiert!«
»Mutter, Mutter, was blähst Du Dich nur so vor Eitelkeit«, unterbrach sie Wolfgang lachend. »Fürstliche Persönlichkeiten, wenn man sie ein wenig bei Licht betrachtet, sind genau solche Menschen wie unsereiner und im Grunde froh, wenn man sie ein wenig feierlich nimmt. Ich tue mir weit mehr darauf zugute, daß ein Lavater, ein Merck und gar ein Herder mich ihrer Freundschaft würdigen und finden, daß ich ihnen mit meiner aufgeräumten Art und meinem bescheidenen Wissen etwas zu geben vermöge.«
»Mag dem sein, wie ihm wolle«, hub jetzt der Vater gewichtig wieder an. »Gute und geistvolle Gesellen zu haben, ist gewiß recht schön, ich weiß sie genügend zu schätzen, aber sie dürfen einen jungen Mann nicht von seinen ernsteren Pflichten abhalten. Ich freue mich ja selbst, daß unser Wolfgang solch hübsche Talente hat, und von mir aus soll er sie pflegen. Jedoch Hauptsache bleibt Hauptsache und das ist hier die Anwaltspraxis. Gott sei's geklagt, ich selbst habe, durch widrige Umstände veranlaßt, einen derartigen zwar mühevollen, doch Ehre bringenden Lebensweg mir nicht öffnen können. Ich habe mich, wohl oder übel, mein Lebtag auf die Rolle eines Zuschauers beschränken müssen. Aber mein Sohn soll mir kräftig ins Leben hinaus, soll sich eine angesehene Stellung gründen und im Rate der Männer etwas bedeuten. Er hat das Zeug dazu und darum ist ihm von Gott aus geboten, mit seinem Pfunde nach besten Kräften zu wuchern.«
»Dazu sage ich Ja und Amen!« bekräftigte der Sohn. »Ich kenne keinen höheren Wunsch, als alle meine Fähigkeiten zu Vollkommenheiten zu entwickeln und das volle Glück der Persönlichkeit zu genießen.«
Ihn traf ein etwas mißtrauischer Blick des Vaters.
»Hört sich gut, aber doch ein wenig zweideutig an«, ließ der sich wuchtig vernehmen. »Mit dem Wort »Persönlichkeit« oder gar »Genie« wird heute ein derartiger Schwindel getrieben, daß ein ehrlicher Christenmensch sich darüber bekreuzen möchte. Ich möchte nicht, daß mein Sohn sich allzusehr damit befaßt. Noch steht Er pekuniär nicht auf eigenen Füßen und darum soll Er vor allem daran denken, sich in der Hinsicht selbständig zu machen – um schließlich durch eine bürgerlich-wohlanständige Heirat seine Position weiter zu befestigen. Wie steht denn eigentlich die Sache mit der Jungfer Susanne Magdalene Münch, die Ihm durchs Mariage-Spiel zugesprochen wurde und die ich recht bald als meine Schwiegertochter zu begrüßen hoffe?«
Jung-Wolfgang biß sich voll Ärger auf die Lippen.
»Ich hatte nicht erwarten können«, ließ er betreten sich vernehmen, »daß der Herr Vater allen Ernstes noch daran denkt. Ich hielt es längst für eine abgetane Sache.«
»Was, abgetan?« brauste der Vater auf. »Nichts ist hier abgetan! Erst kürzlich wieder haben zwischen den beiden Familien Verhandlungen stattgefunden, und Jungfer Lenchen, ein so braves, tüchtiges, bescheidenes Kind, hat ausdrücklich ihre ernstgemeinte Zustimmung zu der verabredeten Partie bekundet.«
»Ja, Lenchen liebt Dich«, bestätigte die Mutter. »Sie spricht niemals ohne Erröten von Dir. Und, ich spür's ihr an, sie leidet darunter, daß Du Dich so wenig um sie bekümmerst.«
»Das bedauere ich aufrichtig, denn dann wird sie wohl weiter leiden müssen. Ich denke nicht im mindesten daran, sie zu meiner Frau zu machen!« Wolfgang sprach mit solcher Entschiedenheit, daß beide Eltern unwillkürlich bedeutsame Blicke austauschten.
»Das wird sich der Herr Sohn noch überlegen«, erwiderte der Vater mit Autorität, doch nicht ganz so bestimmt, wie es sonst seine Art war. »Die Jungfer Münch paßt Seinen Eltern ausgezeichnet – und bisher wenigstens war es Sitte, daß die Eltern bei der Heiratswahl ihrer Kinder ein Wörtlein mitzureden hatten. Seine Schwester Cornelia hat auch den braven Schlosser nicht allzu gern genommen. Aber schließlich hat sie es als gehorsame Tochter doch getan. Und hat ihr Glück dabei gemacht.«
»Allzuviel Glück verraten ihre Briefe eben nicht«, trotzte der Sohn.
»Das sind Weiberklagen«, schnitt der Vater ab. »Die vernimmt man alle Tage. Die hören von selbst auf, wenn erst Kinder da sind und dann ein ernster Pflichtenkreis beginnt.«
»Ja, die Kinder machen unser Glück aus«, beteuerte die Mutter mit Überzeugung und blickte ihren Sohn zärtlich an. »Was hätten wir armen Weiber bloß, wenn nicht die Sonne unserer Kleinen und die Sorge darum wären!«
»Und wenn die Kleinen groß geworden sind, scheint dann die Sonne nicht mehr und regiert allein die Sorge?« neckte Wolfgang.
»Ach geh, Du Schlimmer!« lächelte drohend die Mutter. »Du weißt nur zu gut, wie Deine Mutter auch jetzt noch – und vielleicht gerade erst recht jetzt – an Dir hängt! Viel zu schwach ist sie vor lauter Liebe Dir gegenüber und verwöhnt Dich über die Maßen!«
»Der Hätschelhans!« spottete der Vater.
»Ja, laß mir die Freude, ihn ein wenig zu hätscheln. Wenn er's auch kaum genügend dankt, so sehe ich doch, wie er gedeiht und wie's ihm wohl ergeht!«
Frau Rat erhob sich und schloß ihren Wolfgang in die Arme. Dieser ließ sich die mütterliche Zärtlichkeit, gutmütig wie ein großer Hund die Liebkosung seiner Herrin, gefallen. Dann aber nahm er Anlaß, sich zu empfehlen. Derlei Familienszenen waren im ganzen nicht sein Geschmack.