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Die Turmuhr hatte sechs geschlagen, als die vier bereits wieder auf ihren Gäulen saßen und die Heerstraße weitertrabten, gen Mannheim zu.
Eine frische Morgenbrise strich um sie her, und die jungen Reiter, von Unternehmungslust geschwellt, jauchzten förmlich vor Freude. Auch als ein Regenguß kam und sie bis auf die Haut durchnäßte, störte dies keineswegs ihre Laune. Im Gegenteil, es wurde ihnen so recht von Herzen abenteuerlich zumute. Sie gaben ihren Tieren die Sporen und sprengten dahin im Galopp, als wollten sie mit dem heulenden Wind um die Wette rasen. Goethe war der Tollste unter ihnen. Er sang wildverschlungene Rhythmen in die Lüfte, alle möglichen Gottheiten anrufend und preisend, halb bewußtlos im Rausch des Genießens und Sichauslebens, voll Unbändigkeit und Naturbegeisterung. Die anderen ließen sich willig mitreißen, in jungenhafter Bewunderung für den Gottbegeisterten in ihrer Mitte, dessen Mund von Erleuchtungen überquoll. Alle waren wie in einem Taumel, mit rotglühenden Gesichtern und flammenden Augen.
Die Sonne trat wieder hervor. Schnell wurde es trocken und heiß. Da ließen sie die Pferde rasten, warfen sich unter einen breitästigen Maulbeerbaum auf die Erde, kramten ihr Frühstück aus den Mantelsäcken hervor, ließen einen weingefüllten Zinnbecher fröhlich kreisen und fühlten sich wie die Götter.
»Man müßte uns sehen, uns vier, wie wir hier lagern!« rief Christian Stolberg eitelkeitgeschwellt aus. »Wir sind, bei Gott, eine Gesellschaft, wie man sie von Peru bis Hindostan umsonst suchen könnte!«
»Und wenn Du auf den Himalaja steigst«, suchte Fritz ihn zu überbieten, »und das gesamte Weltpanorama absuchst, solche Kerle findest Du nicht wieder.«
»Eine Lust ist's zu leben!« schrie Kurt Haugwitz, der auch nicht zurückbleiben wollte.
»Und was ist man bei alledem?« kicherte Goethe in sich hinein. »Ein durchgebrochener Bär – eine entlaufene Katze!«
»Wie meinst Du das, Götterkind?« bedrängten ihn die anderen.
»Na, was bin ich denn sonst?« kollerte es übermütig aus dem Gefragten hervor. »Mit tausend Stricken würde man mich anbinden, wenn man nur könnte! – Aber der Bär ist durchgebrochen, die Wildkatze davongelaufen!« Damit ließ er sich, wie selig, den Rasenhang hinabwälzen.
Die drei staunten zu ihm hin und verstanden nicht recht, wie ihm war. Doch fanden sie ihn sehr originell und, weil das so etwas Schönes war, so fingen auch sie an, sich zu wälzen.
Lautes kindhaftes Gelächter jagte von einem zum anderen.
Dann wurde es Zeit, wieder aufzusitzen, und sie trabten weiter.
In Mannheim fanden sie es langweilig. Die Stadt war ihnen zu eintönig, zu gradlinig. Darum wollten sie bald wieder fort. Sie saßen im Gasthaus und machten Pläne.
Goethe war in Sinnen verfallen. Er ließ sich Tinte und Feder reichen und schrieb nach Frankfurt an die »Tante«. Nur ein paar Zeilen. Es war ihm beigefallen, daß dieser Tage in einer Privatgesellschaft bei Bethmanns sein Singspiel »Erwin und Elmire« aufgeführt werden würde. Da wollte er doch wissen, ob Lili dabei wäre. Und was sie dazu sagen würde. Es kam so allerhand in dem Stück vor, das sie immerhin ein wenig anging. Etwas Schabernack und auch etwas Ernst. Ob sie das wohl merken würde? Die brave Johanna Fahlmer sollte gut aufpassen und es ihm vermelden.
Bon. Sela. Siegel drauf. Ab.
Zwar, im Grunde, was ging's ihn an? War er nicht die entlaufene Katze? Was kümmerte ihn Lili? Die wollte er vergessen! Dazu war er in die Welt gegangen! Und, hol's der Himmel, er würde es schon fertigkriegen! Noch schauerte es ihm über den Rücken, wenn er an seine Bräutigamsrolle dachte. Kuriose Zumutung für einen Goethe! Er – Bräutigam! Zum Totlachen! »Hanswursts Hochzeit!«
Wieder saßen sie zu Pferde. Und nun ging's nach Heidelberg. Dort wollten sie noch vor Abend eintreffen. Die Sonne brannte wie verrückt. Die vier waren ein wenig einsilbig geworden. Haugwitz allein redete. Und erzählte eine lange Geschichte von seiner in die Brüche gegangenen Verlobung mit einer ostfriesischen Pfarrerstochter. Es war zum Auswachsen!
Dagegen halfen nur Volks- und Studentenlieder. Goethe gab den Ton an und die anderen stimmten ein. So ritten sie singend, wie die Troubadoure, in Heidelberg ein. Es düsterte bereits.
Dann ein himmlischer Tag, in der von allen guten Naturgeistern geschmückten, sagenberühmten Residenzstadt von Kurpfalz. Die Trümmerherrlichkeiten der gewaltigen Schloßruine wurden mit Andachtsschauern durchkrochen und durchklettert. Der vom Blitz gespaltene, zur Hälfte eingesunkene alte Rundturm wirkte besonders poetisch. Doch auch Zwerg Perkeo und das Heidelberger Riesenfaß fanden verständnisvolle Bewunderung.
Gegen Abend machte Goethe sich ein Stündchen frei und schlich zur Jungfer Delph. Er hatte es zwar eigentlich nicht gewollt, aber nun tat er es doch.
Jungfer Delph redete lange und viel von der durch sie gestifteten Verlobung. Und was sie Gutes von Lili sagte, war ja auch alles wahr und schön. Er mochte und konnte ihr nicht widersprechen. Nur, daß die Dinge eben jetzt anders lagen!
Doch schon schwärmte Jungfer Delph davon, Goethe in kurpfälzische Dienste unterzubringen. Und tat so, als hinge es nur von ihr persönlich ab, das zu verwirklichen. Sie sprudelte förmlich über vor lauter Eifer.
Gerührt nahm Goethe von ihr Abschied. Und schüttelte ihr kräftig beide Hände.
Schade, daß er sie betreffs Lili so bitter hatte enttäuschen müssen! Aber der durchgebrochene Bär, die heilsfroh entwischte, gelbbraune Katze waren nicht wieder in Rosenketten zu legen!