Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Und wirklich, ein »Seitenpfad« war es, der Goethe in besonderer Weise dazu verhalf, sich wieder zurechtzufinden. Das war all die Liebesgunst, die Lottchen Nagel ihm erwies.
Dieses wunderliche Mädchen, das dennoch in seinem unverderbten Volksinstinkt soviel Stärke, Einfachheit und Unbedingtheit verriet, hatte ihm von Anfang an seine Zuneigung nicht verhehlt. Und Goethe hatte sich gern dazu herbeigelassen, hie und da in lässiger Laune ein Stündchen mit ihr zu »verliebeln«. Jetzt aber, wo er sein Herz wieder frei fühlte und die manchmal ungesunden Spannungen, die das Lili-Erlebnis zuletzt in ihm geweckt hatte, von ihm abfielen, fühlte er mit stiller Rührung, in wie eigener Weise das Mädchen ihm wertgeworden war. Ihre völlig unberechnende Art, sich ihm hinzugeben, ganz schlicht, ganz natürlich und doch mit der echten Blutsleidenschaft eines jungen Weibes, strömte wie Schicksalsgnade in sein ganzes Wesen ein. An Lottchens Herzen, in ihren umschlingenden Armen fühlte er sich gesund werden. Keinerlei Gedankenlast, keinerlei Probleme, keinerlei bindende Verpflichtungen bedrängten ihn. Nichts anderes wollte Lottchen ihm sein als eine in Freiheit sich schenkende Geliebte. Und in Freiheit sollten sie, nachdem ihre Sendung an ihm sich erfüllt hatte, wieder auseinandergehen. Sie war ja Keine, die man »heiratete«! Sie wußte es und sie rechnete damit.
In Goethe aber war der »Sinnenmensch« in reger Beschwingtheit wieder wachgeworden. Kein Zufall war's, daß eben um diese Zeit er aus der ihm so wohlvertrauten Bibel das »Hohe Lied Salomons« sich vornahm und mit dessen ganzer Glut der Empfindungen unserer deutschen Sprache neu einverleibte. Keine Verzierlichung, keine Verbrüderung, keine falsche Scham ließ er bei der Übertragung in sich aufkommen. Alles sollte so dastehen, unverschminkt und unabgeschwächt, wie der alte Dichter es vor Jahrtausenden einst empfunden und gesagt hatte.
Und war es nicht Lottchen Nagel, der er es verdankte, daß er so gradezu und doch in gehobenen Tönen jetzt zu reden vermochte? Das machte das Mädchen ihm im stillen noch lieber. Sie wuchs dadurch gleichsam in seine Phantasie hinein, wurde über die alltägliche Wirklichkeit hinaus ein in verklärte Sphären versetztes Wesen. Etwas wie schillernder Nebelglanz wob sich um das in Liebe erglühte Volkskind, das an einen, der ihr als ein Höherer galt, sich wegschenkte, um kaum eines anderen Lohnes willen, als daß er auch sie ein wenig liebhaben sollte. Der Welt galt dieses Mädchen als eine »Verworfene«. Der Dichter aber wußte es besser. Kraft seiner göttlichen Begnadung hatte er in ihr eine erblickt, der er Unsterblichkeit schenken konnte.
So war Goethe unversehens wieder in frisch belebte dichterische Gedankenwelten hineingeglitten. Der Stoff, der ihn, als er von Lili Abschied nahm, noch in vagen Zügen umschweifte, nahm jetzt festere Gestalt an. Und natürlich konnte es nicht fehlen, daß auch ein mächtiger Strom von Liebe sich hinein ergoß. Damit erst war diese ferngerückte Welt ganz für Goethe gewonnen. Konnte doch allein durch die Liebe seine Dichterkraft voll entfesselt werden. Jetzt wurde auch der »Held« seines Dramas, Egmont, in funkelnde Lebensfarbe getaucht und bekam strotzende Blutswärme. Goethe sah ihn so licht, so strahlend, daß das Tragische seines Geschicks streckenweise dem Bewußtsein fast entrückt war. Dieser niederländische Volksheld erschien seinem Erdichter als der Mann, den alle lieben mußten. Vor allem diese Eine, diese Cläre, dieses prächtige Mädel aus dem Volk, das so hochherzig war in seiner Hingabe, daß der Dichter selbst sich manchmal in sie verliebt fühlte. Aber auch das übrige Volk, so freiheitsliebend, so tüchtig, so in sich selbst ruhend, so wesenhaft, wuchs ihm mehr ans Herz. In jeder einzelnen Figur, die er da sich erschuf, spürte er etwas vom großen Ganzen. Das machte sie alle miteinander so lebendig und selbst in ihren kleinen Schwächen und mitunter argen Verschlagenheiten in seltsamer Weise lebensnah. Man durfte sie nur nicht gleich feierlich nehmen oder gar auf Stelzen setzen. Ein guter Zuschuß von Humor tat ihnen allen wohl wie ein frischer Schluck Quellwasser. Und diese Frische fühlte er jetzt stahlklar in sich sprudeln.
Eine Freude war's ihm auch, daß der Vater an dieser Arbeit so belebenden Anteil nahm. Der Alte war doch ehrgeiziger, als man denken sollte. Auf diesen »Egmont« baute er große Hoffnungen. Darum hatte er gleich bei Beschaffung des geschichtlichen Quellenmaterials wacker mitgeholfen. Und gern ließ er sich vom Sohn Bericht erstatten, wie die Arbeit weiter wuchs. Ja, er trieb ihn ordentlich an, daß er das Stück zu raschem Abschluß bringe. Im Geiste sah er es schon auf der Szene und vermeinte beinahe den donnernden Applaus des in Begeisterung versetzten Publikums zu hören.
Der Dichter selbst war in der Hinsicht lässiger. Er liebte es nicht, sich antreiben zu lassen. Nur in den köstlichsten, begnadetsten Stunden, wenn alles frei und ungezwungen in ihm strömte, setzte er sich zum Dichten nieder. Auch war ihm eine gewisse Abwechslung in der künstlerischen Tätigkeit Bedürfnis. Und ob der Vater auch knurrte, ganze Tage lang ließ er das Dichten liegen und warf sich um so mehr aufs Wandern oder aufs Zeichnen. Anregung zu letzterem hatte er durch seinen Freund Georg Melchior Kraus, den Maler, empfangen, der soeben von einer längeren Studienreise durch Nord- und Mitteldeutschland heimgekehrt war und ganze Mappen von Skizzen und Studien auszubreiten hatte. Beim Betrachten dieser Blätter und im Gespräch mit dem Freunde erwachte in Goethe alsbald der eigene Zeichentrieb, um so mehr, als Kraus ihm gern beratend zur Seite stand, und nicht zuletzt, weil er soviel gerade von Weimar, wo er sich längere Zeit aufgehalten hatte, zu erzählen wußte.
Dies alles gab Goethe innerlich zu schaffen.
Merkwürdig, wie seit kurzem eine leichte Schwermut des Abschiednehmens ihn zeitweilig heimsuchte – so als eine Art Vorahnung, als ob jetzt vieles zu Ende gehen müßte – in wunderlichem Gegensatz zu jenem anderen, doch im Grunde freudigen Trieb, sich abermals in die Welt zu stürzen, um unter fremden Menschen und in fremden Zonen sein Heil zu suchen.
Dann konnte er oft stundenlang, besonders gegen Abend und in der Nacht, in seinem lieben Frankfurt umherschweifen, das doch nun mal seine Vaterstadt war und das er, wollend oder nicht, tief und geheimnisvoll ins Herz geschlossen hatte. Besonders die altertümlichen Teile mit ihren schnurrig verbauten Gäßchen und von Plätscherbrunnen belebten kleinen Plätzen und Winkeln zogen ihn mächtig an. Und die anheimelnden, hohen, verschnörkelten Treppchengiebel, die schöngebauten Erker mit den traulichen Butzenscheibchen, die schattig zurückgedrückten Eingangstore mit ihren altfränkischen Türklopfern, alles das sprach so seltsam intim zu ihm, nicht zuletzt als Poeta. Manchmal war ihm zu Mut, als könne plötzlich aus einem dieser alten Häuser ein Jetter oder Soest oder auch ein Brackenburg hervortreten; oder als müsse er selbst, tief in seinen Mantel gehüllt, hinter einem dieser Pförtchen verschwinden, weil oben unterm Dach, in einer saubergehaltenen warmen Stube, ein Klärchen oder Gretchen auf ihn wartete, voll liebender Sehnsucht im bewegten kleinen Herzen. Und war es nicht manchmal so gewesen? Ach, überall floß ihm hier das Leben in seine Dichtung hinein, wie seine Dichtung immer wieder zum Leben zurückstrebte.
Zumeist strolchte er allein in diesen Gegenden umher, ganz seinen Gedanken und Träumereien überlassen. Zuweilen aber durfte auch Freund Kraus ihn begleiten, der als Maler niemals störend war und fein auf seine Stimmungen einzugehen verstand. War dieses Frankfurt doch ihre gemeinsame Vaterstadt, die sie, vielleicht ebenfalls gemeinsam, bald verlassen würden. Das schuf solch eigenartige innere Verwandtschaft. Dazu die Erinnerung an jene letzte Silvesternacht, die mit geheimnisvollen Beziehungen sie umwob, und auch unausgesprochen ihnen fühlbar blieb.
Genießerisch-froh und mit allerhand studentenmäßiger Ungezwungenheit aufgelegt, machte Goethe mit dem bequemen Freunde seine Streifereien. Er fühlte sich dabei ganz als »Volk« und nahm an den Volksgewohnheiten mit einer Art von Begeisterung teil. So freute er sich jedesmal, wenn er vom Römerberg zum Domplatz hinüberschlenderte, auf dem Altenmarkt beim sogenannten Schirnehaus Station zu machen. Dort hatte sich unter dem von einem Holzpfeiler getragenen vorkragenden Schindeldach auf offener Straße ein Würstchensieder niedergelassen, der aus brodelndem Kesselchen seine Ware feilbot. Goethe ging niemals vorüber, ohne sich als Würstchenesser gütlich zu tun. Und während er dort stand und verzehrte, machte es ihm besonderen Spaß, unterm Sternenhimmel zu philosophieren. Oder auch schwelgerisch zu schwärmen. Und Kraus, wenn er neben ihm stand, war sein dankbarer Zuhörer.
So konnte ihn gelegentlich mit eigentümlicher Macht, aus verwehter Erinnerung heraus, die alte Fauststimmung überkommen. Mephisto und der Pudel zogen ihre Kreise um ihn, Frau Marthe Schwertlein stolzierte aufgeblasen vorüber, am Brunnen drüben stand Lieschen und klatschte, vor dem betreten zuhörenden Gretchen, von Bärbelchens Vergehungen.
So merkwürdig war dies alles, so unheimlich gegenwärtig!
»Glaub's mir, Bester«, raunte Goethe und faßte dabei des Freundes Arm, »nur im Gewirr dieser Gäßchen, nur auf diesen ehrwürdigen alten Kirchplätzen konnten manche Faustszenen in mir entstehen. Drüben auf dem Domplatz, so seltsam es klingen mag, ist mir eines hellen Mittags einst Gretchen leibhaftig entgegengekommen. Just wie mein Phantasiegeschöpf, mit dem Gebetbüchlein im Arm, trat sie fromm und züchtig aus der Kirche, die blonden Zöpfe hoch aufgebunden, die Augen sanft und sittsam zu Boden geschlagen.
»Und hast trotzdem gewagt, sie anzureden?«
»Frechling! Solche Keckheit hab' ich natürlich meinem Bruder Faust vorbehalten! Doch war ich von der unerwarteten Erscheinung derart fasziniert, daß ich wie ein ungezogener Bub hinter dem armen Kind eine ganze Weile herstrich, es wie ein Verrückter mit meinen Augen verschlingend. Das gute Ding ängstigte sich natürlich und war froh, die elterliche Tür alsbald hinter sich zuschlagen zu können. Ich aber hatte mein langgesuchtes Gretchen, lebendig einher wandelnd, gefunden und war innerlich voller Seligkeit. – Alles übrige ergab sich dann von selbst. Szene auf Szene rollte mir nur so aus der Feder. Und alles sah ich im Geiste wie mit irdischen Augen vor mir, während irgendein geheimnisvoller Dämon mir Red' und Antwort ins Ohr flüsterte.«
»So irdisch, so sinnlich faßt Du, was wir anderen Deines Geistes Produkte nennen?« zweifelte Kraus.
»Der Geist geht allemal in die Irre, wenn er nicht die Sinne gleichsam als Lenkpferde vorspannt«, bekannte Goethe munter. »Aber die Pferde können den Wagen gleichsam nur als Blinde ziehen. Es muß einer oben stehen, ein Wacher, und die Wege weisen. Dieser eine aber muß es von Gott haben – darum nennt man ihn Dichter und Seher. – Doch warum zerbrechen wir uns über derlei Rätselfragen den Kopf? Ich rede große Töne und weiß im Grunde doch selber kaum, was da in mir geschieht!« Dann, munter abbrechend: «Wie wäre es, statt dessen, lieber mit einem Paar frischer, heißer Würstchen? Die Dinger schmecken hinreißend lieblich und halten Leib und Seele zusammen!«
Schon hatte er ein neues Wurstpärlein erwischt und biß mit solchem Appetit hinein, daß ihm der Saft aus den Mundwinkeln lief.
»Aus Dir soll einer klug werden!« kopfschüttelte Kraus, fast ärgerlich lachend. »Eben erst himmelnder und weisheitsvoller Poet – und jetzt ein eifriger Wurstfresser, wie's ein Ostadescher Bauer nicht besser sein könnte!«
»Und beides gleich in derselben Minute!« trumpfte Goethe auf. »Da staune nur! Aber so ist's gerade gut. Und ich danke meinem Schöpfer, daß er mich so gemacht hat. Denn wenn ich auch manchmal ein verrückter Irrlichtelierer sein mag, daß es schon rein zum Verzweifeln mit mir ist – es muß doch ein urgesunder Kern in mir stecken, der nichts an sich herankommen läßt! Und der einen unheimlichen Trotz besitzt, sich durchzusetzen. Jedenfalls hat mir noch nie meine Poesie den Appetit verdorben, noch auch die Liebe meiner Nächte Schlaf! – Das mache mal, Verehrtester, mir einer nach!«
»Ich freue mich, Goethe, Dich so fröhlich zu sehen«, erwiderte der Freund voll Herzlichkeit, »und werde mich hüten, in dem Punkt mit Dir in Wettbewerb zu treten. Bei mir ist alles mehr in Kästchen eingeteilt, hübsch ordentlich und sauber. Da darf nichts durcheinandergeschmissen werden. Sonst geht der ganze Karren nicht!«
»Da solltest Du eigentlich mir ein leuchtendes Vorbild sein«, fiel Goethe ein. »Was ich ernster meine, als Du vielleicht denkst. Ich weiß, es ist ein Unfug, so vielerlei auf einmal zu machen und sich von Impulsen treiben zu lassen. Natürlich ist Ordnung das Höhere – und ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, sie ist der Leitstern, nach dem ich trachte. In dem Maße, daß ich vielleicht noch mal ein rigoroser Ordnungsfex werden mag! – Indes, schon wieder hast Du mich auf's Glatteis der Spekulation verleitet. Und ich bin doch hier, um zu schauen! Diese Nacht ist so schön und unser Frankfurt so wunderreich. Komm, Freund, wir wollen uns noch weiter wundern! Wer weiß, wie lange es uns hier noch beschieden sein wird?!«